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Vom Weihnachtsbraten zur bedrohten Art

Mit den Weihnachtsbräuchen ist das so eine Sache: Nach übermäßigem Besuch des Christkindlmarkts und viel Glühwein findet man sich plötzlich am Heiligen Abend – zwar noch müde von der Skitour, aber mit einem Mordskohldampf – bei der Familie auf einem Festtagshühnerbraten kauend wieder. Warum ausgerechnet Hühnerbraten? Hatten wir das nicht schon zu Martini? Nein, das war doch ein Gans!

von Florian Lehne

Dabei haben diese beiden Vögel (oder genauer gesagt die Ordnungen der Hühner- und Gänsevögel) einiges gemein, werden sie doch in der vogelkundlichen Systematik zusammen unter den Galloanserae (lat. gallus = Hahn, anser = Gans) eingeordnet – sie haben also einen gemeinsamen Vorfahren. Im mittelalterlichen Europa müsste eine derartige Verbindung allerdings eher für Verwirrungen gesorgt haben. Damals wurden viele ans Wasser gebundene Tiere, darunter wohl auch Gänse, als Fische klassifiziert, vermutlich, um der Fastenzeit etwas den Schrecken zu nehmen. Dass sowohl Hühner als auch Gänse Nachkommen der einst die Erde beherrschenden Dinosaurier sind, konnte damals niemand ahnen. Hinsichtlich der engeren Verwandtschaft des eigentlich aus Südostasien stammenden, eben verspeisten Haushuhns – die wildlebende Stammform, das Bankivahuhn, kommt dort immer noch recht verbreitet vor – offenbaren sich auch heute noch bei so manchen Wintersportler*innen Wissenslücken. Besonders dann, wenn man nichtsahnend bergwärts plötzlich von einem großen schwarzen Huhn attackiert wird.

Alpine Hühner

Tatsächlich zählen fünf wildlebende Hühnerarten die Gebirge und Wälder der österreichischen Alpen zu ihrer Heimat: das Haselhuhn, das Auerhuhn, das Birkhuhn, das Alpenschneehuhn und das Steinhuhn.

Im Vergleich zu ihrer asiatischen Verwandtschaft haben sich die ersten vier sogenannten Raufußhühner schon seit der letzten Eiszeit in den Alpen niedergelassen. In der Fachsprache ist hier von einer boreoalpinen bzw. im Falle des Alpenschneehuhns von einer arktoalpinen Verbreitung die Rede. Das bedeutet, dass die Vorkommen dieser Arten einerseits in den nördlichen Breiten – entweder der arktischen Tundra oder der borealen Nadelwaldzone (besonders Fennoskandien, Sibirien) – sowie andererseits den alpinen Gebirgen liegen. Bei allen Raufußhühnern handelt es sich also um Eiszeitrelikte, die beim Rückzug des Eises nach Norden einfach gleich hiergeblieben sind. Immerhin sieht es ja so ähnlich aus wie in der ursprünglichen Heimat, nur nicht ganz so geräumig!

Doch was passiert, wenn dieser Platz immer weniger wird? Mit diesem Problem haben vor allem schon die innerhalb des Waldes lebenden Haselhuhn und Auerhuhn Bekanntschaft gemacht. Die moderne Waldwirtschaft hat einen starken Einfluss auf die Lebensräume dieser beiden Arten. Da das Auerhuhn lichte und strukturreiche Wälder bewohnt, kann es mit dem steigenden Holzvorrat und den zu dichten, dunklen Wäldern eher wenig anfangen. Zudem werden immer mehr Naturräume erschlossen und umgewandelt bzw. einer touristischen Nutzung zugeführt. Alle Hühnervögel sind sehr störungsempfindlich und scheu, auch wenn so manch ein Auerhahn einen anderen Eindruck erweckt. Werden Wälder von Besuchern hoch frequentiert, verschwinden die Hühnervögel mit der Zeit von der Bildfläche.

Über die Befugnis, den Wald betreten zu dürfen, urteilt mancherorts noch ein Auerhahn.

Foto: F. Lehne

Unwillkommener Gast

Eine verstärkte touristische Nutzung wirkt sich auch auf die im oberen Waldgrenzbereich lebenden Birk- und Steinhühner in ähnlichem Maße aus. Ebenso die Intensivierung der land- oder forstwirtschaftlichen Nutzung und andererseits auch die Nutzungsaufgabe – etwa durch das Auflassen von Almen, die in Folge zuwachsen. Nach der Jahrtausendwende trat allerdings noch ein weiteres Phänomen in den Vordergrund: Klimaerwärmung.

Besonders das Alpenschneehuhn bekommt die Auswirkungen des Klimawandels schon heute deutlich zu spüren, immerhin ist die Klimaerwärmung in den Alpen doppelt so stark wie im Durchschnitt der nördlichen Hemisphäre.

So war die Art Anfang der 1990er-Jahre z. B. in Südtirol noch weiter verbreitet und ist heute in zahlreichen Randgebieten der Alpen mittlerweile verschwunden. Auch aus der Schweiz gibt es ähnliche Hinweise. In den österreichischen Alpen ist mit einer ähnlichen Entwicklung zu rechnen. Die fortschreitende Erwärmung, kürzer werdende Winter und damit auch eine Veränderung der Vegetation mit sukzessivem Anstieg der Baumgrenze drängen viele Brutvögel, darunter auch das Alpenschneehuhn und das Birkhuhn, immer weiter nach oben. Aktuelle Studien in Tirol z. B. bestätigen, dass Schneehühner Bereiche mit hoher Vegetation meiden und sich v. a. in den Nördlichen Kalkalpen, die nach oben hin nicht mehr viel Platz bieten, auf geringer Fläche zusammenkuscheln müssen.

Als Reaktion auf den Klimawandel kann dort nicht in höhere Lagen ausgewichen werden, in Zukunft dürfte mit Bestandsverlusten zu rechnen sein. Das ist besorgniserregend, da die Gebirgslandschaft der Alpen mit ihrer landschaftlichen Vielfalt und dem großen Höhengradienten ein – für manche Arten auch „der letzte“ – Rückzugsort ist. Und wer steht schon gerne dicht gedrängelt am Gipfel?

Das Alpenschneehuhn vertraut meist auf seine Tarnung und versucht Energie zu sparen. Auch wenn man es nicht bemerkt, kann sich wiederholter Stress negativ auswirken.

Foto: F. Lehne

Umweltunfreundlicher Bergsport

Das denken sich wohl auch die Alpenschneehühner, wenn sie knarrend-schimpfend von ihrem Ruheplatz flüchten müssen. Dabei war dieser gerade so gemütlich zwischen ausgeaperten Zwergstrauchheiden gelegen. Doch eine Gruppe rüpelhafter Primaten mit bunten Anzügen und langen Latten an den Füßen hatte anscheinend nur das Gipfelkreuz im Blick. Die von Skitourengeher*innen oft angenommene „Umweltfreundlichkeit“ und „geringe Belastung für die Natur“ wird von vielen Wildtieren, darunter auch dem Alpenschneehuhn, als gar nicht so gering empfunden.

Auch für andere alpine Tiere wie die Gams oder den Steinbock, die mit monatelanger Kälte und Nahrungsknappheit zurechtkommen müssen, können diese andauernden Störungen sehr belastend sein. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass der Tourensport mittlerweile ein Massenphänomen mit jährlich hunderttausenden Teilnehmer*innen geworden ist. Im Gegensatz zu großen Skigebieten, die zwar große Flächenverluste für die Vögel bedeuten, bei denen sich jedoch gewisse Gewöhnungseffekte einstellen, können Natursportler*innen sowohl räumlich als auch in ihrer Frequenz von Wildtieren schlecht vorhergesagt werden. Zudem tauchen diese mittlerweile fast überall auf, manchmal auch mit Schneeschuhen. Die ohnehin schon durch den Winter geschwächten Tiere treten in Folge eine risikobehaftete Flucht an und müssen viel Energie für Wachsamkeit und Notfallpläne verschwenden.

Auf die Gans verzichten

Abschließend stellt sich die Frage: „Was tun?“, oder vielleicht auch: „Kann ich diesen Weihnachtsbraten noch essen?“. Die Antwort ist vielleicht gar nicht so schwierig und hilft – wenn auch in geringem Ausmaße – sogar der heimischen Bergvogelwelt. Immerhin wird ein Großteil der Gänse nicht in Österreich gezüchtet, sondern unter höchst widrigen Umständen im Ausland regelrecht „produziert“ und importiert. Man sollte sich also die Frage stellen, ob sich Massentierhaltung und großdimensionierter Fleischtransport durch einen jahrhundertealten Brauch rechtfertigen lässt. Kann man diese Frage mit nein beantworten, so hat dieser Verzicht schon einen gewissen Beitrag gegen die globale Erwärmung geleistet.

Was Freizeitgestaltung und Tourismus betrifft, kann man der heimischen Vogelwelt ebenso unter die Flügel greifen. Ein Schutz vor Störungen, wie z. B. beruhigte Zonen, und das Mitdenken bei touristischen Konzepten wird notwendig sein, um manche Arten als Brutvogel weiterhin halten zu können. Auch Lenkungskonzepte für Mountainbike- und Ski-/Snowboardtouren stellen wichtige Werkzeuge dar. Um der Veränderung der Lebensräume Einhalt zu gebieten, eignen sich Auflichtungen durch Holzschläge, Pflege von Almflächen und weitere Managementmaßnahmen. Ob als Sportler*in, Förster*in, Touristiker*in, Landwirt*in: Wir bestimmen, wie diese Geschichte weitergeht.  

Birkhühner verbringen den Tag entweder nicht sichtbar in einer Schneehöhle oder verstecken sich im Krummholz.

Foto: F. Lassacher

Florian Lehne studierte Biologie und Zoologie an der Universität Innsbruck, wo er sich v. a. mit der Vogelfauna Tirols und anderen Teilen der Welt beschäftigte. Seine Abschlussarbeit widmete er den Raufußhühnern der Tiroler Alpen. Er arbeitet seit 2021 als Sachverständiger für Naturkunde beim Amt der Tiroler Landesregierung, Abt. Umweltschutz, und ist vogelkundlicher Experte beim alpenvereinseigenen Biodiversitätsmonitoring „Vielfalt bewegt! Alpenverein von Jung bis Alt“.

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