GESELLSCHAFT FISKUS
„JEDER KANN PSYCHISCH KRANK WERDEN“ Im Gespräch mit Psychologe Dr. Roland Keim
Interview: Renate Breitenberger
Depressionen, Angst, Sucht, Zwänge ... Über 2.000 Südtiroler wenden sich jedes Jahr an den Psychologischen Dienst im Gesundheitsbezirk Brixen, um sich psychologisch behandeln oder beraten zu lassen. Die Hälfte davon sind Minderjährige. Rund 500 Patienten werden jedes Jahr in den Krankenhäusern Brixen und Sterzing stationär aufgenommen. Die Dunkelziffer an Hilfebedürftigen dürfte jedoch weitaus höher sein. Viele Betroffene schämen sich, Unterstützung zu holen. Stattdessen leiden sie jahrzehntelang im Stillen oder nehmen sich gar das Leben, weil sie den inneren Druck nicht mehr aushalten. Doch Hilfe annehmen lohnt sich: Die meisten psychischen Erkrankungen sind heute behandelbar, wenn nicht zur Gänze heilbar.
Erker: Herr Dr. Keim, sind Sie ein zufriedener Mensch? Roland Keim: Ja und nein. Kommt darauf an, worauf ich mich bei diesem Urteil beziehe. Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden. Unzufrieden bin ich mit den globalen Entwicklungen. Die vielen Bilder von Menschen in Not, der nicht enden wollende Hass gegenüber Andersdenkenden, der niedrige Stellenwert von Menschenrechten, der offensichtliche Egoismus und vieles mehr lassen mich nicht unberührt. Die Liste scheint mit zunehmendem Alter immer länger zu werden. Vielleicht liegt das an mir, aber ich will dieses Unbehagen nicht einfach damit abtun, dass ich vielleicht zu
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Dr. Roland Keim: „Die mittlere Lebenserwartung bei psychischen Erkrankungen ist ähnlich vermindert wie bei starken Rauchern.“
dünnhäutig bin. Denken Sie oft über das Leben nach? Ja, ich glaube täglich. Ihre Erkenntnis? Das Leben ist zu kurz. Aber in dieser Begrenztheit liegt wohl auch der besondere Wert. Manche Menschen führen ein unbeschwertes Leben, andere erleben einen Tiefschlag nach dem anderen. Ist psychische Gesundheit Zufall, Schicksal, Glück? Wir können natürlich sagen, dass all das einfach vorgegeben ist, genauso wie es vielleicht vorgegeben ist, ob wir an unseren Einstellungen und unserem Verhalten etwas ändern wollen oder eine Behandlung aufsuchen. Im philosophischen Sinn erinnert mich das sehr an die Diskussion um Determinismus und Willensfreiheit, wie
sie beispielsweise bereits vor 200 Jahren Laplace geführt hatte. Andererseits können wir auch sagen, dass alles Zufall und Schicksal ist, wie es die Quantenphysik oder die Chaostheorie beschreiben würde. Jenseits solcher Grundsatzpositionen können wir im Alltag aber sehr wohl ungünstige Bedingungen wie genetische Vorbelastungen wie auch negative Umwelteinflüsse zumindest teilweise ausgleichen. Eltern können ihre Kinder nicht nur sportlich, sondern auch geistig und vor allem emotional fördern. Auch für Erwachsene ist es selten zu spät, sich zu verändern. Jeder von uns hat gewisse Prägungen, Neigungen und Phantasien. Ab wann gilt man als gefährdet, psychisch zu erkranken? Niemand ist vor psychischen Erkrankungen immun. Beim einen braucht es massive äußere nega-
tive Einflüsse, beim anderen reichen vermeintlich minimale Erlebnisse, um seine Stabilität ins Wanken zu bringen. Psychische Erkrankungen sind vor allem gradueller Art: Man ist nicht entweder depressiv, ängstlich, zwanghaft oder eben gesund. Insofern sind Antriebslosigkeit, vermehrte negative Gedanken, Neigung zu Schuldgefühlen einerseits Risiken für die Entwicklung einer Depression, sie sind aber auch schon erste depressive Symptome. Das Risiko, eine ausgeprägte psychische Erkrankung zu entwickeln, ist allgemein höher bei genetischer Vorbelastung, traumatisierenden Erlebnissen, unzureichendem sozialem Netzwerk, verminderter Leistungsfähigkeit, niedrigem Selbstwert, chronischen körperlichen Erkrankungen, Gefühl von Einsamkeit, erhöhter Impulsivität, chronischer Schlafstörung, Gefühl von Überforderung, Neigung zu problematischem Konsum von psychoaktiven Substanzen, vor