Die Familien Redlich und Hellmann in Aussee
Teil 2
Die Altausseer Sommervilla von Rosa Redlich, Puchen Nr. 60, wurde nach ihrem Tode am 13. Juli 1908 von ihrer Tochter Irene, verheiratete Hellmann, alleine übernommen. Die Villa blieb trotzdem bis 1938 auch ein Mittelpunkt des Lebens der Familien ihrer beiden Geschwister Fritz und Josef Redlich und vieler Gäste. Insbesondere Bruder Josef Redlich hielt sich zwischen seinen zahlreichen Reisen immer wieder in Altaussee auf. Als begeisterter Wahl-Altausseer vergaß er nie, diese erholsamen Besuche in seinem Tagebuch sorgfältig zu vermerken. VON MARTIN TH. POLLNER Als der schon 59jährige Professor der Harvard Law School, Dr. Josef Redlich, im Mai 1928 das Manuskript seiner Biographie des Kaisers Franz Joseph als sein letztes großes historisches Werk - in den USA - abgeschlossen und in den Sommermonaten auch die Druckfahnen der englischen und deutschen Ausgabe durchgearbeitet hatte, griff er, noch immer in Harvard, am 27. September zur Feder, um in unverkennbarem Heimweh nach Altösterreich sein eigenes Leben darzustellen, das er als unauflösbare Verknüpfung mit der Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie empfand. Diese Schrift, der er den Titel: „Aus dem alten Österreich. Erinnerungen und Einsichten“ gab, blieb Fragment, weil schon bald darauf neue wissenschaftliche Anforderungen an ihn herantraten. Aber bereits das Fragment eröffnet faszinierende Einblicke nicht nur in die Geschichte seiner Familie und seines eigenen Lebens, sondern auch in das Wesen des altösterreichischen Staates. Dazu kommt, daß Josef Redlich im Jahre 1891 als 22jähriger Student begonnen hatte, ein Tagebuch zu schreiben. Er führte es ab etwa 1902, mit zunehmender Genauigkeit und Regelmäßigkeit ab 1908, weiter, bis es ab Anfang 1919 mehr und mehr verfiel. Er selbst erkannte einige Jahre vor seinem Tode 1936 den hohen Wert seiner fragmentarischen Familiengeschichte und speziell seiner Tagebücher als historische Quellen zum letzten Jahrzehnt der österreichisch-ungarischen Monarchie und beabsichtigte eine Drucklegung. Eine maschinschriftliche Abschrift war im Winter 1937/1938 schon an einen Verlag gegangen, wo sie aber bald darauf von den Nationalsozialisten vernichtet wurde. Tagebücher geben tiefen Einblick in die österr.-ungar. Monarchie Josef Redlichs Witwe Gertrude gelang es bis 1945, die Originale zu verbergen. Ab 1950 wurden die schwer lesbaren Originale neuerlich gelesen und transskribiert, so daß 1953 ein Auszug aus den Tagebüchern unter dem Titel: „Schicksalsjahre Österreichs 1908-1919. Das politische Tagebuch Josef Redlichs“ in zwei Bänden erscheinen konnte. Die beiden bald vergriffenen Bände und, mehr noch, die dreibändige Ausgabe der ungekürzten Tagebücher des Jahres 2011 gelten heute als bedeutende historische Quellen zur Geschichte des letzten Jahrzehnts der habsburgischen Herrschaft. Redlichs einzigartige Berichte über Hintergründe politischer Vorgänge an der österreichischen Staatsspitze vor dem Ausbruch und während des Ersten Weltkrieges bis hin zum Kriegsende sollen hier in der Alpenpost zum hundertjährigen Gedenken an den Aus18
bruch des Ersten Weltkriegs zumindest ansatzweise gewürdigt werden. Hingegen werden in einer großen Sondernummer der Alpenpost zum Ersten Weltkrieg, die im Sommer 2014 erscheinen wird, spezielle Ausseer Schicksale dieser schweren Jahre im Mittelpunkt stehen. Zuvor aber muß hier Leben und Werk von Josef Redlich näher dargestellt werden. Ein wißbegieriger Knabe- mit einer Antipathie für Märtyrer Josef Redlich wurde am 18. Juni 1869 in Göding (heute Hodonin) an der March, Südmähren, geboren. Über seine Familie wurde bereits in der zuletzt erschienen Alpenpost berichtet. Seine erste Muttersprache war das Slowakische. Mit vier Jahren erhielten er und sein Bruder Fritz ein Wiener Kindermädchen, von dem er Deutsch lernte. Schon vor seinem sechsten Lebensjahr hatte Josef Redlich sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht, so daß er nach einigen Privatstunden in Rechnen die Aufnahmsprüfung in die vierte Klasse Volksschule mit bestem Erfolg bestand. Da Josef Redlich schon viel gelesen hatte, denn in seiner Familie lagen diverse alte Lehrbücher seines Onkels, illustrierte Bücher über österreichische Geschichte usw., auch täglich die „Neue Freie Presse“ aus Wien auf, bot ihm die Schule nichts Neues, abgesehen vom Naturalienkabinett mit den ausgestopften Tieren, den Käfern, Kristallen und Herbarien - und dem katholischen Religionsunterricht. Als Sohn einer jüdischen Familie hatte Josef Redlich nämlich zuhause einen jüdischen Religionslehrer, der ihm die Thora in der hebräischen Ursprache und in deutscher Übersetzung vorlas. Noch viele Jahrzehnte später war Josef Redlich stolz darauf, hebräische Texte lesen und manche Wörter übersetzen zu können. Trotz seiner jüdischen Tradition nahm er also am für ihn neuen Unterricht der katholischen Religion mit seinen interessanten Bibel-Erzählungen teil. Nur die Darstellungen der Märtyrer in Text und Bild bereiteten ihm zeitlebens das abstoßende Gefühl des FremdartigGrausigen. Ein Humanist und “Retter des Kaiserreiches” Josef Redlich lernte von Anfang an mit größter Leichtigkeit. Zu Slowakisch und Deutsch kam nun mit einem französischen Kindermädchen auch das Französische. Er war begierig, Geschichte zu lesen, denn es interessierte ihn immer besonders, was „vorher“ gewesen war. Sein Lehrer schenkte ihm das mehrbändige „Vaterländische Ehrenbuch“, eine literarische Ruhmeshalle babenbergischer und habsburgischer Fürsten, Feldherren und Staatsmänner, und es waren speziell diese Bücher, die
Josef Redlich war zweimal Finanzminister, im k. k. Kabinett Lammasch Oktober November 1918 und im Kabinett Buresch I, Juni bis August 1931. Das Bild zeigt eine Schriftprobe Redlichs aus einem Brief an Leopold von Chlumecky.
Redlichs lebenslange kaisertreue Einstellung befestigte. So wie es die Feldherren im Buch taten, sammelte er in seiner Phantasie ein Heer und rettete damit dem österreichischen Kaiser sein Land. Im Alter von acht bis neun Jahren hatte er schon alles gelesen, was ihm unter die Finger gekommen war: Lederstrumpf, Märchenbücher, tägliche Zeitungen, die Gartenlaube, Robinson Crusoe. – 1878, mit neun Jahren, kam Josef Redlich nach Wien ins Gymnasium und wohnte zunächst bei einer Tante, später bei fremden Leuten. Seinen Vater sah und sprach er wöchentlich mehrmals. Fast alle Gegenstände des Unterrichts, besonders die neu zu lernenden Sprachen Griechisch, Latein, Tschechisch, Englisch, dann Geographie, und mit immer neuem Heißhunger Geschichte, fielen ihm äußerst leicht, nur mit Mathematik, Physik oder Chemie konnte er sich nie anfreunden. Empört fragte er, was ihn denn der Pendelbeweis anginge? Freudenfeuer mit Lern-Utensilien Sofort nach der Matura 1886 am Akademischen Gymnasium zündete er trotz warmem Wetter seinen Ofen an, verbrannte alle seine naturwissenschaftlichen Hefte und Bücher und beschloß, sich niemals mehr damit zu beschäftigen. Sein folgender, breit ausufernder Lebenslauf kann hier nur mehr in wenigen Schlagworten dargestellt werden. Im Herbst 1878 Beginn des Studiums der Rechtswissenschaften an der Universität Wien, je ein Semester in Leipzig und Tübingen, Spezialisierung auf verwaltungsrechtliche und staatswissenschaftliche Probleme. Carl Menger und Böhm-Bawerk waren die Lehrer, denen er das Entscheidende seiner Ausbildung verdankte. 1891 Promotion, danach Praktika in Brünn und Wien. Schon während der Studienjahre war er wiederholt nach England gereist, 1901 veröffentlichte er sein Buch „Englische Lokalverwaltung“, das ihn schlagartig berühmt machte. Dieses
Werk wurde in England 1903 zu einem Lehrbuch dieses Faches. Es folgte 1905 „Recht und Technik des englischen Parlamentarismus“, ein noch viel größerer Erfolg. 1908 folgte das „Wesen der österreichischen Kommunalverfassung“. 1901 habilitierte sich Redlich an der Universität Wien als Privatdozent für Staats- und Verwaltungsrecht, erlangte 1906 die außerordentliche Professur, erst 1915 die ordentliche, jedoch schon 1909 die ordentliche Professur an der Technischen Hochschule Wien. 1910 erste Reise in die USA, Vorlesungen in Illinois, Urbana und Harvard. 1913 zweite Reise in die USA für die Carnegie Foundation. Ab 1921 weitere USA-Reisen, 1926 Ernennung an der Harvard University, bis 1935 hier umfangreiche Lehrtätigkeiten mit größten Anerkennungen. Ein politisch “Eingeweihter” und großer Menschenkenner 1907 ließ sich Redlich zum ersten Mal, 1911-1914/1917-1918 zum zweiten Mal als deutsch-freisinniger Abgeordneter des Wahlkreises Göding in den Reichsrat wählen. Trotz seiner Zugehörigkeit zu einer Wahlpartei ging er als Abgeordneter strikt seine eigenen Wege und hielt sich politisch, menschlich und finanziell vollkommen unabhängig. Dies neideten ihm zwar viele, aber wegen seines unbestreitbar hohen intellektuellen Ranges konnte ihn niemand behindern. Schon innerhalb kurzer Zeit gehörte er zu den prominentesten Abgeordneten und fand fast überall Anerkennung, vor allem weil er, wie auch in seinen Vorlesungen, ein hervorragender Redner mit viel Geist und Witz war. 1908 wurde er in die Delegation gewählt und hielt hier im Oktober eine große Rede zur Annexion von Bosnien und der Herzegowina, die ihn sogleich als bedeutendsten Verfechter einer aktiven österreichischen Außenpolitik auswies. Damit war er als politisch „Eingeweihter“ anerkannt und wurde, neben seinen stets wachsenden wissen-