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BEKENNTNIS ZUR FARBE

Zur Malerei von Gerd Winter in der Galerie Netuschil, Darmstadt

Gerd Winter, „Weh mir, wo nehm‘ ich, wenn es Winter ist, die Blumen“, 2020, 100 x 150 cm, Mischtechnik auf Leinwand, Courtesy: Galerie Netuschil

Nach dem apostrophierten Ende der Malerei in den 1960er-Jahren loten Künstlerinnen und Künstler das Medium Malerei bis heute auf seine Gültigkeit aus. Grenzen und Möglichkeiten werden in einem bestehenden, unendlichen Facettenreichtum gezeigt. Der Maler Gerd Winter widmet sich seit über 40 Jahren konsequent und ausschließlich der Malerei, in der er mit seinen künstlerischen Intentionen die kunsthistorischen Werte des 20. Jahrhunderts reflektiert und den Betrachtenden eine neu zu ergründende Malerei mit Raum für neue Sehgewohnheiten eröffnet. Die Darmstädter Galerie Netuschil richtet eine umfangreiche Hommage für Gerd Winter ein und vermittelt, über das Jahr 2021 verteilt, an vier weiteren Ausstellungsorten in der Stadt das umfangreiche Werk des Künstlers. Gerd Winters sinnliche Malerei, die spielerisch und analytisch zugleich ist, erreicht eine Balance zwischen Stille und Expressivität. Seine konsequente Bildsprache, die sich aus der Kreuzform als Chiffre entwickelte, setzt sich mit ihrer stringent geometrisch gegliederten Form in seinen Kompositionen bis heute abstrakt und schemenhaft durch. Kraftvoll und zart stehen sich in einem vertikalen Raster unterschiedlich breite und malerisch gestaltete Farbsegmente gegenüber, korrespondieren miteinander und geben den Betrachtenden gleichzeitig die Möglichkeit, an diesem komplexen Dialog teilzuhaben. In vielen Bildern entstehen Rahmen- und Fenstersituationen, die perspektivische Ausblicke schaffen: Sie geben der Malerei Halt und erzeugen mit räumlicher Tiefe ein „Bild im Bild“. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit kommt ins Wanken und wird durch Überlagerung verschleiert. Diesen Effekt erreicht Gerd Winter durch das Auftragen vieler Farbschichten, wodurch die gestalteten Segmente in ein konstruktives Gespräch treten. Immer wieder übermalt der Künstler seine Bilder, bis sie ihre endgültige Form erhalten. Er arbeitet mit dem kalkulierten Zufall, verwischt Farbverläufe und Strukturen des zu entstehenden Bildes scheinbar zufällig, nimmt bereits vorhandene Malschichten ab, zerstört sie quasi, und trägt neue auf. Der Prozess wird gleichzeitig durch seine Arbeitsutensilien – Pinsel, Rakel, Farbrollen und Textiles – gesteuert. Gerd Winters Malerei geht eine spielerische Wechselwirkung ein und bewegt sich zwischen Opazität und Transparenz, zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, zwischen Fläche und Struktur und damit zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Immer wieder treten frühere Malschichten hervor, tauchen erneut unter, wodurch ein gebautes Bild entsteht, das mannigfaltig erlebbar und haptisch fast greifbar wie ein Relief ist. Dieses Verfahren erinnert an das eines Palimpsests, das durch das Abkratzen von tieferen Malschichten und das Hinzufügen von erweiterten Ebenen zu einer neuen Gestalt führt. Gerd Winter macht die Spuren absichtlich auf seinen Bildern sichtbar.

Gerd Winter im Atelier, Foto: © Galerie Netuschil

Der Künstler experimentiert mit den unterschiedlichsten Texturen von Farbe, fügt chemische Substanzen, Pigmente oder Sand bei, um sie dann nebenaneinanderzusetzen und die gemalten Flächen miteinander korrespondieren zu lassen. Eine gesteigerte Form dieser analytischen Wirkung erreicht er in seinen Diptychen und Triptychen. Er grundiert den Träger, Holz oder Leinwand, und fügt danach meist eine Schicht Eitempera als Bindemittel zu – eine gängige Methode des Mittelalters, um der aufgetragenen Farbe eine lang anhaltende Intensität zu verleihen. Der Künstler bewegt sich damit konsequent zwischen Tradition und Moderne. Nicht nur durch die christlich geprägte Komposition des Kreuzes und das Aufgreifen der mittelalterlichen Tafelmalerei, sondern auch mit der Verwendung von Ornamenten sucht er die Verbindung zu sakralen Bildelementen. Florale und organische Muster trägt der Künstler mit einer Handwalze auf und druckt die brokatenen Strukturen, die an wertvolle Textilien, Stoffe und Tücher des 16. Jahrhunderts erinnern, mit satter Farbe auf den Bildträger, was Konturen in rauen Kraterlinien zurücklässt. Gerd Winter, 1951 in Groß-Gerau geboren, studierte von 1979 bis 1984 Malerei an der Städelschule in Frankfurt am Main bei Thomas Bayrle, Ernst Caramelle, Bernhard Jäger, Raimer Jochims, Peter Klasen, Christian Kruck und Hermann Nitsch. Mit Letzterem, der mit dem Wiener Aktionismus und seinen Schüttbildern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein richtungsweisendes und gleichzeitig umstrittenes Zeichen innerhalb des europäischen Kunstgeschehens setzte, ist Gerd Winter bis heute verbunden. Ebenso wie sein Lehrer bindet Gerd Winter angrenzende Kunstformen wie die Musik oder die Literatur interdisziplinär in seine Malerei ein. Nicht nur die Wahl seiner Titel, etwa „Klangstück“, „Sonate“, „Haydn“ oder „Sinfonisch“, sondern auch den rhythmischen Pinselduktus versteht er als Huldigung an die Musik, die für Gerd Winter immer eine wichtige Rolle spielt. Seine Bilder gehen dadurch einen innerbildlichen und kryptischen Dialog ein, der die Betrachtenden dazu anregt, sie in ihrer Gesamtheit zu erschließen und zu verstehen. Aus diesem Grund werden in der Ausstellung der Galerie Netuschil der Malerei parallel Skulpturen in Bronze, Stahl und Stein von Till Augustin, Jörg Bach, Helga Föhl, Georg Hüter, Kubach & Kropp und Matthias Will gegenübergestellt, die biografisch und künstlerisch mit Gerd Winter verbunden sind. Jede bildhauerische Position tritt in eine klangvolle und raumübergreifende Korrespondenz zu der Malerei Gerd Winters. In seinen neuen Arbeiten, die in der Ausstellung der Galerie Netuschil zu sehen sind, löst Gerd Winter die formgebende Strenge partiell auf und es scheint bisweilen, als springt die Farbe übermütig aus der festgefügten Komposition und übernähme die Oberhand im Bild. Als Betrachtende an diesem Balanceakt zwischen Leichtigkeit und Strenge im bestimmenden Einsatz der künstlerischen Mittel teilzuhaben, das macht die Botschaft und die Spannung in der Wahrnehmung des malerischen Werks von Gerd Winter aus.

JULIA HICHI

Gerd Winter, „Farbstück“, 2020, 55 x 65 cm, Mischtechnik auf MDF, Courtesy: Galerie Netuschil

2. Mai bis 12. Juni 2021 Gerd Winter Weh mir, wo nehm’ ich, wenn es Winter ist, die Blumen … Neue Malerei & Skulpturen in Bronze, Stahl und Stein von Till Augustin, Jörg Bach, Helga Föhl, Georg Hüter, Kubach & Kropp, Matthias Will www.galerie-netuschil.net

PARALLELE AUSSTELLUNGEN

Gerd Winter Farbe bekennen. Bilder der letzten Jahre www.daskrue.de

Gerd Winter Ausblick, Weite und Tiefe. Ausgewählte Malerei Parallel: Stahlskulpturen von Matthias Will Stadtkirche Darmstadt

Gerd Winter Gott zu Ehren! Kirchliche Textilien Paramentenwerkstatt Darmstadt

Gerd Winter Alphabete. Typografie als Kunst Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt