ZKO Opus IV Saison 2018/19

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FOKUS

Wenn Cameron Carpenter die Geschichte seines Lebens erzählt, hört sich das ein bisschen an wie der Comic eines Superhelden. Auf YouTube zeigt der Organist gern seinen von Liegestützen, Pilates und Yoga gestählten Oberkörper und erzählt die Geschichte vom Kind als Genie: Sohn eines Ofenmachers aus dem 13 000-Einwohner-Kaff Meadville in Pennsylvania, wo auch Sharon Stone herkommt. Schulbesuch? Fehlanzeige! Carpenter verbrachte seine Jugend in der Ofenbauerwerkstatt seines Vaters, die in seinen Erzählungen einem mythologischen Schauplatz nahekommt: «Um mich herum schlugen die Männer das Eisen», erzählt er, «und ich wollte sie unterhalten – laut, lauter, am lautesten.»

«Ich wollte sie unterhalten – laut, lauter, am lautesten.» Dafür stellten die Eltern dem Kind eine Hammond-Orgel aus den 30er-Jahren in die Schmiede. Carpenters Werkzeuge hiessen Bach, Chopin und Buxtehude – mit ihnen hämmerte er gegen Amboss, Metall und Schweiss. An diesen Komponisten konnte er seine überschüssige Energie loswerden, in ihnen suchte er seine Sehnsüchte, sie retteten ihn vor dem Alltag. Und er wurde besessen von der Idee, für sie die Welt zu revolutionieren. Auf jeden Fall die Welt der biederen Orgelmusik. Carpenter erfand ein Instrument, das alle Dimen­ sionen sprengt: Seine International Touring Organ ist ein Monstrum mit fünf Keyboards, sechs Subwoofern für den Knalleffekt und einem S ­ peicher, der mit Originalsounds von Hunderten historischer Orgeln vollgestopft ist. Mit ihr reist er um die Welt. Und wenn er mit seinen Füssen auf den Pedalen tanzt und mit den Fingern über die Tasten rast, nimmt er sich die Freiheit, Bachs «­Toccata» in eine andere Tonart zu transponieren, einige A ­ kkorde Mozarts auszubessern oder die «­Symphonie f­antastique» von Berlioz als Sound­ track eines Horror­films vorzustellen. Mit dieser Geschichte ist Cameron Carpenter zum Liebling der Medien geworden. Ein Liebling, der auch optisch für Aufmerksamkeit sorgt. Das gewachste, schwarze Haar ist perfekt gestylt, die Augenbrauen ordentlich gezupft. So stellte sich Carpenter von Beginn an gegen das Klassik­klischee und

erarbeitete sich einen Ruf als Orgel-Revolutionär, als Schrecken der Musikszene, der mit genialischer Gewalttätigkeit manch ehrenwertes Kircheninstrument durchhämmert und mit seinen Interpretationen dem Musikdünkel eine Absage erteilt. Man könnte die Geschichte von Cameron Carpenter aber auch etwas anders erzählen, mit An-


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