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Jakob Lenz

WAHNSINNIG WORTGEWALTIG

In der Kammeroper Jakob Lenz beschreibt Wolfgang Rihm die fortschreitende geistige Zerrüttung des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) während dessen dreiwöchigen Aufenthalts bei Johann Friedrich Oberlin in den Vogesen. Die Uraufführung fand am 8. März 1979 in der Hamburgischen Staatsoper statt und entwickelte sich in den darauffolgenden Jahren zu einer der am häufigsten gespielten neuen Kammeropern.

TEXT SOPHIA GUSTORFF

Wahnsinn ist anziehend. Das galt für das 19. Jahrhundert und Georg Büchner, der die Aufzeichnungen des psychisch zerrütteten Schriftstellers Jakob Michael Reinhold Lenz und seines elsässischen Gastgebers Oberlin Mitte der 1830er-Jahre zu einer Erzählung formte. Das galt für die Wende zum 20. Jahrhundert, für Sigmund Freud und seine Kollegen, die die geistigen Unter- und Abgründe der Gesellschaft erstmals freilegten. Das gilt für die wahnsinnsfixierte Postmoderne und Wolfgang Rihm, der sich, seinerseits quickfidel, 1978 in Lenz komponierend hineinversetzte. Und das gilt für uns, die wir, über Depressionen, Borderline und bipolare Störungen aufgeklärter denn je, immer noch lustvoll zusehen, wenn Hölderlin im Turm Kryptisches dichtet, Schumann in den Rhein springt und van Gogh sich selbst massakriert.

«Wenn keine Narren auf der Welt wären, was wäre die Welt.»

Jakob Michael Reinhold Lenz

Lenz hatte in seinem Wahn nichts allzu Spektakuläres getan. Überhaupt war sein Leben unscheinbar, blass, erfolglos. 1751 in Sesswegen im heutigen Lettland geboren, bricht er sein Studium der Theologie ab und damit auch mit seinem Vater. Er gibt Privatunterricht und schreibt. Seine Werke, wie das Trauerspiel Die Soldaten, finden kein besonderes Echo, ebenso wenig seine Liebe zu Friederike Brion, der Ex-Geliebten des von ihm bewunderten Goethe. 1778 rastet Lenz aus. In Zürich beschimpft er Menschen auf offener Strasse, den Arzt, der Goethes verstorbene Schwester Cornelia betreut hatte, geht er heftig an. Daraufhin nimmt er sich eine Auszeit. Er begibt sich in ein winziges Dorf im Elsass zu dem Pfarrer und renommierten Seelsorger Oberlin – und wandert zu Fuss allein über die Vogesen. Dort angekommen geht der Albtraum erst richtig los: Lenz hört Stimmen, er fantasiert, er spricht zu Toten und geht nachts baden. «Ich bin ein Fremder, unstet und flüchtig», beklagt er, der Aussenseiter, den auch das Bibelwort nicht retten kann. Lenz ist unheilbar krank.

Eine packende Stunde lang horchen wir hinein in die vielstimmige, disparate Innenwelt von Lenz.

Das Drama, das sich in den Wochen im Elsass abspielte – der Ausbruch von Lenz’ Geisteskrankheit –, macht Rihm in seiner Kammeroper Lenz sinnlich erlebbar. Nicht als Geschichte wie bei Büchner, sondern als Momentaufnahme: Eine packende Stunde lang horchen wir hinein in die vielstimmige, disparate Innenwelt von Lenz. Gespräche von Lenz mit seinem Freund Kaufmann und mit Oberlin sind hier ebenso zu vernehmen wie die Stimmen, die Lenz imaginiert. Sprache ist hier in diesem hitzigen Klanggeflecht allpräsent, Lenz aber geht sie am Ende aus. Sein Zustand ist unerträglich und unbegreifbar, zuallererst für ihn selbst. Vielleicht finden wir sein Schicksal gerade deswegen so anziehend: Weil wir mit ihm ringen.

JAKOB LENZ – KAMMEROPER VON WOLFGANG RIHM PREMIERE: SA, 19. NOV. 2022, 19.30 UHR ZKO-HAUS

Adrian Kelly Musikalische Leitung Yannick Debus Bariton, Lenz Sängerinnen und Sänger des Internationalen Opernstudios Zürcher Kammerorchester

CHF 75 Einführung 45 Min. vor Konzertbeginn Wolfgang Rihm Jakob Lenz

Aus der Konzertreihe «Hommage an Wolfgang Rihm» in Kooperation mit dem Opernhaus Zürich (mehr Infos: S. 32)

Weitere Vorstellungen: 22. November / 24. November / 26. November