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British Strings

STIMMEN WIE STERNE

VERY BRITISH: LERCHEN, VOLKSWEISEN UND TRADITIONEN

Es steigt in immer kleiner werdenden Spiralen bis sechzig Meter in die Höhe und kann fünf Minuten am Stück singen, weil es beim Aus- und Einatmen nicht absetzt. Das Feldlerchenmännchen, einst ein verbreiteter Bodenbrüter, hätte Sänger werden sollen. Stattdessen hat sein Singflug Dichter und Komponisten, insbesondere englischer Zunge, beflügelt.

TEXT CORINNE HOLTZ

Die Feldlerche jubiliert zum Beispiel im 122 Zeilen langen Gedicht The Lark Ascending von George Meredith. Unbändig vor Freude strebt die Sternenstimme in den Himmel, wie Wein perlt sie hinunter in den Kelch der Welt. Diese Zeilen messen sich mit Percy Bysshe Shelleys berühmter Ode to a Skylark von 1820 und sind nach Vaughan Williams Geschmack. Er überlässt den Jubel der Solovioline und versetzt ihre Stimme in eine traumartige Landschaft. Über pentatonisch grundierte Tonfolgen tastet sich die Violine in die Höhe, eingeleitet von einem Liegeklang des Orchesters. Die Kadenzen sind sehr oft eine Steilvorlage für Virtuosität. Hier nutzt sie der Komponist für meditatives Innehalten und notiert die Musik ohne Taktstriche. Erst im Mittelteil hebt das Soloinstrument zum Balzgesang ab und entwischt mit Trillern und Läufen dem auf dem Boden verhafteten Orchester.

Edward Elgar lässt sich von einer anderen Sirenenstimme betören. Sie begegnet ihm bei einem Spaziergang entlang der Küste bei Cardinganshire in Westwales. Die Luft im August 1901 ist lau, die See nahezu glatt, als der Komponist aus der Ferne eine Volksweise zugetragen bekommt. So will es die Legende. Die Melodie ruht im Skizzenbuch und hätte zunächst in eine walisische Ouvertüre einfliessen sollen. Elgars Verleger hat eine geschäftsträchtigere Idee und rät dem Komponisten, «ein brillantes Scherzo» für das neu gegründete London Symphony Orchestra und seine Streicher zu schreiben. Die Viola darf den Kern dieser rauschhaften Musik, die angeblich walisische Melodie, in der Introduktion exponieren. Bald gerät die Eingebung in den Strudel satztechnischer Verfahren. Sie wird in ein rondoartiges Geflecht eingebettet und im Allegro in eine stürmische Fuge. «Wer braucht englische Musik?», titelt Ralph Vaughan Williams 1912 einen Aufsatz über die Identität als englischer Komponist, der auf dem Kontinent selten gespielt wird. Williams Sinfonien huldigen der Natur, einmal sogar der Antarktis und sind der tonalen Tradition Englands und seiner Lied- und Chorkunst nahe. In Wien schreibt Schönberg zur gleichen Zeit das Melodrama Pierrot lunaire und wird zum Massstab westeuropäischen Fortschrittsdenkens.

Dazwischen positioniert sich Benjamin Britten, der 14-jährig einem Wunderkind ähnlich mit bereits hundert Kompositionen bei seinem zukünftigen Lehrer antritt. Frank Bridge unterrichtet Britten und bringt ihm die ihrerseits in England kaum beachtete Musik eines Skrjabin und auch die Schönberg-Schule nahe. 1937 wird ein Vorhaben Brittens konkret. Er gedenkt schon länger, über ein Thema von Bridge Variationen zu komponieren, als Boyd Neel und dessen Streichorchester eine Uraufführung an den Salzburger Festspielen präsentieren sollen. Britten schreibt in wenigen Tagen den Entwurf der Variations on a Theme of Frank Bridge und legt im Juli 1937 die Partitur vor. Gerade rechtzeitig, um im verbleibenden Monat die Zeit zum Einstudieren zu garantieren.

Der englische Sonderweg hat auch sein Gutes. Britten galt dort als Jahrhundertfigur, als der Kontinent ihn noch am Avantgardeverständnis der Nachkriegszeit mass und die musikgeschichtliche Bedeutung insbesondere seiner Opern ignorierte. Britten wollte übrigens bei Alban Berg studieren, einem der berühmtesten Schüler Schönbergs, nachdem er 1934 dessen Wozzeck am Radio gehört hatte.

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Daniel Hope Music Director Zürcher Kammerorchester

Grosses Abo CHF 110 / 100 / 85 / 60 / 35 Benjamin Britten Two Portraits for Strings Ralph Vaughan Williams The Lark Ascending, Bearbeitung für Streichsextett William Walton Sonata for String Orchestra Benjamin Britten Variations on a theme of Frank Bridge op. 10 Edward Elgar Introduction und Allegro op. 47