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50 JAHRE „INKA

Mit Joseph Beuys durch das Allgäu

Joseph Beuys mit Rudolf Saacke vor dem Humboldt-Haus in Achberg, Ostern 1975, Foto: Rainer Rappmann

Joseph Beuys innerhalb Deutschlands allein in Düsseldorf oder Kassel zu verorten, würde dem Jahrhundertkünstler nicht gerecht werden. Dies zeigen seine regelmäßigen Aufenthalte in den 1970er- und 1980er-Jahren im Allgäu und in Oberschwaben. Hierbei spielte die gebürtige Hamburgerin Ingrid Feustel aus Wangen im Allgäu eine zentrale Rolle. Wohlgemerkt auf verschlungenen Wegen, bis es so weit war, dass sich 1971 der Verein „Internationales Kulturzentrum Achberg (INKA)“ gründete und in der Gemeinde Achberg das heute als Humboldt-Haus bekannte Tagungs- und Seminargebäude erwarb. 26 Jahre stand sie bis 2019 dem Verein „Interessengemeinschaft für Lebensgestaltung e. V.“ in

Wangen vor. In Hamburg in den 1960er-Jahren erinnert sie sich an ihre Besuche in der Teestube „Witthüs“ nahe dem Hauptbahnhof in Brandsende. An die tolle Atmosphäre und an die „Rundgespräche“, in denen es um aktuelle politische Fragen und Lebensthemen ging. Über den Kontakt zu Peter Schilinski (1916–1992) und der Schauspielerin Ursula „Ulle“ Weber (1921–2008) ist sie schließlich auf die Nordseeinsel Sylt gekommen. In die „Witthüs-Teestube“ in Wenningstedt, wo der Anthroposoph, Sozialpädagoge und Aktionist Peter Schilinski bereits 1954 mit Ulle eine erste Lebens-, Wohn- und Arbeitsgemeinschaft gegründet hatte. Hier wurde dem Impuls der „Dreigliederung des sozialen Organismus“, wie ihn Rudolf Steiner begründet hat, nachgegangen. „Ich kenne kein anderes Forum, das so geführt wurde“, blickt Ingrid Feustel begeistert auf die „Rundgespräche“ während der Studentenbewegung zurück. Die Essenz dieser Debatten veröffentlichte Peter Schilinski seit 1958 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „jedermann“, die heute noch als „jedermensch“ existiert. Von ihm ging der Gedanke an ein großes Haus als Forschungseinrichtung und Versammlungsraum aus. Gesucht wurde in Mitteldeutschland und gefunden wurde es in Achberg. Hier kommt der 1899 in Jena geborene Bauhäusler, Formgestalter und Plastiker Hanns Hoffmann-Lederer ins Spiel. Stark geprägt von Johannes Itten und dessen privaten Kunstschulen in Zürich und Berlin in den 1920er-Jahren erhielt er 1950 eine Professur an der Werkkunstschule Darmstadt. Nach seiner Emeritierung 1963 zog er sich mit

Dodo Ritter, Peter Schilinski, Ingrid Feustel (Dörnte), vor der „Alten Post“, aus: „Das Internationale Kulturzentrum Achberg (INKA), vom „Achberger Jahreskongress Dritter Weg“, 1974, Stills: Eva Hocke, zusammengestellt von Ramon Brüll und Rainer Rappmann aus den Super-8-Filmen von Ernst Sumpich, Peter Schata und Rainer Rappmann, Video, ca. 40 Min., info3-Verlag/Frankfurt & FIU-Verlag/Achberg, Achberg 2016

seiner Frau Mila in sein Haus „Akron“ in Achberg zurück, um hier das Spätwerk der „Raumformen“ zu vollenden. Er war es, der aus „jedermann“ von der neuen Standortsuche erfuhr und Peter Schilinski ein Wiesengrundstück in Achberg anbot. Da dieses aber nicht bebaubar war, ersteigerte das INKA Anfang 1971 das benachbarte leer stehende Hotelgebäude. Zwischenzeitlich war auch Ingrid Feustel vom Norden in den Süden gezogen. Sie mietete 1973 das Gasthaus „Alte Post“ in der nahe gelegenen Ortschaft Hergensweiler und führte 1975 einen Stammtisch mit „Rundgesprächen“ ein. Auf die Frage, warum so viele aus Norddeutschland sich gerade hierher, in diese von Wäldern und Wiesen eingebettete Hügellandschaft aufmachten, lacht sie und sagt: „Des INKA wegen.“ Mit ihr zogen Anfang der 1970er-Jahre Ulle Weber, die Künstlerin Traute Nierth, das Ehepaar Jutta und Fred Lauer mit Peter Schilinski von Sylt in den Süden sowie der Sozialforscher und Anthroposoph Wilfried Heidt aus Lörrach an den Bodensee. Während sich bis 1977 in der „Alten Post“ die sogenannte „Gruppe B“ an der Praxis orientierte, konzentrierte sich die „Gruppe A“ im Humboldt-Haus mit Vorträgen und Seminaren auf den wissenschaftlichen Zweig. Stets mit dem Ziel eines geistig-politischen Aufbruchs jenseits von Kapitalismus und Kommunismus auf der Basis von Begegnung und Bewegung. 1973 war Joseph Beuys erstmals offiziell Teilnehmer und Referent beim ersten Achberger Jahreskongresses. Inoffiziell hatte er schon zu Sylter Zeiten Kontakt mit Peter Schilinski und war seit den 1960er-Jahren „jedermann“-Abonnent. An der Gründung des INKA beteiligte er sich mit einer größeren Summe Geld, hält FIU-Verleger Rainer Rappmann fest. Es waren die frühen Achberger Jahre, in denen Ingrid Feustel Joseph Beuys in der „Alten Post“ bewirtete. „Beuys hat jeden, der vor ihm stand, als Mensch gesehen“, erinnert sie sich an persönliche Begegnungen, in denen selbst die Zubereitung und das Auftragen des Essens zur „Sozialen Plastik“ geriet.

„Vom Chaos zur Form – Theater und Aktion für die Soziale Skulptur“, mit Christoph Schlingensief, Vera Kamaryt und Johannes Stüttgen, Veranstaltung des Vereins Soziale Skulptur in den Räumen des INKA, Humboldt-Haus, Achberg, 2000, Ausschnitt Umschlagrückseite des Titels „Schlingensief/Stüttgen: Zum Kapital – Als Christoph Schlingensief das Unsichtbare gesucht hat“, FIU-Verlag

Joseph Beuys während seines Vortrags „Jeder Mensch ein Künstler“ im Internationalen Kulturzentrum Achberg (INKA), 23. März 1978. Im Humboldt-Haus beschriftete er die drei „Achberger Tafeln“ und hielt anschließend seinen Vortrag. Foto: © Peter Schata

Im März 1978 hielt Beuys im Humboldt-Haus seine Rede „Jeder Mensch ein Künstler“. In diesem Kontext realisierte er die drei sogenannten „Achberger Tafeln“. Mit weißer Kreide auf dunkel beschichtetem Holz gezeichnet und geschrieben, sind Gedankenbilder entstanden, die sich mit dem „Erweiterten Kunstbegriff“ auseinandersetzen. Wer sich an diesem 23. März auch im Auditorium befand, war der Galerist Ewald Karl Schrade. Er betrieb seit 1973 die Schlosshofgalerie im Alten Schloss in Kißlegg als damals einzige private Galerie zwischen Ulm, Lindau und Konstanz. Bereits hier eröffnete er neben den zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen das weltweit erste Besen-Museum, das es bis heute auf Schloss Mochental gibt. Ewald Karl Schrade war es, der Beuys’ Tafeln nach der Achberg-Aktion in die Schlosshofgalerie brachte und sie dort ein Jahr lang ausstellte. Von „meinen Tafeln“ spricht er heute noch, sich besinnend auf alte Zeiten, als unter anderem Peter Schata in Kißlegg Dozent der Winterakademie für Radierungen war. Er betrieb Anfang der 1980er-Jahre den Achberger Buchverlag und führte in Lindau eine Buchhandlung unter dem Namen „Machandelboom“. Peter Schata spielte eine wichtige Vermittlerrolle innerhalb des Achberger Kreises.

Katharina Sieverding und Rainer Rappmann im Gespräch, „Das Weibliche und der Sonnenstaat“, 3. Beuys-Syposium, 28. August bis 4. September 2005, Veranstaltung des Vereins zur Förderung des Erweiterten Kunstbegriffs und der Sozialen Plastik e. V. in den Räumen des INKA, Humboldt-Haus, Achberg, Foto: Babette Caesar

1967 wechselte Katharina Sieverding in die Klasse von Joseph Beuys, wo sie ihr Studium als Meisterschülerin im Jahr 1972 abschloss.

1977 verlagerte Peter Schilinski seine Arbeit in Richtung Bodensee in die Lindauer Ortschaft Wasserburg. Hier hatte sich 1976 in der Nachfolge der „Alten Post“ der Verein „Modell Wasserburg e. V.“ mit Ingrid Feustel als zweiter Vorsitzender gegründet. Der Verein erwarb das einstige Tanzcafé Uhlmann, das auf den Namen „Eulenspiegel“ umgetauft wurde. Die Idee war, etwas Eigenes aufzubauen, also unabhängig vom INKA. Eine selbstverwaltete Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die nach dem Sylter Modell auf drei Säulen aufgebaut war: Restaurant, Seminarraum und ein separates Holzhaus für Übernachtungen. Nach dem Tode von Peter Schilinski im Dezember 1992 betrieb die Gemeinschaft das Projekt weiter – bis heute. Ob Joseph Beuys zu Lebzeiten den „Eulenspiegel“ besucht hat, ist offen. Dass er aber im Februar 1985, ein Jahr vor seinem Tod, in Wangen im Gespräch mit Michael Ende über „Kunst + Politik“ einen denkwürdigen Auftritt in der Freien Waldorfschule hatte, ist vielen damals Zuhörenden noch lebhaft im Gedächtnis.

BABETTE CAESAR 28. Mai bis 13. Dezember 2021 50 Jahre Internationales Kulturzentrum Achberg (INKA) Ausstellung mit Werken von Hanns Hoffmann-Lederer, Myaria Keller und Joseph Beuys

Zur Eröffnung am 28. Mai 2021 Vortrag von Ingrid Feustel, Wangen „Hanns Hoffmann-Lederer – Ein Impulsgeber für das INKA“ Buchpräsentation von Prof. Justus Theinert, Stuttgart „Wissendes Gestalten“, Hanns Hoffmann-Lederer, Faksimile

Humboldt-Haus, Achberg-Esseratsweiler www.kulturzentrum-achberg.de

Ab Juni 2021 Galerie Schrade Schloss Mochental, Ehingen Ausstellung mit Werken von Joseph Beuys, Derek Kremer und Peter Schata www.galerie-schrade.de

www.eulenspiegel-restaurant.de