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Next Generation EU

Karl-Alois Bläser

Referatsleiter VIII A 3 Grundsatzfragen des Europarechts, EU-Koordinierung, Europäisches Beihilfenrecht, Länderreferat Nord-, Mittelund Osteuropa, Russland, Beziehungen zum Vereinigten Königreich)

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Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen

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Next Generation EU Engagement für Europa lohnt sich

Text: Karl-Alois Bläser

Das Jahr 2020 hat Europa (und andere Teile der Welt) mit der Corona-Pandemie vor die größte Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren gestellt. Die Krise hat offenkundig gemacht, dass nur Zusammenhalt und solidarisches Handeln die Zukunftsfähigkeit der EU garantieren können. In der zweiten Jahreshälfte werden weiterhin die Weichen für die Überwindung der Corona-Krise gestellt - unter deutscher Präsidentschaft. Klimaschutz und die Förderung grünen Wachstums, Digitalisierung und Aufbau sicherer Datenstrukturen sowie die Übernahme von mehr globaler Verantwortung – in diesem Dreiklang setzt sich Deutschland als „ehrlicher Makler“ für mehr Mit- und Füreinander der EU-27 ein. Dies ist fürwahr keine leichte Aufgabe, denn Europa befindet sich seit vielen Jahren im Krisenmodus.

Staatsschulden, Migration, Brexit, sind neben der Corona-Pandemie nur einige der Stichworte, welche die großen Herausforderungen beschreiben, die Europa zu bewältigen hat. Hinzu kommen die Risiken, die sich durch die Globalisierung ergeben, insbesondere der Verlust geopolitischer Stabilität: China erhebt den Anspruch, die Weltordnung nach seinen Vorstellungen neu zu gestalten. Die westliche Führungsmacht USA unter Präsident Trump wendet sich mit ihrer Strategie des „America First“ von seinen wichtigsten Verbündeten in Europa ab und kehrt dem Multilateralismus den Rücken zu. Russland versucht, mit seinen gewaltigen Energieressourcen Einfluss im Westen zu nehmen und die EU zu schwächen.

Phönix

Seit Bestehen der Europäischen Union gab es laute Kassandrarufe, die das Ende dieser einmaligen Friedens- und Wertegemeinschaft heraufbeschworen haben. Jedes Mal ist Europa am Ende der kritischen Phasen wie ein Phönix aus der Asche auferstanden und gestärkt aus seinen Krisen hervorgegangen. Das sollte auch diesmal zu erwarten sein. Die Bereitschaft, die EU zukunftsfähiger und krisenfester zu machen und gleichzeitig dabei mehr globale Verantwortung zu übernehmen, steigt angesichts der Erkenntnis, dass zur Bekämpfung der Pandemie zunächst kaum gemeinsame paneuropäische Wege gegangen wurden. Vielmehr zog Europa sich reflexartig in seine nationalen Schneckenhäuser zurück.

Die COVID-19-Pandemie hat unsere Augen geöffnet, wie volatil die EU-27-Staatengemeinschaft in Wahrheit ist. „Alle Schotten hoch!“ lautete die Devise der Mitgliedstaaten zu Beginn des Corona-Ausbruchs, und schneller als sich die Pro-Europäer die Augen reiben konnten, wurden die nationalen Grenzen geschlossen. Der Nationalstaat hatte das Sagen, als es um die innereuropäischen Grenzen ging. Wie hilflos mutete da das Bild der neuen EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen an, die in einem Videoclip ihrer mächtigen EU-Behörde erklärte, wie man sich in Corona-Zeiten richtig die Hände wäscht. Wir brauchen künftig mehr EU-Souveränität!

Nach einer Phase der Schockstarre und unterstützt vom deutsch-französischen Freundschaftstandem, hat die EU-Kommission inzwischen wieder die Initiative ergriffen und beachtenswerte Vorschläge unterbreitet, damit wir Europäer aus der Krise finden. Der MFR-Vorschlag (mehrjähriger Finanzrahmen) für die Jahre 2021 bis 2027 und der Aufbauplan mit seinem zukunftsweisenden Titel „Next Generation EU“ hat einen Umfang von 1,85 Billionen Euro. Es handelt sich um das bisher größte EU-Budget. Mit dem Recovery-Instrument in Höhe von 750 Milliarden Euro – einem Mix aus Zuschüssen und Krediten, rückzahlbar bis spätestens 2058 - übertrifft Kommissionspräsidentin von der Leyen noch den deutsch-französischen Vorschlag von Bundeskanzlerin Merkel und Staatspräsident Macron. „Nicht kleckern, sondern klotzen“, lautet nun scheinbar die Devise. Ein Grundkonsens scheint zu sein, dass nun die Zeit gekommen ist, mit befristeten staatlichen Ausgaben die europäischen Volkswirtschaften zu stützen. Dass die EU-Kommission erstmals Schulden aufnehmen, sich neue Einnahmequellen für ihren Haushalt genehmigen – und sich damit nebenbei mehr zentralistische Macht aneignen will - ist freilich nicht verborgen geblieben und wird heftig diskutiert. Zwei Mammutaufgaben hat die deutsche Ratspräsidentschaft bis zum Ende des Jahres zu erledigen: Die Verabschiedung des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) und der BREXIT, der zum Jahresende, in welcher Form auch immer, abgeschlossen sein muss.

Nordrhein-Westfalen wird sich mit konstruktiven, lösungsorientierten und in die Zukunft gerichteten Beiträgen einbringen. Das gilt auch für den Umgang mit Grenzen, denn das Land ist wegen der Vielzahl seiner exportorientierten Wirtschaftsakteure dringend auf offene Grenzen angewiesen, ebenso auf ungestört funktionierende Lieferketten. Gerade letztere fielen weitgehend aus und führten dadurch zu Versorgungsengpässen und sogar – ausfällen.

Europäische Binnennachfrage

Corona hat die europäische Wirtschaft stärker geschädigt, als bislang erwartet. Die deutschen Exporte sind bei vielen wichtigen Handelspartnern drastisch eingebrochen. Im Vergleich zum April des letzten Jahres lag der Rückgang bei den Exporten bei 31,1 Prozent. Auch die Importe waren laut Statistikamt um 16,5 Prozent niedriger als im März des Vorjahres. Der deutsche Exportüberschuss sank auf 3,5 Milliarden Euro (2019: 17,8 Milliarden Euro). Aus NRW-Sicht ist es daher besonders wichtig, alles zu tun, um die europäische Binnennachfrage nachhaltig zu fördern. Dies kommt auch insgesamt der deutschen, stark mittelständisch geprägten Wirtschaft zugute: Europa ist bekanntlich der größte Absatzmarkt für die deutschen und nordrhein-westfälischen Exporteure. Auch die Vorschläge der Europäischen Kommission zum EU-Haushalt 2021-2027 sowie dem Aufbauplan „Next Generation EU“ tragen nach Auffassung der meisten nordrhein-westfälischen Industrieverbände und –vereinigungen dazu bei, die deutsche und die europäische Wirtschaft zu stützen und insgesamt resilienter zu machen. Daher ist der Vorstoß der EU-Kommission zu begrüßen, im Rahmen des überarbeiteten mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 auch einen Aufbauplan vorzulegen. Allerdings lassen die Vorschläge der EU-Kommission die Frage offen, wofür Kredite und Zuschüsse vergeben werden sollen. Der Vorschlag, die Mittelvergabe an das Europäische Semester und damit an die (bisher wenig beachteten) Länderberichte der Kommission und die darin enthaltenen Empfehlungen zu binden, sind vage und lassen ein klares Konzept vermissen. Auch muss darauf geachtet werden, dass die außerordentlichen Maßnahmen unbedingt befristet bleiben; eine dauerhafte Vergemeinschaftung von Schulden in der EU kann nicht das Ziel sein.

Interessenkonflikt

Die Europäische Kommission hat vor, für die Rückzahlung der Anleihen neue eigene Einnahmequellen (z. B. Digitalsteuer, Plastiksteuer, CO2-Grenzausgleichssystem/border tax) zu erschließen, bzw. ihre Eigenmittel zu erhöhen. Mit den neuen Eigenmitteln könnte laut Kommission die Rückzahlung der 750 Milliarden Euro samt Zinsen über einen Zeitraum von 30 Jahren finanziert werden. Wenn die Mitgliedstaaten der Kommission diese neuen Einnahmen nicht bewilligen, dann werden entsprechende Ausgabenkürzungen in den zukünftigen EU-Haushalten fällig. Hier liegt ein zentraler Interessenkonflikt vor.

Die Bekämpfung der Corona-Krise ist auch aus konjunkturund wirtschaftspolitischer Sicht eine gesamteuropäische Aufgabe. Es bedarf daher, neben den nationalen Programmen, auch eines kraftvollen Programms seitens der EU. In ihrem 10-Impulse-Papier hat die Landesregierung bereits auf die Bedeutung einer Wiederbelebung des Binnenmarktes und eines Wiederaufbaufonds hingewiesen. Daher ist es auch aus Sicht des Landes sinnvoll, dass der Wiederaufbauplan verbindlich vorgibt, die Investitionen zu stärken sowie Strukturreformen und Bürokratieabbau umzusetzen. Auch langfristig tragfähige Staatsfinanzen und die Einhaltung der Fiskalregeln dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Es ist zu hoffen, dass das Europäische Parlament und der Rat der EU trotz des engen Zeitplans zu schnellen Entschlüssen kommen, denn schon im Januar 2021 soll der neue MFR gelten. Die europäische Integration ist als demokratisches Friedensprojekt auf der Basis gemeinsamer Werte entstanden und muss handeln sowie das „große Ganze“ im Auge behalten. Europa darf sich daher nicht nur mit sich selbst beschäftigen, denn nur, wer sich nicht einschließt, gewinnt die Zukunft. ◀

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