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Offener Brief

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Kultur

Kultur

Immer wieder verblüfft und verwirrt uns die Tatsache, dass inmitten von Tod und Zerstörung die Musik, der Tanz, das Theater aufblühen und begeistern und dass die Kunst als ein notwendiges Lebenselixier von den betroffenen Menschen ersehnt und angenommen wird.

Das Gegenteil müsste doch eigentlich eintreten: Das Ende von jeglichem kulturellen Engagement, das Desinteresse an jeglicher künstlerischer Darbietung. So denkt man doch gemeinhin: Die Menschen haben jetzt andere Sorgen als Lieder, Tänze und Spiele. Nahrung, Kleidung, Dachüberm-Kopf habe nun absolute Priorität.

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Dass es in Zeiten großer Not auch in früheren Zeiten, zusätzlich zur Ernährung des Körpers, immer auch der notwendigen Nahrung des Geistes bedurfte, verdrängen wir meist. Selbst in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten, unter grausamsten Bedingungen, fand Kultur durch Solisten, Musikkapellen und Chöre statt. Denken wir nur an das berühmte Lied aus dem KZ Börgermoor „Die Moorsoldaten“. Das Lied, das der politische Gefangene Wolfgang Langhoff, trotz der täglichen Schikanen durch die KZ-Aufseher und der unmenschlichen Bedingungen im Lager, komponierte, textete, einstudierte und dort mit größtem Erfolg, trotz all des Elends, zur Aufführung brachte. Selbst die SS-Wachen waren laut Augenzeugenberichten so begeistert, dass sogar sie sich immer wieder eine Wiederholung der Darbietung wünschten.

Der Intendant der Oper in Lwiw (Lemberg) und frühere Kulturminister der Ukraine, Vasyl Vovkun, führte im Mai 2022 ein Gespräch mit dem Berliner Tagesspiegel. In dem Interview ging es gerade um dieses brisante Thema: Soll und kann man in diesen schweren Tagen des Krieges den Kulturbetrieb aufrechterhalten? Der Intendant erklärte

Musik, Tanz und Theater mitten im Ukraine-Krieg Bombenalarm auf der Bühne

dem Tagesspiegel, wie wichtig es sei, Menschen gerade in diesen Zeiten auch mit Kultur zu versorgen. Während dieser tragischen Ereignisse bleibe die Kunst der einzige Raum, in dem man noch Freude und Leben spüren könne.

Vovkun leitet seit dem Jahre 2017 das Opernhaus von Lwiw (Lemberg) und ist seither bestrebt, das Haus zum künstlerischen Zentrum und Vorzeigeprojekt des Landes zu machen. Das Opernhaus zählt zum Weltkulturerbe und ist eines der architektonisch bedeutendsten Bauwerke in der Ukraine. Eröffnet wurde es im Jahre 1900 während der Zeit der k.u.k.-Monarchie. Die Schließung des zweitgrößten Opernhauses der Ukraine wurde von den russischen Invasoren angeordnet. Nach einem Monat entschied Vasyl Vovkun jedoch mutig, ab dem 1. April diesen Jahres die Türen des Hauses wieder zu öffnen und die Arbeit mit seinen Künstlern wieder aufzunehmen.

Er erzählt weiter, dass das Haus auch trotz des ständigen Bombenalarms geöffnet bleibe, für die Mitarbeiter und das Publikum gäbe es einen Bunker. Während des Fliegeralarms werde die Arbeit unterbrochen, jedoch würde nach der Entwarnung unverzüglich weitergearbeitet.

Der TV-Sender Arte strahlte im Juni 2022 in seiner Dokumentations-Reihe

„Arte-Re“ einen 30minütigen Bericht über die bemerkenswerten Ereignisse rund um das Opernhaus in Lwiw aus. Der Titel der Sendung lautete: Bombenalarm auf der Bühne – die Oper in Lwiw trotzt dem Krieg. Darin wurde auf beeindruckende Weise berichtet, wie die Künstler und Mitarbeiter des Hauses die Situation bewältigen und wie sie mit den bedrohlichen Umständen fertig werden.

Vasil Vovkun teilte unumwunden mit, wie sehr die schockierenden Bilder aus Gostomel, Butscha und Irpin die Psyche des gesamten Teams belasten und wie schwer es ist in der heutigen Zeit, solche Umstände überhaupt noch zu akzeptieren. Er stellt ferner fest, dass nach seiner Ansicht die sogenannte „Russische Kultur“ und die „Russische Welt“, die hier etabliert werden sollen, letztlich in einen furchtbaren Rassismus münden werde. Im Gespräch mit dem Berliner Tagesspiegel erzählt Vasyl Vovkun, einige seiner Mitarbeiter hätten sich gleich zu Beginn des Krieges der Landesverteidigung angeschlossen. Viele von ihnen hatten in der ukrainischen Armee gedient. Einige Frauen seien bei der Herstellung dringend benötigter medizinischer und militärischer Ausrüstung beteiligt gewesen und nicht zuletzt habe man Hilfe bei der Versorgung mit Lebensmitteln geleistet.

Trotz aller Schwierigkeiten und Hemmnisse wird im Opernhaus in Lwiw weiterhin für die Aufrechterhaltung des Kulturbetriebes gesorgt. Am Anfang des Krieges „nur“ mit Konzerten, aber

mittlerweile auch mit vollständigen Opernwerken und sogar mit Ballettaufführungen. Vasil Vovkun sagt dazu im Tagesspiegel: „Eine kollektive Depression ist die größte Gefahr. Um die zu verhindern, haben wir sogar während des Krieges mit den Proben zu Francis Poulencs ‚Les Dialogues des Carmelites‘ begonnen. Das ist wirklich hart, da wir keinerlei finanzielle Unterstützung bekommen. Aber wir hoffen auf unsere europäischen Partner und auf die Verwirklichung unseres Traums“.

Wolfgang Waldenmaier

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