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Tour de Tirol .........................Seite
Tour de Tirol

gravel Schotterpässe, Forststrassen, lange Flussvelowege – bislang brauchte man unterschiedliche Fortbewegungsmittel, um Tirol umfassend zu erkunden. Jetzt gibt es Gravelbikes. Mit breiten Pneus und leichtem Rennvelorahmen, so das Versprechen, machen sie auf der Strasse und im Gelände Spass. Stimmt das wirklich? Ein Veloexperiment: drei Tage, leichtes Gepäck und 200 Kilometer.
text Merlin Gröber fotos Olaf Unverzart
Das Versprechen:

Wanderer stöhnen, Gravelbiker jubeln: eine leicht geneigte, schier endlose Schotterstrasse!
«Junge, das ist ja der Hammer!», ruft Valentin. Mein Kollege sitzt tief über sein Velo gebeugt und tritt in die Pedale. Ich fahre direkt hinter ihm und sehe nur seinen Hintern und eine Satteltasche, die fast hypnotisch hin- und herbaumelt. Wir sind auf einer Schotterstrasse unterwegs, irgendwo am Kaisergebirge, jagen über den Kies, nutzen abwechselnd den Windschatten des Vordermanns. Neben uns verschwimmen die Fichten zu einer braungrünen Wand, im Tal rauscht ein Bach durch spitzes Kalkgestein. Viel Zeit zum Staunen bleibt nicht, auf dem breiten, flachen Waldweg treten wir in die Pedale und geniessen den Rausch der Geschwindigkeit.
Gravelbikes sind eine Mischung aus Mountainbikes und Rennvelos, konzipiert für lange Velotouren auf nicht asphaltierten Strassen. Die Pneus sind breiter und gröber als normale Rennvelopneus, die Rahmen robust und die Lenker geschwungen– dadurch kann man häufiger die Griffposition wechseln und sich bei hoher Geschwindigkeit tief über das Velo beugen. Für unsere dreitägige Tour haben wir schnelle, 33 Millimeter breite Pneus aufgezogen und schmale Rennvelolenker gewählt. Unser Gepäck verstauen wir in Bikepackingtaschen, die hinten am Sattel, im Rahmen und am Lenker befestigt werden. Dadurch sind wir noch agiler und aerodynamischer unterwegs. Das ist das Versprechen: Mit Gravelbikes kann man mit der Geschwindigkeit eines Rennvelos durch die freie Natur fahren.
Unsere Tour durch Tirol beginnt an einem sonnigen Sommervormittag am Seefelder Bahnhof. Wir sind zu dritt: Valentin, ein Freund von mir aus Studienzeiten, unser Fotograf Olaf und ich. Unsere Mission: Tirol beim Bikepacking mit Gravelbikes neu entdecken. Wir alle fahren gerne Velo. Valentin durchquerte vergangenes Jahr mit dem Rennvelo Europa und Neuseeland. Ich bin viel auf Mountain- und Downhillbikes unterwegs, fahre seit dem Umzug in die Grossstadt öfter Rennvelo. Gravelbikes waren für mich bisher vor allem eins: ein Marketinggag. Ein Rennvelo mit Mountainbikequalitäten? No way. Wie naiv ich doch war.
Eine genaue Route für unsere Tour haben wir nicht, nur eine Idee: von Seefeld zum Achensee und weiter nach Kufstein, dann ums Kaisergebirge herum und dabei so weit kommen wie möglich. In Tirol gibt es 1.000 Kilometer Velowanderwege, die sich für Familien und Genuss-Velofahrer eignen, für Downhilljunkies bietet das Land mehrere abfahrtsorientierte Bikeparks, Mountainbiker finden anspruchsvolle Routen wie den 32 Etappen umfassenden «Bike Trail Tirol». Auf unserer Gravelbiketour müssen wir uns nicht für eine Sportart entscheiden, sondern wollen Genuss und Anstrengung verbinden: Schotter, steile Berge, abwechslungsreiche Aussichten und komfortable Unterkünfte – und so spontan bleiben wie möglich.
Steile Schotterwege sind ideales GravelbikeGelände. Hier: Abfahrt Richtung Johannestal


Alte Scheunen, neue Bilder: Valentin vor einem Bauernhof in Scharnitz
1. Start mit Krawall
«Männer, ich habe Lust auf Krawall.» Valentin verstaut seine Wasserflasche im Bidonhalter. Krawall heisst in diesem Fall: Lasst uns zum Achensee direkt durchs Karwendelgebirge fahren. 1.800 Höhenmeter auf Schotterstrassen, zwei Bergpässe und schmale Wege– eine herausfordernde Strecke für den ersten Tag. Olaf und ich lassen uns mitreissen. «Klingt gut. Lass uns direkt ausprobieren, was Mensch und Maschine so aushalten», sage ich. Wir zurren die Lenkertaschen fest, stopfen uns jeder noch einen Riegel in den Mund und starten in Richtung Karwendelhaus.
Unser erster Streckenabschnitt führt uns von Seefeld durch lichte Fichtenwälder, vorbei an perlenden Bächen. Der Geruch von feuchtem Moos und warmen Fichtennadeln liegt in der Luft, von den Weiden dringt das Läuten unzähliger Kuhglocken herüber. Im Tal wird die Schotterstrasse steiler, links ragen die schroffen Felsen der Nördlichen Karwendelkette empor, rechts die Gipfel der Vomperkette. Bergkiefern und kleine Ahornbäume säumen den Weg, über uns zieht am stahlblauen Mittagshimmel ein Bussard seine Kreise. Wir fühlen uns gut auf den Gravelbikes: Die Pneus rollen mühelos über den Kies, auch durch tiefen Schotter graben sie sich tapfer ihren Weg. Erst bei grossen Steinen müssen wir uns konzentrieren und die Fahrlinie bewusst wählen.
Nach einem letzten steilen Anstieg erreichen wir unser erstes Tagesziel: das Karwendelhaus. An den Felsen vor der Herberge lehnen Mountainbikes, E-Bikes und Wanderstöcke, ausser uns ist niemand mit Gravelbikes hier hochgefahren. Ein älterer Herr betrachtet staunend die Bikes. «Sind das Rennvelos?», fragt er, schüttelt den Kopf. «Na, Gravelbikes», antwortet Valentin und zeigt auf die breiten Profilpneus. «Gravel… was?», sagt der Mann. «Gravelbikes», sage ich und erkläre den Unterschied zu normalen Rennvelos. «Super, und damit kommt man bis hierher?», fragt der Wanderer. Wir nicken. Ja, und hoffentlich noch viel weiter.

2. Abfahrt und Aufstieg
... sind Gravelbikes am Karwendelhaus noch die Ausnahme.

Nach dem Mittagessen geht’s auf Schotter- und Teerstrassen durchs Johannes- und Risstal bergab, bevor wir auf einen schmalen Ziehweg Richtung Plumsjoch abbiegen. Über schier endlose Serpentinen schrauben wir uns in die Höhe, durchqueren mehrere Bachläufe und fahren an steilen Abhängen entlang. Inzwischen fährt jeder von uns sein eigenes Tempo, wir reden kaum noch, versuchen, unsere Energie zu sparen. Bald brennen meine Beine, Schweisstropfen laufen über das Gesicht, fallen vom Kinn und zerschellen auf dem Oberrohr des Bikes. Je höher wir fahren, desto kühler wird es, oben angekommen pfeift ein kalterWind über das Joch und jagt uns Schauer über den nass geschwitzten Rücken. Zeit für die Windjacke; dann geht’s über einen steilen Schotterweg ins Tal.
Nur zwei Stunden später sitzen wir an einem Tisch mit weissen Tischdecken. Das Hotel Liebes Caroline, unsere Unterkunft, lädt zum Galadinner. Die Kellner tragen Anzüge– und servieren Lachstatar, Kresseschaumsuppe und Roastbeef. Wir trinken einen guten Cuvée – und ein paar Liter Wasser. Es fühlt sich fast unwirklich an, dass wir am selben Tag das wilde Karwendel durchquert haben. Aber irgendwie ist das ja das Versprechen der neuen Bikes, die Fusion von Natur und Zivilisation. Dann erinnert uns der penetrante Geruch, der unter dem Tisch aufsteigt, an unsere sportliche Leistung. Um Platz und Gewicht zu sparen, haben wir nur je ein Paar Schuhe dabei– und nach dem langen Tag im Sattel und mehreren Bachdurchquerungen stinken die Sneaker erbärmlich. «Du hast dein T-Shirt falschrum angezogen», sagt Valentin und grinst. Kurzer Schreck. Er hat recht. Egal, denke ich mir, wer durch die Wildnis fährt, darf wild aussehen. Das Hotel liegt am Achensee, dem grössten See in Tirol. Mit dem Achental bildet er die Grenze zwischen Karwendelgebirge und Brandenberger Alpen. Der See entstand vor rund 20.000 Jahren, als Endmoränensee nach der letzten Eiszeit. «Tiroler Meer», nennt man den Achensee auch. Als wir am nächsten Morgen am Ufer entlang fahren, auf das klare, grünblaue Wasser blicken, verstehen wir, warum. Am Nordufer biegen wir in Richtung Kufstein ab.
3. Fahren und Baden
Das Tiroler Meer: Mit dem Gravelbike am Achensee
Eine Weile rollen wir auf aussichtsreichen Höhenwegen durch Mischwälder, füllen unsere Kohlenhydratspeicher mit einer Portion Tagliatelle und Pfifferlingen im Kaiserhaus an der Brandenberger Ache auf, baden in Gebirgsbächen und springen nachmittags in den Thiersee. Dann setzen wir uns auf die Wehrmauer, lassen die Füsse ins Wasser baumeln und geniessen die Sonne, die uns den Rücken wärmt. Kurze Pause. Ich schaue den Fischen zu, die sich im Wasser tummeln. Hier könnte man bleiben. Die entspannte Stimmung nehmen wir auf das Velo mit, lassen es das letzte Stück nach Kufstein laufen und geniessen den Blick von der Marblinger Höhe in Richtung Kaisergebirge, unserem morgigen Tagesziel.
Für die Nacht quartieren wir uns im Auracher Löchl ein, einem 600 Jahre alten Hotel in der Kufsteiner Altstadt. Zum Abendessen gibt es Filetsteak, Zwiebelrostbraten und Backhendl, danach vernichten wir ein paar Drinks im Stollen 1930, mit 850 Sorten die grösste Gin-Bar weltweit. In dem alten Kellergewölbe wird’s Zeit für ein erstes Fazit. «Ich hätte nicht gedacht, dass Gravelbiken so viel Spass macht, das könnte ich öfter machen», sagt Valentin und nippt an seinem Glas. Ich nicke zustimmend. Auch mir gefällt diese neue Art des Reisens per Velo: Leicht und wendig sind wir mit den Velos, in den Bikepacking-Taschen ist alles, was wir brauchen, und bisher gab es tatsächlich keinen Weg, den wir nicht fahren konnten.
Am nächsten Morgen fahren wir nach dem Frühstück über Pflastersteine durch die engen Gassen der Kufsteiner Altstadt zum Inn und von dort auf eine kleine Schotterstrasse, die sich durch saftig grüne Wiesen schlängelt. Nachmittags fahren wir an den Hängen des Kaisergebirges durch lichte Fichtenwälder. Eine kleine Bewegung des Zeigefingers am Schalthebel und meine Kette springt mit einem leisen Klicken auf das nächste Ritzel. Ich trete in die Pedale und spüre, wie mein Velo nach vorne schiesst. Höher und immer höher schalte ich und jage über den Schotter dahin. Dicht hinter Valentin nutze ich seinen Windschatten, sehe seine Satteltasche vor mir hin- und herbaumeln, neben mir verschwimmen die Fichten zu einer braungrünen Wand, im Tal rauscht ein kleiner Bach durch spitzes Kalkgestein. Ich geniesse den Rausch der Geschwindigkeit und wünsche mir, dass diese Tour nie enden möge.


Erfrischendes Bad in der Brandenberger Ache