
www.fontis-verlag.com
InGedankenanalldieElenden, derenGeschichtenniemalserz hltwordensind.
NichtsistsotragischwieeineExistenz, dief rimmerimSchattenbleibt.
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NichtsistsotragischwieeineExistenz, dief rimmerimSchattenbleibt.
BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek
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2025byFontis-VerlagBasel
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DieBibelstellensind,wennnichtandersangegeben,der bersetzung Hoffnungf ralle entnommen,Copyright 1983,1996,2002,2015by Biblica,Inc. ,Herausgeber:Fontis-VerlagBasel. Abk rzungenweitererverwendeterBibel bersetzungen: LUT (DieBibelnachMartinLuthers bersetzung,revidiert2017, 2016 DeutscheBibelgesellschaft,Stuttgart) NG (BibeltextderNeuenGenfer bersetzung(NG ). NeuesTestament undPsalmen:GenferBibelgesellschaftRomanel-sur-Lausanne,Schweiz) NLB (NeuesLeben.DieBibel derdeutschenAusgabe2002/2006/2024 SCMR.BrockhausinderSCMVerlagsgruppeGmbH,Max-Eyth-Str.41,71088 Holzgerlingen)
Z R (Z rcherBibel 2007TheologischerVerlagZ rich)
Lektorat:MiriamBokelmann,Rhauderfehn Umschlag:CarolinHorbank,Leipzig BildUmschlag:freepik.com
BildnachweiseFotosInhalt:S.8,10,16,24,46,72,82,138,158:freepik.com; S.36:pixabay.com;S.60,116,148,194: JonathanB hne;S.94,106,226: MelanieOetting;S.128,170,180,204,216,236:erstelltmitKI
Satz:InnoSETAG,JustinMessmer,Basel Druck:Finidr
GedrucktinderTschechischenRepublik
ISBN978-3-03848-300-7
Vorbemerkung ......................7 Prolog ...........................9
Kapitel1: DerAnfangeinerReise..................11
Kapitel2: NeueHeimat,neuesSelbst?................17
Kapitel3: VonAlptr umenverfolgt..................25
Kapitel4: DasunverwundbareIch..................37
Kapitel5: AmRandedesErtr glichen................47
Kapitel6: KirgistansBergeundderGartenEden...........61
Kapitel7: DiebittereHeimkehreinesverlorenenSohnes.......73
Kapitel8: DerZwangzurSelbstzerstçrung..............83
Kapitel9: VonderGabezurGemeinschaft..............95
Kapitel10: DasWagnisderkulturellenBegegnung..........107
Kapitel11: EineFamilieinderAbw rtsspirale.............117
Kapitel12:
Kapitel13: ZwischenHilfsangebotenundMarketingstrategien....139
Kapitel14:
Kapitel15:
Kapitel16:
Kapitel17:
Kapitel18:
Kapitel19:
Kapitel20:
Kapitel21:
DasvorliegendeBuchisteinpersçnlicherErfahrungsberichtund beschreibtdieErlebnisseundEindr cke,dieichw hrendmeines freiwilligenAuslandsjahresinZentralasiengesammelthabe.
AlleNamenundpersçnlichenDetailswurdenge ndert,umden SchutzderbetroffenenPersonenzugew hrleistenundihrePrivatsph rezurespektieren.AusdenselbenGr ndenmusstendem LesereinigesensibleInformationenverschwiegenwerden,unter andereminBezugaufdasKinderheim,indemicheingesetztwar.
Esw reentgegenmeinerAbsicht,wennBerichteoderSzenen ausdiesemBuchinirgendeinerForminstrumentalisiertw rden, umdemKinderheimselbstoderbeteiligtenPersonenzuschaden. Umdieszuverhindern,habeichdiePersçnlichkeitsmerkmaledort verwischt,woAkteurewomçglichineinemunvorteilhaftenLicht dastehenkçnnten.DieArbeitunterderartigextremenUmst nden machtesunvermeidlich,dassMitarbeiternFehlerunterlaufen. DennochistdiesesBuchwederalsAnklagenochalsVorwurfgeschriebenundesw rdemichsehrschmerzen,wennjemandesauf dieseWeiselesenw rde.
MeineBewunderunggiltallenMenschen,diedasLeidderermittragen,dieesnichtalleinbew ltigenkçnnen–seiesinDeutschland,KirgistanoderirgendwosonstaufderWelt.IhreK mpfe bersteigenmeinVorstellungsvermçgen.
MeinegehetztenSchrittehallendumpfdurchdietiefschwarze Nacht.
ImmerwiederspritztWasserauf,wennichineinedervielen Pf tzenaufdemWegtrete.Ichrenne,wieichnochnieinmeinem Lebengeranntbin,alsw rdemicheinD monverfolgen.Vielleicht tuterdasjaauch?Wiesonstw redieserschrecklicheVorfallzuerkl ren?
MeinkeuchenderAtemstockt,w hrendmeinunruhigerBlick durchdieleeren,bedrohlichscheinendenGassenschweift,unf hig, sichaufeinenPunktzufokussieren.F reinenAugenblickbildeich mirein,dasheftigePochenmeinesHerzenshçrenzukçnnen.
ImmerwiederdurchzuckenmichkurzeErinnerungsfetzenan das,waspassiertist:DieriesigenH nde,diesichummeinenHals legen.DerscharfeGeruch,dervonmeinemAngreiferausgeht,als erzuschreienbeginnt.EinplçtzlicherSchmerz…
DerWindhebtan,wirm ssenversuchen zuleben. 1
ry
EsgibteineigenartigesGef hl,dasmichjedesMalbeschleicht, wennichfliege.Alsw rdenRaumundZeitstillstehen,wennsich dasFlugzeuginungeahnterGeschwindigkeit berdenWolkenteppichbewegt.PlçtzlichkehrteineunheimlicheRuheein,dieichmit allenSinnenversp re.
EbendiesesGef hldurchdrangmichauch,alsichkurznach meinemachtzehntenGeburtstagindenFliegernachBischkek,der HauptstadtKirgistans,stieg.IndenTagenvordemAbflughatte sichdieseunwirklicheRuhebereitsangek ndigt–unddastrotz meinermangelhaftenRussischkenntnisse,dervçlligenAhnungslosigkeit,wasmichindemLanderwartenw rde,undderTatsache, dassichdortzumerstenMalalleinlebenw rde.DieDingewaren nuneinmalimGangeundichließsiegeschehen.Sokames,dass ichinderNachtvormeinerAbreisetiefundfestschlief.
ImmerhinwaresnichtdasersteMal,dassichf rl ngereZeitim Auslandseinw rde.BereitsalsKindhatteichvierJahreaufTeneriffaverbrachtunddasFremdedortliebengelernt.Seitdemhatten michAbenteurerundihreErz hlungenimmerfasziniert.DieEntscheidung,inweiteFernezuziehen,reiftealsoscheinbarvonganz allein:Nunw rdeichendlichselbstdieGeschichtenerleben,von denenichbisdahinnurtr umenkonnte.
EswarvermutlichgeradedieserWunsch,diegewohntenGrenzenhintermirzulassen,dermichnachKirgistantrieb.Angesichts meiner brigenKindheit,dieichineinemkleinenDorfimbeschaulichenHochsauerlandverbrachte,kammeinFernwehwohl nicht berraschend.Ausdermehroderminderbeh tetenSzenerie, inderichaufgewachsenwar,w rdeichnunindenL rmunddas ChaosBischkekshineingeworfenwerden–abergeradedieserKontrastmachtedenReizderReiseaus.
ImmerwiedererwischteichmichbeidemGedanken,dassdas bevorstehendeAuslandsjahreinewillkommene ffnungmeiner Weltseinw rde,dassichdortinKirgistandasechte,unverbrauchte Lebenfindenw rde,nachdemichmichsosehrsehnte.Dieses FernwehhatteaucheinespirituelleDimension:Aufeineseltsame, kaumbewussteWeisedurchzogmichdieVorahnung,dassichinmittenallder berw ltigendenErfahrungenderkommendenMo-
nateeinenZugangzuGott(undmirselbst)findenw rde,denich jetztnochnichtabsehenkonnte.
DieReaktionenmeinesUmfeldesaufmeinVorhabenwarenunterschiedlich:MeinSchulleiterzogmichverwundertbeiseiteund rechnetemirumst ndlichvor,wievielGeldichdurchdiesesJahr verlierenw rde.«DuwillstwirklicheinJahrdeinesSpitzengehaltes daf r opfern?»EinigeFreundefragtenmich,obichdenngarnicht anihnenh ngenw rde,anderewiederumbegl ckw nschtenmich zudembevorstehendenAbenteuer.MeineFamilieließmich schwerenHerzensziehen.
Wirklichvorstellen,wasmicherwartenw rde,konntesichkeinervonihnen–genausowenigwieichselbst.
DieAbsurdit tdesganzenUnterfangenswurdemirschlagartigbewusst,alsmeinFliegersichversp teteundichdahermitteninder NachtamFlughafenvonIstanbulstrandete.W hrendichdurch diegrellbeleuchtetenHallendiesesLabyrinthesschlafwandelte, fragteichmich,wasichhiereigentlichtat.Daw rdeichalsoin wenigenStundendiehalbeErdkugel berquerthaben,ohnedas geringsteEmpfindenf rdenRaumunddieZeit,diezwischenmir undmeinemZiellag.Wasf reineeigenartigeWelt,inderdas berquerenganzerKontinenteinwenigenStundengeschehen kannundkaumumst ndlicheristalseineReiseineinenahegelegeneStadt…
AufunseremNachbereitungsseminarsagteeinBetreuersoetwas wie:«DieSeelereistnichtinFluggeschwindigkeit.»Ichglaube,da istetwasWahresdran.Soirrteichalsoeinkleinwenigverloren durchdenendlosenFlughafenIstanbulsundfragtemich,obdasallesnichtbloßeinseltsamerTraumsei,indemichmichbefand.
DasprickelndeGef hldesbevorstehendenAbenteuerserreichte micherst,alsicheinigeStundensp terinKirgistanlandeteundunserdeutscherKoordinatorGerhardmichzwinkerndamManasAirportinBischkekempfing.W hrendermitmirdurchdasGewimmel derStraßenzuunseremKinderheimfuhr,zogendieunterschiedlichstenMenschenanmeinemBlickfeldvorbei,dazudieGer che
undFarbenderriesigenMillionenstadt.IchwarendlichangekommeninderWelt,vonderichgetr umthatte!DieDingew rden sich ndernundichmichmitihnen.
SoistwohljederAnfangeinerReisebeschaffen:Esçffnetsich eineneue,fremdartigeWelt,dieunsinsichhineinziehtunderst einmalausdemGleichgewichtbringt.EinSt ckvonunsistinder Heimatzur ckgebliebenundetwasNeueswirdgeboren.Soverstanden,istjedeReiseaucheineVerwandlung,diewirdurchlaufen unddieunsniemalsunber hrtl sst.
AlsichmichaufdasJahrinKirgistaneinließ,waresnichtnurreine Abenteuerlust,diemichantrieb.DieReise,aufdieichmichbegab, sollteauchRaumschaffen,umuntermçglicherweiseextremen Umst ndenzumirselbstzufinden–undzudemGott,dermirin denMonatenvormeinerAbreiseimmerr tselhaftererschienen war.
InsofernistauchdiesesBuchindoppelterHinsichtzuverstehen: EssollnichtbloßeinreinerReiseberichtsein,sondernzugleicherkunden,wieeinganzesLebenalsReiseaussehenkann.DennLeben(undbesondersdasLebenalsChrist)istmehralseinStatus–esisteinandauernderProzessderVerwandlung.AufdiesemWeg werdenwirerstzudem,waswireigentlichsind.UnserSelbst,so wieGottessieht,istdasZielunsererReise,nichtihreVoraussetzung.DieseReisezuunsselbstistimmeraucheineReisezuGott, dennesist seine Gegenwart,inderwirvollkommenwirselbstsind.
Deshalbbetontenauchdiefr henChristendasElementderBewegunginihrenSchriften:
Angesichtsdessen,wasderMenschbereitssehenkann,gilt esimmerwiederdasVerlangeninihmanzufachen,noch mehrzusehen.EsgibtkeineGrenze,diedasEmporwachsen zuGottaufhaltenkçnnte,denndasGuteselbstkenntkeine Grenze;ebensowenigkanndaszunehmendeVerlangen nachdemGuteneinEndefinden,weilesbereitsvollst ndig gestilltw re. 2
DasistdasDynamische,dasAbenteuerlichederchristlichenExistenz,dasmanauch«Pilgern»nennenkçnnte:Wirlebenst ndigim AngesichtderHerrlichkeitGottes,ohnesiejemalsvollkommen ergreifenzukçnnen.IhrAufstrahlenistes,dasunsaufunserem allt glichenWegimmerweitervoranziehtundunsdieMçglichkeit erçffnet,diejenigenMenschenzuwerden,zudenenwirbestimmt sind.
IchmçchtedieLeserinnenundLesermeinesBucheseinladen, sichderunvergleichlichenReise,diedaschristlicheLebendarstellt, zuçffnen.DieSchçnheitunsererExistenzliegtgeradeindiesem best ndigenErkundendesNeuen,Grçßeren,Tieferen.DieNatur einessolchenLebensbringtesmitsich,immerinBewegungzu sein–wirentscheidendar ber,inwelcheRichtung.WieesderenglischeKardinalJohnHenryNewmansotreffendformulierte:«Zu lebenistsichzuver ndernundvollkommenseinistsichoftverndertzuhaben.» 3
IndenfolgendenKapitelnschildereich,wiemeineganzpersçnlicheReisezudenKinderninKirgistanundzumeinereigenen Verwandlungausgesehenhat.Mancheinerwirdvondemharten RealismusdieserGeschichtenvielleichtentt uschtoderschockiert sein.AuchichwusstedamalsbeimeinerAnkunftinBischkeknoch nicht,welcheherzzerreißendenSzenenmichindenkommenden Monatenerwartenw rden.
Aberschließlichhatunsniemandversprochen,dassunsere Lebensreiseimmerangenehmseinwird.Oftf hrtderWeggeradewegsindunkleT lerhineinoderdurchsiehindurch.Dochich bin berzeugt,dassesimmerauchSchçnheitgebenwird,wenn wirsieselbstdortzusehenlernen,wosiesichintiefenAbgr ndenverbirgt.DieseHoffnungsollauchindentrostloserscheinendenGeschichten«meiner»kirgisischenHeimkinderimmerwiederaufleuchten.
IndiesemSinne:LasstunsdieReisebeginnen…!
IchwurdesogleichvoneinertiefenFaszination ergriffen,vondembrennendenVerlangen danach,zulernen,michzuversenken,ja,zu verschmelzenundeinszuwerdenmitdiesem fremdenUniversum. 4
RyszardKapus´cin´ski
Ichkannnichtglauben,dassichtats chlichandemOrtangekommenbin,umdenmeineGedankenschonseitMonatengekreist haben!
IchsitzenebenGerhard,derseinenWagenvomFlughafenaus durchdielabyrinthartigenGassenvonBischkeksteuertundmir unz hligeGeschichten berLandundLeuteerz hlt.Alleinschon beimZuhçrenwerdeichvoneinerunb ndigenLust berflutet,in dieseWelteinzutauchen.Allm hlichwerdendieStraßenholpriger, alswirdieHauptstadthinterunslassenunddieendlosen,oftverfallenenWohnsiedlungenderVorortepassieren.Derunangenehme GeruchvonbrennendemPlastikdringtmirindieNase.Einalter ManntreibteineHerdeK heamStraßenrandentlang,dervon SchmutzundUnrat bers tist.
UnddannhaltenwirplçtzlichvoreinemrostigenTor,dasvon einemmuskulçsenJungenmitneugierigenAugenaufgeschoben wird.Vormirerstrecktsicheingroßes,flachesGeb ude,daneben einprimitiverSportplatzundeinriesigerHinterhofmitabgenutztenContainern.EinigeB nkestehenimSchattenvonknorrigen, altenB umen.IchhabekaumZeit,alldieseEindr ckeinmich aufzunehmen,alssichdieT rdesKinderheimseinenSpaltweit çffnet.
DasKichern,dasverstohlenzumirdringt,istderersteLaut,der michinmeinerneuenHeimatempf ngt.MeinHerzschl gtheftig, alsichmeinezaghaftenSchritteindasHaussetzeundvoneineraltenindonesischenFrauempfangenwerde,diemireinPaar Tapachki (traditionelleHausschuhe)indieHanddr ckt.Undeheichmich versehe,steheichvoreinerScharvonKindern,diemichaufmerksammustern.
DieDirektorindesHeimsh lteineTortemitSpider-Man-Motiv inderHand,nebenihrzappelndiebeidenZwillingeherum,deren Geburtstagsoebenfeierlichbegangenwird.AuseineruraltenLautsprecherboxdringtkirgisischeMusik.DieZwillingeschauenernst indieKamera,dieaufsiegerichtetist,undgreifendanngierig nachihrenGeschenkt ten.DieBlickederumsieherumversammeltenKinderindemkleinenSaalreichenvonbelustigtbisneidisch,ihrGesangistschiefundlaut.
SobalddiebeidenGeburtstagskinderhçren,dassichder«neue Freiwillige»bin,l chelnsiefrçhlichundnehmenmichinihred nnenArme.DannreichensiemirartigeinSt ckdesschaumigen Kuchens,vondemihreGesichterbeschmiertsind,undbietenmir denPlatzzwischensichan.Ichbinvollkommen berm detund unf hig,dasaufgeregteGeplapperzuverstehen,dasmichumgibt. berw ltigtvondemGeschreiundGel chterdieserScharvon Kindern,diemichwieselbstverst ndlichinihrenKreisaufnimmt, lasseichmichaufeinenStuhlzwischensiefallen.
Ichkçnntelachenundweinenzugleichundsehemichstaunend um.Indemgl cklichenStrahlendervielenKinderaugenleseich dieWorte,nachdenenichmichsosehrgesehnthabe:«Dubistangekommen.»
WennichmichaufdieerstenWochenzur ckbesinne,dieichin Kirgistanverbrachthabe,tauchennurwenigeschlaglichtartigeErinnerungsfetzenauf,diebeinaheallessind,wasmirausdieserZeit gebliebenist:MeineAnkunftimKinderheim,alsdieZwillingeihrenGeburtstagfeiernundmichbegeistertumarmen.Meineersten TourendurchBischkek,begleitetvoneinemkirgisischenFreund. DieUnf higkeit,aufRussischzusprechen,wennesseinmusste, unddieAbendemitdemkirgisischenMitarbeiter,derzudieser ZeitdasKinderheimweitestgehendalleineleitete–auf seine Weise, verstehtsich.UnserGeistneigtdazu,langeZeitr umeindiesekurzenEindr ckezukomprimieren,insbesonderewennesallzuviele Informationensind,dieinirgendeinerFormbew ltigtwerden m ssen.
DaszentraleMotivdieserZeitistjedochzweifelsohneAnpassung:AnpassungandasUmfelddesKinderheims,andieungewohntenAbl ufe,denSprach-undKulturraumsowiedieWertvorstellungenderjenigen,diemichfortanumgebensollten.Dasistder Anspruch,deneineneueWeltimmeranunsstellt–umeinTeilvon ihrwerdenzud rfen,m ssenwirunsverwandeln,etwasvonihrin unsaufnehmen.AusderPsychologieweißman,dasssichdiese AdaptionsprozesseinunterschiedlichenPhasenvollziehenundder
ReihenachvonderOberfl chebishinzuminnerenKernunserer Identit tvordringen.
Sohatteichschonnachverbl ffendkurzerZeitdasGef hl,«Teil desKinderheims»gewordenzusein–auchdurchdieoffeneund herzlicheArtundWeise,wiemichdieKinderinihrenKreisaufnahmen.DawarderlachendeKiril,dermichanlauwarmenSommerabendenhinauszog,ummitmirFußballzuspielen,dermuskulçseImran,dermichaufforderte,mitihmzutrainieren,Artemij, dervonmirdasKlavierspielenlernenwollte…AlldieseErlebnisse gabenmirtrotzanf nglicherUnsicherheiteninBezugaufmeinTtigkeitsprofilschnelldasGef hl,angenommenzusein.WirMenschensinderstaunlichgutdarin,dieAbsurdit tvollkommener Fremdartigkeitauszublendenundunsihrhinzugeben.Sowares f rmich(undichweiß,dassesanderenFreiwilligen hnlicherging) schonnachwenigenTagen«nat rlich»,inKirgistanzusein.
DieAnpassungandiesprachlichenundkulturellenDifferenzen hingegenbrauchteeinendeutlichl ngerenZeitraum.TrotzdreimonatigerVorbereitunghatteichanfangsstarkekommunikative Schwierigkeiten,wassichbesondersinSituationenderKonfrontationr chensollte.Immerwiederf hlteichmichverloren,wennich einemKindetwasaufRussischerz hlenoderauftragenwollteund eseinfachnichtzustandebrachte.Icherinneremichanverwirrte BlickeundAchselzuckenbeimeinenGespr chspartnern,andas unguteGef hl,nichtsweitergebenzukçnnen,weilichmeineGedankennichtinWortefassenkonnte.F rmichalsmitteilungsbed rftigenMenschenwardaszeitweiligeinegroßeBelastung.
SomussteichbesondersamAnfangaufalternativeKommunikationswegezur ckgreifen:Spiele,SymboleundGesten.Gl cklicherweisenahmendieKinderselbstmirdiesesprachlichenProbleme nicht bel;siewarenesvonfr herenFreiwilligenbereitsgewohnt. UndauchderkirgisischeMitarbeiter,mitdemicheinenGroßteil diesererstenZeitzusammenlebte,erl utertemirh ufigmitengelsgleicherGeduldrussischeVokabeln.
DerPhilosophLudwigWittgensteinsagteeinmal:«DieGrenzen unsererSprachesinddieGrenzenunsererWelt.» 5 DieseErkenntnis ereiltemichinKirgistansehrschnell:UmdieMenschenhiertats chlichverstehenzukçnnen–um mit ihnenzusprechenundnicht ber sie–,w rdeichihreSprachebeherrschenm ssen!
AuchderkulturelleAbstandstellteeineHerausforderungdar. ObesnundieungewohnteOrganisationdesTagesablaufs,dieArt undWeisederKonfliktbew ltigung,dieerstenVerhandlungenauf denBasarenoderdieMuezzin-Rufeamsp tenAbendwaren:Anfangsneigteichdazu,alldieseDingezuromantisieren(inderEthnologiew rdemanhiervoneiner«ExotisierungdesAnderen» sprechen),undbemerktedabeikaum,wieichimmerwiederinFettn pfchentrat.Soverwendeteichst ndigdiefalscheAnredef r lterePersonen(ichh ttesiemitVor-undVatersnamenanreden m ssen,duztesiejedoch)oderbeachtetedieherrschendenNormen imUmgangderGeschlechternicht(Jungend rfenM dchenbeispielsweisenichtdieHandgeben).
Ungl cklicherweisewarenindiesenerstenWochenunserebeidendeutschenKoordinatorennichtanwesend,sodassdiegesamte «Kultur bersetzung»immerdurchKirgisenerfolgenmusste.Ihnen fielesvermutlichnichtganzleichtzuverstehen,warum«derDeutsche»sovieleFragenhatte,schließlichgeltenwirDeutschendort alssehrgebildet.IndenGespr chenmitunsererKoordinatorinKatharinanachihrerR ckkehrstellteichfest,dassichvieleDinge falscheingesch tzthatte–seiesdiekirgisischeKulturansich,die Abl ufeimKinderheimoderauchdieMotivationenallderMenschen,denenichbegegnetwar.
DietiefstenEbenenmeinerneugewonnenen«Heimat»–also dietats chlichenLebens-undGef hlsweltenderMenschen,die michumgaben–,solltenmirnochf rlangeZeitverschlossenbleiben.Denntrotzgr ndlicherPsychologie-SchulunginVorbereitung aufmeineArbeithatteichnureineschwacheIntuitiondaf r,was tats chlichindenKindernundMitarbeiternvorging.Icherfuhr ihrepersçnlichenGeschichtenofterstMonatesp terundhatteanfangskeinewirklicheVorstellungdavon,wietiefdieAbgr ndewaren,indievieledieserKindergeblickthatten.
SosindmeineerstenTagebucheintr gevoneinerr hrenden Naivit tgepr gt.Ichsprechedavon,dassindemHeim«allesrichtiggemacht»w rde,dassdieKinder«sogl cklich»und«voller Hoffnung»w ren.Tats chlichjedochherrschtenzudieserZeiteinigestrukturelleProbleme,vondenenichnichtsbemerkte,obwohl ichindenerstenf nfWochenjedeneinzelnenTagimKinderheim verbrachte.ErstunsereKoordinatorinKatharinaçffnetemirdie
Augendaf r,dasssichhinterdenKulisseneinigeEntwicklungen vollzogenhatten,diekeineswegsbegr ßenswertwaren.
SowarenmirKompetenzenzugesprochenworden,dieichals Freiwilligerschlichtnichthatte.Ohneeszuwissen,warichmitmeinenAufgaben berfordertgewesenundhattevielesnichtdurchschaut,wasichdurchmeinHandelnauslçste.MitderZeithatte sichn mlicheingewisses«Einverst ndnis»zwischendenKindern undeinzelnenMitarbeiternherausgebildet,daszueiner ußeren Harmonief hrte,indemRegelstruktureneinfachumgangenwurdenunddieKinderihrensch dlichenGewohnheitennachgehen durften.DieseEntwicklungmussteimNachhineindurchm hsame Korrekturprozesseaufgearbeitetwerden,dieauchmichimmerwiederinSpannungsfelderhineinzogen.IndieserHinsichtwarich schlichtorientierungslosgewesen,unf hig,diemichumgebende WeltohneeineFormvonAnleitungbegreifenzukçnnen.
ReisendzulebenbedeutetkonkretdieBereitschaft,immerwieder solcheAnpassungsprozessezudurchlaufen.
Diesekçnnenherausforderndundschmerzhaftsein,weilsievon unsverlangen,gewohnteAbl ufeundVerhaltensmusterzu ndern undmçglicherweisesogareinenTeilunsererIdentit taufzugeben. WerdenwirineinesolcheSituationgeworfen, btsieeinenhohen kognitivenDruckaufunsaus,demwirnurmiteinemenormen Kraftaufwandgerechtwerdenkçnnen.Geradedie«liminalen» 6 Zust nde(dasheißtSchwellenzust nde)zwischenzweiWeltenkçnnendaherleichteinGef hlvonVerlorenheitoderIdentit tslosigkeiterzeugenundeinepsychischeBelastungdarstellen.
DennochsinddiesePhasendesWandelsauchf runsergeistiges LebenvonhoherBedeutung.SiestellenAngebotedar,unszust rkenundneuaushandelnzulassen.ImFalleinertats chlichenReise bietetdasandereUmfeldgewissermaßeneine«Plattform»,aufder sichdieseVerwandlungleichterrealisierenkann.DasBewegungsmustervollziehtsichjedochauch in uns–da,wowiraufunsere GrenzenstoßenundeinerHandlungsnotwendigkeitbegegnen,die unsvorw rtstreibt.PaulusschreibtinseinemBriefandiePhilipper:
«LiebeBr derundSchwestern,ichbildemirnichtein,dassich selbstesergriffenh tte,einsabertueich:Waszur ckliegt,vergesse ichundstreckemichausnachdem,wasvormirliegt»(Philipper 3,13;Z R).
Wennwirunsnichtdazudurchringenkçnnen,unsaufdieseArt undWeisezu berwinden,wirddasSelbstzueinemGef ngnis,zu einerKette,dieunsandieVergangenheitbindet.UnserTrostliegt jedochdarin,dasswir«offen»geschaffensind:Wirkçnnenunsin unsererGeschçpflichkeit(undEndlichkeit)stetsverwandelnund somitunsererBestimmungimmern herkommen.
WirselbstsinddemgestalterischenWirkenderZeitgenausounterworfenwiedieMenschen,dieunsnahestehen,dieErfahrungen, dieunspr gen,unddieErkenntnisse,diewirsammeln.Gelingtes uns,diesanzunehmen,dannkçnnenwirauchvollerHoffnungin diefremdenWelteneintreten,diesichumunsherumauftun.
EswareinesolcheHaltungderOffenheitundNeugier,mitder ichdenKinderninKirgistanbegegnete,dief rdien chstenzehn MonatemeineGef hrtenwerdensollten.Undeswarenihreganz persçnlichen,dramatischenGeschichten,dieeinentieferenWandel inmirbewirkten,alsjede«normale»Reiseesjemalsh ttetun kçnnen…
Die Seiten 26 bis 254 sind in dieser Leseprobe nicht enthalten.
JonathanB hnestudiertmomentaninLeipzigReligionswissenschaft.Erwurde2005inMendengeboren,wuchsinTeneriffaund DeutschlandaufundverbrachtenachseinemSchulabschlussein JahrinKirgistan.NebenseinemStudiumisteralsJournalist,Lektor undAutort tig.
«GottesEbenbilder, dieleben,alsseiensie GottesSkizzen.»
WerhçflicheTextemag,dienicht berrumpelnoderbefehlen,was wirzutunhaben,sonderndiesich damitbegn gen,neueGedanken inunsanzuregenunddabeiuns berlassen,waswirausihnenmachen,demseiendiehierversammeltenfunkelndenGedankensplitterdesLiteraturwissenschaftlers, TheologenundK nstlerseelsorgersBeatRinkempfohlen.
RinksKurztexteversetzenimbestenSinneinSchwingung:Sieregen,gegossenindieSchçnheitder Sprache,DenkenundGlaubenan.
«NimmdasleichteJoch, abernimmesnicht aufdieleichteSchulter.»
«NurderHeiligeGeistgibtRaum, indemerihneinnimmt.»
Hardcover|978-3-03848-289-5|80Seiten mitLesezeichenundfarbigenKunstdrucken