



ö
ist, von zwei Menschenkategorien bevölkert, von Geschaftemachern und ihren Opfern, dem Lernenden und Studierenden nur auf die schmerzhafte, eine jede Natur störende, mit der Zeit verstörende und zerstörende, sehr oft nur auf die heimtückischtödliche Weise bewohnbar.“
Thomas BernhardLiebe Lesende,
dieser nun in euren Händen liegende fool on the hill ist erneut und bis jetzt der Beste, den wir je gemacht haben. Hinter uns liegen aufregende, anstrengende und arbeitsreiche Wochen und Monate, in denen wir am nunmehr 13. Heft gewerkelt haben – ohne abergläubisch zu werden. Dabei hätten uns Stromausfälle, abgelaufene Schlüsselkarten und ein streikender Router dazu guten Grund gegeben. Natürlich lief nicht alles glatt – wie sollte es auch keine Komplikationen geben bei einem Projekt, an dem gut 50 AutorInnen, ZeichnerInnen, FotografInnen, RedakteurInnen, InformantInnen, InterviewpartnerInnen und KorrektorInnen beteiligt sind.
Natürlich gibt es auch dieses Mal wieder ein paar Neuerungen. Dem treuen fool-Leser wird – neben vielen neuen Layouts – auffallen, dass aus unserem noch so jungen Veranstaltungskalender für Siegen und die Umgebung nun ein eigenständiges Heft im Heft geworden ist. Das hat den praktischen Nutzen, dass der Programmplaner nun stets ein handlicher Begleiter in Freizeit, Job oder Studium sein kann, ohne dass man gleich um die Unversehrtheit des ganzen Magazins fürchten muss.
Dieses ist nämlich in der Tat aufbewahrenswert, nicht nur, aber mit Sicherheit auch wegen des über 40-seitigen Dossiers zum Thema „urban“. Bei unseren Recherchen zeigte sich, dass Urbanität aus verschiedenen forschungs- und auch lebensweltlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann und sich zudem aus jeder Perspektive ein neues Bild ergibt. Jede moderne Stadt hat viele Facetten – so etwas wie die moderne Stadt gibt es nicht. Einige Facetten dieses Stadt-Mosaiks – Phänomene, Beschreibungen und Geschichten moderner Städte – finden sich auf unseren Dossier-Seiten.
Ganz unüberschattet bleibt die Lektüre leider nicht, denn an der Universität kündigen sich tiefgreifende Veränderungen an: Den Master „Philosophie“ wird man in Siegen nach dem kommenden Wintersemester nicht länger belegen können. Darüber hinaus strebt das Rektorat Burckhart mit der sogenannten 4-Fakultäten-Lösung für kommendes Jahr eine Strukturveränderung an, unter der die „kleinen“ Studiengänge in Siegen insgesamt leiden werden − und über deren Nutzen für Bildung und Forschung man zweifeln kann.
Nähere Einblicke bietet die Rubrik Politik
Mit alledem und viel mehr wünschen wir wie immer und selbstredend viel Spaß beim Lesen!
8-11, Juso-AStA: Wir sind dran – Wir bleiben dran von Anna Molly |
9, 11, 17, Neues in Kürze |
12-13, Kommentar: Keine großen Sprünge von Sebas an Schäfer |
14, Strukturreform: Die 4-Fakultäten-Lösung von Kers n Willburth |
15, Meinung: „Was halten Sie von der 4-Fakultäten-Lösung?“ |
16-22, Interview mit dem Rektor: Alles so schön bunt hier von David Schmidt und Julia Wießner |
23, Semesterbeitrag: Wer soll das bezahlen? von Manfred Pèni |
24-25, Master Philosophie: Die unsichtbare Hand des Marktes von André Wenclawiak |
26-27, Kommentar: Wo bleibt der Datenschutz? von Peter H. Stahl |
28-35, Verschwörungen: Wer regiert die Welt? von Katharina Damwerth |
36-37, Lebenswelten: Einmal Elite und zurück von Simone Tillmann |
38-39, Shetlands-Serie: Zeiten des Abschieds und des Lernens von Arne Hartwig |
40-41, Elektronische Bücher: Das Buch neu erfinden von Anke Bliedtner |
42-43, Soziale Netzwerke: „Clean“ von Eike Rüdebusch |
44-45, Stadtplanung Siegen: Wasser marsch! von Lea Baumeyer |
46, Kopierschutz: Piraten gab es früher auch von Ludwig Andert |
47, Archiv der Universität Siegen: Ad Acta von Kers n Willburth |
48-49, GründerGeschichten: Rock Garden / Déjà Vu von Anke Bliedtner |
52-57, Improvisierte Stadt: Urbanisierung in Äthiopien von Nadine Appelhans |
58-63, Interview mit Niels Werber: Diese kleinen, dummen Dinger von Anke Bliedtner und Demian Göpfer |
64-65, Interview mit Dirk Baecker: RE: Interview von Anke Bliedtner und Demian Göpfer |
66-67, Konsum: Urban |
68-73, Pollerforschung von Helmut Höge |
74-78, In der Mi e ein Baum von Antonia Herrscher |
79-86, Comic: Tristesse, Beton und Menschlichkeit von David Füleki |
87, Schau gen Horizont und lausche von Stefan Mayr und Nico Schröder |
88, Die Stadt in der Literatur |
89, Die Stadt im Sachbuch |
90, Stad s ken |
91, urban fic on: Man könnte von Michael Helwig |
92-95, Poli sche Kunst: Wie geht poli sche Schönheit? von David Schmidt |
96-98, Vier Thesen: Ein Manifest der Menschenrechte von Philipp Ruch |
99, Kultur in Kürze |
100-101, Ak onen: Kaufen für den Klimaschutz von Linda Richter |
102-105, Kunstbruch Literatur: Berlin gehört mir! von Susanne Schmidt |
106, Geisteswissenscha : Studen sche Wirklichkeit oder Horizont Schreib sch von Alexander Buhmann |
107, Projekt: Wider ein Denken in Schubladen von Thomas Hensel |
108-113, Übersetzerdeba e: „von der bi ernis sing“ von Katharina Knorr |
114-115, Eigenproduk on: Vom Hörsaal auf die große Opernbühne von Anke Bliedtner |
116-117, Kunstbruch Nr. 5 von Ludmilla Torno |
118-119, Kolumne: Ein Brief aus Berlin von Ralf Schnell |
thefool-siegen@web.de
Wo ist eigentlich die Sieg? „Studierende und Siegener Bevölkerung einander näherbringen“
Schon oft, wenn ich durch Siegen spaziert bin, hab ich mich gefragt: Wo ist eigentlich die Sieg? Deshalb hat es mich gefreut, in Ihrem Magazin zu lesen, dass es offenbar Bestrebungen gibt, die Sieg und Teile ihres Ufers wieder freizulegen. Bleibt zu hoffen, dass die Siegener Kommunalpolitiker sich bewusst sind, dass es eine große Chance ist, wenn Studierende sich in die Planung einbringen, die als BewohnerInnen der Stadt über die Lebensqualität in Siegen ja durchaus mitreden können – wie die gelungene Polemik von Ben Blume zeigt. In dem Zusammenhang möchte ich noch lobend bemerken, dass auch das interessante Interview mit Martin Stoffel und vor allem der ausführliche Teil „Programm für Siegen“ im letzten fool hervorragend geeignet sind, Studierende und Siegener Bevölkerung einander näherzubringen!
Sophie EngelsAmpelmännchen
„meines Wissens wird niemand rigide gezwungen, die sogenannte ‚Regelstudienzeit‘ einzuhalten“
Liebe Fools, erfreulich zu hören, dass die Fachbereiche 3 und 12 sich aus dem fragwürdigen „Ampelmännchen-Ranking“ ausgeklinkt haben. Bedauert habe ich, dass in dem Artikel über den Bologna-Prozess vorwiegend die Kritik Nida-Rümelins wiedergegeben wurde, ohne auf die spezifische Umsetzung in Siegen einzu-
gehen. Hier (in sind etwa im FB3 die Studiengänge zum Teil flexibler gestaltet als anderswo und meines Wissens wird niemand rigide gezwungen, die sogenannte „Regelstudienzeit“ einzuhalten. Mir sind einige Studenten/innen bekannt, die ihre Samstagabende „mit etwas anderem verbringen als Lernen“. (Na ja, lernen werden sie dabei auch was!)
Sonja Kirch
Lewitscharoff
„Durch die Rezension von ‚Apostoloff‘ neugierig gemacht, habe ich den Roman fasziniert und mit großem Vergnügen gelesen“
Liebe Fool-Redaktion!
Danke für den Hinweis auf Lewitscharoff! (Ausgabe 12)
Durch die Rezension von Apostoloff neugierig gemacht, habe ich den Roman fasziniert und mit großem Vergnügen gelesen, dann auch noch von Lewitscharoff Montgomery und Pong verschlungen – ein herrliches Lesevergnügen!
Gruß
Paul Stein
Studentenkultur adé!
„vielleicht ist es an der Zeit, den fool on the hill von seinem Hügel mal wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen“
Guten Tag,
vielleicht ist es an der Zeit, den fool on the hill von seinem Hügel mal wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen. Dachte ich mir jedenfalls, als ich im Supermarkt neulich eure neue Ausgabe gesehen habe. Solltet ihr als Studentenzeitung nicht kritisch Missstände anprangern und den Leuten
Argumente an die Hand geben, die ihnen zu oft dazu fehlen, qualifiziert, reflektiert und produktiv Forderungen aufzustellen, wenn sie Hörsäle an der Uni besetzen? Stattdessen werden nun zwei Euronen verlangt, will man euer Heft noch lesen. Studentenkultur adé! Traurig grüßt das Murmeltier
Interessante Lektürestunden
„Der Preis von 2 Euro ist für dieses Magazin allenfalls dann verständlich, wenn man auf die knappe Börse von Studenten Rücksicht nehmen möchte.“
Sehr geehrte Damen und Herren, zufällig fiel mir bei einem kurzen Aufenthalt in Siegen Ihr Magazin fool on the hill, Ausgabe 12, in die Hände – und nachdem ich einige interessante Lektürestunden damit verbracht habe, möchte ich Ihnen nun doch mein Kompliment sagen: ein gelungenes Magazin, das durchaus Interessantes auch bereithält für Leser, die nicht direkt zum universitären Umfeld gehören.
Besonders das Dossier Arbeit mit den Schreibtischfotos und dem Beitrag von Helmut Höge hat mich sehr angesprochen.
Der Preis von 2 Euro ist für dieses Magazin allenfalls dann verständlich, wenn man auf die knappe Börse von Studenten Rücksicht nehmen möchte. Mit freundlichem Gruß
Oskar Inden
Leserpost an thefool-siegen@web.de
Betreff: Leserbrief
Wir freuen uns über Zuschriften. Die Redaktion behält sich die Kürzung der Leserbriefe vor.
Weil ich die 100 Euro haben will!
Das antworten vielleicht einige Studenten, die im letzten Semester das Einführungsseminar in die deutsche Sprachwissenschaft und Grammatikgrundwissen bei Prof. Petra Vogel besuchten. Diesen Betrag lobte die Lehrstuhlinhaberin für deutsche Linguistik nämlich für die beste Klausur aus – der bzw. die Zweitbeste(n) bekamen nur 50 Euro – aus Studiengebührengeldern, versteht sich. Nun kann man vermuten, dass selbst die Dozentin nicht viel Vertrauen in die Attraktivität ihres Faches hat und ihre Studenten nur mit monetären Anreizen zum Erlernen von drögen Grammatikformeln bewegen kann. Wer Frau Vogel und ihre Seminare kennt, den wundert das: Sind ihre Seminare doch eigentlich immer noch die interessantesten, trotz des emas und zwar nicht zuletzt deshalb, weil man mit Frau Vogel eine Dozentin vor sich hat, die tatsächlich für ihr Fach brennt. Und wenn man sie fragt, warum sie zu diesen – sagen wir mal eigenwilligen – Motivatoren greift, dann gibt sie genau das als Grund an: Sie will ihren Studenten nämlich zu genau dem Spaß an der Materie verhelfen, den sie selbst daran hat. Und meint, wenn die sich erstmal näher mit Grammatik befassen, werden sie erkennen, dass das eigentlich das Spannendste von der Welt ist. Ein durchaus verständliches Ziel für einen Dozenten, der Leidenschaft für sein Fach mitbringt, allerdings auch ein klarer Fall von: Der gute Zweck heiligt nicht jedes Mittel. Vor allem dann, wenn man bedenkt, wo wir uns hier befinden. An einer Universität nämlich, die sich immer noch und mittlerweile tatsächlich zu unrecht das humboldtsche Bildungsideal auf die Fahne schreibt. Dieses beinhaltet unter anderem den Grundsatz, dass der Universität die Forschung ebenso wichtig sein sollte wie die Lehre, da nur forschende Dozenten auch gute Dozenten sind. Aber dies wurde bekanntlich bereits vor einiger Zeit zu großen Teilen geopfert. Der universitäre Bildungsbegriff, so Humboldt, dreht sich nämlich zudem um zwei zentrale Begriffe: den des „autonomen Individuums“ und den des „Weltbürgers“, zu denen Studenten gebildet werden bzw. zu dem sie sich selbst bilden sollen. Das hört sich für heutige Ohren natürlich reichlich sperrig an, überholt ist dieser Bildungsbegriff allerdings noch lange nicht. Heißt er doch nichts anderes, als dass der Student und die Studentin mithilfe der eigenen Vernunft zu selbst bestimmten Menschen reifen, nicht ohne natürlich moralische und ethische Grundsätze vermittelt zu bekommen, die das Individuum erst zu einem verantwortungsvollen Bürger in der Welt machen.
Liebe Frau Vogel, welche Art „Weltbürger“ gedenken Sie denn mit Ihrer Geld-stattBildung-Methode heranzuerziehen? Eine Universität, deren Dozenten ihren Studenten Geld dafür bietet, gute Klausuren zu schreiben, ist nur noch eine Karikatur ihrer selbst und Frau Vogels Fehlgriff nur eine Szene im Trauerspiel um die deutschen Universitäten. Aber hier kulminiert der neue, kapitalistische Geist, von dem die Universitäten seit geraumer Zeit regiert werden und wird auf seine lächerlich Spitze getrieben. Dass dieser Anreiz nicht mehr Studenten dazu brachte, sich näher mit Grammatik zu befassen und Frau Vogel deshalb keine weiteren Prämien für die Strebsamsten ausschütten wird, ist nur ein schwacher Trost.
Anke BliedtnerUns interessiert, was unsere Leser von Frau Vogels und/oder Humboldts Ideen halten. Wie sieht der heu ge Weltbürger aus? Was heißt heute Bildung? Schreibt uns: thefool-siegen@gmx.net
Auf Anfrage können die bisher erschienenen Ausgaben bei der Redak on bestellt werden:
Die Jusos scheinen ihren Wahlspruch sehr ernst zu nehmen: Ihr fundamentaler Wahlsieg stellt die Demokratie im Studierendenparlament auf eine harte Probe.
Text von Anna Molly
Nachdem die Studierendenschaft die StuPa-Wahlen vom 7. bis zum 11. Dezember letzten Jahres mit entscheidender Mehrheit für die Jungsozialisten Hochschulgruppe (Juso HSG) hat ausgehen lassen (65,22%), bildet diese mit 15 der 23 Sitze die größte und einflussreichste Hochschulliste in Siegen. Sowohl die Aktionsgruppe grüne interventionistische Linke (AgiL) als auch die Weiße und die Linke Liste (LiLi) erhielten mit 8,7% des prozentualen Stimmenanteils je zwei Sitze. Macht sechs plus fünfzehn, einundzwanzig. Bleiben also noch zwei, die sich gleichmäßig auf die Liberale Hochschulgruppe (LHG) und die L.S.D. (Links.Sozial.Demokratisch.) verteilen (jeweils 4,35%).
Diese Sitzverteilung macht sich bemerkbar. Und zwar im AStA, dem Allgemeinen Studierendenausschuss unserer Uni, der dem StuPa in ähnlichen Relationen gegenübersteht wie die Regierung dem Parlament im Deutschen Bundestag. Womit wir bei dem angekommen wären, was der April alles neu gemacht hat. Nämlich die Zusammensetzung des AStA, die mit der Wahl seiner vierzehn ReferentInnen am 31. März 2010 im StuPa festgelegt wurde. Und das neue Arbeitskonzept, das mit dem neuen AStA einhergeht und über das ebenfalls auf besagter Sitzung abgestimmt und diskutiert wurde. Beides trat mit dem 1. April 2010 für ein Jahr in Kraft.
Der AStA, der neben der Gesamtvollversammlung der Studierendenschaft das einflussreichste studentische Gremium unserer Uni bildet, stimmt in seinen wöchentlichen Ratssitzungen darüber ab, was zur Lösung studentischer Probleme und Belange in die Hochschulpolitik mit einfließen sollte, um der Studierendenschaft das Leben zu erleichtern. Unterteilt wird diese Aufgabe in die Bereiche Sozialreferat, Finanzen/Kasse/Shop und inner- wie außeruniversitärer Koordination.
Dass nun all diese Referate von Juso HSG-Mitgliedern besetzt werden, spiegelt die Sitzverteilung im StuPa wider. Und inwieweit die Opposition, sprich die acht Mitglieder, die nicht der Liste der Juso HSG angehören, nun noch Einfluss auf die politischen Prozesse im AStA nehmen können, wird sich zeigen müssen.
Der Regelabschluss der LehrerInnenausbildung in Nordrhein-Westfalen wird künftig nicht mehr das Staatsexamen, sondern der Master sein. Ein neu eingeführtes Praxissemester soll helfen, die wissenschaftliche Ausbildung mit der praktischen Berufstätigkeit unmittelbarer zu verbinden. Das Praxissemester wird von der jeweiligen Universität betreut. In Siegen werden die Lehramtsstudiengänge zum Wintersemester 2011/12 auf Bachelor- und Masterstudiengänge umgestellt.
Der Senat der Universität Siegen hat eine neue Regelung für Studiengebühren von Geschwistern beschlossen. Ab Sommersemester 2010 können Geschwister Studiengebühren sparen. Bei zwei studierenden Geschwistern müssen die Studiengebühren nur einmal voll bezahlt werden. Ein Geschwisterteil zahlt nur 250 Euro. Weitere Geschwister sind vollständig befreit.
Die Research School „Business and Economics/RSBE“ nimmt ihre Arbeit auf. Doktoranden und ein Habilitand werden im Rahmen eines Stipendiums in einem strukturierten Studienprogramm an aktuelle Forschungsprojekte herangeführt. Außerdem wird ihnen aufgezeigt, wie sie ihre eigenen Forschungsarbeiten optimal erstellen, damit diese im internationalen Forschungswettbewerb Bestand haben. Bereits gegründet und ihre Arbeit aufgenommen hat im Bereich Medien die Research School „Locating Media/Situierte Medien“. Als dritte Einrichtung dieser Art ist eine School auf Science and Engineering in Planung der zukünftigen Fakultät 4. Diese soll Interdisziplinarität und Exzellenz in den MINT-Wissenschaften verknüpfen.
Andreas Kolb – seit 2003 Inhaber des Lehrstuhls für Computergrafik und Multimediasysteme an der Universität Siegen – soll zukünftig ein integriertes IT- und Informationsmanagement für die Universität Siegen aufbauen. Die Analyse und die Weiterentwicklung der IT-Angebote stelle „einen wesentlichen Baustein zur Zukunftssicherung der Hochschule dar“, erklärt Kolb.
Die vom Hochschulrat Ende Januar durchgeführte Wahl der vier Prorektoren wurde am 17. Februar vom Senat bestätigt. Im Amt bleibt weiterhin Prof. Dr. Peter Haring Bolivar als Prorektor für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs. Für Industrie, Technologie und Wissenstransfer wird künftig Prof. Dr. Hanna Schramm-Klein zuständig sein, für strategische Hochschulentwicklung (Planung und Finanzen) Prof. Dr. Thomas Mannel. Prof. Dr. Franz-Josef Klein übernimmt das Prorektorat für Lehre, Lehrerbildung und lebenslanges Lernen.
Unter anderem durch die Verwendung von Studiengebühren konnte die Universitätsbibliothek im letzten Jahr ihr elektronisches Informationsangebot vergrößern. Viele neue ebooks konnten durch Verträge mit Springer, de Gruyter, Wiley und vielen anderen freigeschaltet, Zugänge erweitert werden. Auch das Angebot elektronischer Zeitschriften zu den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen wurde ausgebaut. Neu erworbene und lizenzierte Datenbanken bieten umfangreiche Nachschlage- und Quellenwerke.
Auf besagter Sitzung war ihr Einfluss doch sehr gering, auch, wenn sich der neue Vorsitzende des AStA, Julian Hopmann, für das Bemühen der tragenden Liste ausspricht, Kritik und Verbesserungsvorschläge immer zu beherzigen. Persönlich sehr nett gemeint. Demokratisch nach Stimmverteilung eher unrealistisch: Denn was sollen acht Stimmen bei einer Zweidrittelmehrheit gegen fünfzehn ausrichten? Vor allem, wenn keine davon mit im AStA sitzt? NichtJuso-Wähler können nur hoffen, dass ihre Meinungen dennoch mit beherzigt werden.
Zumindest die Worte des ohne viel Aufsehen und Einwände gewählten AStA-Vorsitzenden lassen hoffen, dass diese persönliche Ebene an Austausch und Ernsthaftigkeit bestehen könnte. Nicht einverstanden war die Opposition mit oben erwähnter übriger Zusammensetzung des AStA. Alle fünf anwesenden Mandatsträger stimmten gegen die von Julian Hopmann vorgeschlagenen übrigen AStA-ReferentInnen. Die dreizehn anwesenden Jusos dafür. Ähnlich verhielt es sich bei der Abstimmung über das neue Arbeitskonzept des AStA, vorgelegt und ausgearbeitet von der Juso HSG, kritisiert von der Opposition als „butterweiches Blabla“. Die Kritik wurde schriftlich ausformuliert, im Plenum diskutiert und in Form einiger Formulierungsänderungen mit in das Konzept aufgenommen. Genug? Naja ... drei dagegen. Zwei Enthaltungen. Dreizehn dafür. Scheinbar keine richtige Zufriedenstellung für AgiL, LiLi, L.S.D. und die Weiße Liste. Ausgeglichener verhielt sich dies in der letzten Amtsperiode des StuPa und AStA. Denn hier teilten sich Juso und die damals noch bestehende Grün Alternative Liste (GAL) die Aufgaben und Sitze im AStA. Vorbei ist vorbei. Neuer AStA und Arbeitskonzept stehen. Mit diesem Konzept setzt sich der AStA selber den Rahmen für seine Arbeit. Es beinhaltet die Arbeitsrichtlinien und die Grundsätze, die die AStA-ReferentInnen in politischen, finanziellen, (hochschul)strukturellen, sozialen und ökologischen Diskursen vertreten möchten. Definiert wird auch, welche Aufgabenbereiche den einzelnen Referaten zukommen.
Und hier hat sich vor allem für den Vorsitzenden des AStA Wesentliches geändert. In den letzten Jahren existierte dieser Posten nämlich nur aufgrund rechtlicher Vorschriften, eine wirklich gesonderte Stellung hatte dieser im AStA nicht. In Zukunft, so der neu gewählte Vorsitzende Julian Hopmann in einem Interview, soll dieser – also er selber – „ein bisschen mehr Verantwortung haben“. Es hätte eine Person gefehlt, die vor allem bei internen Schwierigkeiten und Reibereien den Überblick behielt, auf die ReferentInnen zuginge und mit diesen rede, um „kurze, schnelle Lösungen zu finden“.
Eine bedauerliche Notwendigkeit, die einhergeht mit einer neu eingeführten Restriktionszeit für unergründliches Fehlen bei den wöchentlichen AStA-Ratssitzungen. Viermaliges Fehlen führt zu einer Ermahnung, achtmaliges Fehlen zum Ausschluss. Schade, dass eine sich selbst organisierende, gegen Anwesenheitspflicht plädierende Studierendenverwaltung auf solcherlei Maßnahmen zurückgreifen muss.
Notwendig wurde dies laut Julian Hopmann, da der beschlussfassende AStA-Rat als solcher in vergangenen Perioden „nicht
vernünftig wahrgenommen“ wurde. Da wurden unter der Studierendenschaft Gerüchte über die Frage laut, warum sich die Referent-Innen überhaupt in den AStA wählen ließen, wenn sie diesem nicht gewissenhaft beiwohnten. Ein Problem, dem nun ein Riegel vorgeschoben wurde. Jedes neue Mitglied sollte sich der Ernsthaftigkeit seiner Position bewusst sein – wenn nicht, lässt man es eben gehen.
„Ich habe mir vorgenommen, das dann auch rigoros durchzusetzen“, sagt Julian Hopmann als Träger seines gestärkten Amtes. „Natürlich hab ich nicht die Macht, irgendwen jetzt direkt rauszuschmeißen, aber das besprechen wir dann beim AStA-Rat und wir haben's extra in das Konzept geschrieben, damit wir dann auch sagen können: ‚Ja komm, hier steht's, wir brauchen eigentlich gar
nicht mehr weiterdiskutieren!‘. Und dann wäre die Person halt raus.“
Übrigens: sowohl AStA- als auch StuPa-Sitzungen sind öffentlich und bedürften wohl gerade im Sinne einer basisdemokratischen, selbst verwalteten Studierendenschaft der aktiveren Teilnahme uns übriger StudentInnen. So könnten oben genannte Begebenheiten trotz eingeschränkter oppositioneller Einflüsse zu mehr Meinungsausgleich führen. Alle TeilnehmerInnen haben – ob nun im StuPa/AStA oder nicht – die Möglichkeit, sich frei und kritisch zu äußern. Nur wer teilnimmt, wird auch gehört.
Die nächste StuPa-Sitzung findet am 11. Mai 2010 statt. Der AStA-Rat trifft sich jeden Montag um zehn. Beides findet im StuPaRaum (über der Mensa) statt.
Mal schauen, was es dann zu berichten gibt ... b
Ab dem 15. Juli 2010 sollen mehr Busse vom Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) Siegen direkt zum Haardter Berg fahren „rechtzeitig“ zum Ende des Semesters. Auch eine weitere Linie vom Weidenauer Bahnhof zur Uni wird eingerichtet. Bei der Gestaltung des Fahrplans sollen auch die Hauptvorlesungszeiten einbezogen werden. Der neue Fahrplan wird allen Studierenden per Mail zugesendet.
Mitte Februar 2010 fand zum ersten Mal das Siegener Genderkolloquium statt, das von Dr. Bärbel Kuhn (FB 2), Dr. Karin Schittenhelm (FB 1), Dr. Dorle Klika (FB 2) und Prorektorin Dr. Sabine Hering (FB 2) initiiert wurde. Ziel des Kolloquiums ist die bessere Vernetzung und Förderung von DoktorandInnen in den Fachbereichen 1-3. Drei Mal pro Jahr sollen NachwuchswissenschaftlerInnen die Gelegenheit haben, ihre Forschungsarbeiten einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen.
Die Universität Siegen hat eine neue Parkfläche in der Nähe des Campus Adolf-Reichwein-Straße errichtet. 240 Autos finden Platz auf dem geschotterten Areal an der Haardter Bergstraße, hinter der Dreifachsporthalle. Die Zufahrt erfolgt von der HTS aus über die Straßen Am Eichenhang, Hochschulstraße, Haardter Bergstraße. Die Nutzung der Parkfläche ist kostenfrei.
Siegener ElektrotechnikerInnen ist es gelungen, den technisch bisher unzuverlässigen „Matrix-Umrichter“, der elektrische Energie ohne Umwege zurück ins Netz leitet, bis zu einem Wirkungsgrad von knapp unter 100 % weiterzuentwickeln. Die Siegener WissenschaftlerInnen haben national und international ein Patent auf die Methode angemeldet.
Der Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Freistaats Thüringen, Christoph Matschie, hat Prof. Dr. Georg Bollenbeck (FB 3) in den wissenschaftlichen Beirat der „Klassik Stiftung Weimar“ berufen.
Seit 1990 werden vom Lions-Club Siegen, dem Akademischen Auslandsamt der Universität Siegen und dem DAAD zwei Jahresstipendien an polnische StudentInnen der Universität Danzig/Gdansk für ein Studium in Siegen vergeben. Professor em. Dr. Wolfgang Drost, der selbst aus Danzig stammt, wurde als Initiator und langjähriger Betreuer nun im November 2009 mit einer Medaille der Universität Gdansk geehrt.
MitarbeiterInnen des Instituts für Fluid- und Thermodynamik der Universität Siegen arbeiten an einem effizienten Kühlungssystem für Straßen- und Schienenverkehr. Dabei soll die Schallemission von Ventilatoren halbiert werden. Das Team hat den Zuschlag für die Koordinierung des EU-Projekts in Höhe von 3,73 Millionen Euro bekommen, das Projekt soll drei einhalb Jahre dauern.
Nachdem der Dekan des College of Engineering der Bahrein University –Professor Dr. Nader Al-Bastaki – 2009 die Universität Siegen besucht hatte, und kurz darauf Siegener Studierende und MitarbeiterInnen eine vom Dekan des FB Architektur/ Städtebau, Professor Dr. Ulrich Exner geleitete Exkursion nach Bahrain unternahmen, wurden die beidseitigen Kooperationsbemühungen jetzt im Januar 2010 mit der Unterzeichnung eines „Memorandum of Understanding” belohnt. Für 2010 sind weitere Gespräche, Besuche und eine zweite Bahraini German Student Exhibition geplant.
Im vergangenen Jahr wurden den Studierenden Versprechungen gemacht, an den Hochschulen sollte sich etwas ändern. Geschehen ist seitdem nicht viel. Ein bilanzierender Kommentar.
„Bessere Betreuung, reduzierte Anwesenheitspflicht, größere Prüfungsvarianz“, titelte die Pressemitteilung des Rektors vom 29. März 2010. Das hört sich zwar gut an, der große Paukenschlag, mit dem alles besser wird, fehlt jedoch weiter; mehr als eine Ideenskizze ist jedenfalls noch nicht auszumachen.
Tatsächlich wurde die verkündete reduzierte Anwesenheitspflicht von Studierenden auf breiter Front schon zuzeiten gefordert, an die sich nur noch die Älteren unter uns erinnern können. Diese Forderung ist eine logische Konsequenz aus der Erkenntnis, dass die Fesselung ermatteter Studierender nicht zielführend sein kann. Das Rektorat hat diese sinnvolle, kostenneutrale und schnell umsetzbare Maßnahme endlich verwirklicht – ein Schritt in die richtige Richtung, aber kein Sprung.
„Auch die Prüfungsvarianz steigt“, heißt es in des Rektors Mitteilung weiter, und während der überraschte Leser die Quelle dieser frohen Botschaft auszumachen sucht, wird als Beispiel bereits der Fachbereich 8 genannt, namentlich die Chemie und Biologie. Dort sollen neuerdings „auch andere Leistungen wie Kolloquien, Protokolle, Vorträge“ für den Erwerb von Kreditpunkten und Scheinen berücksichtigt werden. Bevor nun aber der Innovationspreis in der (durch Studiengebühren finanzierten) Vitrine des Fachbereichs seinen Platz findet, muss konstatiert werden, dass bereits seit Jahrzehnten so verfahren wird. Man könnte gar geneigt sein, zu sagen: „Das war schon immer so.“ Nun, neu ist es jedenfalls nicht, eine Reaktion auf den „Bologna Check“ schon gar nicht. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sich Studierende und Lehrende im Zuge der im Fachbereich Chemie-Biologie 2009 stattgefundenen Reakkreditierung darauf geeinigt haben, jeweils zwei Pflichtveranstaltungen des Bachelor- und des Masterstudiengangs ersatzlos zu streichen. Damit soll der immensen Stofffülle begegnet und ein höherer qualitativer Anspruch verwirklicht werden. Vor dem Hintergrund der jüngst veröffentlichten HIS-Studie, wonach 2008 jeder Fünfte sein Studium aufgrund von Leistungsproblemen abbrach (2000 waren es nur zwölf Prozent) ist ein derartiger Schritt wegweisend und sollte als notwendiger Beitrag zur Qualitätssicherung angesehen werden – wenn die während des Reakkreditierungsverfahrens vereinbarten Neuerungen auch umgesetzt werden.
Erst wenn die Kritik der Studierenden in den Prüfungsordnungen und Modulhandbüchern Eingang gefunden hat und damit verbindlich wird, ist ihr Genüge getan. Dieser Prozess, an dessen Beginn wir uns befinden, ist langwierig und unspektakulär, dafür aber lohnend! Wenig hilfreich erscheint es dabei, den Anschein zu erwecken, in einigen Fächern seien be-
reits umwälzende Veränderungen geschehen, indem „ruck, zuck“ die Prüfungsvarianz erhöht worden sei.
In der Studie des HIS gaben 19 Prozent der Befragten finanzielle Probleme als ausschlaggebendes Motiv für ihren Studienabbruch an. Damit rangieren nur Leistungsprobleme im Studium noch vor dieser Angabe – wohlgemerkt trotz BAföG, Studienkrediten und Stipendien. Da lässt die Feststellung des Rektors, wonach „die Studienbeiträge [...] erheblich zur Entlastung von Lehrenden und Lernenden beigetragen“ haben, vermuten, genannte Pressemitteilung sei versehentlich zwei Tage zu früh publiziert worden.
Die darauffolgenden Vorab-Informationen lassen Böses erahnen. Wenn es heißt, dass 2009 der Fachbereich 5 sinnvollerweise 67.000 Euro für Tutorien ausgegeben hat, dann sollte man auch wissen, dass es im Vorjahr gut 10.000 Euro mehr für den gleichen Zweck waren. Die Antwort auf die Frage, was mit den übrigen rund 1,5 Mio. Euro des Fachbereichs veranstaltet wurde, bleibt offen. Vielmehr wäre es inzwischen an der Zeit, den Jahresbericht 2009 zumindest den Mitgliedern des „Prüfgremiums“ zugänglich zu machen. So ist im Grunde gar keine Aussage darüber möglich, was mit den Studiengebühren passiert. Nur das weitere Prozedere ist aus der Vergangenheit bekannt und zeichnet sich damit jetzt schon ab: Der bereits veraltete Bericht wird „demnächst“ geprüft und anschließend – weiter der Vergilbung preisgegeben – im Senat verhandelt, worauf man zu dem Schluss kommt, dass trotz der mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit im Bericht ausgewiesenen Reste eigentlich gar kein Geld mehr vorhanden sei – Ahnung und Gegenwart in der Praxis. Damit wird die Diskussion über die Verausgabung der Beiträge weitergeführt, wohingegen man zu der nicht weniger interessanten Frage nach der Verwendung bisher nur innerhalb des „Prüfgremiums“ tatsächlich vorgedrungen ist.
Der Rektor sei nochmals an sein Versprechen aus der Senatssitzung vom 18. November 2009 erinnert, er wolle bis zum 31. März 2010 zusammen mit den Studierenden die Reste an Studiengebühren abgebaut haben. Er wird sich dieser Tage dazu erklären. Der Vorschlag der studentischen Senatoren zum Abbau der Reste indes steht: Senkung der Gebühren auf 350 Euro – und zwar sofort!
Möglicherweise aber werden Studiengebühren in NRW nach den Wahlen ohnehin gestrichen; auf dem Wahlzettel nämlich, so wie zuvor in Hessen, Hamburg und dem Saarland. Diesbezüglich liegt es zumindest nicht am Rektor ... . b
Sebas an Schäfer ist seit 2006 Mitglied im Fachscha srat Chemie-Biologie, seit Ende 2006 (mit Unterbrechung 2008) Mitglied im Studierendenparlament.
Ab Januar 2011 soll es anstelle der zwölf Fachbereiche an der Universität Siegen vier Fakultäten geben – diesem Vorschlag des Rektorats hat nun der Senat zugestimmt.
Nach ausgiebigen Diskussionen in Senat und Fachbereichen ist es nun beschlossene Sache: Auf unseren Semestertickets wird bald nicht mehr FB 2 oder 12 stehen, sondern lediglich eine Zahl zwischen eins und vier. Doch was sich hochschulpolitisch und inhaltlich, auf Ebene der Forschung, der Lehre und nicht zuletzt im Studienalltag konkret ändern wird, ist noch nicht vollständig ausgearbeitet. In den kommenden Monaten wird sich entscheiden, welche Strukturierungen sich für die Fakultäten im Einzelnen ergeben. Dann muss die Grundordnung der Universität dementsprechend geändert werden, als Stichtag für den Entwurf hierzu ist der 31. Dezember dieses Jahres angedacht. Das neue Motto der Universität, „Zukunft menschlich gestalten“, soll für alle Veränderungen maßgebend sein. Wie viel Pathos in der Wortwahl liegt, worin genau die Menschlichkeit der Prozesse besteht,
muss sich zeigen. Sachlicher gestalten sich die Pläne zur neuen Struktur: Das Profil der Universität soll mit diesen Änderungen langfristig „lesbarer“ werden, so Rektor Holger Burckhart. Was damit gemeint ist, wird in einer Pressemitteilung deutlich, die den Beschluss zur Fakultätenlösung bekannt gab. Darin heißt es, Ziele seien „Internationale Sichtbarkeit, innovative Studiengestaltung“ und „modernes Campusmanagement“. Was erreicht werden soll, ist klar: Die Universität soll sich mit internationalen Vorbildern messen können. Neben organisatorischen Fragen, zum Beispiel der nach eventuell notwendigen Lehrstuhlverschiebungen, stellt sich dabei auch die der Selbstständigkeit der einzelnen Lehr- und Forschungsgebiete. Glaubt man den Plänen des Rektors, so werden die verschiedenen Disziplinen innerhalb der Fakultäten im Hinblick auf Inhalte und finanziellen Etat autonomer handeln können, den ehemaligen Fachbereichen soll es weiterhin möglich sein, inhaltliche Schwerpunkte selbst zu setzen. Ferner sieht der Plan eine erhebliche administrative Entlastung des Personals vor – Entlastung heißt in diesem Kontext höchstwahrscheinlich Entlassung von Personal.
Bei der Zusammenschrumpfung von zwölf Fachbereichen auf nur vier Fakultäten liegt die Befürchtung auf der Hand, kleinere Fachbereiche könnten neben größeren, wirtschaftlich bedeutenderen „Nachbarn“ im System der Fakultäten untergehen, ihre Stimme quasi verlieren.
Die vier Fakultäten gestalten sich nach dem bei Redaktionsschluss vorliegenden Entwurf wie folgt: Auf Fakultät eins, Gesellschaft, Kultur, Medien, die die Geistes-, Sozial- und Medienwissenschaften beherbergt, folgt Fakultät zwei, die nun Bauen, Künste, Bildung, Soziales heißt. Der Vorschlag, dieses Feld Menschen, Bauen, Lebenswelten zu taufen, wurde offensichtlich überdacht. Die Wirtschaftswissenschaften finden sich in der dritten Fakultät wieder, welche den Namen Dezentrale Organisation: Gestalten ökonomischer Prozesse in derWissensgesellschaft trägt. Allein Fakultät vier, Technik, Naturwissenschaften, Mathematik fordert keine weitere Erläuterung zu den Fächern, die hier zusammengelegt werden. b
2011 soll das Modell der Fachbereiche ausgedient haben. Anstelle von zwölf FBs gibt es dann vier Fakultäten, auf die sich die Fächer aufteilen. TextvonKerstinWillburth
Von den SenatorInnen der Universität Siegen wollten wir wissen: Begrüßen Sie die Einführung der Fakultäten? Welche Hoffnungen oder Sorgen verbinden Sie damit allgemein? Welche Hoffnungen oder Sorgen verbinden Sie damit, wenn es um Ihren Fachbereich geht? Prof. Dr. Stephan Habscheid, im Senat für den Fachbereich 3, und Prof. Dr.-Ing. Hilde Schröteler-von Brandt, im Senat für den Fachbereich 9, haben uns diese Fragen beantwortet.
„Wer die Strukturreform verstehen will, muss sie im Zusammenhang mit den Bedingungen betrachten, unter denen Universitäten gegenwär g agieren.“
„Wer die Strukturreform verstehen will, muss sie im Zusammenhang mit den Bedingungen betrachten, unter denen Universitäten hierzulande gegenwärtig agieren. Die Hochschulpolitik läuft auf eine Vertiefung und Verfestigung von Ungleichheit hinaus, zwischen den Universitäten und intern: Während in der Lehre die Anbieter von Studiengängen auf einem echten Markt im Wettbewerb stehen, werden in der Forschung die Einrichtungen in einen Exzellenz-Parcours um Fördermittel gedrängt, der naturgemäß von den Machtzentren der Disziplinen bestimmt wird. In beiden Arenen steht viel auf dem Spiel: Studienangebote ohne hinreichend große Resonanz am Markt verlieren ihre Existenzberechtigung. Wer in der Forschungsszene gerade nicht in den Club der Exzellenz gelangt, geht nicht nur bei der Förderung größerer Projekte leer aus, er droht durch die daran gekoppelte Mittelvergabe auch elementare Forschungsressourcen auf Dauer zu verlieren. An diese Bedingungen passen sich Universitäten durch Strukturen an, in denen Forschungsaktivitäten zentral gesteuert werden können, Umschichtungen leichter und schneller möglich sind. – Universitäten stehen in einer gesellschaftlichen Verantwortung, und ein transparenter Wettbewerb im fachöffentlichen Diskurs gehört seit jeher zu ihren Prinzipien. Aber: Forschung und Lehre, auf deren Zusammenhang die Identität der Institution beruht, müssen im Kern unabhängig bleiben von Moden, Machtverzerrungen und sachfremden Erfolgskalkülen. Verfestigte Ungleichheit ist wettbewerbsfeindlich. Die gegenwärtigen hochschulpolitischen Debatten geben ein ganz klein wenig Anlass zur Hoffnung, dass hier künftig mit mehr Augenmaß agiert wird. Die neuen Strukturen lassen auch das zu.“ b
„Die Frage wird sein: Wie kann man die neue Fakultätsstruktur so aufbauen, dass die Lehrenden, Mitarbeiter und Studierenden ihre Belange einbringen können?“
„Ich habe mich im Senat für die 4-Fakultäten-Lösung‘ausgesprochen, wenngleich ich Chancen und Risiken gleichermaßen sehe. Im Laufe des Jahres wird sich zeigen, ob all die offenen Fragen gelöst werden können.
Allgemeine Chancen könnten in einer Neuaufstellung der Universität Siegen mit der Optimierung und noch stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit bestehen. Risiken sehe ich in der allgemeinen Unbeweglichkeit von Großstrukturen, in denen auch neue einseitig orientierte Machtstrukturen entstehen können und kreative Pluralität verloren geht. Die entscheidende Frage wird sein: Wie kann man die neue Fakultätsstruktur so aufbauen, dass die Lehrenden, Mitarbeiter und Studierenden sich mitgenommen‘fühlen und ihre Belange einbringen können?
Die 4-Fakultäten-Lösung‘stellte für den Fachbereich 9 zu Beginn der Diskussion keine Wunschentscheidung dar. Im Laufe des Meinungsbildungsprozesses um die Zugehörigkeit zu einer der vier Fakultäten stellte sich die interessante Variante heraus, gemeinsam mit FB 2 und 4 unter dem Titel Bauen, Künste, Bildung, Soziales eine neue inhaltliche Fokussierung auch von Architektur und Stadtplanung zu finden. Die Motivation und Lust an der Entwicklung dieser neuen Vernetzungsidee ist bei uns groß. Ein Risiko besteht darin, ob die Erkennbarkeit unseres Fachgebietes nach außen noch sichtbar ist; insbesondere für Studieninteressierte. Das Lehrangebot muss weiterhin die volle Breite der fachlichen Anforderungen an den Architektenberuf sicherstellen; dies ist eine Grundvoraussetzung für den Zusammenschluss.“ b
„Was halten Sie von der 4-Fakultäten-Lösung?”Prof. Stephan Habscheid Senator für den Fachbereich 3
Professor Holger Burckhart ist seit Oktober 2009 Rektor an der Universität Siegen. Tage nach seinem Amtsantritt legte Burckhart ein Konzept an der Uni vor, welches die Ablösung der bestehenden Fachbereichslösung durch vier Fakultäten vorsieht.
Herr Burckhart, Ihr Vorschlag, die Fachbereichsstruktur der Uni Siegen durch vier Fakultäten abzulösen wird von vielen Hochschulgremien, auch denen der Studierenden, positiv angenommen. 22 von 24 Senatoren haben für die Einrichtung von Fakultäten gestimmt. Welche Studiengänge werden in Zukunft besonders wichtig sein?
Die meisten Studenten rekrutieren wir im Lehramt. Lehramtsstudenten kommen oft aus der Region und wollen in der Region bleiben. Also ist der gesamte Bereich Lehramt besonders wichtig. Als neue Studienrichtung setze ich mich deswegen übrigens auch für die Förderpädagogik ein. Von den Ministerien ist das auch bereits genehmigt. Jetzt muss nur noch die Hochschule zustimmen, die ein bisschen langsamer ist als ihr Rektor. Außerdem sind die Wirtschaftswissenschaften wichtig, die sind immer gefragt. Und im technischen Bereich sind in der Region die Maschinenbauer und Elektrotechniker stark nachgefragt.
Die zeitgenössische Sozialwissenschaft hält vor allem die Medien für wichtig dafür, dass sich Kleinstädte konstruktiv in Zukunftsmodelle überführen und urbanisieren lassen. Bundesweit wächst der Arbeitsmarkt im kreativen Bereich immer weiter. Die Medien haben Sie jetzt aber gar nicht genannt. Liegen sie tatsächlich so weit hinter den anderen Studiengängen zurück?
Die Medien in Siegen verfolgen nicht den Schwerpunkt, den Sie nennen, sondern den Schwerpunkt Kultur. Den praxisbezogenen Schwerpunkt baut man aber gerade auf – Prof. Döring und Prof. Schüttpelz zum Beispiel arbeiten genau in diese Richtung. Studieren Sie in dem Sektor?
Ich studiere Philosophie. Was Prof. Schüttpelz mit locating media macht, das geht genau in diese Richtung. Die Medien in Siegen stellen sich gerade neu auf. Personen wie Schüttpelz oder Niels Werber bringen neue Bewegung in den Bereich. Und ich könnte mir vorstellen, dass die Fakultätenlösung genau diesen Prozess noch verstärkt. Die Sozialwissenschaftler, die Kulturwissenschaftler und eben auch die klassischen Wissenschaften – auch die Philosophie – vereinen sich in einer Fakultät mit den Medien. Hier liegt eine Menge Potenzial, das aber erst noch aktiviert werden muss, das wissen auch die Medienkollegen. Deswegen richten wir auch ein neues Zentrum für Medienforschung ein. Aber das muss sich neu ausrichten, auf die Zukunft hin.
Sie wünschen sich also, dass unsere Geisteswissenschaften weniger verkopft werden und mehr zusehen, wie sie auch zu praxisbezogenen Anwendungen finden, in Stadt, Region, Bundesrepublik. Ja, genau.
Ab 2011 sollen die zwölf existierenden Fachbereiche in vier Fakultäten zusammengefasst werden. Besteht dabei nicht auch die Gefahr, dass kleinere Fachbereiche wie die Musik in einer großen Fakultät einfach untergehen?
Die Zahl der privaten Hochschulen in Deutschland nahm in den letzten Jahren zu. Jede vierte Universität oder Fachhochschule hat mittlerweile einen privaten Träger, das meldet das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Aufgrund der Tatsache, dass diese Hochschulen allerdings vergleichsweise klein sind, stellen sie lediglich 4,5 Prozent aller Studienplätze in Deutschland. Dabei sind Fachhochschulen deutlich häufiger in privater Hand als Universitäten.
Die EU-Bildungskommissarin Androulla Vassiliou bekräftigte vor Kurzem erneut das Ziel Anreize und Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass künftig ein Fünftel der Hochschulabsolventen in der EU zeitweise in einem anderen Land des Europäischen Hochschulraums studieren können. Die Europäische Union wolle die Mobilität junger europäischer Studenten während ihres Studiums steigern. Frau Vassiliou sagte, dazu gehöre auch die Vergabe von Stipendien und sie wolle sich aus diesem Grund für eine Erhöhung des Bildungshaushalts einsetzen.
Die Umfrage „Trends 2010“ des Europäischen Universitätsverbands ermittelte vor Kurzem die Zufriedenheit der Hochschulen mit der BolognaReform. Demnach loben 58 Prozent aller Hochschulen die Reform als „sehr postiv“. 38 Prozent machen Einschränkungen und räumen „gemischte Ergebnisse“ ein. Nach Angaben des Universitätsverbands wird die Reform von nur 0,1 Prozent der Universitäten als gänzlich negativ eingeschätzt. Allerdings schätzen nur ca. 15 Prozent den Bachelor als eine „angemessene Vorbereitung auf das Berufsleben“ ein.
Fazit: Die europäischen Universitäten halten den Bachelor-Abschluss mehrheitlich zwar für ungeeignet für den Arbeitsmarkt, sind mit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge allerdings zufrieden. Bei der Studie „Trends 2010“ des Europäischen Universitätsverbands wurden 821 Universitäten und 27 nationale Universitätsverbände befragt.
Die Otto-Friedrich-Universität Bamberg möchte zwei auf den ersten Blick nicht zusammengehörige Studienfächer verbinden. Im neu geschaffenen Master-Studiengang „Computing in the Humanities“ sollen verschiedene Forschungsansätze verknüpfen werden, die digitale Arbeitsabläufe im Bereich Kultur und Medien betreffen. Vor allem Bachelor-Absolventen der Geisteswissenschaften, die Interesse an Informationstechnologien haben bilden die Zielgruppe des Studiengangs. Die Studierenden haben hier die Auswahl zwischen verschiedenen Vertiefungsrichtungen, z.B. Kulturinformatik, kognitive Systeme und Mensch-Computer-Interaktion.
So viel wie im vergangenen Jahr waren es noch nie. Die Rede ist von den Studienberechtigten in Deutschland. Wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte, erwarben 2009 rund 447.000 Schüler die Hochschul- oder Fachhochschulreife. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl um 1,2 Prozent.
Bei der Ausbildung von islamischen Geistlichen macht die Universität Osnabrück Nägel mit Köpfen. Bis spätestens 2013 solle ein Studiengang eingeführt werden, der auf den Beruf des Imams vorbereite, teilte Niedersachsens Innenminister Schünemann mit. Bereits ab Herbst soll es ein erstes Weiterbildungsprogramm für Imame geben. Die Vizepräsidentin der Hochschule, Martina Blasberg-Kuhnke, unterstrich stolz, diesmal sei man weiter und schneller als andere. Mehrere Unis hatten Interesse bekundet, nachdem der Wissenschaftsrat die Etablierung Islamischer Theologie in Deutschland empfohlen hatte. Nach Angaben der Landesvertretung der Muslime in Niedersachsen haben bereits 45 Imame ihr Interesse an einer Fortbildung bekundet.
Die Gefahr besteht nicht, ganz im Gegenteil. Die Philosophie oder andere kleine Fächer standen immer vor der Existenzfrage. Manche Fächer und Studiengänge waren zum Teil so wenig nachgefragt, dass sie als Fachbereiche viel gefährdeter gewesen sind als sie es im Zusammenschluss in einer Fakultät sein könnten. Die Gefahr sehe ich also überhaupt nicht. Hier erwarte ich vielmehr Synergieeffekte, die positiv sind auch für die sogenannten Kleinen. Wie Sie gerade schon gesagt haben, könnte die Philosophie näher an die Medien rücken oder auch die Kunst. Architektur und Musik, Architektur und Kunst. Das Bauen, die Künste, Menschen und Kultur zusammen unter einem Dach: eine humanwissenschaftliche Fakultät. Denken Sie ans Untere Schloss, das ist architektonisch, für die Künstler, Pädagogen und Psychologen ein unheimlich spannender Raum: Wie gestaltet man jetzt hier Übergänge zwischen universitärem Campus und Museum? Und wie gestalten wir diesen neuen Campus in der Stadt so, dass dort auch gelebt wird? Für solche Fragen ist diese Fakultät prädestiniert. Da könnten die Architekten ihre Kunst erfahrbar, erlebbar machen. Da könnten Pädagogen und Psychologen ihre Erkenntnisse über gruppendynamische Prozesse einbringen und die Architekten könnten entscheiden, welche Räume für diese Dynamik die richtigen sind. Aber das muss sich alles noch entscheiden. In jedem Fall werden wir vier spannende Fakultäten bekommen, und man darf gespannt sein, was die alles erreichen werden.
Dennoch gibt es Kollegen, die befürchten, dass mit dem Abbau der Fachbereiche und der Dekanate ihre Interessenvertretung entfällt und sie ihre Stimme an der Universität quasi verlieren. Was ist davon zu halten? Sind das einfach bloß Menschen, die an ihren Ämtern hängen, oder sind das nicht auch berechtigte Ängste?
Es sind Ängste, die ich verstehen kann, aber für berechtigt halte ich sie nicht. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Es werden weiterhin alle Interessengruppen vertreten sein, das sieht das Gesetz so vor, wenn auch natürlich in neuen Konstellationen.
Die Organisationsstruktur steht noch nicht fest. Es wird in naher Zeit die Aufgabe des Senats sein, sich zu überlegen, in welcher Form man sich neu strukturiert, welche Unterstruktur man für sich auswählt. Man hat mich im November gebeten, solche Unterstrukturen vorzulegen, und das habe ich dann auch getan. Es hieß dann aber, ich würde das „von Oben“ vorgeben, und das war dann auch wieder verkehrt. Dabei sieht aber das Hochschulgesetz schon gewisse Partizipationsrechte vor, sodass niemand um sein Mitspracherecht besorgt sein muss. Trotzdem kann ich individuelle Ängste in einem Übergangsprozess natürlich verstehen. Aber mit den kleinen Fachbereichen wären wir auf lange Sicht nicht überlebensfähig gewesen, das muss man auch mal klar sagen.
Sie hatten keinen so einfachen Start in Siegen. Zum einen war die Rektoratswahl überschattet von den Ereignissen des vergangenen Jahres, als der Hochschulrat seinen Kandidaten gegen den Senat einsetzen zu wollen schien. Zum anderen gingen die Studenten im Bildungsstreik auf die Barrikaden und besetzten wochenlang den Roten Hörsaal. Wie haben Sie das alles wahrgenommen?
Es war schon bunt. Es kommt ja auch noch hinzu, dass den Hochschulrat zwei Leute verlassen mussten, weil sie andere Ämter bekleidet haben, die mit dem Amt eines Hochschulrats kollidierten. An dieser Front gab es also auch noch Unruhe. Bologna, der Bildungsstreik, die Studienbeitragsdiskussion und dann die Strukturdebatte. Es war richtig viel. Es ist ein Siebentagejob, den ich mache. Ich muss aber auch sagen, dass ich ihn gerne mache. Ich habe das Problemfeld gesehen. Ich habe für mich gewisse Identifizierungen schon im Mai vor der Wahl vorgenommen. Und ich habe mir für meine Bewerbung eine Strategie überlegt, von der ich gedacht habe, damit könntest du es versuchen. Die vielen Probleme haben eins allerdings
gekostet: Sie haben mich die Zeit gekostet, die Uni etwas langsamer kennenzulernen. Ich hatte keine Zeit, mich den Kollegen und Studierenden ausführlich zu widmen. Mehr Zeit für die Menschen, das hätte ich mir am Anfang gewünscht. Aber die hatten wir nicht.
Das holen Sie nun nach?
Ich glaube nicht, dass das in diesem Jahr gelingt. Der begonnene Umstrukturierungsprozess verlangt mir viel Zeit ab. Ich bin der Hauptgesprächspartner, nicht nur hier an der Uni, sondern auch noch in Düsseldorf und in der Region.
Es gibt Lehrkräfte, die Ihnen das ankreiden. Ja, sicherlich. Das ist mir bewusst. Aber man hat nun mal nur einen Körper und der Tag hat nur 24 Stunden. Da muss man einfach Schwerpunkte setzen. Die Strukturdebatten empfand ich grundsätzlich als konstruktiv. Natürlich sind die Emotionen manchmal hochgekocht. Das finde ich aber nicht problematisch. Ich habe ein großes Bereitschaftspotenzial bei den Kollegen und Kolleginnen gesehen, bei allen, nicht nur bei den Professoren. Ich war auch bei den Personalversammlungen vom Mittelbau präsent, den nichtwissenschaftlichen Mitarbeitern, auch den Studierenden habe ich mich gestellt. Es war für alle eine große Überraschung, mit welcher Dynamik ich das vorangetrieben habe. Das hat die meisten Leute verunsichert.
Ich glaube, Sie sind gestärkt daraus hervorgegangen. Das kann man inzwischen so sagen oder?
Ich glaube es auch. Ich war körperlich zwischendurch mal etwas müde gewesen, aber insgesamt ist meine Position positiver als vor-
„Ich bin bekennender Studienbeitragsanhänger, wenn das soziale Netzwerk stimmt, also niemand deswegen in eine soziale Schieflage gerät.“
her und zwischendurch. Weil man erkannt hat, dass es mir nicht um meine Person geht, sondern um die Zukunft der Universität.
Auch im AStA gibt es kaum Stimmen gegen Sie oder Ihre Politik. Wie gehen Sie mit der Studierendenschaft um?
Ich hatte gerade heute wieder mein Treffen mit dem AStA. Und ich hätte das eigentlich gerne noch viel häufiger. Seit ich hier bin, haben wir uns, glaube ich, erst drei- oder viermal getroffen. Das ist mir eigentlich zu wenig. Ich finde, wir haben ein sehr konstruktives Verhältnis miteinander, offen und kritisch, jeder sagt einfach, was er denkt. Ich finde es angenehm, dass der AStA hier einen Blick dafür hat, was machbar ist. Andererseits, glaube ich, erlebt der AStA auch einen Rektor, der einen realistischen Blick für die Probleme der Studierenden hat. Damit sind es schon zwei Dinge, die mir positiv zugewachsen sind: Erstens bin ich sicherlich einer der ersten Rektoren dieser Uni, der das Lehramt wirklich ernst nimmt und auch protegiert. Und zweitens nehme ich auch die Interessen der Studierenden wahr und ernst. Und auch die Leute im Roten Hörsaal: Klar sind die einen Schuss offensiver, aber Aggression hat es nicht gegeben. Ich war dennoch froh für uns alle, als sie aus dem Hörsaal hinaus-
auch. Das muss nicht wieder drei Wochen dauern, aber da hätte ich volles Verständnis für.“
gegangen sind. Ich habe wirklich viel Geduld gehabt, aber irgendwann hätte ich die Reißleine ziehen müssen. Ich hatte viele Beschwerden von Kollegen, dass ich das so lange mitgemacht habe. Da habe ich die Studierenden lange verteidigt, viel länger, als sie das mitbekommen haben. Obwohl ich aufgefordert worden bin, auch von der Region, der Sache ein Ende zu machen.
Aber es gab auch viele Fürsprecher unter Ihren Kollegen, die mit den Studenten kooperiert haben, die sogar mehr Radikalität gefordert haben. Die alten 68er, wenn Sie so wollen.
Ja, ich weiß. Ich bin aber nicht für Radikalität.
Sie sind kein 68er?
Nein, ich glaube, nicht wirklich. Der philosophischen Tradition nach, ja. Aber in der Radikalität der Aktion, nein. Ich bin absolut für Gewaltfreiheit.
Aber das Anliegen des Bildungsstreiks konnten Sie nachvollziehen?
Ja, kommen wir zum Bildungsstreik als solchen. Den sehe ich sehr positiv.
„Ich halte einen weiteren Bildungsstreik für angebracht, damit rechne ich
War er angebracht?
Ja sicher. Der war mehr als angebracht. Ich halte auch einen weiteren Bildungsstreik für angebracht, damit rechne ich auch, auch im Rahmen der Politisierung im Wahlkampf. Ich habe den Bildungsstreik, das können Sie auch den Ausgaben des Querschnitts entnehmen, für absolut notwendig erachtet.
War er erfolgreich?
Ja, weil er das politische Bewusstsein in der Öffentlichkeit und bei den Verantwortungsträgern geschärft hat. Zu Beginn des Streiks gab es viele Hochschulen in NRW, die das nicht ernst genommen haben. Schon damals habe ich mich hingestellt und gesagt, dass ich sie sehr ernst nehme! Jetzt müssen wir evaluieren, welche Versprechen, die vor einem Dreivierteljahr gemacht worden sind, auch eingelöst sind. Das haben die Studierenden völlig zu Recht verlangt. Die haben gesagt, wir spüren keine Verbesserungen, stattdessen haben wir jetzt sogar noch 20 oder 30 Prozent mehr Neueinschreiber, und die Studienbeiträge sehen wir auch nicht verausgabt. Zeigt uns das, was ihr uns im Mai versprochen habt. Mehr wollen wir gar nicht, zeigt uns, wie ihr das eingelöst habt. Das finde ich völlig berechtigt. Und jetzt ist ihnen wieder etwas versprochen worden und da werden sie wieder sagen, wir wollen das eingelöst wissen. Das muss nicht wieder drei Wochen dauern, aber da hätte ich volles Verständnis für.
Die Schlichtung des Prüfungsdschungels, die Aufhebung der Anwesenheitspflicht, die Verlängerung auch der Regelstudienzeit. Aber das bekommen sie ja nicht einfach so umgesetzt. Das sind ja keine Vorgaben, die die Unis beeinflussen. Es ist die Kultusministerkonferenz, die uns vorgibt, dass wir zehn Semester Höchstdauer haben, egal, wie wir die in Siegen sortieren: sieben plus drei, acht plus zwei, sechs plus vier. Die Deckelung auf zehn ist vorgegeben. Ich sehe übrigens auch nicht ganz ein, dass wir jetzt oben die Studienzeiten um ein Jahr verlängern, und unten specken wir in der Schule eins ab, für das man sich an der Uni dann nachqualifizieren soll. Da stimmt im System irgendwas nicht. Wenn wir jetzt ein Jahr vorschieben müssen, um die wieder studierfähig zu machen, frage ich mich, warum wir vorher G8 eingeführt haben. Diese Schaukelbewegung wäre mir auch fremd.
Andererseits hat es in anderen Staaten der EU, in denen Bachelor und Master bereits gang und gäbe waren, bevor der Bolognaprozess in Deutschland gegriffen hat, auch acht Semester für einen Bachelor gegeben, nicht bloß sechs wie bei uns.
Aber nicht unter der Perspektive der Kürzung der Gymnasialzeit, sondern dann unter der Perspektive einer Verbreiterung und Vertiefung des Studiums.
Aber nimmt sich das nicht gleich aus? Also, für mich nicht.
Das Lehrklima an der Uni ist doch ein anderes als an der Schule: Wer nicht aufsattelt, der bleibt zurück. Das ist völlig richtig und ich denke, das ist auch normal. Eine Uni ist keine dritte Sekundarstufe, sondern eine ganz andere Bildungsinstitution als die Schule. Und deshalb frage ich mich eben auch – aber Sie müssen mich korrigieren, wenn ich Sie falsch verstanden habe – es darf nicht so sein, dass diese Erweiterung, wenn wir sie machen, nur als Kompensat für das 13. Schuljahr dient. Sondern es müsste so sein, dass die zusätzlichen Semester wieder einer akademischen Breite auf universitärem Niveau dienen, also dem, was wir früher als Philosophikum kannten: ein interdisziplinäres Studium mit einer hohen Wahlfreiheit. Für Siegen hätte ich gerne ein Globalstudium, ein Allrounderstudium zum Beispiel in den Naturwissenschaften. Dass wir nicht nur Fachidioten produzieren. Wenn das Jahr dafür dienen soll, bin ich direkt auf Ihrer Seite.
Darin stimme ich Ihnen zu. Es klingt jetzt aber, als würden Sie meinen, die Landesregierung würde die Kürzung des Abiturs auf Kosten der Hochschulen vornehmen, die das dann auch noch selber bezahlen müssen. Ist das Ihre Interpretation dieses Prozesses?
Nein, so darf diese Interpretation nicht sein. Das darf einfach nicht das Motiv sein. Ich glaube auch nicht, dass es das wirklich ist. Die Landesregierung hält sich aus dieser Diskussion im Moment völlig heraus. Die Hochschulen tragen das aus.
Die haben den Schwarzen Peter.
Die Hochschulen tragen die Diskussion und denken darüber nach, ob acht plus vier nicht die sinnvolle Lösung ist, wenn man einen berufsqualifizierenden Bachelor anbieten will. Die Diskussion kommt nicht aus der Politik, sondern sie kommt aus den Hochschulen selbst. Aber die Hochschulen sehen auch, dass sie solche Argumente damit bedienen könnten, und die wollen sie natürlich nicht bedienen. So müssen sie es sehen. Aber lassen sie mich noch etwas anderes in dem Zusammenhang sagen. Wenn sie jetzt acht plus vier anstreben, ist das auch eine Notwendigkeit, die daraus erwächst, dass wir den Bolognaprozess bisher nicht richtig umgesetzt haben. Dass wir versucht haben, Bachelor gleich Diplom zu machen und Master gleich Vorstudie zur Promotion. Dass wir auch nicht den Paradigmenwechsel, der mit Bologna einhergeht, ernst genommen haben. Dass wir mit dem Bachelor Berufsbefähigung erzeugen, Employability, aber nicht Berufsfertigkeit. Dafür sind die sogenannten Traineeprogramme genau die Antwort, die notwendig ist. Aber auch am Bachelor muss sich was ändern. Es muss primär kompetenzorientiert gearbeitet werden und nicht, wie im Augenblick, kleinmodularisiert, in fachwissenschaftlicher Kleinschrittigkeit. Wenn wir erreichen können, dass die Leute mit unserem Berufsprofil in die Wirtschaft kommen, erst dann machen wir es richtig. Die Wirtschaft muss mit unseren Absolventen auch etwas anzufangen wissen. Also spezialisieren wir uns auf gefragte Wirtschaftsfelder. Wenn wir das erreichen, werden wir auch eine andere Struktur des Bachelors haben
und dann kommen wir mit sechs Semestern vielleicht sogar locker hin. Auch da hat der Bildungsstreik vieles angestoßen.
Sind Sie denn der Meinung, dass die Landesregierung sich zu sehr aus diesem Prozess herausnimmt?
Nein. Die Landesregierung hat eine ganz klare Position und die hält sie mit Andreas Pinkwart auch konsequent durch.
Vielleicht nicht mehr lange.
Wir werden sehen, was am 9. Mai passiert. Aber die Hochschulfreiheit ist etwas, was die Hochschulen nicht kampflos aufgeben werden. Ich finde, dass die Landesregierung hier einen sehr guten Job gemacht hat. Sie hat den Hochschulen über fünf Jahre hinweg finanzielle Planungssicherheit verschafft. Sie hat den Hochschulen Verantwortung übertragen, aber auch Freiräume, diese Verantwortung zu gestalten. Für die Hochschulen ist das ein Lernprozess.
Einen Punkt stellen dabei die Studiengänge dar. Früher konnten Hochschulen sich zurücklehnen und sagen, das Land hat es genehmigt, klagt gegen das Land. Heute gibt die Hochschule selbst Maßnahmen zur Akkreditierung frei. Aber da kann man geteilter Meinung sein. Das Land ist jedenfalls konsequent und in dieser Konsequenz von Hochschulfreiheit – da bin ich ein Stück Rest-68er – hat das Land NRW einen ganz wichtigen Schritt getan. Was uns in Siegen noch fehlt, ist natürlich eine gewisse notwendig gewordene größere Ausstattung mit Personal und Geld. Durch die anstehende zwei- bis viersemestrige Verlängerung der Studienzeit brauchen wir mindestens 15 Prozent mehr Geld, und das haben wir nicht bekommen. Das schränkt natürlich die Spielräume ein und darum kämpfen wir Hochschulen dafür, dass wir höhere Budgets bekommen.
Und im Mai wünschen Sie sich eine Wiederwahl? Ach was heißt eine Wiederwahl. Ich sollte mich politisch raushalten. Aber ich hätte keine Einwände. Keinen Kurswechsel in der Wissenschaftspolitik.
Stellen Sie sich vor, die SPD gewinnt die Wahl und schafft die Studiengebühren wieder ab. Viele wünschen sich das. Ich bin bekennender Studienbeitragsanhänger, wenn das soziale Netzwerk stimmt, also niemand deswegen in eine soziale Schieflage gerät. Wenn die Studienbeiträge im Mai abgeschafft werden sollten, dann haben wir diese Entscheidung der Wähler als Hochschulen natürlich mitzutragen. Aber die Gestaltungsspielräume der Hochschulen würden ohne Studienbeiträge massiv eingeschränkt sein. Was wir einrichten an Tutorien, an Studiengangsprojekten, an Betreuungsprojekten etc., das sind alles Dinge, die aus Studienbeiträgen finanziert werden und die wir alle für sinnvoll und notwendig erachten, auch in der Politik. Wenn das entfällt, muss es dafür ein Kompensat geben, das haben wir im Landtag bereits klargemacht.
Sie bekennen sich zu den Studiengebühren, sagen aber auch, es muss das entsprechende soziale Netz da sein, die soziale Abfederung, und mög-
lichst auf ganzer Linie. Aber gibt es das denn bereits? Da gibt es viele Ansätze, aber umgesetzt sind sie noch nicht, zumindest nicht alle. Auf Ihre Frage eine konkrete Antwort: Ja, ich glaube, dass das soziale Netz hier in NRW schon sehr dicht gestrickt ist. Es gibt zwei Dinge, die noch bemängelnswert sind. Zum einen, dass der Ausfallfonds nach wie vor von den Studierenden selbst getragen wird. Dass der eine Student für den anderen quasi der Kreditgeber ist. Das kritisiert auch das Studentenwerk, und meines Erachtens zu Recht. Da muss das Land in die Bürgschaft treten. Und das andere: dass noch nicht transparent genug ist, wie die soziale Abfederung in NRW tatsächlich funktioniert. NRW ist in dieser Hinsicht beispielhaft für alle Länder, die Studienbeiträge erheben, und zwar im positiven Sinn. Leider haben zu viele Studierende noch eine zu große Scheu davor, das angebotene Darlehen in Anspruch zu nehmen, weil sie nicht sehen, welch kleines Risiko sie mit diesem Darlehen eingehen. Unsere Universität hat ja zusätzlich den Verein Studienförderfonds Siegen ins Leben gerufen, um begabte und sozial benachteiligte Menschen zu fördern. Und sicherlich ist auch noch nicht transparent genug, was wir mit den Studienbeiträgen eigentlich alles machen. Welche Services die Studierenden durch Studienbeiträge haben.
Neuerdings gibt es auf der Homepage der Uni Siegen Auskünfte darüber, was mit den Studiengebühren passiert ...
Das war eins der ersten Dinge, die ich hier veranlasst habe, dass Sie dazu direkt einen Link auf der Homepage haben, aber auch zu den Fördermöglichkeiten und den Darlehen.
Soll Siegen in den nächsten Jahren eine Großraum-Uni werden?
Sie soll klein, aber fein sein. Wir sollten uns auf diese Region konzentrieren. Das ist unser Standort. Wir wollen aber mit einem klaren Profil lesbar, sichtbar sein. Aber wir brauchen jetzt keine Massenuni zu werden. Das überlassen wir gerne anderen.
Fühlen Sie sich wohler an der kleinen Uni Siegen als an der großen Uni Köln, wo sie Prorektor waren?
Das kommt auf den Bereich an, den Sie betrachten. Wenn Sie durch eine Stadt wie Köln gehen, haben Sie natürlich ein anderes Flair. Und das ist einfach der Unterschied, eine Universität zu haben, die mitten in der Stadt liegt. Das größte Problem, die größte Differenz und das größte Negativum, was ich hier erlebe, ist, dass die Studierenden von meinem Büro im Herrengarten aus gesehen zehn Kilometer weit weg sind. Das ist das größte Problem, dass wir keine Campus-Uni sind. Ansonsten macht das schon Spaß, weil menschlich ist man näher beieinander als in einer so großen Uni wie Köln.
Hier grüßt man sich auch auf den Fluren. Zum Beispiel. b
Das vorliegende Interview erfolgte am 9. März 2010. Fragen, die sich in der Zwischenzeit ergeben haben, konnten leider für diese Ausgabe nicht mehr gestellt werden.
Viele Studierende in Siegen werden zur Kenntnis genommen haben, dass ihre Zahlungen an die Universität dieses Semester auf 705,05 Euro gestiegen sind und sie damit 14,60 Euro mehr überweisen mussten als im vergangenen Wintersemester. Kaum jemand wird hingegen wissen, wie sich der Betrag auf die Verwaltungsetagen der Hochschule, das Studentenwerk und die studentische Selbstverwaltung (z. B. AStA, StuPa, Initiativen, Fach- schaftsräte, autonome Referate) aufteilt. Es ist anzunehmen, dass der AStA diese mangelndeTransparenz für sich genutzt hat, um unhinterfragt seinen hohen Mehrbedarf anmelden zu können. Immerhin geht es bei 12.142 Studierenden (ausgehend vom SS 2010, s. www.studentenwerk.uni-siegen.de) im Siegener Sommersemester um Gesamtmehreinnahmen von rund 120.000 Euro, von denen rund 18.000 Euro zusätzlich in die studentische Selbstverwaltung einfließen. Vielleicht tun die 1,50 Euro mehr, die der AStA pro Kopf einzieht, den meisten nicht wirklich weh. In den vergangenen Jahren hatte man aber eigentlich ein großes finanzielles Polster aufgebaut, welches der wertvollen Arbeit der Verfassten Studierendenschaft den Rücken stärken sollte: 125.000 Euro waren es noch 2008; 72.000 Euro im Jahr 2009. 2010 stellt man plötzlich ein Gesamtdefizit von 50.000 Euro fest. Man darf sich also zu Recht darüber wundern, wie es dazu eigentlich kam.
Nach § 57 des Hochschulfreiheitsgesetzes NRW hat die Verfasste Studierendenschaft ihr eigenes Vermögen und erhebt Beiträge, um es zu behalten. Jeder Hochschul-AStA muss einen Haushaltsplan aufstellen und am Jahresende Rechnungsergebnisse veröffentlichen. Ein vom Studierendenparlament (StuPa) gewählter Haushaltsausschuss „wacht“ über den Haushaltsplan, ein Kassenprüfungsausschuss überprüft die Finanzen.
2010 werden von den rund 300.000 Euro, die die Studentische Selbstverwaltung insgesamt einnimmt, je 80.000 Euro für die Löhne der 13 AStA-ReferentInnen und die 11 Fachschaftsräte ausgeschüttet. 34.000 Euro werden für studentische Initiativen und autonome Referate gebraucht, 27.000 Euro für die Wahrnehmung hochschulpolitischer, wirtschaftlicher, fachlicher, sozialer und kultureller Belange, wie z.B. zinslose Mikrokredite, Wahlmaterialien, Projekte oder Protestaktionen. 40.000 Euro kostet die Verwaltung, 32.000 Euro kosten der AStA-Shop und die Kopierer, die durch den Verkauf Gelder in die Studentische Selbstverwaltung zurücktragen sollen. Und hier liegt der Hase im Pfeffer: Viele der Kopiergeräte blieben 2009 betriebsunfähig, weil die altersschwachen Kartenlesegeräte, über die man die Kopien bezahlt, ihren Dienst verweigerten. Das führte im Laufe des Jahres zu einem Einnahmeverlust
von rund 30.000 Euro, und jedenTag wächst die Summe weiter, wahrscheinlich noch bis 2012, wenn der Leasingvertrag der Verfassten Studierendenschaft für die Kopiergeräte ausläuft – dabei hätte eine Reparatur die studentische Selbstverwaltung nur 3.200 Euro gekostet. Weitere 10.000 Euro Verlust brachte die Nichtverlängerung des Kopierkartenabnahmevertrags zwischen AStA und Studentenwerk Siegen mit sich. Mit dem Vertrag sichert das Studentenwerk zu, die Kopierkarten des AStA an allen seinen Verkaufsstellen anzubieten. Fast ein volles Jahr lang waren die Karten dort nicht erwerbbar. Die verantwortlichen AStA-Referenten nahmen das offenbar in Kauf, wohl in der Erwartung, die (bald?) bevorstehende Einführung des einheitlichen Kopierkartensystems mache den Aufwand überflüssig. Dabei war absehbar, dass es bis zur Umsetzung des neuen Systems noch etwas dauern würde – sieben Jahre lang ist man mit der Uni-Verwaltung darüber schon im Gespräch.
Deutlich wurden die Ausfälle zu spät: Mangelhafte Kommunikation zwischen den Wirtschaftsbetrieben des AStAs und dem Finanzreferat führte dazu, dass alle von dem Gesamtdefizit von 50.000 Euro am Ende des Jahres überrascht waren: Bedroht war auf einmal nicht nur die Arbeit der Studentischen Selbstverwaltung, sondern auch deren Autonomie. Über kurz oder lang würde eine solche Misswirtschaft zu einem rektoralen Zwangshaushalt führen – so sieht das Landesgesetz es vor. Dass die durch eigene planerische Versäumnisse entstandenen Kos-ten vom AStA nun auf die Studierenden abgewälzt wurden, verärgert vielleicht, begünstigt aber den Erhalt der Studentischen Selbstverwaltung. In den Referaten und Initiativen der Studierendenschaft machen sich dennoch Sorgen breit: Werden die Gelder, die für viele Arbeiten dringend benötigt werden, im kommenden Nachtragshaushalt gekürzt? Zu einer Stellungnahme zur zukünftigen Geldervergabe war der AStA bisher nicht bereit. Die Verantwortung für die Schieflage streitet er ab. Die Verantwortung für die Schieflage streitet er ab. Immerhin: Das StuPa hat den AStA inzwischen dazu verdonnert, sich um die Reparatur der Kopiergeräte zu sorgen. Seitdem laufen sie wieder. b
Du. Der höhere Semesterbeitrag soll die Versäumnisse des letzten AStAs kompensieren. Ein Text mit Zahlen.
In Siegen wird es den Master der Philosophie in seiner bisherigen Form künftig nicht mehr geben. Begründet wird dies mit der geringen Auslastung des Studiengangs; zu wenige nutzten das Angebot. „Man muss sich eben damit abfinden, dass er nicht nachgefragt ist“, sagt der Rektor und verordnet die Abschaffung. Text von André Wenclawiak
Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen: nur ein Absolvent, zwei weitere eingeschriebene Studenten, und das seit der Einführung im WiSe 06/07 – viel ist das nicht. Auf der Podiumsdiskussion im roten Hörsaal am 22. April bat Prof. Klein, amtierender Prorektor für Lehre, Studium und Weiterbildung, um Verständnis für die Position des Rektorats: „Man muss sehen, dass das Rektorat einen solch minimal besetzten Studiengang, der ja Ressourcen bindet, sowohl dem Ministerium als auch den überfüllten Studiengängen gegenüber rechtfertigen muss.“
Wo die Kategorien der Rechtfertigung ökonomische Kennzahlen sind, tut man sich mit solchen Verhältnissen natürlich schwer. Dass man sich trotz nomineller „Hochschulfreiheit“ dem Ministerium ge-
genüber rechtfertigen müsse, verwundert. An fachübergreifender Relevanz gewinnt die Debatte auch durch die Feststellung von Prof. Klein, dass es von diesen „winzigen, ein-zwei-Personen Studiengängen unglaublich viele“ gebe. Andere derzeit angebotene Master, die nicht mit üppig genügender Auslastung beziffert werden können, stehen demgemäß ebenso zur Disposition.
Wie es mit der fachwissenschaftlichen Ausbildung weitergeht, bleibt indes unklar. Man spricht von Clusterisierung
Klein: „Wir sind angetreten mit dem Anspruch, eine Fächervielfalt zu erhalten, und wir wollen das nach Möglichkeit so tun, dass wir mehrere Studiengänge, die jeweils wenig nachgefragt sind, bündeln, clustern, […] und so versuchen, unter einem gemeinsamen
Dach zu einem Studienmodell zu kommen, mit dem man diese Studiengänge noch weiter führen kann.“
Im Gespräch sind interdisziplinäre Studienmodelle, innerhalb derer ähnlich ausgerichtete Fächer gemeinsame Master anbieten. Gegen solche Pläne wehren sich die betroffenen Fächer jedoch häufig – und auch sonst all jene, die befremdet davon sind, wenn fachfremde Gremien die Zusammenstellung der fachspezifischen Studieninhalte steuern.
Rektor Burckhart zur Clusterisierung: „Das ist natürlich ein ganz anderes fachkulturelles Verständnis, und da habe ich viel Ärger mit den Kolleginnen und Kollegen, die sagen: Nein, mein Fach muss vom ersten bis zum letzten Tag explizit studiert werden, da kann es kein
jenigen, die den Zenit ihrer Leistungsfähigkeit erst später entwickeln. Ein tragbares Bildungssystem kann und muss aber auch solche Menschen auffangen können, und nicht etwa als Getriebene einer ökonomisierten Hochschulpolitik „verheizen“.
Mittel gegen geben und ein Generalistenstudium machen wir schon mal gar nicht. Das ist ein Streit, den das Rektorat jetzt angetreten hat.“
In Form strategischer Ziele spricht man von inhaltlich breit angelegten Bachelorstudiengängen und einer später folgenden Spezialisierung. Für kleinere Fächer bleiben für diese Spezialisierungen dann jedoch offenbar nur interdisziplinäre Master übrig. Zu fragen bleibt, wie groß der jeweilige fachwissenschaftliche Anteil in einem solchen Studienmodell überhaupt noch sein kann. Breiter Bachelor, schmaler Master. Der Widerstand der Professoren bei der Umsetzung derartiger Konzepte ist, aus inhaltlich ausgerichteter Perspektive betrachtet, durchaus verständlich.
Rektor Burckharts Vorschlag für die Philosophie wäre es, einen interdisziplinären Master, der u.a. einen philosophischen Schwerpunkt hat, in eine Graduiertenschule einzugliedern, die unmittelbar zu einer Promotion führt. Zwar gibt es eine solche Graduiertenschule derzeit in Siegen nicht, von einer „baldigen“ Installation ist aber schon länger die Rede. (Siehe dazu das Interview in fool Nr. 12).
Letztlich wäre ein derartiges System vielleicht gut für Ausnahmestudenten mit besonderen Talenten für ein spezifisches Fach. Auf diese Weise erhielten sie früh ihre Auszeichnung, um sich in der akademischen Struktur möglichst zeitig in angemessener Relation zu ihrer Leistungsfähigkeit positionieren zu können. Auch das ist eine Form der Elitenbildung; denn bei diesen Studenten handelt es sich eben um genau das: Ausnahmen. Auf der Strecke bleiben die-
Die Lehrerausbildung läuft derweil in Siegen weiter auf Hochtouren. Wohl eher gelegentlich entspringt der Graduiertenschule ein akademisch vielversprechender Fachbegeisterter – auf der „akademischen Überholspur“ befindlich wird sich dieser jedoch vermutlich direkt aus Siegen verabschieden. Zu erwarten, dass dieser Nachwuchs an einer „Universität“ verbleibt, welche im jeweiligen Fach hauptsächlich Lehrer ausbildet, erscheint eher unplausibel. Nicht zuletzt ist er aber in der historischen Tiefe und systematischen Breite des Fachs auch gar nicht ausgebildet, sondern in einer eng spezifizierten Nische hochspezialisiert. Macht ein solches System flächendeckend Schule, fallen alsbald äußerst sonderbare Argumente mit Geltungsanspruch wie zuletzt in der externen Debatte um den neu zu besetzenden Tübinger Lehrstuhl für Rhetorik: Kritikern zufolge schließe die vom dortigen Senat ausgeschriebene Anforderung, das Fach in seiner historischen Tiefe und systematischen Breite zu beherrschen, zu viele Kandidaten aus. Eigentlich sollte man meinen, es handle sich um eine profilgerechte Ausschreibung.
Etwas abseits des akademischen Mainstreams wird zunehmend die Frage drängend, was es überhaupt heißt, wenn vom „Erhalt der Fächervielfalt“ gesprochen wird.
Vielleicht wird in hitziger Umstrukturierungsatmosphäre zu schnell außer Acht gelassen, was das angestrebte Bildungsziel einer normativ verstandenen Universität ist. Wird hier die Bildung als solche überhaupt noch als Teil des selbstbestimmten Lebens gedacht? In einem humanistischen Ideal ist auch die Fähigkeit des Einzelnen für mündige Selbstpositionierung und -zwecksetzung vorgesehen: Dinge, die das Studium der Philosophie zu leisten vermag. Alsbald scheint es, als stünde ein derartiges Ideal jedoch konträr zu der tatsächlich angestrebten Verwertbarkeit des Menschen als Humankapital für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Auch in Siegen scheint sich zunehmend die unsichtbare Hand des Marktes als Regierung letzter Instanz erkenntlich zu geben. b
„Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.“
− Theodor W. AdornoEingeschriebene Studierende im Fach Philosophie nach Studiengängen Quelle: www.uni-siegen.de Peter H. Stahl – StuPa-Haushaltsausschuss
Selbst an der Hochschule werden personenbezogene Daten für wirtschaftliche Zwecke gesammelt. Ein Kommentar zum Umgang mit unseren Daten
Vor nicht all zu langer Zeit, in diesem Land, lebten die Menschen in der Gewissheit, dass ihre Daten sicher sind. Niemand konnte über eine Person mehr erfahren, als diese ihm selbst zur Verfügung stellte. Diese sicheren Zeiten sind vorbei, Web 2.0 sei gedankt.
Seit diesen Tagen stellen immer mehr Personen ihre Daten in das Internet. Die sogenannten „Sozialen“ Netzwerke, welche in vielen Bereichen sehr umstritten sind, legen Benutzerdaten offen, sodass nun jede dort angemeldete Person problemlos gefunden werden kann. Will gegenüber einem Arbeitgeber verschwiegen werden, dass eine Person Mitglied einer Partei oder Gewerkschaft ist, so darf dies nicht ins Netz gestellt werden. Doch wer denkt schon an morgen?
Informationen bestimmen eine Gesellschaft, welche sich über immer neue Wege neu zu erfinden versucht. Vielen ist dabei nicht klar, dass sie mit jedem Klick im Internet Spuren hinterlassen, welche dazu genutzt werden, Geld damit zu verdienen. Google zum Beispiel verwendet, um an Personendaten zu kommen, den eigenen Browser Chrome, eigene Betriebssoftware für Handys oder die berühmte Suchmaschine. Über die gewonnenen Daten personalisiert Google dann das Kerngeschäft: Werbung. Argumentationen wie „Es stehe doch alles in der Datenschutzerklärung“ oder „in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ sind witzig und nutzlos, da nur ein geringer Bruchteil der NutzerInnen sich jene überhaupt zu Gemüte führt. Außerdem bestehen kaum Möglichkeiten, die eigenen Daten vor jenen Unternehmen zu schützen, sei es vor Apple, Microsoft, der Deutschen Telekom – oder eben vor Google. Unsere Datensätze werden von den Unternehmen gekauft, verkauft und wieder weiterverkauft. Auch Vater Staat und selbst Privatpersonen können einkaufen beim großen Datenmarkt Internet. Auch die Universitäten mischen mit und versuchen, Daten für sich nutzbar zu machen. Jeder Dozierende hat die Möglichkeit über das E-Learning-Programm „Moodle“ zu sehen, welche Personen Daten wann abgerufen haben. Informelle Selbstbestimmung sieht anders aus: Für viele Personen besteht heute gar keine andere Möglichkeit mehr, an Lehrunterlagen heranzugelangen als übers Internet, denn die Zettelwirtschaft neigt sich dem Ende zu.
Ein weiteres Beispiel ist das HIS-LSF. Über jenes Programm werden Stundenpläne erstellt, Prüfungsanmeldungen verwal-
tet und der Notenspiegel eingestellt. Eine Kontrolle vonseiten der Nutzer, den Studierenden, ist dabei nicht möglich. Auch die „Verfasste“ Studierendenschaft nutzt die neuen Möglichkeiten und arbeitet daran, die Daten, welche erhoben werden, nutzbar zu machen. So wurde vonseiten des AStAs ein Schreiben an die Verwaltung gesendet, in dem man darum bat, die Informationen über Belegungen von einzelnen Lehrveranstaltungen an die Verkehrsbetriebe Südwestfalen weiterzuleiten, um so das Problem überfüllter Unibusse zu lösen – Rücksprache mit dem StuPa hatte man deswegen aber nicht gehalten. Die Kooperation zwischen Uni und VGWS ist mittlerweile beschlossene Sache. Die Folgen sind absehbar: Die Busse werden in den Zeiträumen zwischen Veranstaltungen seltener fahren, die Fahrzeiten an die Studierendenströme angepasst. Klingt erst mal gut. Der Sozialraum Universität aber wird dadurch gewaltigen Schaden nehmen. Taktgebend für das Leben an der Uni waren schon immer die Busverbindungen. Randveranstaltungen von Studierenden für Studierende – wie sie die Initiativen, Referate und diverse Hochschulgruppen anbieten – werden seltener besucht und langfristig auch seltener angeboten. Die Zeit, die man freiwillig an der Universität verbringt, wird abnehmen, zwischenmenschliche Beziehungen leiden.
In den nächsten Jahren stehen überhaupt viele Änderungen an. Das einheitliche Kopierkartensystem beispielsweise wird wohl spätestens ab 2015 die Sammelwut der Universität noch verstärken. Der gläserne Student ist auf dem besten Wege real zu werden, bis Dozenten mehr über einen wissen als Mann und Frau selbst – nur noch eine Frage der Zeit. Die Universität weiß dann, was wir essen, wo wir kopieren, drucken, welche Bücher wir lesen und – im Extremfall – sogar wo wir uns aktuell befinden, Mikrochips und RFid sei Dank.
Bis zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine entsprechende Arbeitsgruppe, kein Referat und keine Initiative in der Studierendenschaft, die sich mit diesem Problem beschäftigen. Es wäre an der Zeit. Denn sobald die Strukturen geschaffen und ausgebaut sind, ist es dafür zu spät. b
Weitere Kommentare von Peter H. Stahl finden sich unter: www.uni-siegen.blogspot.com
Bank AG | 5Alexander, Keith D. (USA), Director National Security Agency | Alogoskoufis, George (GRC), (GRC), Chairman and CEO, National Bank of Greece | Babacan, Ali (TUR), Minister of State and Deputy Prime dent and CEO, Telenor Group | Balsemão, Francisco Pinto (PRT), Chairman and CEO, IMPRESA, S.G.P.S.; Former (ITA), CEO Telecom Italia S.p.A. | 6 Bildt, Carl (SWE), Minister of Foreign Affairs | Björklund, Jan (SWE), selor, Former Chairman and CEO, EMS-Group | Bompard, Alexandre (FRA), CEO, Europe 1 | Boot, Max (USA), ner, Oscar (AUT), Publisher and Editor, Der Standard | Castrics, Henri de (FRA), Chairman of the Management President | Coene, Luc (BEL), Vice Governor, National Bank of Belgium | Collins, Timothy C. (USA), Senior H.B.C.S.A. | Dearlove, Richard (GBR), Master, Pembroke College, Cambridge | Diamantopoulou, Anna (GRC), Henry Wendt Scholar in Political Economy, American Enterprise Institute for Public Policy Research | Eldrup, Fiat S.p.A. | 3Enders, omas (DEU), CEO, Airbus SAS | Entrecanales, José Manuel (ESP), Chairman, Professor of History, Harvard University | 15 Fischer, Joschka (DEU), former Minister of Foreign Affairs man, AIB Group | Graham, Donald E. (USA), Chairman and CEO, e Washington Post | Halberstadt, Victor Meetings | Hirsch Ballin, Ernst M.H. (NLD), Minister of Justice | Holbrooke, Richard C. (USA), US Special Scheffer, Jaap G. de (INT), Secretary General, NATO | Johnson, James A. (USA), Vice Chairman, Perseus, Jyrki (FIN), Minister of Finance | Keane, John M. (USA), Senior Partner, SCP Partners; General, US Army, of Lords; Deputy Chairman, Royal Dutch Shell plc | Klaeden, Eckart von (DEU), Foreign Policy Spokesman, man, (TUR), Roberts missionar, Employment (PRT), ment Bank Economist guel A. soft Corporation Egil (NOR), Editor, and CEO, (FIN), Chairman, Royal Dutch Shell plc. | Osborne, George (GBR), Shadow Chancellor of the Exchequer Finance; President of Notre Europe | Papahelas, Alexis (GRC), Journalist, Kathimerini | Papathanasiou, Yannis, Institute for Public Policy Research | Philippe, H.R.H. Prince (BEL) | Pinho, Manuel (PRT), Minister of Economy dent and CEO, Metrolinx | 14Prodi, Romano (ITA), Chairman, Foundation for Worldwide Cooperation CEO, Indigo Books & Music Inc. | Reiten, Eivind (NOR), President and CEO, Norsk Hydro ASA | Ringier, Bank | Rubin, Barnett R. (USA), Director of Studies and Senior Fellow, Center for International Cooperation, President and Vice-Chancellor, University of Alberta | 4 Schmidt, Helmut (DEU), former Chancellor of trollbank AG |8 Schröder, Gerhard (DEU), former Chancellor of Germany, head of the shareholders' Programme | Siniscalco, Domenico (ITA), Vice Chairman, Morgan Stanley International | 20Solbes, Pedro H.M. the Queen of (ESP) | 19 Steinberg, James B. (USA), Deputy Secretary of State | Stigson, Björn search Director, Foundation for Economic and Industrial Research (IOBE). | Sutherland, Peter D. (IRL), Chairman, IEA | Taylor, J. Martin (GBR), Chairman, Syngenta International AG | iel, Peter A. (USA), President, Clarium une, Andersen, omas (DRK), Partner and CEO, Maersk Oil | Treichl, Andreas (AUT), Chairman and Tsoukalis, Loukas (GRC), President of the Hellenic Foundation for Europeana nd Foreign Policy (ELIAMEP)
niel L. (CHE), Chairman and CEO, Novartis AG | Veer, Jeroen van der (NLD), Chief Executive, Royal Dutch (SWE), Chairman, Investor AB | Wallenberg, Marcus (SWE), Chairman, SEB | Wellink, Nour (NLD), Presiden
tin H. (GBR), Associate Editor & Chief Economics Commentator, e Financial Times | Wolfensohn, James
(GRC), Member of Parliament | Altman, Roger (USA), Chairman Evercore Partners Inc. | Arapoglou, Takis
Prime Minister | Bakoyannis, Dora (GRC), Minister of Foreign Affairs | Baksaas, Jon Fredrik (NOR), Presi
Former Prime Minister | Baverez, Nicolas (FRA), Partner, Gibson, Dunn & Crutcher LLP | Bernabè, Franco (SWE), Minister for Education, Leader of the Liberal Party | Blocher, Christoph (CHE), Former Swiss Coun (USA), Jeane J. Kirkpatrick Senior Fellow for National Security Studies, Council on Foreign Relations | Bron Management Board and CEO, AXA | Cebrián, Juan Luis (ESP),l CEO, PRISA | 18 Clinton, Bill (USA), former Senior Managing Director and CEO, Ripllewood Holdings, LLC | David, George A. (GRC), Chairman, Coca Cola (GRC), Member of Parliament | Draghi, Mario (ITA), Governor, Banca d'Italia | Eberstadt, Nicholas N. (USA), Eldrup, Anders (DNK), President, DONG A/S | Elkann, John (ITA), Chairman, EXOR S.p.A.; Vice Chairman, Chairman, Acciona | 1Faymann, Werner (AUT), Federal Chancellor | Ferguson, Niall (USA), Laurence A. Tisch
Affairs and Vice Chancellor, adviser for the Nabucco pipeline project | Gleeson, Dermot (IRL), Chair Victor (NLD), Professor of Economics, Leiden University; Former Honorary Secretary General of Bilderberg
Representative for Afghanistan and Pakistan | Hommen, Jan H.M. (NLD), Chairman, Ing. N.V. | 10Hoop
Perseus, LLC | Jordan, Jr., Vernon E. (USA), Senior Mangaging Director, Lazar Frères & Co. LLC | Katainen, y, Retired | Kent, Muhtar (USA), Preseident, CEO, Coca Cola Company | Kerr, John (GBR), Member House Spokesman, CDU/CSU | 22 Kleinfeld, Klaus (USA), President, CEO, Alcoa Inc. | Koç, Mustafa V. (TUR), Chair
Koç Holding A.S. mit Schlengel | 11Koch, Roland (DEU), Prime Minister of Hessen | Kohen, Sami (TUR), Senior Foreign Affairs Columnist, Milliyet | Kraves, Henry R. (USA), Founding Partner, Kohlberg Kraves Roberts & Co. | Kraves, Marie-Josée (USA), Senior Fellow Hutson Institute, Inc. | Kroes, Neelie (INT), Com missionar, European Commission | 13Lagarde, Christine (FRA), Minister for the Economy, Industry & Employment | Lamy, Pascal (INT), Director & General, World Trade Organization | Leite, Manuela Ferreira (PRT), Leader, PSD | León Gross, Bernardine (ESP), General Director of the Presidency of the Spanish Govern
| Löscher, Peter (DEU), CEO, Siemens AG | Maystadt, Philippe (INT), President, European Investmen | McKenna, Frank (CAN), Former Embassador to the USA | Micklethwait, John (GBR), Editor-in-Chief, e Economist | Monti, Mario (ITA), President, Universita Commerciale Luigi Bocconi | Moratinus Cuyaubé, Mi A. (ESP), Minister of Foreign Affairs | Mundie, Craig J. (USA), Chief Research and Strategy Officer, Micro Corporation | Munroe-Blum, Heather (CAN), Principal and Vice Chancellor, McGill University | Myklebust, (NOR), Former Chairman of the Board of Directors SAS, Norsk Hydro ASA | Nass, Matthias (DEU), Deputy Editor, Die Zeit | 9Netherlands, H.M. the Queen of the (NLD) | Nin Génova, Juan Maria (ESP), President CEO, La Caixa | Olivennes, Denis (FRA), CEO and Editor in Chief, Le Nouvel Observateur | 2 Ollila, Jorma Exchequer | Oudéa, Grédéric (FRA), CEO, Société Générale | Padoa-Schippoa, Tommaso (ITA), Former Minister of Yannis, Minister of Economy and Finance | Perle, Richard N. (USA), Resident Fellow, American Enterprise Economy and Innovation | Pisani-Ferry, Jean (INT), Director, Bruegel | Prichard, J. Robert S. (CAN), Presi Cooperation | Rajalahati, Hanna (FIN), Managing Editor, Talouselamä | Reisman, Heather M. (CAN), Chair and Ringier, Michael, (CHE), Chairman, Ringier AG | Rockefeller, David (USA), Former Chairman, Chase Manhattan ation, New York University | Sabanci Dinçer, Suzan (TUR), Chairman, Akbank | Sarnarasekera, Indira V. (CAN), of Germany | Scholten, Rudolf (AUT), Member of the Board of Executive Directors, Oesterreichische Kon shareholders' committee of Nord Stream AG | 7 Sheeran, Josette (USA), Executive Director, UN World Food Pedro (ESP), Vice-President of Spanish Government; Minister of Economy and Finance | 21Spain, Björn (INT), President, World Business Council for Sustainable Development | Stournaras, Yannis (GRC), Re Chairman, BP pic and Chairman, Goldman Sachs International | Tanaka, Nobou (INT), Executive Director, Clarium Capital Management, LLC | orning-Schmidt, Helle (DNK), Leader of e Social Democratic Party and CEO, Erstc Group Bank AG | 12Trichet, Jean-Claude (INT), President, European Central Bank (ELIAMEP) | Ugur, Agah (TUR), CEO, Borusan Holding | Vanhanen, Matti (FIN), Prime Minister |16Vasella, Da Dutch Shell plc. | Volcker, Paul A. (USA), Chairman, Economic Recovery Advisory Board | Wallenberg, Jacob President, De Nederlandsche Bank | 17 Westerwelle, Guido (DEU), Minister of Foreign Affairs | Wolf, Mar
(USA), Chairman, Wolfensohn & Company, LLC |
Wolfowitz, Paul (USA), Visiting Scholar, American
James D.130 internationale Schwergewichte aus Politik, Wirtschaft und Adel treffen sich einmal im Jahr auf der sogenannten Bilderberg-Konferenz. Sie sprechen über die zentralen Fragen der aktuellen Weltpolitik, die Presse sitzt daneben, und keiner bekommt etwas davon mit.
Bald wird der G8-Gipfel in Kanada stattfinden. Angela Merkel, Barack Obama und die anderen Regierungschefs der G8-Staaten werden im Juni nach Huntsville reisen, um dort über die wichtigsten Fragen der Weltpolitik zu diskutieren. Drei Tage lang werden die Augen der gesamten Welt auf die acht globalen Größen schauen. Jedes Lächeln, jedes Stirnrunzeln und jedes Händeschütteln wird beobachtet und anschließend dokumentiert sein. Kaum vorstellbar, dass eine ganz ähnliche Elefantenrunde –mit 130 statt acht Teilnehmern – bereits einige Wochen vorher fernab der Öffentlichkeit tagen soll. Man kennt weder den Ort des Treffens noch das genaue Datum, ja nicht einmal die Teilnehmer sind bekannt. Fest steht nur: Es werden sehr wichtige Menschen aus Politik, Wirtschaft und Medien dabei sein. Die Rede ist von der Bilderberg-Konferenz.
Die Bilderberg-Konferenz ist ein privates, informelles Treffen, an dem einflussreiche Personen aus Wirtschaft, Militär, Politik, Medien, Hochschulen und Adel teilnehmen. Dabei werden wichtige Probleme der Weltpolitik und der internationalen Beziehungen diskutiert. Im vergangenen Jahr waren dies unter anderem die Weltwirtschaftskrise, Irak, Pakistan und Afghanistan, Cyberterrorismus und die Herausforderungen nach dem Kyoto-Protokoll. Bekannte Teilnehmer aus Deutschland waren im Jahr 2005 beispielsweise der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, Angela Merkel, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, der damalige Innenminister Otto Schily und der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Post, Klaus Zumwinkel. Als regelmäßige Teilnehmer gelten David Rockefeller, Henry Kissinger und aus Deutschland Jürgen Schrempp, der langjährige Vorstandsvorsitzende der Daimler AG.
befürchtete eine Abkühlung der transatlantischen Beziehungen und erhoffte sich von den Gesprächen neue Impulse für die Zusammenarbeit. Er überzeugte Prinz Bernhard der Niederlande von seinem Vorhaben und gewann den Vater der heutigen Königin Beatrix für das Amt des Vorsitzenden der Konferenzen, das er bis 1976 innehatte.
Ganz besonders wichtig war den Bilderbergern von Beginn an die Verpflichtung zur Geheimhaltung. Alle Teilnehmer sind dazu angehalten, keinerlei Informationen über die Gespräche nach außen zu tragen. Aus diesem Grund wird die Konferenz auch vorab weder angekündigt noch eine Teilnehmerliste veröffentlicht. Erst einige Tage nach der Konferenz wird auf Anfrage eine Pressemitteilung herausgegeben, in der Termin, Ort und Teilnehmer der Konferenz bekannt gegeben werden.
Ganz besonders wichtig war den Bilderbergern von Beginn an die Verpflichtung zur Geheimhaltung. Alle Teilnehmer sind dazu angehalten, keinerlei Informationen über die Gespräche nach außen zu tragen.
Und tatsächlich ist bis heute keiner der Bilderberger an die Öffentlichkeit getreten, um ein mögliches Geheimnis, das sich um diese Treffen rankt, zu lüften. Lediglich in einigen Biografien und Memoiren werden die Existenz dieser Konferenzen erwähnt und persönliche Erinnerungen preisgegeben. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt erwähnt seine Teilnahme an einigen der Konferenzen beispielsweise in seinem Memoiren-Buch „Menschen und Mächte“. Darin erinnert er sich „mit Dankbarkeit“ an die Bilderberg-Konferenzen. David Rockefeller wiederum betont in seinen „Memoirs“, dass es sich bei den Bilderbergern um eine sehr interessante Diskussionsgruppe handele, die für Europa und Nordamerika wichtige Themen debattiere, ohne jedoch zu einem Konsens zu kommen.
Die Treffen finden seit 1954 jährlich an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt. Der Name der Konferenz geht auf den ersten Tagungsort, das Hotel de Bilderberg in Oosterbeek in den Niederlanden, zurück. Initiiert wurde die Konferenz damals von Józef Retinger, einem politischen Berater aus Polen. Er
In jüngerer Zeit bekannte sich unter anderem der außenpolitische Sprecher der CDU, Eckart von Klaeden, auf der Webseite Abgeordnetenwatch.de im Juli 2008 auf diverse Bürgeranfragen zu seiner Teilnahme an der Konferenz im selben Jahr. Darin spricht er von einer Konferenz, auf der „ungehindert und offen über aktuelle Probleme der Weltpolitik und -wirtschaft“ diskutiert werden kann. Auch wenn Eckart von Klaeden an den Konferenzen ausdrücklich nicht als offizieller Vertreter seiner Fraktion oder des Bundestags
Interview von Katharina Damwerth
fool on the hill: Die Bilderberg-Konferenzen gibt es schon lange und in den vergangenen Jahren gab es auch schon eine ganze Reihe vonVeröffentlichungen zu dem Thema. Warum haben Sie sich entschieden, jetzt ein Buch zu dem Thema zu veröffentlichen?
Gerhard Wisnewski: Mein Bilderberger-Buch ist ebenfalls schon seit mehreren Jahren „in der Pipeline“, wie es so schön neudeutsch heißt. Im Internet gibt es in bestimmten Kreisen eine rege Diskussion über die Bilderberger, und es gibt zumindest zwei deutsche Bücher, die aber nicht von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Die Berichterstattung über die Drahtzieher der Bilderberger reicht also bei weitem noch nicht aus. Bis jetzt wurden die Bilderberger komplett aus großen Publikumsmedien, den sogenannten Mainstreammedien, herausgehalten. Mein Buch erscheint nun in einem großen Publikumsverlag.
Gab es schon Reaktionen auf Ihr Buch?
Ja, es gibt die Kenner, die das Buch eher kritisch sehen, und zwar weil es auch Fragen aufgreift, die ihnen schon bekannt sind. Aber die vielen, die noch nie etwas mit dem Thema zu tun hatten, sind durchweg begeistert. Interessanterweise wird das Buch auch von den amazon-Kunden bis jetzt einhellig positiv bewertet.
In Ihrem Buch bezeichnen Sie die Bilderberger als „Bedrohung“. Wie gefährlich sind die Bilderberger für uns?
Sehr gefährlich. Weil die Bilderberger die Geschichte machen, durch die wir blind tappen. Die führenden Bilderberger sind die Schachgroßmeister, während wir lediglich Halma oder Mensch-ärgere-dich-nicht spielen. Aufgrund der Geheimhaltung der Konferenzen und der Tatsache, dass für die Teilnahme trotzdem Steuergelder aufgewendet werden, sind sie auch zutiefst antidemokratisch. Amtsträgern oder Abgeordneten sollte es verboten sein, an solchen Konferenzen teilzunehmen. Teilnehmer von BilderbergerKonferenzen sollten später kein öffentliches Amt bekleiden dürfen, weil die Konferenz im Grunde den Charakter einer Geheimloge oder Geheimorganisation trägt. Des Weiteren arbeiten die Bilderberger aus meiner Sicht an einem globalen Todesprogramm mit,
nämlich der Auflösung sämtlicher Grenzen und Kreisläufe. Grenzen werden abgeschafft und lokale Produktions- und Wirtschaftskreisläufe unterbrochen. Die gesamte zellenartige Organisation der Menschheit wird zerstört. Das muss man sich etwa wie eine Vergiftung vorstellen, die sämtliche Zellmembranen in Ihrem Körper auflöst und die internen Kreisläufe der Zellen zerstört. Dann können Sie auch nicht überleben. Und das bedeutet aus meiner Sicht die Zerstörung der Menschheit wie wir sie kennen.
Inwiefern unterscheiden sich Ihr Buch und Ihre Theorien von anderen Veröffentlichungen zu den Bilderbergern?
Ich glaube, es sind die unterschiedlichen Schwerpunkte. Wesentliche Aspekte, wie die Gründung durch die Jesuiten, wurden bisher nicht einmal ansatzweise analysiert. Ich glaube daher nicht, dass die Bilderberger bisher schon ausreichend verstanden wurden. Tatsache ist aber: Die Bilderberger wurden von einem sinistren, hochmanipulativen katholischen Orden gegründet, der seit Jahrhunderten an der Weltherrschaft strickt. Ein weiterer Punkt: Anders als die anderen Bücher, die den Leser sofort mit Namen und Querverbindungen bombardieren, ist das Buch zumindest auf den ersten 50 bis 100 Seiten für „Bilderberger-Anfänger“ geschrieben. Es holt den Leser bei den einfachsten Fragen ab und gibt ihm Zeit, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass es wirklich seit über einem halben Jahrhundert eine Geheimkonferenz gibt, die jedes Jahr irgendwo auf dem Globus stattfindet, ohne dass ihm seine Medien davon ein Sterbenswörtchen erzählen. Dramaturgisch würde man sagen, das Buch beginnt ganz „flach“, um dann in höheren geopolitischen Fragen zu enden.
Der Untertitel Ihres Buches lautet „Die Bilderberger – Verschwörung der Spitzen von Wirtschaft, Politik und Medien“. Und Sie liefern uns doch die Theorie zu dieser Verschwörung. Warum wehren Sie sich gegen die Bezeichnung als „Verschwörungstheoretiker“?
Weil sich Verschwörungstheoretiker durch Theorien ohne Beweise oder stichhaltige Argumente auszeichnen - so zum Beispiel der frühere US-Präsident George W. Bush, der der Welt erzählte, im Irak gebe es Massenvernichtungswaffen oder Al-Qaida habe das World Trade Center angegriffen. Beides reine Hirngespinste, wie wir heute wissen. Die größten Verschwörungstheoretiker sind diejenigen, die dauernd mit diesem Begriff um sich werfen. Was ich mache ist, Theorien aufgrund von Beweisen und Fakten zu entwerfen. Das unterscheidet mich und viele andere von den amtlichen Verschwörungstheoretikern, die nichts weiter wollen, als ihre Völker zu verführen und vor allem in neue Kriege zu führen.
Was erhoffen Sie sich von Ihrer Veröffentlichung?
Nicht jede Motivation muss nach einer Wirkung fragen. Es gibt auch eine Motivation abseits einer Wirkungserwartung, und zwar das einfache menschliche Bedürfnis, sich zu äußern. Aber natürlich erhoffe ich mir auch etwas, nämlich den Globalisten in die Suppe spucken zu können. Allerdings ist meine Spucke dafür zu wenig. Da müssen meine Leser schon kräftig mitspucken. b
teilgenommen hat, wurden die entstandenen Kosten vom Deutschen Bundestag übernommen. Außerdem erklärt er, dass „der Dialog und Meinungsaustausch auf der Konferenz nichtsdestotrotz für meine Arbeit als Abgeordneter und als außenpolitischer Sprecher meiner Fraktion sehr wertvoll“ ist.
Dass sich die Bilderberger derart zurückhaltend über ein Treffen mit solch schwergewichtigen Teilnehmern und Inhalten äußern, führt bei vielen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, zu Skepsis. Dass bei jeder Konferenz Journalisten wichtiger Medien wie der Wochenzeitung DIE ZEIT, der Axel Springer AG, oder dem Nachrichtenmagazin Focus teilnehmen, gleichzeitig aber nicht darüber berichten, macht sie noch mysteriöser. Zahlreiche Verschwörungstheorien um die Bilderberger sind in den vergangenen Jahren die Folge gewesen.
Das Ziel einer seriösen Berichterstattung über die Bilderberger ohne das Image von Verschwörungstheorie verfolgt der Journalist und Buchautor Gerhard Wisnewski mit seinem in diesem Jahr veröffentlichten Buch Drahtzieher der Macht: Die Bilderberger – Verschwörung der Spitzen von Wirtschaft, Politik und Medien. Erschienen ist der Titel in dem in München ansässigen Knaur Verlag der Gruppe Droemer Knaur. Dass es sich dabei um einen großen Publikumsverlag handelt, könnte für den Bekanntheitsgrad der Bilderberg-Konferenz durchaus von Bedeutung sein. Neben unterhaltsamen Reportagen von den Erlebnissen des Autors in Griechenland, wo die Konferenz 2009 stattfand, enthält Gerhard Wisnewskis Buch einige durchaus interessante Beobachtungen. In einer tabellarischen Übersicht stellt er zum Beispiel heraus, dass Helmut Schmidt 1973 bei einer Bilderberg-Konferenz anwesend war und
im darauffolgenden Jahr zum deutschen Bundeskanzler gewählt wurde. Auch Helmut Kohl und Bill Clinton waren ein Jahr bevor sie zum Bundeskanzler bzw. US-Präsidenten gewählt wurden bei den Bilderbergern. Im Mai des Jahres 2005 nahmen Angela Merkel und Gerhard Schröder an dem Treffen teil. Wenige Wochen später verkündete der Noch-Bundeskanzler Neuwahlen, im Herbst übernahm Angela Merkel sein Amt.
Ob diese Fakten tatsächlich in einem direkten Zusammenhang stehen oder es sich lediglich um Zufälle handelt, kann selbstverständlich nicht bewiesen werden. Fest steht jedoch, dass ein sehr großer Teil wichtiger Politiker und Wirtschaftsbosse an den Bilderberg-Konferenzen teilnahm, bevor sie ihr Amt erhielten. In seinem Buch scheitert Gerhard Wisnewski letztendlich, wie wahrscheinlich jeder, der die Geheimnisse der Bilderberger zu durchdringen versucht, an den mangelnden Quellen. Zu wenige Informationen über die Bilderberger und ihre Konferenzen sind bisher nach außen gedrungen und zu sehr verheddert sich der Autor in Spekulationen über die Hintergründe der Konferenzen.
Fest steht am Ende nur eins: Die Bilderberger existieren. Was aber tatsächlich hinter diesem elitären Zirkel steckt und welchen Einfluss sie haben, darüber kann (leider) nur spekuliert werden. b
Katharina Damwerth studiert Angewandte Literaturwissenschaft an der FU Berlin und ist freie Rundfunkjournalistin. Von 2006 bis 2007 war sie Redaktionsleiterin bei fool on the hill. Die auf den Seiten 30 und 31 gelisteten Personen waren Teilnehmer der Bilderberg-Konferenzen.
„Die Bilderberger wurden von einem sinistren, hochmanipulativen katholischen Orden gegründet, der seit Jahrhunderten an der Weltherrschaft strickt.“
Gerhard Wisnewski
Als Student erhält man zigfach den Rat, eine längere Zeit im Ausland zu verbringen. Die Hilfestellungen dazu sind mannigfaltig – aber warum warnt einen niemand vor den Schwierigkeiten des Heimkehrens?
Text von Simone Tillmann
Illustriert von Christian Block
„Ich bin wieder da.“ Diesen oder einen ähnlichen Satz schrieb ich vor knapp einem Jahr meinen Freunden. Doch es war nicht derselbe Mensch den sie kannten, der nach einem Jahr in Bolivien wieder in Deutschland angekommen war. Ich strotzte vor Lebensfreude und Optimismus, keine Herausforderung war mir zu groß, alles, was ich tat, strahlte Leichtigkeit aus.
Mittlerweile weiß ich, dass ich erst jetzt wieder angekommen bin, zehn Monate später. Die Rückkehr des Menschen, den meine Freunde kannten, war ein kleinschrittiger Prozess. Abgelehnte Bewerbungen, finanzielle Knappheit, meine zunehmende Verschlossenheit gegen meine Umwelt; das Studium so gut wie beendet, aber ohne greifbare Perspektive für die Zukunft. Dies sind sicher nur einige der Faktoren, die mein „deutsches Ich“ wieder hervorgelockt haben, die die positiven Effekte des Auslandsaufenthaltes zu einem Tröpfchen Elixier irgendwo in meinem Innern eingekocht haben.
Die Chance am Goethe-Institut in La Paz ein Praktikum zu machen ergab sich unverhofft und ohne lange Vorlaufzeit. Beworben hatte ich mich, weil ein längerer Auslandsaufenthalt laut einschlägiger Veröffentlichungen noch in meinem Lebenslauf fehlte; ich rechnete mir danach schlicht bessere Chancen bei der Jobsuche aus. Die drei Monate in der Kulturabteilung vergingen wie im Flug, inhaltlich – naja – war es eben ein Praktikum. Die Möglichkeiten, die es mir in La Paz eröffnete waren für mich allerdings überraschend. Nach kurzer Zeit hatte ich mehrere Jobangebote: Lehrerin in einem bilingualen Kindergarten und am GoetheInstitut, einen Konversationskurs an der deutschen Schule, Übersetzung eines Kinderbuches. Die Entscheidung, ein ganzes Jahr in La Paz zu bleiben war nicht schwer zu treffen. Ich war überwältigt von dem Vertrauensvorschuss, den man mir auf professioneller Ebene einräumte. Natürlich tauchten diese Gedanken auf: „Ich habe doch noch nie...“ und „Ich weiß gar nicht, ob...“, sie waren aber auch ganz schnell wieder verschwunden, als ich mich in die neuen Aufgaben stürzte und versuchte, das in mich gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen. Und mit jedem positiv verlaufenen Elterngespräch, mit jedem zufriedenen Kunden, nahm ich
das Bild der anderen von mir immer mehr an, bis es schließlich zum Selbstbild wurde.
Auch auf privater Ebene wirkte das Praktikum wie ein Türöffner: In Windeseile wurde ich Teil eines Netzwerks von Personen des öffentlichen Lebens. Mit DJs und Musikern durch das Nachtleben ziehen, Atelierbesuch bei Künstlern, Té con té mit Poeten schlürfen, Smalltalk mit dem Kultusminister auf einer Ausstellungseröffnung, bei der Geschäftsführerin eines der größten Verlagshäuser Boliviens zum Mittagessen, bei der dänischen Konsulin zum Abendessen. Solche Kontakte zu haben ist anregend und äußerst schmeichelhaft –und war für mich völlig neu.
Ich bin mir bewusst darüber, dass ein solch rapider (und nicht durch Taten oder Wissen begründeter) Aufstieg in die Elite eines Landes nur dort möglich ist, wo die Demokratie noch sehr schwach ist. Halte ich mir vor Augen, dass meine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe und die Anerkennung, die sie mir zukommen ließ, hauptsächlich darin begründet liegt, dass ich Europäerin bin, verliert sie an Glanz. Die bolivianische Gesellschaft ist streng pyramidal hierarchisch: Die Basis bilden die Indios, an der Spitze stehen die Weißen mit europäischen Wurzeln.
Zurück in Deutschland konnte ich das neue Selbstbild noch ein Weilchen aufrecht erhalten, bis die äußeren Gegebenheiten es nach und nach bröckeln ließen. Ich bin jetzt eben wieder nur Studentin, eine unter Tausenden.
„Ich bin wieder da, wo ich angefangen habe.“ – nicht ganz, denn es gibt da diese Perspektive... . b
Simone Tillmann studierte Literatur-, Kultur- und Medienwissenscha en in Siegen und beginnt derzeit mit der Vorbereitung ihrer Disserta on über mediale Repräsenta onen der Stadt La Paz. Sie wohnt in Bergisch Gladbach.
Niemals werde ich mein erstes Nordlicht vergessen. Das lautlose Explodieren und Mäandern des Nachthimmels war nicht nur so beeindruckend, weil ich endlich gelernt hatte, die Pilze richtig zu dosieren. Es war – anders als Übertragungen von Fußballspielen – nichts, was durch ein perfekt gefilmtes und nachbearbeitetes Fernsehbild einen Zugewinn an Konsumqualitäten erfährt. Das Aufprallen der Sonnenwinde auf unsere Atmosphäre lässt dich nur als Live-Event klein fühlen. Die stille, unerklärliche Übermacht der Physik am Himmel über dir. Bewundernswert, vielleicht analysierbar, aber weit, weit außerhalb des menschlichen Einflusskreises angesiedelt. Aber auch unsere Zivilisation bescherte erfreuliche Momente: ich vermisse die McVitie’s Schoko-Digestive-Kekse, die ich mir jeden zweiten Tag vom alkoholkranken Besitzer des kleinen Ladens in Hillswick kaufte. Und das Mojo-Magazin! Das einzig wahre Evangelium der Musikpresse. Als wir die alten Ausgaben beim Aufräumen im Keller entdeckten (und was heißt „alt“ beim Mojo schon?), öffnete sich uns eine neue Welt der akustischen Pop-Art, die vom Zweiten Weltkrieg bis in unsere Gegenwart reicht und mir nachdrücklich klarmachte: „Ja, auch im hinterletzten Kaff des Königreichs sind Interessierte bestens mit Geschmacksleitfäden versorgt, deren Auswirkungen sich in deinem Sprachraum erst Äonen später bemerkbar machen.“
Zweimal habe ich die Shetlands verlassen. Einmal im Schiff und einmal in der engen Propellermaschine, aus deren Fenstern ich die Silhouette des Archipels langsam im diesigen Morgenlicht verschwinden sah. Es tat nie wirklich weh. Beide Male war es an der Zeit. Beide Male hatte ich noch Schwielen an den Händen vom Arbeiten mit Spitzhacke oder dem mechanischen Schleifgerät. In meinen Notizbüchern waren die Namen zahlloser neuer Bands eingetragen, die ich unbedingt anhören wollte. Mindestens die Hälfte davon kenne ich bis heute nicht. Es gibt immer genug zu lernen. Stets begleitete ein Erschöpfungszustand meine Abschiede, die von mir und den Bewohnern des Booth angenehm knapp und unemotional gehalten wurden. Das mag an der unterkühlten Art von uns Nordsee-Menschen liegen oder vielleicht an der Routine die Jan und Pete mit Volunteers im Booth hatten. Deren Fluktuation ist während der Sommermonate so hoch wie die von Praktikanten in Berliner Medienunternehmen. Nur arbeitet man auf der schottischen Insel mit Werkzeug, statt mit Hardware und bekommt dafür zumindest Unterkunft und Essen und nicht nur Kaffee und ein Stück Papier mit warmen Worten darauf. Außerdem spürt man nicht nur ein Ziehen im rechten Handgelenk durch unnatürliche Bewegung, sondern allumfassende Erschöpfung, ohne erst Sportklamotten dafür tragen zu müssen.
Für alle, die vorher nicht dabei waren: wir sind auf den Shetlands gewesen. Uns kam die Idee am – eigentlich verbotenen – Lagerfeuer in der Provence. Der nahe Fluss blubberte, das Bier perlte, der wahnsinnig heiße Sommer 2003 und die Aussicht, bald in Paris zu sein, hatte unser Gehirn matschig werden lassen. Wir wussten wenig über unser Ziel. Was wir wussten, war, dass es dort zehn Jahre zuvor eine Tankerhavarie gab und diese Peripherie unseres wunderbaren Kontinents deswegen über Tage in allen Medien war. Nicht zuletzt deswegen, weil man es nicht bewerkstelligte den Kahn in der Gischt vor den Klippen zu heben. Unsere erste Nacht verbrachten wir auch just am Ort des Geschehens: am südlichen Kap, dass sich aufgabelt und eine Bucht bildet. Auf der Ostseite ist der Sumburgh-Leuchtturm in den kantigen Fels gestanzt. Auf der westlichen Landzunge stehen die Grundmauern eines Hauses der Wikinger oder Skoten. Es stammt aus Zeiten, in denen die Insel noch reich an Waldbeständen war. Der ist inzwischen gerodet. Wohlstand kommt nun vom Öl unter dem Meer. Das ist bald alle. Dann wird der Flecken Insel ein interessanter Manövergrund für ein Alltagsleben unter besonderen Umständen. Menschliche Existenz in der überalterten, postindustriellen, allmählich denationalisierten, überfischten, trinkwasserarmen Welt voller Plastikmüll.
Der Leuchtturm warf alle paar Augenblicke einen Lichtstrahl zu uns herüber. Beleuchtete Fenster zogen sich entlang der A970, bis sie hinter Hügeln verschwanden, die sich in der Dunkelheit nur durch noch mehr Dunkelheit abhoben: lauernde Riesen, nicht so schlimm wie die Alpen bei Nacht, aber der Soundtrack ist entfesselter. Der nahegelegene Flughafen hatte seinen ohnehin spärlichen Betrieb während der Dämmerung eingestellt. Drinnen reflektierte die Pfanne unseres Spirituskochers das Flackern der Teelichter und machte die Behelfshöhle zu einem organisch leuchtenden Fremdkörper inmitten des Steins, des Rasens und der abermillionen Hektoliter Salzwasser. Wir hatten mit Tütensuppen diniert, die wir noch in Frankreich gekauft hatten und
dabei dem letzten Flugzeug hinterhergeschaut. Das Frühstück – so viel war jetzt bereits klar – würde aus Salt’n’Vinegar-Chips auf Toast bestehen. Einer würde wieder nach Lerwick trampen müssen um Essensvorräte zu kaufen. Wir hatten uns – gelinde gesagt – unvorbereitet in eine Lage manövriert, die zwar nicht an die Abenteuer anderer Weltenbummler heranreichte, aber bisweilen unkomfortabel zu überstehen war. Wie sich nur eine Woche später herausstellen sollte, war zumindest das Timing richtig. Denn kurz nachdem wir unseren Wild-Campingplatz verließen gab es einen enormen Erdrutsch, der tagelang den Verkehr zum Südteil der Insel lahmlegte.
Unsere heruntergeschraubten Erwartungen hatten sich bezahlt gemacht. Wir dachten an einen Felsen im Meer mit Rasen drauf. Die Menge an Hasenköttel war die Überraschung, der Wind vorhersehbar. Es gibt viele schöne Orte auf der Welt, Plätze von sprachlos machendem Gigantismus in Architektur oder Naturgewalten, in Menschenmasse oder Lebensleere. Manchmal auch alles zugleich. Manchmal gibt es Momente, in denen alles stimmt. Und manchmal kulminieren bestimmte Orte mit solchen Momenten und es ist dann wie mit einem alten Film, den man in seiner Jugend gesehen hat. An
einem bestimmten Abend macht er einen Sinn, der sich durch die folgenden Jahre zieht. Wir waren auf den Shetlands. Das wahllos erklärte Ziel war erreicht und die Erfüllung der Willkürentscheidung durchaus befriedigend.
Wir gingen pinkeln und ließen dann das windige Draußen jenseits der Nylonplanen. Am Zelt schüttelte es und ließ die Kerzen flackern, bis wir uns entschieden, sie auszupusten. Kurz Ruhe, dann der tief befriedigte, sorglose Schlaf von Siegertypen. b
Arne Hartwig lebte bis 2008 in Siegen und jetzt abwechselnd in Frankfurt/Oder und Berlin. Er ist Herausgeber des Fanzines DAWK. Seit vier Ausgaben erkundet Arne im fool die Shetlands.
Elektronische Bücher
Das Analoge im Digitalen – oder umgekehrt? Innovative Ideen beides sinnvoll zu verbinden hat der Markt für elektronische Bücher noch nicht zu bieten.
Text von Anke Bliedtner
Im September 1979 erschien der Nummer-Eins-Hit der Buggles „Video killed the Radio Star“ und erging sich knapp zwanzig Jahre nach Verbreitung der ersten Fernsehgeräte in einem nostalgischen Lamento über den Tod des Radios als Massenmedium und seiner Stars – ermordet von den flimmernden Bildern und bunten Helden des Videozeitalters. Heute, gut zwanzig Jahre nach Anbruch des digitalen Zeitalters und damit der Er-
findung des Internets als seinem erfolgreichsten Derivat, erleben wir ein ähnliches Lamento.
Doch inwieweit werden die digitalen Medien den analogen wirklich zur Gefahr?Hybride wie das E-Book werden zwar medial gehyped, erfahren aber längst nicht die entsprechende Nachfrage von Konsumentenseite, die die Entwicklung und den Vertrieb innovativer, digital aufbereiteter Inhalte für Verlage profitabel machen
würde. Auf der letzten Leipziger Buchmesse im März 2010 waren beispielsweise nur 23 Verlage mit digitalen Ideen vertreten. Oliver Zille, der Direktor der Leipziger Buchmesse erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur ddp, dass er für die nahe Zukunft keinen Durchbruch auf dem Markt der digitalen Literaturverbreitung erwarte. Zu viele Fragen seien bislang ungeklärt. Beispielsweise gibt es noch keine verbindlichen technischen Standards oder etwa Konzepte für einen hinreichenden Schutz der Urheberrechte. Zille vermutet, dass viele Verlage die Marktchancen der digitalen Literatur noch nicht abschätzen können. Und auch der Sprecher der Verlagsgruppe Random House versteckt sich hinter eher schwammigen Formulierungen, wenn er für die Zukunft von einer „dynamischen Entwicklung des Marktes“ ausgehe. Diese konservative Herangehensweise stand in der Vergangenheit Investitionen in neue Technologien im Wege und verhinderte eine ernst zu nehmende Weiterentwicklung von Buchinhalten im neuen Medium. Auch der vor ca. einem Jahr erstmalig vom Vertriebsgiganten Amazon auf den Markt gebrachte
E-Book Reader Kindle stellt keine innovative Erweiterung des Buches in die digitale Welt dar. Lösungen, die stärker als bisher beispielsweise Möglichkeiten von Hypertextualität aufgreifen, bleiben auf wenige, meist akademische Kontexte beschränkt. Aber wie sehen die Zahlen derzeit denn tatsächlich aus? Laut einer Forsa-Umfrage Anfang des Jahres planen immerhin 2,9 Millionen Deutsche in den kommenden Monaten den Kauf eines E-Books. Die Umsatzzahlen des E-Books sind seit dessen Markteinführung zwar stetig gestiegen, allerdings noch auf sehr geringem Niveau. Im Fall Random House liegt der Anteil der digitalen Bücher am Gesamtumsatz des Münchner Unternehmens bei weniger als einem Prozent. Dennoch, so der Sprecher des Hauses, erhoffe man sich eine Verkaufssteigerung durch die Etablierung neuer Lesegeräte und Smartphones.
In Zeiten digitaler Buchformate sehen sich Verlage nun einer vollkommen neuen Herausforderungen gegenüber. Wenn immer häufiger auf jegliche Inhalte kostenlos über das Internet zugegriffen werden kann, müssen sich Verlage kreative Lösungen einfallen lassen, um mit ebensolchen Inhalten noch Geld zu verdienen. Es gilt, andere Wege zu finden, um das Buch auf digitalen Märkten konkurrenzfähig zu halten. Wege, die über die einfallslose Variante des bloßen Buchtextes im pdf-Format hinausgehen, sind gefragt. Elisabeth Ruge, die Mitbegründerin des Berlin Verlags forderte vor Kurzem dazu auf, dass sich Verlage zukünftig auf neue Geschäftsmodelle einlassen sollten. Sie schlägt Zusatzangebote vor: E-Books könnten beispielsweise durch das Angebot zusätzlicher Interviews, Audiound Videomaterialien oder durch einen Chat mit dem Autor erweitert werden. Doch ist die Konkurrenzfähigkeit von Büchern tatsächlich in Gefahr? Die Ergebnisse einer GfK-Untersuchung geben
Entwarnung: Demnach wurden im Jahr 2009 in Deutschland rund 400 Millionen Bücher gekauft, das sind 2% mehr als im Jahr zuvor. Die Befragung ergab weiterhin, dass jeder Kunde im Jahr 2009 rund 110 Euro für Bücher ausgab und durchschnittlich elf Bücher kaufte. Fazit: Auch im digitalen Zeitalter wird viel analog gelesen.
Dann stellt sich also die Frage: Was machen die Leute im Web?
Antwort: Sie bilden sich und arbeiten damit. So zumindest das Ergebnis einer Anfang des Jahres erschienenen Umfrage des Branchenverbandes Bitkom. Demnach können sich 58% der Deutschen nicht vorstellen, ohne das Web zu leben und ein noch größerer Anteil von 62% gibt an, die Allgemeinbildung verbessert zu haben. Etwa die Hälfte sieht die Vorteile des Internets auch für die berufliche Bildung und 44% gibt ihm eine wichtige Rolle für die Kontaktpflege im Job.
Aus den Befunden dieser beiden letzten Umfragen und Analysen zu schließen, dass die digitale Welt sich auf die Arbeitswelt beschränkt und die analoge Welt nur Relevanz für die Freizeit hat, wäre allerdings ein Trugschluss. In der Realität findet vielmehr eine Vermischung auf allen Ebenen statt. Die Digitalisierungshysterie vieler Verlage ist somit ebenso wenig angebracht wie das ‚Internet killed the book star‘-Lamento einiger Nostalgiker. Dem kreativen Verlag werden die Felle nicht davonschwimmen und zwar nicht nur dann, wenn es auf dem digitalen Markt darum gehe insbesondere für akademische Texte Qualität zu garantieren, wie Elisabeth Ruge vom Berlin Verlag betont.
Schützenhilfe für das Buch kam vor wenigen Wochen von unerwarteter Seite: David Gelernter, Professor für Computerwissenschaft an der Yale University, schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Das Buch als physischer Gegenstand wird immer den Ausgangspunkt bilden, um dessen Kunst weiterzuentwickeln.“ Das herkömmliche Buch müsse keine Bedrohung im E-Book sehen. Auf elektronischem Wege könnten die vielfältigen Gestaltungsformen und -möglichkeiten, die der Buchdruck biete, nicht erreicht werden. Die Ausdehnung der Verlagsangebote ins Netz – beispielsweise durch die Möglichkeit Bücher online zu diskutieren oder Multimedia-Inhalte bereitzustellen – hält er allerdings für eine sinnvolle Ergänzung.
Verleger täten also gut daran etwas selbstbewusster mit ihrem Produkt umzugehen und die neuen Möglichkeiten der digitalen Welt für die Neuprofilierung des Buches zu nutzen. Und übrigens: Das Musikvideo zum Titel „Video killed the Radio Star“ war das allererste, welches MTV bei dessen erster Sendung ausgestrahlt hat. Das Video hat dieses Lied sicherlich nicht zum Radio-Hit gemacht, aber es hat dazu beigetragen. b
Anke Bliedtner studiert Literaturwissenschaft, Anglistik und Philosophie. Seit 2009 ist sie Mitglied der Redaktionsleitung von fool on the hill.
Die Digitalisierungshysterie vieler Verlage ist ebenso wenig angebracht wie das ‚Internet killed the book star‘-Lamento einiger Nostalgiker. Dem kreativen Verlag werden die Felle nicht davonschwimmen.
Immer mehr Menschen tauschen ihre Freundschaften gegen Benutzerprofile auf StudiVZ und anderen Plattformen aus. Ist „social networking“eine Sucht und kann es gefährlich werden?
Text von Eike RüdebuschHallo. Mein Name ist Eike Rüdebusch. Ich bin süchtig Und seit etwa vier Monaten clean‘. Meine Sucht hat wenig mit etwas Greifbarem zu tun, nicht mit Schnaps, Heroin, Kokain oder dergleichen. Es ist keine dieser typischen Süchte, keine, derer man sich sicher sein kann. Ich habe eine Abhängigkeit zu sozialen Netzwerken entwickelt, spezifisch zum StudiVZ. Bei Facebook hatte ich mich einfach nicht angemeldet.
Vielleicht im Bewusstsein meiner Anfälligkeit, wer weiß.
Ich habe viele Stunden, nahezu ganze Tage vor dem Rechner verbracht, der digitalen Flasche, und mich durch die Profile meiner „Freunde“ getrunken, mich an der Selbstdarstellung anderer und meiner selbst berauscht: Fotoalben, verlinkte Bilder, Lieblingsfilme, -bücher, -zitate, Anzahl der Freunde an der eigenen und an fremden Unis, Anzahl und Namen der Gruppen usw. usf. Zeit spielte keine Rolle im Rausch der digitalen Massenbeweihräucherung. Nicht für mich. Nicht für andere. Vielmehr: Nicht wegen anderer. Ständig kam es zu Verspätungen. Das VZ fraß einfach meine Zeit.
wuden 1,2% – knapp 16 Personen – als internetsüchtig eingestuft.
Diese hätten ihre sozialen Beziehungen im realen Leben durch Internetkontakte eingetauscht. Depressionen seien bei dieser Gruppe fünfmal häufiger zu diagnostizieren als bei den Nichtsüchtigen. Hochgerechnet auf das StudiVZ bedeutete dies, dass 1.200 von 100.000 allabendlichen Usern süchtig wären und damit potenziell depressionsgefährdet. Zugegeben, das ist vielleicht der worst case‘. Nichtsdestotrotz: alarmierend.
Dass Suchtgefahr besteht, zeigt sich allein dadurch, dass immer mehr Menschen aussteigen, zumindest pausieren, oder sich Kontrollmechanismen einfallen lassen, um ihren Social Network-Konsum einzuschränken. Die New York Times hat vor Kurzem einen Artikel veröffentlicht, in dem Jugendliche beschreiben, wie sie sich von Facebook abhalten, dem Vorbild des StudiVZ. Einige von ihnen haben sich Freunde oder Familienmitglieder zu Hilfe geholt. Diese haben dann beispielsweise das Passwort am Sonntagabend geändert und es erst am folgenden Freitagabend wieder herausgegeben. Oder es wurden zusammen mit ebenfalls anfälligen Freunden Kontrollsysteme entwickelt, um den Konsum gegenseitig einzuschränken. Klingt nach Eigentherapie und Selbsthilfegruppe.
Laut einer Stellungnahme der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. aus dem Jahr 2008 sei Internetsucht als solche noch nicht diagnostizierbar. Zwangsstörungen, Impulskontrollstörungen und Suchtverhalten seien noch nicht klassifizierbar. Zudem sei der TV-Konsum pro Person bei 210 Minuten täglich doch wesentlich höher als der tägliche Internetkonsum, und von daher besorgniserregender.
Ständig ist man den Reaktionen der anderen User ausgesetzt. Alles, was man verändert, bekommen die anderen mit, kommentieren und bewerten es, schenken Aufmerksamkeit. Es ist wie ein Belohnungssystem bei Kindern.
Ich habe mich selbst immer als äußerst pünktlich und zuverlässig eingeschätzt. Bis das Internet zum Mitmachnetz wurde und ich fleißig teilgenommen habe. Und nicht nur ich. 16 Millionen Mitglieder hat das StudiVZ nach eigener Aussage, von denen etwa die Hälfte täglich ihr Profil besuche. Abends seien Hunderttausende User gleichzeitig online, heißt es von Seiten des VZ. Aber wie kommt es dazu? Hatten die jetzigen User oder deren Vorgängergenerationen nicht früher abends etwas Besseres zu tun als online zu sein? Soziale Kontakte hat man doch früher anders gehandhabt. Die Prioritäten haben sich geändert.
Laut einer britischen Studie, bei der 1.319 Internet-Nutzer zwischen 16 und 51 Jahren (21 Jahre im Mittel) befragt wurden,
Einen Fernsehzuschauer bezeichnet niemand als „User“. Die sogenannten „Digital Natives“, junge Menschen, die mit dem Netz aufgewachsen und darin heimisch sind, hingegen schon. Eine ganze Generation von Abhängigen, von Junkies an der digitalen Nadel ist inzwischen herangewachsen. Hauptsache online, Hauptsache irgendwas in der Leitung, Hauptsache irgendetwas kommunizieren. Vor allem der Reiz sozialer Netze ist dabei ausschlaggebend. Die ständige Präsenz des eigenen Profils, der eigenen Person und die der anderen befriedigen Bedürfnisse der Selbstdarstellung und des Kontakts. Ständig ist man den Reaktionen der anderen User ausgesetzt. Alles, was man verändert, bekommen die anderen mit, kommentieren und bewerten es, schenken Aufmerksamkeit. Es ist wie ein Belohnungssystem bei Kindern. Das Kind, der einzelne User, regt sich, und die Eltern oder auch die anderen Kinder, die Community, reagieren darauf. Wie, ist ja fast egal. Jede Aufmerksamkeit ist gute Aufmerksamkeit. Und so wird man süchtig nach den Blicken, den Klicken der anderen, die man wiederum selbst anklickt. Sehen und gesehen werden.
Wäre Facebook ein Land, hätte es etwa die Einwohnerzahl der USA, wobei knapp ein Drittel der 300 Millionen User Europäer
„Clean“
wären, 55% aller Einwohner Frauen. Jeder dieser Nutzer verbringt im Durchschnitt fünf Stunden und 46 Minuten monatlich mit Facebook, 18 Minuten pro Sitzung. Insgesamt werden monatlich zwei Milliarden Fotos hochgeladen. Die User vermarkten sich. Und wenn man sich einige Gruppen und Profile anschaut, scheut man auch nicht davor zurück, von Prostitution zu sprechen. Social Networks bilden im Kleinen das ab, was im Netz und in den Medien generell zu beobachten ist: Es gibt viel zu viel Müll. Niveaufreiheit ist oft gleichbedeutend mit Erfolg. Und was für Zeitungen, Fernsehshows und Internetseiten gilt, gilt auch für Menschen als Teil sozialer Netzwerke. Buschfunk-Beziehungsupdates und -Streitkommentare haben zwar den Unterhaltungswert, aber – was zu sagen nicht leicht fällt – sicher nicht die Qualität von BILD-Schlagzeilen.
Social Networks haben eine gewisse Zeit ihren Reiz. Aber irgendwann nervt die ständige Präsenz der kleinen Dramen und Perversionen in Buschfunk, Fotoalben, Beziehungsstatus, Gruppenzugehörigkeiten, und -gründungen. Immerhin konnte ich, einmal dazu entschlossen, ohne große Probleme das StudiVZ verlassen und Facebook wie zuvor ignorieren. Kein Ding. Ich habe mich für E-Mail und Telefon entschieden, für direkte Treffen und Gespräche. Für gemeinsame Biere. Echte Stammtische sind eben besser als digitale. b
Eike Rüdebusch hat im vergangenen Semester sein Studium der Literatur-, Kultur- und Medienwissenscha en abgeschlossen. Weitere Beiträge von ihm finden sich auf seinem Blog: www.buuusch.wordpress.com
Text von Lea Baumeyer
Mit dem Abriss der Siegplatte würde für viele BürgerInnen ein Gewinn an Lebensqualität in Siegen verbunden sein, da sie von den meisten AnwohnerInnen als unattraktiv empfunden wird.
Hauptsächlich dient die Siegplatte, die vor 41 Jahren erbaut wurde, als öffentlicher Parkplatz. Die 140 Parkplätze würden bei einem Abriss wegfallen, jedoch stehen in der Innenstadt von Siegen immer noch rund 1.400 Parkplätze zur Verfügung. Unter der schweren Betonplatte fließt die Lebensader der Stadt, die Sieg. Die partielle Freilegung des beinahe im ganzen Stadtgebiet überbauten Nebenflusses des Rheins würde das städtische Erscheinungsbild deutlich verbessern und Flair in das südwestfälische Zentrum bringen.
Die Siegplatte befindet sich exakt zwischen der Ober- und Unterstadt, durch einen Abriss entsteht eine Freifläche vom Apollo Theater bis zur Brüder-Busch-Straße. Diese Fläche soll durch die Neugestaltung nach dem geplanten Abriss für die kulturelle und urbane Aufbesserung der Stadt sorgen. In einem Wettbewerb wurden Entwürfe für die Gestaltung des freigelegten Gebiets nach dem Abriss der Siegplatte gesucht.
Der erste Platz des Wettbewerbs der Stadt Siegen ging an den Favoriten Loidl. Das Konzept des Berliner Planungsbüros zeichnet sich durch die Nähe zum Wasser, Klarheit und urbanes Design aus. Mit ausreichend Platz für Konzerte oder ähnliche Veranstaltungen und einer einladenden Grünfläche soll ein angenehmes Promenadenfeeling entstehen.
Wenn im Mai für den Abriss der Siegplatte gestimmt wird, muss das ausgewählte Modell vom Fachbereich 10 der Universität Siegen noch auf hydraulisches Verhalten untersucht und optimiert werden.
Obwohl die Abstimmungen um die Siegplatte erst im Mai stattfinden, ist ihr Abriss schon lange im Gespräch. Schon 1999 machten die Grünen die Freilegung der Sieg zum Thema. Damals war dieses Vorhaben unter den PolitkerInnen noch sehr umstritten, heute ist man sich einiger, da die Freilegung der Sieg nicht nur ein schöneres Ambiente in die Krönchenstadt bringen würde, sondern auch finanzielle Vorteile hätte: Durch das Strukturförderungspro-
gramm „Südwestfalen Regionale 2013“ werden gute Ideen finanziell unterstützt, die die Region in Südwestfalen qualitativ aufwerten. Hierbei wird ein Projekt vorgeschlagen, das ein Drei-SterneVerfahren durchläuft. Bekommt Siegen alle drei Sterne, wird der Abriss der Siegplatte vom Land gefördert. In diesem Fall wäre eine Sanierung mit 6,2 Millionen Euro sogar teurer als Abriss und Neugestaltung. Die Kosten beliefen sich auf insgesamt ca. 8 Millionen Euro, die zu rund 70% von der Regionale 2013 getragen würden. Die Freilegung der Siegplatte ist der wesentliche Punkt eines groß angelegten Konzepts, das „Siegen zu neuen Ufern“ führen soll. Hinzu kommt die Umgestaltung des Unteren Schlosses, hier sollen Gefängnisräume universitären Einrichtungen weichen. Außerdem wird eine Umgestaltung des Bahnhofs, ein Radweg entlang der Sieg und eine Nutzung des Ringlockschuppens als Eisenbahnmuseum vorgeschlagen.
Ziel dieser Veränderungen ist, die Urbanität und Lebendigkeit in Siegen zu steigern.
Das Konzept für die Freilegung der Sieg in der Innenstadt ist bereits ausgewählt – bis Ende des Jahres sollen sich die Details klären:
Siegen bekennt sich endlich zu seinem Fluss.
Können wir bald abends am Wasser entspannen?
Bald wird sich zeigen, ob man sich auf das Projekt „Zu neuen Ufern“ und damit auch auf die Freilegung der Sieg festlegen wird. Der Abriss würde dann im Jahr 2011 beginnen – und dafür spricht einiges: Dies hätte nicht nur eine Kostenersparnis gegenüber der Sanierung der maroden Siegplatte und einen besseren Hochwasserschutz zur Folge, es würde sich außerdem für viele SiegenerInnen eine große Sehnsucht erfüllen – die Vorstellung, fernab von Beton an einem warmen Sommertag an der Sieg entspannen zu können. b
01|
02|
Konzept Loidl, Perspektive Glashaus/Kölner Tor
Konzept Loidl, Perspektive Rubensplatz/Siegplatte
03| Wettbewerbsgebiet in der Siegener Innenstadt: „Zu neuen Ufern“
jetzt in einer Projektarbeit des Fachbereichs 3 von Studierenden und Fachleuten erforscht.
Text von Ludwig Andert
Deutschland in den Nuller-Jahren: Die Filmindustrie startet in Kino und TV die Kampagne „Raubkopierer sind Verbrecher“. Die Musikbranche rätselt, wie der Download von mp3s gemaßregelt werden kann. Reisepässe werden mit Chiptechnologie fälschungssicher gemacht. Die Euro-Banknoten werden mit geheimnisvollen Mustern bedruckt. Und die Bundesregierung beschwert sich über den mangelnden Respekt der Chinesen vor dem deutschen Patentrecht.
Zwischen diesen Beispielen liegen Welten, aber jedes einzelne von ihnen steht für den Versuch, Reproduktion von (zumeist elektronischen) Daten zu verhindern. Alle Beispiele illustrieren außerdem, dass der „Kopierschutz“ gemeinhin als ein recht junges Phänomen betrachtet wird. Insbesondere die öffentlich geführten Debatten um Software-Piraterie vermitteln den Eindruck, das ema sei als Begleiterscheinung der medialen Entwicklung in den letzten 10-15 Jahren zu betrachten.
Doch was ist überhaupt ein Kopierschutz? Lassen sich darunter nur elektronische Verfahren und Molekulartechniken der modernen Hochleistungschemie verstehen? Keinesfalls – das Motiv, Kopien zu verhindern, ist wesentlich älter. Bereits im Jahr 1271 machten sich Tüftler im heutigen Italien an die Aufgabe, Echtheitssiegel in Form von Wasserzeichen in amtlich verwendetes Papier zu implementieren. Und das Wort „Raubkopie“ ist im deutschen Sprachraum bereits um 1970 belegt. Wichtig ist außerdem, dass nicht nur die Technik selbst, sondern das vor allem das Zusammenwirken von Institutionen, Gesetzen und technischen Vorrichtungen eine Kopie verhindern soll. Vielleicht handelt es sich bei dem Phänomen Kopierschutz – um es mal mit Foucault zu nehmen – um eine Machtstruktur, die sich aus verschiedensten Interessen zusammensetzt.
Zugegeben: Das alles ist ein bisschen abstrakt und vage. Vergleiche ziehen kann schließlich jeder. Die bisher dürftige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem ema ist ein guter Anlass, um den Nachwuchs in der Medienwissenschaft darauf anzusetzen. Im Forschungsprojekt „Kulturen des Kopierschutzes“ bearbeiteten Studierende verschiedener Master-Studiengänge Ansätze, sich dem
Komplex „Kopierschutz“ zu nähern. Das methodische Ziel dabei ist klar: Die Studierenden sollen an das selbstständige Recherchieren und die Praxis des wissenschaftlichen Publizierens herangeführt werden.
Ganz nebenbei – und dies ist das eigentlich Bemerkenswerte – erschließen die jungen Autorinnen und Autoren damit auch valides Wissen, das vorher so nicht verfügbar war. „Das ema Kopierschutz ist aus medienwissenschaftlicher Sicht bisher unzureichend erforscht“, kommentiert Prof. Jens Schröter das Projekt. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für eorie und Praxis multimedialer Systeme und leitet das Forschungsvorhaben. „Die Arbeit der Studierenden ist keine reine Trockenübung, sondern versteht sich durchaus auch als Anstoß für weitere Projekte.“ Um das Spektrum der Arbeiten noch zu ergänzen, holte Schröter renommierte Wissenschaftler aus Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland mit ins Boot.
Die Ergebnisse des Projekts werden in diesen Tagen als Doppelausgabe der Fachzeitschrift Navigationen erscheinen. Das erste Heft befasst sich vor allem mit Phänomenen aus der „analogen Ära“. Das zweite Heft widmet sich vorrangig den Entwicklungen im digitalen Zeitalter. Dabei werden jedoch nicht nur (informations-)technische Aspekte beleuchtet. Vielmehr wird das Problem auch in seiner juristischen, politischen, historischen und wirtschaftstheoretischen Dimension erfasst.
Für diejenigen unter den studentischen Teilnehmern, die ohnehin eine wissenschaftliche Karriere anstreben, bietet das Projekt eine erste Erfahrung im Publizieren. Wem das weniger wichtig ist, der kann sich immerhin über einen Kreditpunkte-Regen freuen. Das Beste für alle Beteiligten ist jedoch: Jeder kann das Resultat einsehen (und natürlich: kopieren). Es bleibt das gute Gefühl, nicht nur für die Ablage geschrieben zu haben. b
Text von Kerstin Willburth
Beim Blättern in der Januar-Ausgabe des Querschnitt, der Zeitung der Pressestelle der Universität Siegen, zog Seite elf meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Da geht es um das Universitätsarchiv, von dessen Existenz ich bis dato gar nicht wusste. Tatsache ist, dass keiner meiner Kommilitonen auf die Frage nach dem Archiv weniger dumm guckte als ich selbst.
Selbstredend kann sich eine so junge Universität wie unsere nicht mit pompösen historischen Gründerschriften oder Ähnlichem brüsten. Sehr wohl werden aber seit 1996 Dokumente wie historische Papiere, Veröffentlichungen von DozentInnen oder deren akademischen Vitae in der Besenkammer archiviert. Was hingegen keinen zukünftigen Wert für den historischen Erkenntnisgewinn besitzt, wird nicht in den Bestand mitaufgenommen. Ein automatisierter Prozess: Werden Dokumente nicht länger für den Betrieb an der Universität benötigt, müssen sie laut des Landesarchivgesetzes dem Archiv zur Prüfung vorgelegt werden. Feststehende Richtlinien entscheiden dann über die Zukunft der Papiere. Aber warum macht die Universität Siegen nicht mehr aus ihrem Archiv, indem sie sich zum Beispiel stärker darum bemüht, Informationen in die Öffentlichkeit zu tragen und die eigene Geschichte lesbar zu machen? An-
dere Universitäten, wie zum Beispiel Wuppertal und DuisburgEssen, stellen ihre ebenso jungen Bestände öffentlich aus oder veranstalten Tagungen, um ihre Archive in repräsentativer Funktion für sich zu nutzen. Die Frage bleibt offen.
Wenigstens ganz allmählich scheint sich die Einstellung der Universität zu ihrem Archiv nun zu ändern. Stand bis 2008 zur Pflege des Archivs nur Geld für eine halbe Stelle bereit, so sah das letzte Rektorat endlich Handlungsbedarf und besetzte im vergangenen Jahr eine zusätzliche volle Stelle mit einem ausgebildeten Archivar. Maßnahmen, das Archiv populärer werden zu lassen, sollen nun auch im Zuge des vierzigjährigen Jubiläums der Universität 2012 folgen. Bis dahin sollen die Bestände weiter ausgebaut werden, was akribische Kleinstarbeit und aufwendige Recherchen mit sich führt. Eine auf einen längeren Zeitraum angelegte Planung gibt es allerdings nicht. Entscheidungen über Ausbau, Beibehaltung oder Abbau der Kapazitäten seitens des neuen Rektorats stehen noch aus.
Übrigens sollen alle Dokumente des AStAs, die aufgrund der kargen Kapazitäten des Universitätsarchivs seit Jahren ins Siegener Stadtarchiv gereicht werden, bald wieder in unserem eigenen Archiv zu finden sein. b
Der Rock Garden liegt ein wenig versteckt unter den Arkaden auf der Kölner Straße in Siegens Oberstadt. Doch wer vorbei geht, dessen Blick bleibt unweigerlich an der Schneiderpuppe im Schaufenster hängen, die alle paar Wochen mit einem neuen Kleid, Ensemble oder Top im Rockabilly-Stil ausstaffiert wird. In diesem kleinen Lädchen wird selbst geschneidert und zwar von der Rock-Gärtnerin Veronika höchstpersönlich. Sie ist ausgebildete Modeschneiderin und hat im Sommer 2009 ihren eigenen Laden eröffnet, in dem sie nicht nur Maßgeschneidertes verkauft, sondern auch die in der Rockabilly-Szene bekannten Marken und Styles. Der Weg zum eigenen Laden war hier eine Art Aussteigergeschichte. Veronika wählte nämlich nach ihrer Lehre die Sicherheit einer festen Anstellung bei einem großen Modehaus und hätte eigentlich für die nächsten 30 Jahre ein recht beschauliches Leben mit einem nicht gerade geringen Einkommen führen können. Und wäre da nicht der Traum vom eigenen Mode-Label und dem eigenen Laden gewesen – wer weiß – vielleicht wäre es auch so gekommen. Nach acht Jahren im Job hielt die Arbeit für den kreativen Geist der jungen Schneiderin nicht mehr viele Herausforderungen, geschweige denn Spaß bereit und die Frage „Soll’s denn jetzt so weitergehen?“ wurde immer drängender. Zumal sie bereits seit einiger Zeit nebenher eigene Entwürfe schneiderte und auch im Internet oder in den Läden von FreundInnen erfolgreich verkaufte. Warum sollte das denn nicht auch auf ganz eigenen Beinen funktionieren? Da schien es fast wie ein Wink des Schicksals, dass Veronika Anfang 2009 noch ein Stipendium der IHK in Anspruch nehmen konnte, das sie für ihren guten Abschluss bekam und welches junge Gründungswillige nur bis zu einem Alter von 25 Jahren
fördert. Der Entschluss war also gefasst: Job kündigen, eigene Chefin sein. Nun musste das nur noch den doch recht konservativen Eltern beigebracht werden, die, wie man sich denken kann, gar nicht erfreut waren von den Flausen‘ihrer Tochter.
Im August 2009, nach wochenlangem Malern und Werkeln, oft bis spät in die Nacht, war Eröffnung des Rock Garden. Und all die Mühe hat sich gelohnt: Der kleine Laden in Schwarz und Rot ist fertig ausgestattet; proppevoll mit Hemden und Shirts mit wilden Hot Rod-Motiven und Blusen, Tops und Röcken im Stil der 50er und 60er Jahre und natürlich jeder Menge Leuten, die die Eröffnung des Ladens und Labels Rock Garden und damit Veronikas Start in ein neues Leben feiern.
Heute, acht Monate nach Eröffnung, hat der Laden einige Regale und Kleiderstangen und natürlich jede Menge Kunden hinzugewonnen. Bei unserem kleinen Rundgang fällt außerdem auf, dass Veronika viele ihrer Hersteller persönlich kennt: Sätze wie „Die Shirts hier macht der Josh, der hatte früher eine Punkband und macht heute Klamotten in seinem eigenen Label“ oder: „Die Shirts bedruckt der Peter in seiner Garage“ fallen vor fast jedem Regal. Jede Klamotte scheint hier also schon eine Geschichte mitzubringen, wenn sie nicht gar erst im kleinen Hinterzimmer des Ladens entworfen und geschneidert wurde. Dort werkelt Veronika an neuen Entwürfen oder fertigt immer wieder neue gepunktete Neckholder-Tops an, der Topseller des Ladens. Auf die Frage: „Hast Du es schon mal bereut?“ sagt sie leise aber entschieden: „Nein. Nie. Das war der richtige Schritt. Ich will einfach nicht mit 80 aufwachen und merken, dass ich mein ganzes Leben verschlafen habe, weil ich auf eine Einbauküche gespart habe.“ b
Geht man über den Siegener Marktplatz in Richtung Altstadt und sucht seine ruhigste und beschaulichste Ecke auf, dann findet man ein ebenso ruhiges und beschauliches Café. Seit ca. eineinhalb Jahren heißt es Déjà Vu und wird geführt von Erhan, der meist auch selbst hinter der Theke steht. Als er Ende 2008 erfuhr, dass der damalige Besitzer sein Café schließen wollte, ergriff er die Gelegenheit beim Schopfe und verwirklichte sich den schon lange gehegten Traum von der Selbstständigkeit. Der nun frisch gebackene Wirt studiert eigentlich Wirtschaftsingenieurwesen an der Uni Siegen und hat seinen Spaß am Gastronomiegewerbe bereits während verschiedener Nebenjobs gefunden. Auf die Frage, warum er denn unbedingt ein Café eröffnen wollte und beispielsweise keinen Klamottenladen oder Internethandel, antwortet er ohne lange zu überlegen: „Wegen der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten und der Menschen, mit denen man täglich zu tun hat.“ Und so war es dann im April 2009 soweit: Das Déjà Vu öffnete seine Pforten. Durch die ruhige und doch gemütliche Atmosphäre fühlt man sich gleich wie zu Hause, als wäre man in der Tat schon mal hier gewesen. „Genau das ist die Idee hinter dem Namen. Déjà Vu – das schon mal Gesehene“, bestätigt Erhan diesen Eindruck. „Hier wird jeder Gast auf etwas aufmerksam, was er kennt.“ Und in welchem Café kommt es bisweilen vor, dass sich ein Stammgast sein Bier schon mal selbst zapft?
Auch in Sachen Musik wählt der Wirt eher einen gediegenen Sound: Mal hört man chillig Modernes – mal den charmanten Swing der 50er leise im Hintergrund dahinplätschern. Und das Wohlfühl-Konzept kommt an – Erhan denkt sogar daran, das
Café um die freistehende Wohnung nebenan zu erweitern und blickt recht wohlgestimmt in die Zukunft. „Ich vertrau’ da auf das berühmt-berüchtigte Ausgehverhalten der BWLer, die unter anderem demnächst ins Untere Schloß einziehen“, sagt Erhan mit einem Augenzwinkern.
Für den Sommer sind verschiedene Events schon in Planung: Lesungen, Live-Musik und möglicherweise eine fußballfreie Zone, eine gesellige Rückzugsoase von der Fußball-Euphorie.
Trotz des Spaßes und der vielen Ideen, die Erhan noch hat, ist Café und Studium natürlich eine Doppelbelastung, besonders dann, wenn mal nicht alles so glatt läuft. Aber wenn er wichtige Veranstaltungen an der Uni hat oder die Klausuren anstehen, dann springen auch mal Freunde oder Familie für den Wirt ein. Hast du den Weg in die Selbstständigkeit schon mal bereut?, wollen wir wissen. Und die Antwort fällt erstaunlich abwägend aus: „Grundsätzlich gesehen: nein. Aber man hat natürlich hin und wieder mal Tiefpunkte.“ Letztendlich überwiegt aber der Nutzen: „Dieser Schritt hat mir im letzten Jahr sehr viele neue Erfahrungen gebracht, die ich im Studium nicht hätte sammeln können, wie z. B. Personalführung, Steuern, Organisation, kurz: das Führen des eigenen kleinen Unternehmens“. Auch nach seinem Studium, das er im kommenden Jahr abschließen wird, möchte Erhan das Café als Hobby weiterführen, auch wenn er dann nicht mehr so oft selbst hinter dem Tresen stehen wird. Dann möchte er nämlich doch lieber die Kellner-Schürze gegen den Maßanzug tauschen und als Wirtschaftsingenieur in einem kleinen oder mittleren Unternehmen arbeiten. Die gemachten Erfahrungen beim Führen seines eigenen kleinen Unternehmens können ihm dabei nur behilflich sein. b
Dossier:
Das Magazin der Deutschen Bahn fragte 2005: „Haben Städte eine Farbe?“; das ZEITmagazin Leben druckte 2007 eine Deutschlandkarte ab, die uns zeigte, welche Suchbegriffe bei Google in welcher Stadt am häufigsten eingegeben werden; Der Spiegel fragte 2007 „Was Städte sexy macht“ und dokumentierte damit die Konkurrenz der Städte um die kreative Klasse. All das sind Strategien, den Charakter einer bestimmten Stadt einzufangen. Doch was ist das Urbane an sich? In welchen Phänomenen manifestiert sich Stadtkultur? Wie beschreibt man heute die Stadt? Und: Welche Geschichten hat sie zu erzählen?
Soziologen, Journalisten, Verleger, Städteplaner, Literaturwissenschaftler, Literaten und Comic-Künstler wagen Antworten.
In der Region Ostafrika, wo sich die urbane Bevölkerung im Zeitraum von 2009 bis 2017 verdoppeln wird, findet sich derzeit das schnellste Stadtwachstum weltweit. (UN-Habitat 2008: 4)
In Äthiopien, schätzt man, wird der Prozentsatz an Stadtbewohnern landesweit von 16,1% im Jahr 2007 auf 27,4% im Jahr 2030 ansteigen. (UN-Habitat 2008: 171)
Ungeachtet des allgemeinen Augenmerks auf die Megacities vollzieht sich dieses Bevölkerungswachstum vor allem in den Sekundärstädten mit weniger als 500.000 Bewohnern. (UN-Habitat 2008: ix)
Die genaue Zusammensetzung des städtischen Bevölkerungszuwachses ist aufgrund der geringen Datenlage schwierig nachzuvollziehen. Neben einem natürlichen Bevölkerungswachstum wird davon ausgegangen, dass die Zuwanderer vornehmlich aus ländlichen Gebieten kommen, wo bei stagnierender Produktion und steigender Population ihr Überleben in der Landwirtschaft nicht gesichert ist. Trotz der wenigen Erkenntnisse über die Wanderungsbewegungen sind gerade die neu zugewanderten Stadtbewohner häufig im Straßenraum sichtbar und der Anstieg der Zahl der Stadtbewohner dadurch auch im Bewusstsein der breiten Bevölkerung vorhanden. So sind Nicht-Migranten in Äthiopien überproportional häufig im Handwerk und in Dienstleistungen beschäftigt, während die inländischen Migranten meist landwirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen. (Golini et al. 2001: 40f) Doch gerade in den Städten ist die Armut zwischen 1994 und 2000 gestiegen, während sie landesweit im gleichen Zeitraum sank. (UN-Habitat 2007: 5)
Aufgrund der Knappheit an Anstellungsverhältnissen und der daraus resultierenden Notwendigkeit zur Selbstständigkeit hat der öffentliche Raum für viele der Zuwanderer neben seinen Aufenthaltsqualitäten eine besondere Bedeutung für die Erwerbstätigkeit. Hier ist der Ort, an dem Kleinsthandel getrieben wird, Tagelöhner ihre Arbeitskraft offerieren und Dienstleistungen wie Schuhputzen angeboten werden. Aufgrund der geringen Einkommen ist er als kostenloser Raum für ökonomische Kleinstaktivitäten notwendig, denn ein regelmäßiges Einkommen selbst für die Mie-
ten der kleinen Wellblechläden ist für viele der jungen Neuankömmlinge nicht garantiert. Sie übernachten meist zur Miete in Unterkünften, die ihnen andere Familien in ihren Räumen zur Verfügung stellen. Eine feste Bleibe ist nur unter hohem finanziellen und organisatorischem Aufwand zu bekommen, denn ausgehend von einer unter dem sozialistischen Regime langjährig vernachlässigten städtischen Wohnungspolitik herrscht in Äthiopien Wohnungsnot in allen Bevölkerungsschichten. (UN-Habitat 2007: 7f)
Private Wohnungsentwickler sind erst vor kurzem auf den Markt getreten, so dass die Wohnraumversorgung im Selbstbau eine weitverbreitete Praxis ist. Aufgrund der staatlichen Grundverwaltung, nach der es keinen privaten Landbesitz gibt, sondern Nutzungsrechte vergeben werden, kann man die so entstehenden Siedlungen jedoch meist nicht als „informell“ im Sinne des Landrechtes bezeichnen. Das heißt, dass die meisten der im Selbstbau entstandenen Siedlungen über die Nutzungsrechte für das Land, auf dem sie errichtet wurden, verfügen und somit nicht gegen bestehendes Planungsrecht entstanden sind. Es handelt sich dann um eine Wohnund Kleinerwerbsstruktur, die durch den offiziellen Masterplan der Stadt so vorgesehen ist. Dennoch verfügt der Staat über die Eigentumshoheit und kann die errichteten Bauten zugunsten von Neuentwicklungen räumen lassen.
Ähnlich gilt dies für informelle Spontansiedlungen, wobei diese auf Land errichtet werden, welches für andere Zwecke, wie etwa
Landwirtschaft, bestimmt ist. Dies passiert beispielsweise in von Naturkatastrophen gefährdeten innerstädtischen Lagen oder auf illegal verpachtetem Agrarland am Stadtrand. In diesem Fall werden die Häuser meist mangels alternativer Unterkünfte von der Stadtverwaltung geduldet, haben aber ebenfalls keine Bestandssicherheit. Trotz ihres rechtlich meist geklärten Status haben weite Teile der urbanen Unterkünfte gemein, dass sie aufgrund der vorherrschenden Armut und der beschränkten Verfügbarkeit von materiellen Ressourcen im Ausbau improvisieren müssen. Dabei wird bei 75% der Gebäude in Addis Abeba auf eine Mischung aus traditionellem Baumaterial (Lehm) und verfügbaren Importgütern zurückgegriffen. (UN-Habitat 2007: 29) Zum Bau wird sich auf das vorhandene soziale Kapital gestützt, welches auch dazu dient, materielle Engpässe zu überbrücken. Dabei ist letzteres eine Tatsache, die sich auch etliche neu gegründete Baugenossenschaften in Addis Abeba zu eigen gemacht haben. In den Siedlungen erstreckt sich die Improvisation dabei jedoch auch auf die Ver- und Entsorgung von Wasser, Energie und Abfall, sowie die Transportinfrastruktur. Deren Qualität ist je nach finanziellen Möglichkeiten der Anwohner unterschiedlich und führt teilweise zu gesundheitlich untragbaren Zuständen in den Siedlungen. Aufgrund dieser Versorgungslage sind 80% der urbanen Bevölkerung Äthiopiens nach technischen Kriterien zu Slumbewohnern erklärt worden. (UN-Habitat 2007: 22) Die in Eigenverantwortung praktizierte Entwicklung hat somit
im Laufe der Zeit die staatlichen Stadtplanungsmechanismen weitgehend überholt, was von der UN als „governance void“ bezeichnet wird. (UN-Habitat 2008: 15) Genau an dieser Stelle setzt jedoch die Kritik von afrikanischen Urbanisten an, an deren Spitze AbdouMaliq Simone (Simone 2004) und Jennifer Robinson (Robinson 2006) stehen: Demnach kann die reale (informelle) Entwicklung nicht dem auf kolonialen Vorbildern gegründeten segregierten Stadtmodell und der als „developmental“ bezeichneten Haltung technische und gestalterische Vorbilder zu importieren, unterworfen werden.
Eines der drastischsten Beispiele für solch ein opponiertes Vorgehen im Sinne des Stadtmodernisierungsgedankens ist die Räumung
eines innerstädtischen Wohn- und Arbeitsquartiers zugunsten des Sheraton-Hotel-Neubaus in Addis Abeba. Die staatliche Zugriffsmöglichkeit auf das Land wurde hierbei dazu genutzt, die bis dato ansässige Bevölkerung in Ersatzunterkünften am Stadtrand unterzubringen, die jedoch ihren Lebensbedürfnissen aufgrund der Distanz zum Zentrum und den dortigen Erwerbsmöglichkeiten nicht ausreichend entsprechen. Um dieser technisch-regulativ geleiteten Entwicklungspraktik zu begegnen und um sie überwinden zu können, ist es notwendig, die lokale kulturelle und sozio-ökonomische Praxis anzuerkennen und die Begrenztheit der materiellen Ressourcen in der Gestaltung zu berücksichtigen (vgl. Kihato 2007: 214). Dieser Punkt ist aus westlicher Perspektive häufig schwierig
nachzuvollziehen, denn er beinhaltet nicht nur, dass die Bau- und Mietkosten möglichst niedrig zu halten sind, sondern muss die gesamten Lebensumstände reflektieren. Hierzu gehören unregelmäßige Einkünfte, der Bedarf an Selbstversorgungsmöglichkeiten, der teilweise zeitbegrenzte Aufenthalt in der Stadt (saisonale, zyklische oder permanente Migration) und veränderliche Haushaltszusammensetzungen. Diese wenig untersuchten, aber bereits sichtbaren Veränderungen im städtischen Leben zeigen die Notwendigkeit, weiterhin Raum für Improvisation im städtischen Gefüge zu belassen. Solcher Raum muss in der Stadtentwicklung jedoch vor kurzfristiger finanzieller Verwertung geschützt werden. Eine Zielformulierung von gesamtstädtischen Interessen könnte, sofern sie
politisch gewollt ist, einer reinen Investorenplanung zuvorkommen und die verschiedenen Interessen koordinieren. Ansätze hierzu sind im aktuellen Masterplan von Addis Abeba zu erkennen. Sie könnten bei einer Fortentwicklung Vorbildcharakter für andere Standorte bieten, sofern es gelingt, die Dynamik der Stadtstruktur anzuerkennen und strategisch in der Stadtentwicklung zu berücksichtigen.
Insgesamt muss es in der urbanen Zukunft darum gehen, auf Grundlage unter Konsultation der breiten Stadtbevölkerung Entwicklungsziele zu formulieren, die verbesserten Lebensbedingungen in den jeweiligen Städten dienen und deren räumliche Gestaltung zu Prozessbeginn offen ist. In dem Zuge wird die Planung ihr Verständnis der Dichotomie von Stadt und Land zugunsten eines Verflechtungsraumes überdenken müssen, um zu einer Prozessgestaltung zu gelangen, die für die von interner Migration geprägte Stadtentwicklung angemessen ist. Gleichzeitig dürfen dabei übergeordnete Interessen wie der Ausbau der (öffentlichen) Verkehrsinfrastruktur nicht ins Hintertreffen geraten. Entgegen einer oft geäußerten Meinung liegt die entscheidende Herausforderung in der Planung daher nicht darin, zu entscheiden, ob China oder der Westen das bessere Vorbild für die äthiopische Stadtentwicklung ist – sondern in der Entwicklung von Visionen aus den Verhältnissen vor Ort heraus. In dem Sinne führt der Weg fort von einer improvisierten Stadt, zu einer Stadt mit Raum für Improvisation. b
Dieser Artikel ist eine Überarbeitung der zuerst erschienenen Version im Spacemag #2, Februar 2010. Nadine Appelhans promoviert derzeit über den Wandel der Existenzgrundlagen im Urbanisierungsprozess in Äthiopien. Sie lebt in Hamburg.
Literatur:
Golini, Antonio; Mohammed Said; Casacchia, Oliviero; Reynaud, Cecilia; Basso, Sara; Cassata, Lorenzo; Crisci, Massimiliano (2001): Migration and Urbanization in Ethiopia, with Special Reference to Addis Abeba. Hg. v. Institute for Population Research – National Research Council (Irp-Cnr), zuletzt aktualisiert am 04.08.2009, zuletzt geprüft am 20.12.2009. Kihato, Caroline (2007): African Urbanism. In: Burdett, Ricky (Hg.): e endless city. e urban age project by the London School of Economics and Deutsche Bank's Alfred Herrhausen Society. London: Phaidon, S. 214-218.
Robinson, Jennifer (2006): Ordinary cities. Between modernity and development. London: Routledge (Questioning cities series).
Simone, AbdouMaliq (2004): For the city yet to come. Changing African life in four cities. Durham: Duke University Press.
United Nations Human Settlements Programme (UN-Habitat): Situation Analysis of informal settlements in Addis Abeba. Cities without Slums: Sub-Regional Programme for Eastern and Southern Africa – Addis Abeba Slum Upgrading Programme (2007). Nairobi.
United Nations Human Settlements Programme (UN-Habitat): e state of African cities 2008. A framework for addressing urban challenges in Africa. United Nations Human Settlements Programme (UN-Habitat). Nairobi.
Interview mit Niels Werber
Der Literaturwissenschaftler Niels Werber im Gespräch über Schwärme, Städte und Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft.
Interview von Anke Bliedtner und Demian Göpfer
fool: Warum eignet sich die Schwarmtheorie, also das Bild eines Ameisenstaates, um moderne Gesellschaft zu beschreiben?
Werber: Ich würde da erst einmal die Perspektiven unterscheiden und fragen: „Wer glaubt eigentlich, dass sich das Bild so gut eignet?“ Mich interessiert, warum das als Bild Verwendung findet. Das hat viele Ursachen, ich nenne mal zwei, die besonders wichtig sind: Erstens gibt es eine große Tradition. Seit über zwei Jahrtausenden gelten Ameisen etwa, oder auch Bienen, als soziale Insekten. Aristoteles sagte schon: Nicht nur der Mensch ist ein zoon politikon, sondern auch Insekten. Seitdem hat man also diesen Bildbereich, der als Metapher, als Bild der Gesellschaft dient. Und zweitens eignet sich dieses Bild besonders gut, weil es natürlich immer schon Mengen sind; es sind viele und anders als bei politischen Ikonen, ikonischen Tieren, z.B. Löwen oder Adlern, können Ameisen immer auch Massenphänomene darstellen. Das wird dann interessant, wenn die Gesellschaft sich als Menge oder als Masse entdeckt, also im 19. Jahrhundert, dann greift man quasi sofort auf dieses wohletablierte Bild zurück, um zu schauen, wie das in der Natur läuft. Was in der Natur existiert, hat immer eine gewisse Rechtfertigung. Und deshalb ist es schon im 19. Jahrhundert für Soziologen, Biologen und Gesellschaftswissenschaftler interessant zu schauen, wie man eigentlich Gesellschaften beschreiben kann, und zu fragen: Haben wir nicht in den Ameisen ein Vorbild? Man kann sich natürlich vorstellen, dass der Zugang zu den Ameisen wissenschaftlichen Veränderungen unterworfen ist, d.h.: Mit der ganzen epistemischen Formation ändert sich natürlich auch das, was Ameisenstaaten sind. Das können mal Republiken sein, das können mal totalitäre Staaten sein. Etwa im Nationalsozialismus sind die Insekten Vorbilder für ein kastenartig durchformiertes, autoritäres Staatsbild und heute – und jetzt kommen wir zum Schwarm – heute sieht man in den Ameisengesellschaften Schwärme, d.h. Mengen, die aus simplen
Akteuren bestehen, die aber durch die Art ihrer Vernetzung ein surplus schaffen, das ist der Schwarmeffekt. Eigentlich sind die Ameisen ganz einfache, relativ dumme kleine Dinger, aber wenn die sich in Selbstorganisation zu einem Schwarm erheben, wie ein destruiertes, verteiltes, laterales Netzwerk, dann nennt man das ‚Schwarmintelligenz‘. Genau das machen Soziobiologen, Entomologen oder auch Kybernetiker: Seit den 70er-Jahren schauen die sich mit dieser Idee von einem verteilten Netzwerk, einem surplus oder einem Emergenzeffekt, Ameisengesellschaften an, wo aus simplen Akteuren dann doch etwas Kompliziertes wird.
Aber was ist an diesem Bild, das Soziobiologen, Entomologen, Kybernetiker usw. entwickeln, jetzt wiederum interessant für einen kulturell-gesellschaftlichen Diskurs?
Meine These wäre, dass dieses Bild eine attraktive Alternative bereithält zu dominanten Modellen von Gesellschaft, die auf Schichtung oder Funktionsdifferenzierung setzen. Man kann sich vorstellen, dass einzelne Akteure allein durch Vernetzung, und nicht durch Hierarchisierung, sondern durch ihre Kollaboration, ein intelligentes Ganzes schaffen. Das ist die Attraktivität dieses Bildes und deshalb nimmt man es auch zum Vorbild für menschliche Gesellschaften. Die Unterschiede, die zwischen Ameisen und Menschen bestehen, sind natürlich ein Problem. Aber wenn Sie genau in die Theorien reingehen, dann sehen Sie, dass bestimmte Unterschiede weggewischt werden. Wenn Sie ganz abstrakt rangehen und sagen: Gesellschaften bestehen aus Kommunikation, aus Akteuren, Gesellschaft ist ein Emergenzeffekt, dann können sie Insektengesellschaften und menschliche Gesellschaften auch vergleichen.
Die Ameisenmetapher findet man ja auch in der Urbanismus-Forschung um ganz konkrete Probleme darzustellen...
Ja, für Urbanisten ist das natürlich nochmal attraktiver, weil Sie da schon die ganzen Bildbereiche der Stadt haben, die der Ameisenhügel natürlich anbietet: Sie haben die Ameisenstraßen als Lösung für Verkehrsprobleme und komplizierte Infrastrukturen, Sie haben extreme Hygieneprobleme, die die Ameisen vorbildlich lösen – der Ameisenhügel ist quasi bakterienfrei, es gibt also ein vorbildliches Lüftungssystem wie etwa in Termitenbauten, usw. Die Probleme haben wir auch in der Stadt: Wie entsorgt man Abfälle? Wie organisiert man den Verkehr? usw. Und das machen die Ameisen alles ohne zentrale Steuerung. Die Forschung fragt sich dann, wie schaffen die das? Können wir das nicht auch so machen? Das deutsche Institut für Weltraumforschung in Berlin führt ein Verkehrsprojekt durch und überlegt, ob wir nicht mit dem Algorithmus der Ameisen, dem sogenannten ANT-Algorithmus, den Verkehr leiten können oder im Internettraffic Staus vermeiden. Man versucht, diese Ameisengesellschaften in Computern zu simulieren und transferiert diese Modelle dann auf den Bereich unserer, oder auch urbaner Probleme, um sich dann zu fragen: Kann man das nicht so regeln wie die Ameisen? Die Zirkulation zwischen den Diskursen kann man sich jetzt ganz gut vorstellen.
Heißt die Hinwendung zur Schwarmtheorie denn, dass sich die Möglichkeit, Gesellschaft anhand funktional differenzierter Systeme zu beschreiben, erübrigt hat? Laufen die Schwarmtheorie und die Netzwerktheorie jetzt der Systemtheorie den Rang ab?
Es gibt Soziologen, die eine Soziologie für eine andere Gesellschaft einfordern. Die würden natürlich stark machen, dass die jetzt im Entstehen begriffene Gesellschaft eigentlich mit den alten Mitteln – also mit Schichtung und mit Zentrum-Peripherie-Unterscheidung und auch mit Funktionsdifferenzierung – nicht mehr zu beschreiben ist. Und wie sonst? Mit Netzwerk- und Schwarmtheorien. Dirk Baecker und Bruno Latour sind Forscher, die in diese Richtung denken – also im Bezug auf die nächste Gesellschaft eher über Vernetzung nachdenken und nicht über Funktionsdifferenzierung. Ein Grund ist so einer Art impliziter Medientheorie der Soziologie geschuldet, d.h.: mit großen Medienschwellen gibt es auch soziale Veränderungen: Der Computer und das Internet führen jetzt zu einer Art Vernetzung und man könnte nun die sozialen Akteure in diesen Netzwerken als Schwärme beschreiben. Aber auch die Leute, die die Systemtheorie umbauen, würden ja nicht sagen: ‚Kommunikation, das brauchen wir jetzt nicht mehr.‘ Das ist immer noch die zentrale Einheit, wie auch der Bezug auf bestimmte Problemlösungen, also es gibt so heilige Kühe der Systemtheorie, die werden nicht geschlachtet. Es geht natürlich darum, ob sich jetzt die Gegenwartsanalyse ändern muss und man die Beschreibung der Gesellschaft als funktionsdifferenzierte Gesellschaft, ob man die vielleicht [überlegt kurz] aufgeben muss. Das heißt nicht, dass man die Systemtheorie aufgibt, sondern man würde sagen: Mit unserem Handwerkszeug kommen wir jetzt zu anderen Ergebnissen und wir sehen, dass die Anschlussfähigkeit in der Gesellschaft anders organisiert
wird. Dirk Baecker hat in mehreren Publikationen gesagt, dass die Anschlussfähigkeit primär nicht über das Funktionsprimat läuft, sondern dass es jetzt primär um Vernetzung geht, also dass der Grad der Vernetzung, die Partizipation an einem Netz, der Platz in einem Netz, dass das vielleicht wichtiger sein könnte als der sachliche und problemorientierte Gehalt einer Kommunikation. Wenn das so ist, dann müsste man natürlich die Gegenwartsbeschreibung der Gesellschaft komplett ändern.
D.h.: Systemgrenzen weichen auf?
Ja, könnte man so sagen. Die eingeübten Unterschiede zwischen Wissenschaft und Wirtschaft usw., die gibt's zwar noch, aber sie sind nicht mehr entscheidend, das ist ja genauso wie es heute auch noch Klassen gibt oder Schichten und Entfernungen, die sind nur nicht mehr so wichtig.
Wie hängen denn diese beiden Bilder, Netzwerk und Schwarm, innerhalb des neuen Beschreibungsmodells zusammen?
Netzwerke sind ja erstmal nur die Infrastrukturen, jetzt könnte man überlegen, wer in diesen Netzwerken agiert, das könnte ja auch eine Spinne sein, die im Zentrum sitzt und alle Fäden in der Hand hat. Das wäre ein Bild aus den 30er, 40er-Jahren, aber heute würde man natürlich sagen: Der Akteur in den Netzwerken ist der Schwarm, er nutzt diese Verbindungsfähigkeit, um sich immer wieder neu zu konfigurieren. Sie sind ja nicht ein Mitglied in der Gesellschaft wie sie auch Mitglied in einer Organisation sind. Um in die Uni reinzukommen, werden sie immatrikuliert; um exmatrikuliert zu werden, müssen sie schon was Schlimmes machen, es ist ein richtiger bürokratischer Aufwand. Und wenn man drin ist, dann ist man
erstmal drin und solange man die Studiengebühren bezahlt, bleibt man auch ewig dabei. Beim Schwarm ist das natürlich etwas völlig anderes: Sie schließen sich dem an und dann wird etwas gemacht und dann löst der sich auch wieder auf. Das sind ganz andere Formen sozialer Organisation, die durch diese neuen Medieninfrastrukturen auch ermöglicht werden und das ist die Attraktivität für dieses neue Modell.
Sie sind also durchaus ein Anhänger dieses Bildes und der Art wie es in der Forschung verwendet wird?
Wenn Sie mich nach meiner Meinung dazu fragen, dann muss ich sagen: Ich sehe das einerseits mit Faszination, andererseits auch skeptisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die zentralen Funktionen, die unsere Gesellschaft benötigt, damit sie funktioniert –also die Verteilung knapper Güter, die Regelung bindender Entscheidungen, wir brauchen Gesetze, wir brauchen Geld, wir brauchen eine Wissenschaft – diese Funktionsimperative, die sind ja immer noch da und man müsste jetzt die Frage zurückgeben an die Netzwerk- und Schwarmtheoretiker: Wie stellt man sich jetzt eigentlich vor, wie diese Funktionen oder diese Probleme in Schwärmen gelöst werden? Und da ist gerade wieder das Ameisenmodell eine attraktive Antwort, weil die Ameisen der neuesten Forschung im Grunde Multitasker sind, es gibt Leute, die arbeiten erst im ‚foraging‘ und wenn's woanders ein Problem gibt, dann wechseln die irgendwie zur ‚Nestmaintenance‘, die switchen also und können mit einem relativ geringen Pool an Arbeitskräften und dadurch, dass die immer die Kräfte bündeln, addieren und dann wieder abbauen, extrem flexibel agieren und verschiedene Probleme gemeinsam lösen. Man sieht eigentlich sofort, das ist ein neoliberales Modell. Stellen Sie sich eine Arbeitswelt vor, mit einer ‚Workforce‘, die sie immer hin- und herschieben können. Man sagt heute schon, dass das so ist: Arbeitsplätze verlagern, Flexibilität schaffen, am Besten nur noch über Arbeitsvermittlungen und solche Firmen. Und man könnte jetzt so ein bisschen boshaft fragen, ob die Schwarm- und Netzwerktheorie über diesen Umweg nicht extremste Formen neoliberaler Ökonomie abbildet, nur dass die das super finden.
Ein wesentliches Medium unserer Gesellschaft ist der Computer und mit ihm das Internet. Beides hat eine Netzwerkstruktur zur Grundlage. Sind Sie der Ansicht, dass dadurch auch die Strukturen und Rahmen, in denen wir denken, beeinflusst werden? Dass durch die netzwerkartige Struktur der von uns genutzten Medien auch immer mehr eine solche Art von Kollektivität im Alltag, eine Netzwerkgesellschaft entsteht und unser Handeln netzwerkartige Züge annimmt? Das könnte man zumindest vermuten. Was dem vielleicht entgegenstehen würde, wäre z.B. eine ausgeprägte Identität, oder, dass man ein ganz bestimmtes Rollenklischee, einen Rollenhabitus eingeübt hat, von dem man nicht abweicht. Man ist halt z.B. Beamter oder Polizeiwachtmeister und man hat eben Leute, die sagen: „Ich bin Richter“ oder „Ich bin Banker“ oder „Ich bin Hochschullehrer“ oder auch Student, mit aller Konsequenz in Bezug auf Selbstein-
schätzung, Habitus usw., denen ist es egal, wenn sich diese Zusammenhänge auflösen und man sagen kann: „Na ja, jetzt ist es viel wichtiger zu sagen: Ich bin auf Facebook und nicht auf Myspace“ oder so. Man weiß, dass die Einübung bestimmter Rollenklischees historisch relativ schnell entstanden ist und man könnte sich natürlich vorstellen, dass das auch wieder weggeht. Vielleicht sind nun soziale Netzwerke für die Identitätsbildung viel wichtiger, vielleicht ist es viel wichtiger zu sagen, mit wem ich meine Interessen teile, wer sind meine Freunde, meine ‚Follower‘, wer hört die gleiche Musik, all das, was da so...
...was verbindet?
Genau. Man könnte sich schon vorstellen, dass das langfristig unsere persönliche und auch kulturelle Identität ändert. Das liegt ja nahe, man kann das ja schon beobachten. Das muss einen ja gar nicht so verunsichern. Wenn man historisch forscht, dann weiß man: Weltbilder, Selbstentwürfe usw. ändern sich immer ziemlich stark und daran haben Medien einen großen Anteil und das wird nun vermutlich wieder so sein. Aber es kommt auch auf die Art und Weise an, wie man sich ein Medium aneignet: Man kann mit den gleichen Medien nämlich unterschiedlich umgehen. Gerade in Siegen, z.B. in der Medienethnologie, würde man sagen: Die gleichen Techniken sind nicht unbedingt die gleichen Kulturtechniken. Es gibt immer auch andere Möglichkeiten, mit den gleichen Medien umzugehen und genau diese Möglichkeiten, die habe ich mal fürs 19. und frühe 20. Jahrhundert untersucht und gesehen: Ja, es gibt mit Blick auf bestimmte Medien – etwa Telegrafen, Telefone, Radio – völlig unterschiedliche Möglichkeiten, darauf zurückzugreifen. Und dann sieht man: Medien sind zwar wichtig, sie liefern aber nicht die letzte Entscheidung darüber, was kulturell läuft. Diese Beobachtung würde ich gern noch mal an die Ameisengesellschaftsfrage rückkoppeln, weil das nämlich an diesem Bild genau das Gleiche ist: Sie haben also diesen starken Bildbereich, diese Analogien und sagen: Wir sind eine Ameisengesellschaft, wir sind auch alle ein Schwarm. Aber sie können auch genau die gleiche Ameisengesellschaft beobachten und
dann sagen: Die sind totalitär. Wir sind ein totalitärer Staat. Sie können in der gleichen Sache völlig andere Dinge mitkonstruieren und man sieht, dass es eben nicht nur von der Sache, den Medientechniken abhängt, sondern von der Art, wie sie die konstruieren, und das geht ganz verschieden. Das wäre natürlich ein Plädoyer für eine Medienkulturwissenschaft, die auch diese Aneignungsweisen, den Umgang, die Konstruktion im Blick hat.
Aus der Distanz betrachtet ist die Stadt ein chaotisches Gewimmel, ohne Ordnung, ohne Führung, alles läuft durcheinander. Die Schwarmmetapher setzt auf das Fehlen eines Zentrums, die Stadt allerdings hat ein Zentrum. Eignet sich das Bild des Schwarms überhaupt zur Beschreibung der Stadt?
Wenn sie sagen, die Stadt hat ein Zentrum, dann sind sie natürlich Europäer, und zwar Alteuropäer. Los Angeles hat kein Zentrum. Oder was soll das Zentrum sein in solchen riesigen Städten wie Mexico City? Man könnte jetzt sagen, das passt natürlich viel besser zu solchen urbanen sprawls‘, wo man diese Unterschiede Zentrum/Peripherie gar nicht mehr machen kann. Die Stadt hat sich ja auch sehr verändert, aber trotzdem haben sie natürlich Recht, dass die Begeisterung für diese Schwarmsache natürlich auch zeigt, dass man jetzt Neues oder etwa Anderes stärker in den Vordergrund rü-
Abb. 1) Eine Ameise auf Fu ersuche findet eine tote Maus. Sie begibt sich zum Ameisenhügel und hinterlässt dabei eine Pheromonspur.
Abb. 2) Die anderen Ameisen folgen dem markierten Weg bis zur Maus und hinterlassen ihrerseits Pheromone. Dabei versuchen sie verschiedene Wege zum Ziel. Nach einer Weile wählen immer mehr Ameisen den kürzesten Weg zur Maus, da sich die Pheromonspur hier konzentriert.
Abb. 3) Endlich folgen alle Ameisen dem kürzesten Weg und es entsteht eine leitende Ameisenstraße.
Diesen Prozess versucht man in vielen netzwerknahen Anwendungen zu imi eren, um op male Ergebnisse zu erreichen, zum Beispiel bei der Berechnung von Bus- oder Postrouten.
Das Institut für Industriebetriebslehre und Organisation der Universität Hamburg bietet im Internet anschauliche Möglichkeiten zur Vertiefung mit interessanten Beispielen aus Anwendungsgebieten. www.ameisenalgorithmus.de
cken möchte. Ja, da könnte man natürlich überlegen, was das ist. Es gibt unterschiedliche Probleme, die mit dem Schwarm-Bild gelöst werden sollen, zumindest erstmal nur bildlich oder semantisch. Einerseits sind das Organisationsprobleme: Sie können immer auf zentrale Steuerung verzichten und sagen: „Das lösen wir vor Ort selber.“ Selbstorganisation ist attraktiv für alle möglichen Bereiche, beim Verkehr angefangen, überall dort, wo Sie Mengen beherrschen oder ordnen müssen: in der U-Bahn, auf Plätzen usw. Das ist für die Stadtplanung natürlich sehr interessant. Sie haben damit die Möglichkeit, solche unübersichtlichen, urbanen Areale zu organisieren. Ein neues Modell, mit dem sie Leute über Interessen, über Leidenschaften usw. als Schwarm organisieren, die dann gemeinsam agieren. Das können Protestmengen sein, wie in Seattle, das können irgendwelche Interessen bürgerrechtlicher Art sein, das können Fans sein, die sich treffen, weil sie – keine Ahnung – Brad Pitt mögen. Sie können da Interessen, Leidenschaften usw. neu organisieren, natürlich wieder mit Hilfe der neuen Medien. Sie haben damit eine vollkommen andere Form von Organisation. Das ist ja auch attraktiv, etwas völlig anderes, das ist die Möglichkeit, wie man sich heute in diesen unübersichtlichen Verhältnissen dieser Multimillionenstädte organisiert.
das; wenn man an Funktionsdifferenzierung glaubt, kann man das sehr gut erklären. Die Funktionssysteme inkludieren. Die wollen jeden erreichen: Jeder soll Wähler sein, jeder soll Kunde sein, jeder soll Wissen haben usw., aber wenn Sie da rausfallen, dann entsteht so eine Art Addition von Exklusion. Sobald Sie kein Geld mehr haben, kriegen Sie auch keine Ausbildung. Sobald Sie keine Ausbil-
„Also auf dem Land, in einer dörflich-familiären Struktur, hätten Sie immer noch permanente Netze, da wird man immer miternährt oder man ist der Dorfdepp, was auch immer, aber immer Teil des Dorfes.”
Wo sind denn die Grenzen der Netzwerktheorie? Welche Entwicklung, welche urbanen Phänomene sind mit Netzwerk- oder Schwarmtheorie nicht abbildbar?
Es gibt ja eine interessante Entwicklung, die man global beobachten kann, und das wäre einerseits die extreme Ballung von Menschen. Immer mehr Menschen wohnen in der Stadt, also es gibt diese Bewegung und zugleich aber auch die immer stärkere Exklusion. Also man könnte fast sagen, dass jede Groß- oder Riesenstadt, die diese These der Verstädterung bestätigt, die entlässt aus sich heraus auch diese Exklusionszonen, also Slums usw., und da haben Sie dann –und das hat Luhmann auch schon gesehen – tatsächlich die Auflösung der funktionsdifferenzierten Gesellschaft, weil da haben Sie natürlich keine Erziehung, kein Wirtschaftssystem; da haben Sie Handgreiflichkeiten, Überfälle, brutale Gewalt, Sie haben keine Polizei, Sie haben keine Gerichte, Sie haben kaum Schrift, d.h. die Leute sind Analphabeten usw. Das ist ja ein Phänomen, dem man sich auch stellen müsste, das also gerade die Weiterentwicklung der Gesellschaft betrifft, also die weitere Urbanisierung. Da haben Sie in Brasilien oder in Mexiko oder auch in Asien diese riesigen Müllhaufen mit Hunderttausenden von Leuten, die da irgendwie wohnen und die ja gar nicht anschlussfähig sind. Das ist sozusagen das Ende der Anschlussfähigkeit. Die haben auch keine Medien. Es gibt ja riesige Menschengruppen, die mitten in diesen Städten hausen oder vegetieren, die an nichts angeschlossen sind, und das ist eigentlich eine Sache, die man meines Erachtens mit Netzwerk- und Schwarmtheorien gar nicht erklären kann. Aber systemtheoretisch kann man
dung haben, haben Sie kein Geld und auch keine medizinische Versorgung, ja sobald Sie nicht lesen und schreiben können, können Sie auch nicht wählen, weil Sie dann nicht mal die basalen Sachen mitbringen. Die moderne Welt inkludiert immer anspruchsvoller, das wird immer komplizierter. Wenn man drin ist, ist man drin, aber es ist immer schwieriger geworden, reinzukommen, man muss alphabetisiert sein, man braucht eine Adresse usw. Sobald da was nicht klappt, fliegen Sie aus den ganzen Agenturen der Funktionsdifferenzierung raus und dann sind Sie aber richtig draußen! Diesen Zusammenhang von Inklusion und Exklusion, den hat Luhmann sehr genau beschrieben und damit auch auf eines der zentralen globalen Probleme hingewiesen. Dass es nämlich eine Schattenseite der Funktionsdifferenzierung gibt, und das ist die Exklusion. Mir würde jetzt nichts einfallen, wie man mit so tollen Netzwerk- und Schwarmtheorien diesem Phänomen gerecht werden sollte. Das ist ein Phänomen der Stadt, Slums und die Favelas haben sie ja genau da.
D.h.: Die Stadt als Ort maximaler Inklusion ist auch gleichzeitig der Ort maximaler Exklusion. Genau.
Das ist auch ein weiterer Unterschied zum Land, wo so etwas in sehr viel abgeschwächterem Maße passiert. Genau, gar nicht! Also auf dem Land, in einer dörflich-familiären Struktur, hätten Sie immer noch permanente Netze, da wird man immer miternährt oder man ist der Dorfdepp, was auch immer, aber immer Teil des Dorfes. Und durch die Verstädterung und durch diese extreme Mobilisierung, die ja auch Bindungen abschneidet, haben Sie dann diese radikale Exklusion. Ich bin kein Stadtsoziologe, ich kenne ja nur so ein bisschen was. Aber nehmen Sie z.B. Mike Davis’ ‚City of Quartz‘: Der beschreibt Los Angeles, und interessiert sich genau für diese Exklusionsmechanismen in der Stadt. Jede Form der Inklusion – das würde er vielleicht nicht so drastisch sagen, aber das kann man aus dem Buch durchaus rauslesen – jede Form der Inklusion ist auch eine Form der Exklusion. Wenn Sie sich die neuen Städte anschauen, z.B. die Stadtmöblierung, die obdachlosenunfreundlich ist, also:
keine Bänke mehr, auf denen man es sich gemütlich macht, all diese Sachen – das geht alles in die Richtung Gentrifizierung. Ihre Formel, das Zentrum der Inklusion, ist auch gerade deswegen eines der Exklusion, das würde mir jetzt als These erstmal ein-
leuchten. Man müsste das natürlich weiter prüfen, aber das wäre eine Hypothese.
Herr Werber, vielen Dank für dieses Gespräch.
Datum: Mon, 8 Mar 2010 15:59:56 +0100
Von: "Baecker,Dirk" <dirk.baecker@zeppelin-university.de>
An: "fool on the hill" <thefool-siegen@web.de>
Betreff: AW: Interviewfragen
>Lieber Dirk Baecker. Wie definieren Sie als Soziologe das Phänomen Stadt? Was ist die Funktion der Stadt und was unterscheidet sie von anderen Formen des Zusammenlebens?
Ich halte mich an die vielfach leider unbemerkt gebliebene Definition von Max Weber, dass eine Stadt jene Form des Zusammenlebens von Menschen ist, in der man sich trotz vielfacher Begegnungen nicht persönlich kennen muss. Damit unterscheidet sich die Stadt von den Stämmen der Stammesgesellschaft, von den Häusern und Höfen der Adelsgesellschaft und von den Familien und vielen Organisationen der modernen Gesellschaft. Die Funktion der Stadt besteht wohl darin, dieses Zusammenleben der miteinander Unbekannten durch Strukturen und Semantiken der Begegnung zu ermöglichen, in denen wiederauflösbare Beziehungen, lose Kopplungen, Respekt vor Differenz und Diversität sowie Toleranz für Intransparenz überwiegen. Georg Simmel hat das Verhalten von Städtern, das diesem Typ von Begegnung entspricht, als „blasiert“ beschrieben. Wir würden heute wohl eher von „coolness“ sprechen. „Coolness“ ist ein Begriff, den ich gegenüber dem allzu schnell kulturkritisch werdenden Begriff der „Anonymität“ bevorzugen würde. Denn sich als Städter verhalten zu können, ist natürlich eine Kunst und nicht etwa ein Leiden an einem Defizit.
>Im Verlaufe der Menschheitsgeschichte haben die Menschen verschiedene Kommunikationsformen ausgebildet (Sprache, Schrift, Buchdruck). In Ihrer Theorie der Stadt knüpfen Sie diese Kommunikationsformen an die Entwicklung der Siedlungsformen. Wie genau sieht dieser Zusammenhang aus?
Ob die Menschen diese Kommunikationsformen ausgebildet haben, würde ich bezweifeln. Vermutlich entstanden diese Formen in der Gesellschaft und die Menschen zogen nach. Aber im Übrigen haben Sie Recht. Es ist natürlich weit hergeholt, bereits für die Stammesgesellschaft von „Städten“ zu reden. Aber wenn man sich nur an die Funktion der Stadt hält, das Zusammenleben der miteinander Unbekannten zu ermöglichen, dann gab es das in der Form des von P. J. Hamilton Grierson beschriebenen „silent trade“ bereits in der Stammesgesellschaft. Die antike Gesellschaft weist dann Städte im baulichen Sinne verdichteter und meist ummauerter Siedlungen auf, die eine oft etwas chaotische, aber dennoch erkennbare Umsetzung des Weltbildes der antiken Gesellschaft sind, in denen alles, der Tempel, der Marktplatz, das Rathaus, die Häuser der Reichen und die Hütten der Armen, am angemessenen Platz zu sein hat. Das entspricht der Kulturform, die sich die antike Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit dem Auftauchen der alphabetischen Schrift gegeben hat: eine Kosmologie und Teleologie der angemessenen Plätze. Noch heute suchen wir diese als „europäisch“ (eigentlich: alteuropäisch) geltende Stadt, wenn wir Herz und Verstand von den Anstrengungen der modernen Gesellschaft erholen wollen. Denn die moderne Gesellschaft kennt bereits eine ganz andere Stadt, in der es nicht mehr auf Plätze und Orte, sondern auf Wege und Verbindungen ankommt, um die komplexen Funktionen der modernen Gesellschaft (Arbeit, Freizeit, Kultur, Politik, Wirtschaft, Religion und Kunst) im Gleichgewicht halten zu können. Wir beklagen zurecht das Verschwinden der öffentlichen Plätze, nicht bedenkend, dass diese schon früher ein Ort intensiver polizeilicher Überwachung waren, übersehen dabei jedoch, welche Fortschritte wir in der Differenzierung der Wege, Straßen und sonstigen Verkehrsverbindungen gemacht haben. Die moderne Stadt ist eine Reaktion auf die Einführung des Buchdrucks und der durch diesen ermöglichten enormen Dynamisierung der Gesellschaft.
>Heute erfahren wir die Stadt oft als Konfliktraum: Probleme wie Zersiedlung, Integrationsversäumnisse, Abwanderungs- und damit Schrumpfungsprozesse bedrohen die Stadt. Kommt die moderne Stadt in ihrer Funktion als Ordnungsinstanz angesichts dieser Probleme an ihre Grenzen?
Nein, das glaube ich nicht. Ein strapazierter Ort einer problematischen und prekären Vergesellschaftung war die Stadt immer schon. Heute fällt darüber hinaus auf, dass es keinen Ort mehr gibt, zugunsten dessen man die Stadt verlassen könnte. Das Land von einst, das dörfliche, vielleicht sogar subsistenzwirtschaftliche Leben von einst gibt es nur noch in
Resten und mit Sicherheit nicht dort, wohin es, abgesehen von einigen Aussteigern, die Migrantenströme zieht. In der Schweiz zum Beispiel gibt es eine Veröffentlichung des Architekturbüros Herzog und de Meuron, das zu Recht von einem „städtebaulichen Porträt“ der gesamten Schweiz spricht und hier auch die letzten Bergspitzen mit ihren Skipisten einbezieht. Die Gesellschaft ist nahezu komplett urbanisiert und daraus, nämlich aus der nahezu kompletten Abhängigkeit der Menschheit von städtischen Märkten, städtischer Energieversorgung und städtischen Verkehrsleistungen, resultiert die Fragilität unserer Gesellschaft.
>Der Computer tritt immer mehr an die Stelle des Buchdrucks. Welche Zukunft sehen Sie in Anbetracht dieser Entwicklung für die Stadt? Wie sieht die nächste Stadt aus?
Das ist natürlich schwer zu sagen. Die Soziologie eignet sich nicht für die Prognose einer unbekannten Zukunft. Im Moment ist nur absehbar, dass die Netzwerke der nächsten Gesellschaft des ja auch schon über einhundert Jahre alten elektrischen Zeitalters (Marshall McLuhan) andere Muster der Verdichtung und der Vermeidung benötigen als die moderne Gesellschaft. Le Corbusiers Traum einer funktional differenzierten Stadt weicht endgültig dem Bild einer Stadt, das eher am Bazar und damit an der Verknüpfung des Heterogenen orientiert ist. Wo und wie können welche Netzwerkeffekte der überraschenden Verbindung des Differenten gefördert und ausgenutzt werden? Welche Verknüpfung von Arbeit, Sport, Kultur und Einkaufen attrahiert welche Art von Klientel an welchen Orten der Stadt? Der Computer und seine Netzwerke unterlaufen die funktionale Ordnung der modernen Gesellschaft. Vermutlich bekommen wir es mit eigensinnigeren und unterschiedlicheren Städten als in der modernen Gesellschaft zu tun. Das Stadtmarketing mit seiner Bemühung um ein Stadtimage legt davon ja bereits Zeugnis ab, indem es versucht, diesem Eigensinn auf die Spur zu kommen. Aber wir werden es auch mit einer anderen Art von Störung der Stadt und von Protestbewegungen in der Gesellschaft zu tun bekommen; und wie das aussehen wird, ist für mich gegenwärtig nicht absehbar.
>Die moderne Gesellschaft, die in Funktionssystemen aufgebaut ist, muss nun also der nächsten Gesellschaft weichen, die durch Netzwerke geprägt ist. Heißt das auch, dass die Systemtheorie als ,Supertheorie‘zur Erklärung von Gesellschaft ausgedient hat?
Das würde vermutlich viele beruhigen. Aber dann bekommt man es mit einer Netzwerktheorie à la Harrison C. White zu tun, die auch nicht viel leichter zu konsumieren ist. Man wird die Systemtheorie weiterentwickeln müssen, denn die Idee der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft, wenn sie denn überholt sein sollte, ist ja nur eines ihrer Theoreme. Mindestens ebenso wichtig ist eine Theorie der Weltgesellschaft, die nach wie vor von der Autopoiesis eines und nur eines Systems, eben der Weltgesellschaft, ausgeht und damit außerordentlich riskante Zustände der aktuellen Menschheit beschreibt. Und man sollte auch nicht die Organisationstheorie der Systemtheorie vergessen, die nach wie vor in der Lage ist, zu beobachten und zu beschreiben, welche Art von Entscheidungen in Gemengelagen von Politik und Wirtschaft, Religion und Kunst, Recht und Erziehung durch welche Art von Organisation getroffen wird. Eine denkbare Fragestellung wäre zum Beispiel, ob und inwiefern uns die Konkurrenz der Organisationen (Unternehmen und Behörden, Krankenhäuser und Universitäten, Theater und Gerichte) untereinander vor der Blindheit der Weltgesellschaft gegenüber ihren eigenen Zuständen hinreichend schützt. Wie wollen Sie die nächste Gesellschaft beobachten können, wenn Sie Ihren Beobachtungen keine Systemreferenz zugrunde legen? b
Bei seiner täglichen Jagd durch den Dschungel der Metropole sieht sich der Young Urban Professionell (Yuppie) ständig von neuen, bunten Produkten umgeben. Die Redak on hat für ihn ein Potpourrie der entzückendsten unter den entbehrlichen Dingen zusammengestellt.
Die Londoner Designergruppe Vitamin holt die Gartenzwerge heraus aus dem Blumenbeet und schickt sie in den Großstadtdschungel. Inspiriert ist die Gestaltung der ‚Stadtzwerge von der Graffi - und Street Art-Kultur auf Londons Straßen, oder auch, wie beispielsweise das Modell Ants, von aktueller Netzwerktheorie im urbanen Umfeld. Die kleinen Kerle sind aus feinstem Porzellan gefer gt, etwa 21 cm groß und sowohl für drinnen als auch für draußen geeignet.
www.vitaminliving.com/products/gnomes/
Hast du schon mal versucht, einen Stadtplan zurückzufalten und bist dabei verzweifelt? Herzlich willkommen in der Zielgruppe dieses erstaunlichen Produktes: die CrumpledCityMap. Regen, enge Autos und ein Riss immer da, wo man gerade hin wollte, können deinen Städtetrip nun nicht mehr gefährden. Zumindest sofern du nach Paris, New York, London, Tokio oder Berlin reisen möchtest. Für diese Städte gibt es nämlich bereits eine dieser Karten auf einem speziellen wasserabweisenden Material. Am Ziel angekommen, lässt sie sich einfach in die Tasche knüllen.
www.pizzolorusso.com/index.php?/proge /crumpled-city/
Das ist sicher auch etwas für die dem LEGO-Alter eigentlich Entwachsenen: Mit der Serie Architecture bringt LEGO bedeutende architektonische Bauwerke in die Kinderzimmer – schade nur, dass alle Gebäude der Serie (Empire State Building, Fallingwater, Sea le Space Needle und das Guggenheim Museum) in den USA stehen. Aber was ist schon die Sagrada Familia gegen den „beeindruckenden futuris sche Turm“, der Sea le Space Needle. h p://architecture.lego.com
Warum sollten unsere kleinen possierlichen Mit-Stadt-Bewohner denn nicht auch ein schall- und wärmeisoliertes Heim haben? Das dachte sich die Firma manufactum und baute ein sogar WG-taugliches Vogelhäuschen – und zwar aus Beton. Die Sperlings-WG hat's sogar recht geräumig: Das Betonhäuschen bietet mit den Maßen 24,5 cm x 43 cm x 20 cm und drei Brutkammern ausreichend Platz für die Aufzucht einer ganzen Sperlingskolonie direkt vor deinem Fenster.
www.manu-factum.net/Ar kel/80864/.html
Dieser Spiegel ist zu schön, um ihm des fools morgendlich verschlafenen Anblick zuzumuten. Aber mit diesem hübschen Wandbehang könnte man schon morgens beim Zähneputzen das Liniennetz der London Underground studieren, denn die Designer von Suck U.K. haben mit Hilfe eines ausgetü elten Druckverfahrens die Tube Map direkt auf den Spiegel aufgebracht – es entsteht der Eindruck, als wäre das Liniennetz geradezu eingeätzt. Der funk onale Aspekt hält sich allerdings in Grenzen: Da alle Linien in Gold aufgebracht wurden, kann man sie nun nicht mehr auseinanderhalten.
www.iwantoneo hose.com/tube-map-mirror/index.html
EDie Industrialisierung hat die Street Art erreicht. Maschinen erledigen nun auch hier, was der Graffi künstler gestern noch selbst tun musste. Mit diesem Gerät von drei jungen Produktdesignern aus Berlin lassen sich aus bis zu 12 Metern En ernung Bilder auf Häuserwände drucken. Ein so waregesteuerter Roboter schießt dafür Farbkugeln auf eine Wand und es entsteht „wie durch Zauberhand“, wie die Webseite verrät, ein Bild.
www.facadeprinter.org/
Eine Geschichte im Spannungsfeld zwischen „Ordnung und Widerstand im öffentlichen Raum“
Text von Helmut Höge
Als man Anfang der siebziger Jahre begann, die Städte wieder attraktiver zu machen, geschah dies vorwiegend durch Museumsbauten und Kunst im öffentlichen Raum sowie mittels Straßenumbau- bzw. Neugestaltungs-Maßnahmen. Etwa gleichzeitig machte sich ein Prozeß bemerkbar, in dem die alte juristische Sicherung der Ordnung mehr und mehr von einer wissenschaftlich-technischen abgelöst wird. Statt der Staatsgewalt regieren zunehmend Sachzwänge – die seit Beginn der achtziger Jahre nicht selten ökologistisch legitimiert werden.
Durch die Studentenbewegung waren schon aus dem freundlichen Polizisten an der Ecke abgepanzerte Aufstandsbekämpfer in kasernierten „Zügen“ geworden. Unter anderem hatte dies zur Folge, daß die Einhaltung der Alltags-Regeln im öffentlichen Raum immer weniger polizeilich überwacht wurde. Einen Großteil dieser Funktionen übernahmen die Stadtplaner durch „bauliche Maßnahmen im Straßenraum“. Hierzu gehören in erster Linie die millionenfach verwendeten Straßenbegrenzungspfähle, auch Poller genannt.
Die alten Kooperationsformen zwischen Ordnungsbehörden, Tiefbauämtern und Baufirmen – nach Maßgabe der Richtlinien der Forschungsgesellschaft für das Straßenwesen (einem Verein von 2.300 Auto- und Straßenlobbyisten, dessen erste Vorsitzende die Autobahnbauer Todt und Speer waren) – wurden nach und nach abgelöst zugunsten neuer Machtverhältnisse, in denen Stadtplanungs-Firmen, Umweltdezernate und Vertreter von Regionalverbänden zusammenfinden. Parallel dazu ist ein neuer Industriezweig zu Wichtigkeit gekommen. Bereits 1985 frohlockten die Veranstalter der Frankfurter Messe „Public Design“ in einer Werbebroschüre: „Umweltgestaltung: Ein Milliarden-Markt. Dieses ‚Nebenher‘, das beim öffentlichen Tiefbau anfällt, stellt einen gewaltigen Markt dar. Es ist nicht einfach, diesen bisher noch nicht definierten Wirtschaftszweig Gestaltung öffentlicher Räume‘in Zahlen zu fassen.“
Überspitzt gesagt, geht das Gesetz, das nach Lacan der Phallus ist, im öffentlichen Raum auf die Poller über, die ebenso gewaltfrei wie stumm argumentieren. Man muß sich deswegen diese Scheißdinger genauer ansehen, sie sind meiner Meinung nach der zur Zeit wichtigste Ausdruck einer neuen Staatskunst, und im urbanen Raum stößt man sozusagen mit Schritt und Tritt an sie. Der Berliner Kunsthistoriker Michael Glasmeier sprach im Zusammenhang der sich ebenfalls rapide vermehrenden Skulpturen im öffentlichen Raum vom „Pollerwerden der Kunst“. Und der Frankfurter Kunstkritiker Peter Iden bezeichnet diese in Amerika verächtlich „Drop Sculptures“ genannten Platzverschönerungsobjekte als „Straßen-Möbel“: „Mit Kunst hat das oft sehr wenig zu tun, das ist städtisches Design.“ Andererseits „werden die Poller sowohl im Tiefbauamt als auch im entsprechenden Ausschuß der Bezirksverordneten-Versammlung als Kunstwerke behandelt“, erfahre ich vom stellvertretenden Amtsleiter der Tiefbau-Behörde im Bezirksamt von Berlin-Kreuzberg.
Halten wir fest: Es hat eine morphogenetische Interdependenz oder
auch „morphische Resonanz“ zwischen Kunst und Verkehrsregelung im öffentlichen Raum stattgefunden. Und ebenso wie die Poller werden auch die Außenplastiken immer öfter von – zumeist jugendlichen – „Tätern“ zerstört: „Daß die Kunstwerke in der Hitparade der Vandalen mit Telefonhäuschen, Parkbänken und Autoantennen (übrigens alles auch Vehikel der Kommunikation) die obersten Plätze belegen, läßt die Vermutung zu, daß die Skulpturen Aggressionen deshalb auf sich ziehen, weil sie einen anmaßenden Eingriff in die öffentliche Umgebung darstellen“, meint der Kunsthistoriker Walter Grasskamp. Und der stellvertretende Amtsleiter des Kreuzberger Tiefbauamts stöhnt darüber, daß die Poller „verhältnismäßig oft überfahren oder sonstwie beschädigt werden“. Darüber hinaus seien am 1. Mai 1987 etliche Poller im Bezirk zum Barrikadenbau zweckentfremdet worden. Man habe deswegen den Hersteller veranlaßt, zum einen das eingezogene Stahlrohr zu verstärken und zum anderen als Erdanker Bodenplatten ranzuschweißen: „Das gilt nur für den Wellmann, bei uns ist aber ja alles voller Wellmann-Poller“. In Zehlendorf, rund um das Hauptquartier der US-Berlin-Brigade, hat man ähnliches mit den dortigen Kegel-Pollern aus Beton gemacht: um moslemische Attentäter mit sprengstoffgefüllten Kraftwagen abzuhalten. Ironischerweise wurden die ersten Verkehrsberuhigungs-Versuche (Anfang der siebziger Jahre) mit baulichen Maßnahmen von Straßen-Anwohner-Initiativen –gegen die Polizei – initiiert, das war in Delft und Bremen.
Tatsächlich haben diese inzwischen zur staatlichen Lenkung urbaner Massenströme mutierten „Verkehrsabweiser“ ihren gleichsam (soften) friesischen Charakter aber bewahrt, nicht nur daß die Poller ursprünglich zum Festzurren der Schiffsleinen dienten, in Holland heißen sie „Amsterdamertjer“ (kleine Amsterdamer), und die Stadt wirbt mit ihren Pollern auf Postkarten für sich. Es gibt regelrechte Künstlerprogramme zur Verschönerung von Poller-Reihen im Amsterdamer Innenstadt-Bereich (auch in Karlsruhe gab es so etwas Ähnliches). Mit der Einbeziehung von immer mehr Planungsfirmen bzw. -konzepten setzte sich auch in den Berliner Tiefbauämtern langsam die Erkenntnis durch: „Mit den weißen Plastikpollern richtet man die Stadt zugrunde. Wir suchten nun gefällige Formen“, so der stellvertretende Kreuzberger Amtsleiter. Es traf sich, daß zuvor der Frankfurter Unternehmer Wellmann, Besitzer einer Gießerei in Ungarn, beschlossen hatte: „Jetzt wollen wir mal etwas richtig Schickes machen. Früher gab es in den Städten fast nur Mist.“ Heraus kam dann: „Die attraktive Lösung. Von Tiefbauämtern zur Zeit bevorzugt: Ein schlanker, schwarz patinierter Aluminiumpflock im Nostalgie-Look.“ Die Bezirks-Abgeordneten im Kreuzberger Bau-Ausschuß bezeichneten ihn prompt als „Kreuzberger Penis“ und verwendeten ihn bald massenhaft. Nicht nur sie, auch die Stadtväter in über 800 Städten der Bundesrepublik. Kein Wunder, daß sich jede Menge Poller-Piraten an diesen „Renner“ ranhängten: „Wir hatten mit einigen Nachbauten zu kämpfen, bis wir eine Verkehrsdurchsetzung erreichen
Von Tiefbauämtern zur Zeit bevorzugt: Ein schlanker, schwarz patinierter Aluminiumpflock im Nostalgie-Look.
konnten“, erzählt Herr Wellmann. Auf der anderen Seite sprach ich mit einem etwas älteren Mann, einem ehemaligen Seemann, der immer mal wieder nächtens irgendwelche ihm begegnende Poller aus ihrer Verankerung reißt, „umlegt“. Bisweilen versenkt er sie danach sogar noch in der Spree oder im Landwehrkanal. Sein hoffnungsloser Vandalismus ist kaum persönlich motiviert, er tut es aus Prinzip und als „Fußgänger“. Als „Wilmersdorfer“ kämpft ein ehemaliger FDP-Abgeordneter gegen „die Abpollerung der Stadt“. So hatte er in einer Kleinen Anfrage klären lassen, wie viel Poller in den letzten drei Jahren aufgestellt worden waren (die meisten in Wilmersdorf: 4000, die wenigsten in Spandau: 200). Der Abgeordnete möchte statt Poller wieder mehr humanoide „Ordnungskräfte“ einstellen. Auch der Deutsche Städtetag empfiehlt neuerdings statt baulicher Maßnahmen zur Verkehrssteuerung juristische. Die Verkehrsexperten im Deutschen Institut für Urbanistik können „das ästhetische Argument der Stadtverschandelung – durch Poller – nur zum Teil nachvollziehen“. Sie empfinden es „als zu liberalen Standpunkt, der vor der Wirklichkeit letztlich die Augen verschließt“. Es gäbe nur die Alternative „Poller oder Polizei“, wobei sie unter „Poller“ alle Arten von „Straßen-Möblierung“ fassen.
Bei der Senatorin für Stadtentwicklung und Umweltschutz hat man unlängst einen „Entpollerungs-Plan“ für ein verkehrsberuhigtes Gebiet gemacht, „weil die dort vielfach aufgrund der unterschiedlichen Kompetenzen zu eng stehen. Das ist schon mal ein Überpollern von der Menge her.“ (Gartenbauamt, BEWAG, Feuerwehr bestehen neben den Bauämtern auf eigene Abpollerungen.)
Vom Pressesprecher der AL-Senatorin bekomme ich später noch eine Studie über die Probleme Behinderter mit den neu gestalteten Straßen und Plätzen. Ein Satz sei daraus zitiert: „Poller und sie verbindende Ketten kamen in der Nähe des zweiten historisch geprägten Parks besonders häufig vor und entpuppten sich als gefährliche Hindernisse für die Blinden“. Zu eng an Pollern geparkte Autos oder abgelegte Gegenstände versperren Rollstuhlfahrern oft die Passage. Radfahrer sehen die meist grauen Pfosten bei schlechtem Wetter mitunter zu spät und verletzen sich daran. Flüchtende Demonstranten (aber auch Polizisten) drehen sich im
Laufen um und rennen gegen einen Poller – so etwa während des IWF-Kongresses geschehen. Ähnlich geht es vielen Kindern beim Spielen auf der Straße. Die Autofahrer – gegen die die Poller primär gerichtet sind – schreiten am ehesten zur Selbsthilfe, indem Sie immer mal wieder mit der Stoßstange ihres Wagens die störenden Pfosten an- bzw. umrempeln. Unter den vielen Werbestickern für Markenprodukte, mit denen man die Poller beklebt, gibt es deswegen auch einen selbstreferentiellen – mit der Aufforderung „Baby, hit me with your bumper!“ Noch eleganter ist die Zentrale der Berliner Bank das Problem angegangen: Ein Wink genügt dort, und der Pförtner versenkt elektronisch die Poller-Reihe vor der Ausfahrt. Eine Idee aus Düsseldorf: Von Borges könnte dagegen die Idee der scheinbaren Poller-Versenkung stammen, wie sie von immer mehr Planern favorisiert wird, mittels „Multifunktionalität“: Der Poller als Sitzplatz, Fahrradständer, Papierkorbhalter, Schildstange, Piktogramm-Halter, etc. Am Ende geht es uns wie den Blinden im Straßenraum jetzt schon: „Für die ist so ein Poller erst einmal ein unidentifizierbares Objekt“, verriet man mir beim Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz. Allein in Berlin habe ich – bisher – rund 600 verschiedene Typen gezählt. b
Dieser Text ist zuerst erschienen in Bauwelt, Thema: Gehen, H. 7/8, 81. Jg. (23. Februar 1990), S. 328-335. Er erschien kürzlich auch in dem unten vorgestellten Band. Noch mehr Pollerforschung unter: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/
Helmut Höge, taz-Autor der ersten Stunde, arbeitet im taz-Verlagshaus in der Berliner Rudi-Dutschke-Straße (vormals: Kochstraße) als Aushilfshausmeister.
Philipp Goll, der Herausgeber des ersten Teils der Kleinen Siegener Helmut Höge-Ausgabe versucht das Unmögliche, nämlich eine Schneise zu schlagen in das enorm facettenreiche Werk des taz-Autors, urbanen Beobachters und Pollerforschers Helmut Höge. Und er wählt dabei die einzig mögliche Methode, sich dem in zwanzig Jahren entstandenen und teilweise unveröffentlichten Text- und Bildmaterial zu nähern: er sucht sich einen emenkomplex bzw. ein Forschungsfeld Höges aus und versammelt in diesem stilvoll gestalteten Bändchen mit viel Sinn fürs Detail die programmatischen Texte, die Höge einem eher unscheinbaren Element der Stadtmöblierung, dem Poller, widmete. So arbeitet Goll anhand einer äußerst klugen Auswahl von Texten und eines aufschlussreichen Nachworts heraus, in welchem theoretischen und politischen Verweisrahmen Höge den Poller als Element der ‚Ordnung und des Widerstands im öffentlichen Raum‘verortet. Auch der nicht einfach zu beantwortenden Frage nach dem Genre der versammelten Texte widmet sich der Literaturwissenschaftler Philipp Goll in seinem Nachwort und optiert hier für die Einordnung außerhalb aller Genres – oder, um mit dem von Goll zitierten Michael Rutschky zu spechen, für die Einordnung in eine „eigene literarische Form, die grundsätzlich an die Zeitungen der großen Stadt, an die Existenz des Städtebewohners geknüpft ist“. Die LeserInnen dieser Texte werden nach der sehr zu empfehlenden Lektüre mit anderen Augen durch die Stadt spazieren und vielleicht bald selbst zu PollerforscherInnen werden.
Helmut Höge. Pollerforschung, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Philipp Goll, Kleine Siegener Helmut Höge-Ausgabe Bd.1, MuK 179/180, universi, Siegen 2010.
Bei diesen beiden Pollern vor einem Privatweg in Kladow hat einer der Anlieger – als passionierter Bastler – nicht nur zwei Griffe zum Rausheben rangeschweißt, sondern diese Griffe auch noch – wohl gegen die Kälte – mit zwei Plas kschonern versehen.
Mein Lieblings-Poller-Ensemble vor der Mauer in der Lindenstraße: Drei stützen bzw. schützen einen. Für gewöhnlich pollert das Tie auamt des jeweiligen Bezirks, aber daneben pollern auch noch die BEWAG, die Gartenbauämter, die Polizei und die Feuerwehr. Das ergibt o „schon mal ein Überpollern von der Menge her“, erfahre ich beim Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz.
Diese drei – auf der Verkehrsinsel Oranien-, Ecke Prinzenstraße – halten dagegen gar nichts. Immerhin: Man fragt sich unwillkürlich, was die da oben sich dabei bloß gedacht haben mögen? Ich habe es aber nicht rausbekommen. >
< Drei der versenkbaren Poller vor der Zentrale der Berliner Bank in der Hardenbergstraße. Beim Leiter der Abteilung Verkehrsplanung in der Düsseldorfer Stadtverwaltung erfahre ich, daß „die Dinger nicht ganz ohne sind“. 1. Wegen der Hydraulik: „Umweltprobleme . 2. Wegen der Unfallgefahr: „Immer unter Aufsicht hochlassen!“ In Düsseldorf gibt es „sechs oder acht solcher versenkbaren Poller-Ensembles“.
< Eine schöne kleine Verkehrsinsel in der Innenstadt. Der eine Poller in der Mi e hat eher symbolisch-ästhe sche Funk onen als verkehrsabweisende. Mit Blumenschalen will man allerdings in Zukun nicht mehr arbeiten: „Diese Waschbetondinger sind out, sage ich jetzt einfach mal so“, meint ein Planer beim Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz.
Text und Bilder von Antonia Herrscher
An einem Abend im Februar war ich mit einem Darmstädter Freund und seinem kürzlich von dort nach Berlin gezogenen Bekannten in den Seitenstraßen der Kreuzberger Oranienstraße unterwegs, als eine merkwürdige Konstruktion am Wegesrand Verwirrung in uns auslöste: eine offene Stelle im Asphalt, darin brauner Sand, so wie sie in vielen Straßen am Rande der Fahrbahn zu finden sind. Meist wächst darin ein Baum. In dieser „Baumscheibe“ jedoch fehlte dieser. Stattdessen befanden sich darin einige weiße Farbeimer, die mit einem rot-weißen Absperrband um eine alte Matratze gebunden waren. Auch die Holzleisten, die in unregelmäßigen Abständen am Rand der Scheibe in der Erde steckten, waren mit diesem Absperrband umwickelt. Hatte da jemand im Rausch seiner Neigung zur Street Art freien Lauf gelassen? Handelt es sich hier um den Versuch, einen Teil des Straßenraums unter Kontrolle zu bringen? Oder entstand hier gar ein weiterer sogenannter „Freiraum“ − under construction? Das Ganze hatte mit seinen RotWeiß-Signalen am meisten Ähnlichkeit mit einer Baugrube, die man ausgehoben hatte, um etwa an den Wasserleitungen zu arbeiten. „Ist das Kunst oder kann das weg?“, fragte mich dann auch Jan in Anlehnung an eine Radioshow im Hessischen.
Tatsächlich sind die Praktiken und Strategien dieser Eingriffe in den „öffentlichen Raum“ „von oben“ wie „von unten“ einander stets entsprechend. Der Alarm, den diese Konstruktion aussendete, sagte unmissverständlich, dass es sich hier um etwas ganz Wichtiges handelt, das auf keinen Fall weggeräumt werden darf. Voneinander lernen, entwickeln, tüfteln, sich aneignen. Dieses kollektive Basteln, das immer wieder das Gegenüber zitiert (die Signalwirkung eines Absperrbandes etwa, dessen Mimikry darin besteht, dass es als offizielles Zeichen bekannt ist), will den Raum unter Kontrolle bringen. Hier soll niemand durchlaufen, etwas abstellen oder auch nur einem Fleckchen Erde eine andere Prägung aufdrücken. Verhinderungsarchitekturen.
Um die Freiflächen, in denen die Straßenbäume stehen, vor Verschmutzungen (Hundekot, vom Partypöbel achtlos entsorgte Beck's-Flaschen, ausgediente Waschmaschinen) zu schützen, begannen in Berlin vor einigen Jahren − angeblich zuerst in Reinickendorf − Anwohner damit, diese mit kleinen Zäunchen zu
„In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf, anzufangen [...], während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird...“
- Gilles Deleuze
begrenzen. Zu diesem Zweck tat man sich mit Baumschützer-Bürgerinitiativen zusammen. In anderen Bezirken folgte man diesem Beispiel. Geduldet von den Bezirksverwaltungen, entstanden immer mehr gestaltete, umzäunte und bepflanzte Baumscheiben. Das Bepflanzen öffentlicher Freiflächen ist behördlich untersagt, jedoch beschränkten sich die meisten Bezirke darauf, auf die Baumschutzverordnung hinzuweisen, die regelt, welche Maßnahmen dem Straßenbaum schaden könnten und tolerierten die künstlerischgärtnernde Aneignung durch die Bürger wohlwollend. Immerhin ist auf diese Weise dafür gesorgt, dass die Flächen in trockenen Sommern ausreichend gegossen werden und die Bezirksverwaltung ist aus der Pflicht.
Das Mietermagazin titelte 2003 „Baumscheiben − Piraten willkommen!“ und begrüßte die zahlreichen Kiezinitiativen, die „dem verantwortungslosen Treiben rücksichtsloser Hundebesitzer etwas entgegensetzen“ − sogar von anonymen Pflanzpiraten war begeistert die Rede. „Bepflanzte Baumscheiben steigern im besten Fall nicht nur die Skrupel bei Hundebesitzern, sie verschönern zudem in den meisten Fällen das Erscheinungsbild der Straßen.“ Mittlerweile gibt es in jedem Bezirk Berlins einen „Baumscheibenberater“ und in allen Städten Deutschlands Baumscheibenpatenschaften, Baumscheibenwettbewerbe, sogar Ausschreibungen für Entwurfswettbewerbe, die diesen Gestaltungswillen wieder in geordnete Bahnen lenken − ganz professionell.
Was als eine Art Bepflanzungsguerilla begann, wurde bald zu einer kleinen Schlacht um die Gestaltungsrechte am schmalen öffentlichen Grün − besonders in den von Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur betroffenen Bezirken. Parolen wie „Reclaim the Streets“, „Die Stadt sind wir!“, „Have you ever squatted an airport?“ und „Dies ist ein Blumenbeet und kein Hundeklo!“ beackern die Frage, wem denn in Zukunft die Stadt gehört. Mit diesen Pflanzungen wird ein ganz kleiner Claim abgesteckt − ein Mini-Squat. Der Squat bezeichnet den Vorgang des sich Hinhockens, wie etwa beim Stuhlgang oder Urinieren. Besetzen also, sich aneignen. Vielleicht deshalb der andauernde Verweis auf die Hunde.
„Verschmutzen, um sich anzueignen?“ lautet der Untertitel des Es-
says Das eigentliche Übel von Michel Serres, der im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung bei Merve erschienen ist. Der Betreiber der „Film-Werkstatt“ in der Kreuzberger Manteuffelstraße betreibt dies bis zum Exzess: Die Baumscheibe vor seinem Ladenlokal hat er blickdicht umzäunt, die horizontal gegen Regen versiegelte (ganzjährige) Holzplatte auf dem Nähmaschinentischchen ausgesägt, und dann am Baumstamm befestigt, eine in die Erde eingelassene Babywanne bietet Platz für kleinteiligere Bepflanzungen, zusätzlich einige Pflanzkübel. Ein freischwingender Aschenbecher mit Betonbeschwerung markiert die nordöstliche Seite des etwa zwei Quadratmeter großen Anwesens, den Eingangsbereich flankieren zwei in die Konstruktion integrierte Straßenpoller. Auch die Tür zu seinem Laden hat er verpollert. Daneben stehen Einkaufswagen, die er im Sommer mit Pflanzen befüllt und allerhand kleine Behälter und Tische.
Hier ist in massiver Weise durchgesetzt worden, wofür an anderer Stelle bereits Zitate ausreichen. So manches Stadthündchen versteht schon den knöchelhohen Jägerzaun als Begrenzung einer No-GoArea. Für den Hundebesitzer findet sich noch ein Schild, auf dem ein durchgestrichener, hockender Hund zu sehen ist, oder auf dem „Dies ist kein Hundeklo!“ geschrieben steht. Auf einem Schild fand sich schlicht: „Bitte nicht kaputt machen!“ In der Erde einer vollkommen unbepflanzten Baumscheibe in Neukölln, die von einem winzigen und sehr filigranen Zäunchen umgeben war, und in dem ein winziger hölzerner Elch stand, steckte ein mannshohes Schild, auf dem zu lesen war: „Vorsicht Zaun“. Eine Frau, die eine kleine
Schneiderei in Kreuzberg betreibt, setzte zum Zeichen der Ironie einen Gartenzwerg zwischen die Stiefmütterchen. Eine Baumscheibe im Neuköllner Reuterkiez ist ganz schlicht mit einigen Stühlen, einem massiven Holzbalken und ein paar Zeitungsaufstellern begrenzt – auf dem einen lautete die BZ-Schlagzeile neulich: „Ihr Recht als Mieter in Berlin“. Und die Bild titelte „Hartz-IVEmpfänger auf Hundehäufchen-Streife“ und war damit gewissermaßen voll im Thema.
Nachts stolpern nicht Hunde, sondern Menschen regelmäßig über die kleinen Grenzsicherungsanlagen, die auch mal aus massiven Beton-Steinen gebaut sind, und beschweren sich dann am nächsten Morgen bei den „Betreibern“ − dabei handelt es sich meistens um die Ladenbesitzer gegenüber der kleinen Freifläche. In diversen Pro- und Kontra-Diskussionen, argumentieren auf der einen Seite Fahrradfahrer − die ihr Gefährt weiterhin wie gewohnt dort anschließen wollen − gegen die Beschlagnahme des öffentlichen Raumes zugunsten einiger Stiefmütterchen durch Anwohner und Gewerbetreibende, welche auf der anderen Seite den Baum mit ihrem Eingriff vor dem für ihn schädlichen Kot der Hunde schützen und dabei die Umgebung „auf kreative Weise verschönern und damit aufwerten“. Tatsächlich könnte man die Baumscheibe als eine erweiterte Innenarchitektur des gegenüberliegenden Gewerbes oder Wohnhauses bezeichnen. „Ich gehöre zu einem Raum, in dem ein bestimmter Ort mir zugehörig ist.“ (Serres) − Ein Referenzpunkt meines Wohnens oder Wirkens. „Wenn der Schrebergarten der Garten des ‚Kleinen Mannes‘ ist,
dann ist die Baumscheibe der Schrebergarten des ganz kleinen Mannes“, sagte eine Freundin neulich − wobei die meisten Baumscheiben allerdings von Frauen gepflegt werden, um die nächste Umgebung ihrer kleinen Unternehmung zu verschönern. Die Freundin merkte dann noch an: „In einer Straße mit lauter bepflanzten und eingezäunten Baumscheiben möchte ich nicht wohnen.“ Aus ähnlichen Gründen wehrt sie sich seit Jahren gegen die „Verschmutzung“ ihres Wohnumfeldes durch gebäudehohe und beleuchtete Werbeplanen an einem denkmalgeschützten Gasometer − ein Investitionsobjekt des Architekten Müller, auf dessen Konto unzählige solcher Werbeflächen in der Stadt gehen. Bei den wenigen von (türkischen) Männern gepflegten Flächen handelt es sich meist um Miniaturen eines Kräuter- und Gemüsegartens, denen es an Gestaltungswillen weitgehend fehlt.
Die Baumscheibe drückt dem erweiterten Privatraum seine Marke auf: Dem Biobackhaus gegenüber zeugt eine massiv gefertigte Bank von solider Handwerkskunst; vor der Wasserpfeifen-Bar hat der Besitzer eine Insel aufgeschüttet und eine Palme hineingestellt: totale Entspannung.
Das Wort „Markieren“, geht, wie Michel Serres behauptet, in seiner Ursprungsbedeutung auf den (Fuß-) Abdruck zurück, so wie ihn die Huren im alten Alexandria mit ihren Initialen versehen, verwendeten, um ihren möglichen Freiern den Weg zu ihnen zu weisen. „Die Vorstandschefs der von den Werbeagenturen auf den Plakaten der Stadt reproduzierten großen Marken werden hoch erfreut sein, zu erfahren, dass sie von diesen Huren, als deren artige Söhne, in einer Linie abstammen.“ (Serres 2008) Dies sind die „harten“ Verschmutzungen, so wie jedes Tier mit dem Kot und dem Urin sein Revier markiert. Im Gegensatz zu den „weichen“, wie etwa dem Gesang der Vögel, die einen Raum nicht besetzen können, sondern nur „mieten“, da der Gesang an ihre Anwesenheit gebunden ist und das Revier nur markiert, solange sie es nutzen. Es gilt weiterhin frei nach Rousseau: Wer einen Zaun baut und jemanden findet, der einfältig genug ist, zu glauben, dass das besetzte Land nun ihm gehört, der ist das ideale Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft. Befreit sich der Mensch von diesen harten Markierungen, muss er kontrolliert werden. Nur ist das alles komplizierter geworden: „...die Systeme haben sich immunisiert, indem sie komplexer wurden. Das war vorausgesehen. Sie haben sich gefestigt, indem sie toleranter wurden. Sie sind an den Revolutionär, den Irren, den Abweichler, den Dissidenten akklimatisiert. Ein Organismus kann sehr gut mit seinen Mikroben leben, er lebt besser, ja er gesundet an ihnen. Der Grausamkeit von Systemen mit einer Norm ist die unerbittliche Macht der Systeme mit mehreren Normen, mehreren Variablen hinzuzufügen, die jedes Mal eine Norm mit ihrer Gegennorm und ihren Einschließungsfunktionen verbinden. Auf der einen Seite tötet man, auf der anderen kastriert man. Einerseits schließt man ein, andererseits verteilt man Auszeichnungen. Die Toleranz ist die Rüstung der Intoleranz.“ (Serres 1980)
Das anfänglich guerillamäßige Bepflanzen der städtischen Freiflächen wird nun ebenfalls toleriert – und mit dem Hinweis auf die Einhaltung bestimmter Verordnungen, durch bezirklich ausge-
schriebene Wettbewerbe und das Siegel der Stadt unter Kontrolle gebracht. In diesen Rahmen gesetzt ist das eigenmächtige Umzäunen und Aneignen ein begrüßenswerter Akt der Verbürgerlichung. Nach Deleuze muss sich der Mensch ständig weiterbilden, um den höchstmöglichen Status in der Gesellschaft zu erreichen. Die „von oben“ wieder unter Kontrolle gebrachten „Verhinderungsarchitekturen“ der bepflanzten Baumscheibe (Zaun, Bank, Hinweisschild, Poller oder Pflanzkübel) ergeben einen immer elaborierteren „Schaltplan“ – ähnlich etwa dem im Innern eines elektrischen Senkpollers, der im richtigen Moment im Boden verschwindet und wieder auftaucht, oder dem ausgeklügelten System von Überwachungstechnik auf öffentlichen und privaten Plätzen. Hier spricht man auch von einer „Kontroll- oder Sicherheitsarchitektur“, die die Gesamtheit aller realisierten Sicherheitskonzepte und die daraus abgeleiteten technischen Sicherheitsmaßnahmen einschließt. So kommt es zu einer stetigen Verbesserung der Verhinderungsarchitektur und so „begreifen auch Zentren außerhalb der Inner-CityViertel Sicherheitsvorkehrungen inzwischen als integralen Teil der Planungs- und Managementstrategie.“ (Mike Davis, City of Quartz). Deleuze meinte, dass wir uns in der Krise der Einschließungsmillieus (Schule, Militär, Fabrik) befinden. Der Lebensweg führt nicht mehr stets in der vorhersehbaren Reihenfolge von einem Einschließungsmillieu zum nächsten, da diese sich aufzulösen begonnen haben oder komplexer geworden sind. Es sind gerade die von den jungen kreativen „Jobnomaden“ und Freelancern bewohnten Bezirke, in denen Menschen, für die es keinen Arbeitsplatz mehr in der Fabrik gibt, und die dort auch nicht mehr arbeiten wollten, ganz selbständig an kleinsten Formen dieser Einschließungszentren basteln und sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchen. Miniatur-Sicherheitszonen, in die man auch noch eine Webcam hängen könnte, um von zu Hause aus zu kontrollieren, ob da jemand seinen Müll hineinwirft. Deleuze und Guattari wun-
derten sich schon über den Schrebergärtner: „Es ist schon ein sonderbares Abenteuer des Wunsches, seine eigene Unterdrückung zu wünschen.“
Doch „während der Seßhafte“ einen geschlossenen Raum unter den Menschen aufteilt, „verteilt der Nomade die Menschen und Tiere in einem offenen Raum, der nicht definiert und nicht kommunizierend ist“ (Deleuze/Guattari). Anny Milovanoff kommt in La seconde peau du nomade (Die zweite Haut des Nomaden) zu dem Schluss: „Der Nomade hält sich an die Vorstellung seines Weges und nicht an eine Darstellung des Raumes, den er durchquert. Er überlässt den Raum dem Raum.“ Die Kommunikationsgewalt haben die Bezirke schon zum Teil zurückerobert, indem sie den Baumscheiben-Paten Schilder zur Verfügung stellen − mit dem Siegel der Stadt Berlin.
Auch der Künstler Christoph Schäfer von Park Fiction spricht von Verhinderungsarchitekturen − allerdings ausschließlich „von unten“ − und meint damit einen Eingriff in die heile Bausubstanz in von Gentrifizierung und Baumscheibenbegrünung betroffenen Bezirken: „Die Miete drück ich mir jetzt selber! Mit wenigen Handgriffen lässt sich das Erscheinungsbild ihrer Wohnung nach außen verschlechtern. Schon bald setzt der ‚broken windows effect‘ ein.“ Die Zerstörungen sollen umgekehrt zu den Baumscheiben eine Abund nicht eine Aufwertung des Wohnumfeldes erreichen. Auch diese Eingriffe finden unabhängig voneinander statt und ergeben dennoch einen kollektiven Prozess, aus dem gemeinschaftliche Strategien entwickelt werden, wie er behauptet. In seinem vor kurzem erschienenen Buch Die Stadt ist unsere Fabrik zitiert er den italienischen Sozialwissenschaftler Maurizio Lazzarato: „Die Invention ist nicht der prometheische Akt eines großen Mannes, sondern die Tat von ‚kleinen Ideen‘ (Leibniz), die von kleinen Männern getragen wird. Der Historiker und der Soziologe der Innovation täuschen sich, weil sie den Prozess der Kooperation nicht betrachten, bevor ein einzelnes Gehirn das Resultat daraus gezogen hat.“
Im Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft sind die persönlichen Biografien nicht mehr von aufeinander folgenden und vorhersehbaren Einschließungen bestimmt – wie etwa einer einmaligen Berufsausbildung und einem festen Arbeitsplatz oder einem Haus mit Garten, in dem man dann sein restliches Leben verbringt. Ständige Weiterbildung, hohe Flexibilität und permanente Bastelei an der persönlichen Biografie sind die Folge. In diesem Zusammenhang scheinen auch die kleinen und ganz kleinen Eingriffe im öffentlichen Raum ein Ringen um die Kontrolle in einem komplexen System zu sein, in dem nie jemand mit irgendetwas fertig wird. b
Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972-1990, aus d. Frz. v. Gustav Roßler, Frankfurt/M., 1993.
Michel Serres: Das eigentliche Übel; aus d. Frz. v. Elisa Barth und Alexandre Plank, Berlin, 2009.
Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus d. Frz. v. Walter Seitter, Frankfurt/M., 1993.
Antonia Herrscher, geboren 1973 in Hamburg, studierte Geschichte und Architektur. Sie ist freie Autorin und lebt in Berlin.
Die Stadt hat viele Geschichten, aber sie kann sie nicht erzählen. Dafür braucht sie LiteratInnen, die ihr zuhören, zuschauen, ihr Worte leihen – um die Geschichten, die sich in den Asphalt der Stadt einschreiben, in Sprache zu übersetzen. Und Verleger, die diese Bücher dann verlegen. Im vergangenen Jahr hat sich der Verlag asphalt & anders gegründet, der sich der besonderen Verbindung zwischen Stadt und Literatur verschrieben hat.
TextvonStefanMayrundNicoSchröder,denVerlegern
In unserer Anthologie Schau gen Horizont und lausche ist es so, dass die Stadt, der urbane Raum, das Hauptmotiv ist, und es erscheint tatsächlich so, dass die jeweiligen Städte, beinahe wie im Malte Laurids Brigge, die Geschichten an sich reißen, sie dirigieren und nicht nur die Protagonisten leiten und lenken, sondern auch die Autoren. Das kann dann eine gemeinsame Bewegung von Stadt und Mensch sein, aber auch eine divergierende; letztere ergibt vielleicht sogar die spannendere Perspektive. In Xóchil Schütz’ Text Hamburg am Ende etwa ist es deutlich zu spüren, wie die Stadt die Hauptrolle übernimmt und sich gegen die Menschen wendet. Bei Steffen Royes Bob Dylan im Beinbereich ist es ähnlich, nur dass die Hauptfigur der Stadt am Ende doch entkommt, nachdem sie sie lange Zeit festhielt. Eindrucksvoll beschrieben ist dies auch bei Tilman Rau, in dessen Vier Abende oder Eine Stillesuche in Barcelona die Stadt mittels Lärm und Chaos längst die Oberhand gewonnen hat und ein Paar nicht zusammenfinden lässt.
Bei der Auswahl dieser Geschichten, ja bei der Gründung und Ausrichtung des asphalt & anders Verlags haben uns unsere eigenen Erfahrungen mit Städten wie Los Angeles, Saigon, Istanbul oder Delhi stark beeinflusst. Diesen Erfahrungen gemein ist, dass man sich in solchen Städten rasch verliert, nicht im Sinne des Verlaufens, sondern man geht in Städten wie Saigon und Delhi, aber auch in den westlichen „Big Cities“ auf, in ihren Gerüchen, Farben, Stimmen, in Abertausenden Eindrücken, positiver wie negativer Natur. Und nach einer gewissen Zeit spuckt einen die Stadt regelrecht und einfach aus, wirft einen aus der Erzählung heraus und führt die eigene Geschichte unbeschadet und mit demselben Verve wie zuvor fort.
Der Charakter einer Stadt zeigt sich unseres Erachtens überall, ja er kann sich sogar außerhalb der Stadt, sozusagen in Abwesenheit, zeigen, und genau das macht die Stadt aus, dass sie sich in Tausenden Facetten, Blickwinkeln und Eindrücken zeigt, und dass sie vor allem mit der individuellen Perspektive des Betrachters wächst und sich verändert. Welche Perspektive dem Betrachter am ehesten zusagt, ist natürlich subjektiv; wir entdecken den Charakter einer Stadt gerne dort, wo nicht alle hinschauen, den Charakter Venedigs also nicht auf dem Markusplatz, sondern in den engen Gassen und auf den stinkigen Fischmärkten stadteinwärts. Und genau diesen besonderen, wenn man so will rauen Blickwinkel versuchen wir mit den von uns verlegten Geschichten aufzufangen,
etwa wenn Urs Mannhardt sich in Meine Straße zwar klar verortbar im Zentrum von Priština bewegt, aber ganz tief in die Winkel schaut; oder auch im Roman Der Schlaf und das Flüstern von Stefan Petermann, der die Stadt nur streift, nur erahnen lässt, so aber ebenfalls eine besondere Perspektive auf sie schafft.
Die Städte, in denen wir leben (Köln und Hamburg), die uns auf Reisen begeistert haben, und vor allem diejenigen, die Mittelpunkt der Erzählungen in Schau gen Horizont und lausche sind, treffen unseren Geschmack, denn sie tragen tatsächlich zahlreiche Kostüme, und schaut man einmal kurz woandershin, haben sie schon ein neues an, ob es einem gefällt oder nicht. Sie feiern abends, leicht und beschwingt, sie rufen einen zurück in die Heimat, sie lassen einen allein, sie tragen Trauer, sind schnell, hektisch, fies, kleinbürgerlich, offen, intolerant, gemächlich, sie riechen und stinken, sie verdecken einem die Sicht, sind trampelig oder müde, dunkel sind sie oft, manchmal auch einfühlsam und hell erleuchtet.
Ein guter Autor ist immer auch ein guter Spaziergänger – hier schließt sich der Kreis zu Rilke – und vor allem ein guter Betrachter. Er ist aufmerksam für die vielfachen Facetten der Stadt, aber er nimmt sie nicht nur auf und wahr, sondern filtert sie, kanalisiert, bricht und bauscht auf, er verknüpft sie mit Motiven und Erfahrungen. Die besondere Verbindung von Literatur und Stadt besteht vielleicht darin, dass der Literatur eine Momentaufnahme gelingt, sie kann einen Ausschnitt der Stadt, zeitlich und räumlich, festhalten und diesen begehbar machen für weitere Betrachter, wo immer sich diese befinden. Einen Großteil der Städte in Schau gen Horizont und lausche habe ich noch nie gesehen, aber dank unserer Autoren kann ich die Städte erahnen, fühlen riechen, ich kann mit den Autoren mitempfinden, wenn Ihnen die Stadt über den Kopf wächst – aber, und das ist der Nachteil an der Verbindung von Literatur und Stadt, ich als Betrachter bin nicht Teil der Stadt und der Erzählung, zumindest nicht voll und ganz. b
Schau gen Horizont und lausche. Ueber Städte, asphalt & anders Verlag, Hamburg 2009.
Katharina Hacker – 2006 für ihren Roman Habenichtse mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet – beschreibt in ihrer ersten Veröffentlichung das Leben in Tel Aviv. Die Protagonistin der Erzählung, die gerade aus Deutschland nach Tel Aviv zurückkehrt, erzählt von Beobachtungen und Erlebnissen aus dieser multikulturellen Stadt – den Cafés, den Menschen auf den Straßen. In vermeintlich unwichtigen Alltagsbeobachtungen entdeckt Katharina Hacker deren Sorgen, Ängste und Hoffnungen, die sich in Tel Aviv auf ganz besondere Art verdichten.
Katharina Hacker: Tel Aviv.
Edition Suhrkamp, Frankfurt 2009, 145 S., 3,95€
Die Autorin Kathrin Röggla und der Comiczeichner Oliver Grajewski berichten in ihrer Koproduktion Tokio, rückwärtstagebuch von ihren Erfahrungen in Tokio. Sowohl Rögglas tagebuchartige Dokumentation in Texten und Fotos als auch Grajewskis Zeichnungen und Texte erzählen in japanischer Manga-Tradition ihre Geschichten rückwärts. Es werden Erfahrungen des Fremden sowie kultureller Irritationen thematisiert. Autorin und Autor analysieren den urbanen Raum in seiner komplexen Realität voller Bewegung und Erschöpfung – Grajewski mit verschiedenen Zeichenstilen, Röggla in der für sie typischen Verweigerung traditioneller Erzählhaltung.
Kathrin Röggla/Oliver Grajewski: Tokio, rückwärtstagebuch.
Verlag für moderne Kunst, Edition starfruit, Nürnberg 2009, 152 S., 18,00€
War jewesen. West-Berlin 1961-1989
Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, bedeutete das nicht nur das Ende der DDR, sondern auch das Ende WestBerlins, wie es sich bis 1989 entwickelt hatte. Dem speziellen Lebensgefühl der Menschen West-Berlins – dieses einzigartigen soziokulturellen und politischen Raumes – gehen 20 Jahre nach dem Fall der Mauer zahlreiche AutorInnen dieser Anthologie nach: Günter Bruno Fuchs, Christiane F., omas Kapielski, Wolfgang Neuss, Hildegard Knef und viele andere. Die ca. 60 AutorInnen schreiben über alles, was jewesen war – persönliche Erinnerungen, politische Großereignisse und Aktionen, beliebte Ausflugsziele und architektonische Highlights.
Gabriele Wachter/D. Holland Moritz: War jewesen. Parthas Verlag, Berlin 2009, 280 S., 24€
Das Alphabet der Stadt. Kurzerzählungen
Im Alphabet der Stadt – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf – bewegt sich der taz-Autor René Hamann durch Berlin und beobachtet das Leben in der Hauptstadt. Die von 2004 bis 2007 in der tageszeitung erschienenen Szenen einer Stadt sind nun – ergänzt durch einige neue, etwas längere Texte – in einem Erzählband versammelt.
René Hamann: Das Alphabet der Stadt. Verbrecher Verlag, Berlin 2008, 120 S., 13€
Die versunkene Stadt Z
Der New Yorker Autor David Grann erzählt in seinem Buch Die versunkene Stadt Z vom Leben und den Forschungsreisen des britischen Landvermessers und Abenteurers Percy Harrison Fawcett. Der Autor berichtet von den meist unangenehmen und bedrohlichen Erfahrungen des europäischen Forschers im Dschungel Brasiliens, in dem er auf der Suche nach der versunkenen Stadt Z auf seiner siebten Reise schließlich verschwand. In die Beschreibungen der historischen Personen und Ereignisse mischt der Autor den Bericht einer eigenen Reise ins Amazonasgebiet, auf der der New Yorker 100 Jahre nach dem britischen Abenteurer größtenteils nur noch Zerstörung vorfindet. Wo Fawcett einst nach der versunkenen Stadt Z suchte, trifft Gran heute auf Baumstümpfe und Holztransporter.
David Grann: Die versunkene Stadt Z. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 392 S., 19,95€
at der Raum die Zeit überholt? Wenn man die starke Ausrichtung der Kulturund Sozialwissenschaften auf die räumliche Dimension betrachtet, könnte man dies annehmen. Diese an der Universität Siegen entstandene Anthologie versammelt Texte über die ‚räumliche Wende‘ aus verschiedensten Wissenschaften und fachspezifischen Perspektiven und ist in dieser Form weltweit einzigartig. Auch die Geographen als eigentliche Raumspezialisten melden sich zu Wort, so dass sich für den Leser ein umfassender Überblick über die Raumforschung eröffnet.
Jörg Döring/Tristan ielmann
Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften.
Transcript, Bielefeld 2008, 460 S., 29,80€
Semiopolis. Prosa der Moderne und Nachmoderne im Zeichen der Stadt
Alfred Döblin und Rainer Maria Rilke schufen die klassische Großstadtprosa der Moderne. Doch wie entwickelte sich das Genre Großstadtprosa in der deutschsprachigen Literatur weiter? Dieser Frage geht Erk Grimm in seinem Buch Semiopolis. Prosa der Moderne und Nachmoderne im Zeichen der Stadt nach und gibt einen Überblick über die Entwicklung dieses literarischen Genres. Der Autor beobachtet eine zeitweise Hinwendung zum verspielten Fabulieren, welches von zeitgenössischen Texten wieder durch komplexe Darstellungen von Metropole und deren Medialität aufgebrochen wird. So wird der Bogen zu den klassischen Großstadtautoren Döblin und Rilke gespannt.
Erk Grimm: Semiopolis.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2001, 354 S., 40€
Wer hat Angst vor Niketown?
Nike-Urbanismus, Branding und die Markenstadt von Morgen
Der Berliner Architekt und “Raumtaktierer” Friedrich von Borries stellt in seinen Analysen dar, wie der urbane Raum durch Nike zur neuen Markenstadt wird. Borries beschreibt die Instrumentalisierung des subkulturellen Stadtraums Berlins durch Nike und entwirft spekulative Zukunftsszenarien.
Friedrich von Borries: Wer hat Angst vor Niketown? Episode Publishers, Rotterdam 2004, 104 S., 15,95€
Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion
WHie muss die ideale Stadt aufgebaut sein? Diese Frage wurde in vielen politischen Systemen und zu verschiedenen Zeiten gestellt, aber wohl nirgendwo so intensiv und in so großen Dimensionen wie in der stalinistischen Sowjetunion. Denn dort wurde das „größte städtebauliche Experiment aller Zeiten“ gestartet. Ein nahezu ebenso komplexes Projekt ist mit diesem prämierten Sammelband umgesetzt worden, welcher eben jenen Städtebau unter Stalins Herrschaft in seinen verschiedensten Facetten behandelt.
Harald Bodenschatz/Christiane Post (Hg.)
Städtebau im Schatten Stalins.
1929-1935 Verlagshaus Braun, Berlin 2003, 416 S., 98€
Provinz und Metropole.
Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur
„Menschen sind keine Klein-, Mittel-, Großoder Riesenstädter; sie sind provinziell oder urban“, heißt es in der Einleitung des Sammelbandes Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur, herausgegeben von Dieter Burdorf und Stefan Matuschek. Viele literarische Texte sind hingegen sowohl provinziell als auch urban, zumindest wenn man der Programmatik dieses Sammelbandes folgt, der aus literaturwissenschaftlicher Perspektive das Spannungsfeld zwischen Provinz und Metropole untersucht – ein ema, das sonst vermehrt in den Sozial- oder Kulturwissenschaften verhandelt wird. Die hier behandelten literarischen Texte, z.B. Büchners Dantons Tod, zeichnen sich nicht durch eine explizite Reflexion des einen der beiden räumlichen Pole – Provinz oder Metropole – aus, sondern durch das Zusammenwirken beider.
Dieter Burdorf/Stefan Matuschek (Hg.) Provinz und Metropole.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008, 420 S., 55€
Welche Stadt mit über 200.000 Einwohnern hatte im Jahr 2008 wie viele Fälle von Straßenkriminalität pro 100.000 Einwohner?
1. Bremen 4771
2. Münster 4283
3. Köln 4214
4. Düsseldorf 4013
5. Hamburg 3975
6. Kiel 3793
7. Dortmund 3633
8. Lübeck 3629
9. Leipzig 3603
10. Magdeburg 3521
11. Halle/Saale 3391
12. Bonn 3329
13. Hannover 3212
14. Aachen 3149
15. Rostock 3139
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2008
Welche Stadt mit über 200.000 Einwohnern gab im Jahr 2005 wie viel Euro je Einwohner für Kultur aus?
1. Frankfurt 202,6 €
2. Leipzig 182,4 €
3. Karlsruhe 171,5 €
4. Mannheim 147,8 €
5. Bremen 147,1 €
6. Berlin 146,9 €
7. Hamburg 144,6 €
8. Stuttgart 144,3 €
9. Halle/Saale 144,2 €
10. Bonn 144,0 €
11. Düsseldorf 138,9 €
12. Magdeburg 136,6 €
13. Dresden 120,1 €
14. Freiburg/Breisgau 110,8 €
15. Erfurt 110,5 €
Quelle: Kulturfinanzbericht 2008
In welcher Stadt (ab 100.000 Einwohner) kommen wie viele Bioläden auf 100.000 Einwohner?
1. Freiburg 10,47
2. Regensburg 9,74
3. Heidelberg 8,24
4. Erlangen 7,62
5. Aachen 6,94
6. Kiel 6,75
7. Münster 5,84
8. Göttingen 5,76
9. Oldenburg 5,62
10. Bielefeld 5,25
11. Würzburg 5,24
12. Mainz 5,06
13. Solingen 4,95
14. Darmstadt 4,92
15. Siegen 4,79
Quelle: ZEITmagazin, Nr. 45, 29.10.2009
Man könnte: frühmorgens hinaus fahren. Hörte: das elektrische Lärmen des Weckers in der Dunkelheit. Schlägt die Augen auf. Spürt, wie das Bewusstsein sich aus den klebrigen Fäden eines Traumes heddert. Wie Müdigkeit den Körper in die Matratze presst. Man taucht den Fuß in das kühle Jetzt; wirft die Decke zurück. Steht auf. Steht. Man nimmt frische Kleider. Man geht ins Badezimmer. Duscht. Man zieht die Schuhe, die Jacke an. Geht hinaus, in den Wagen. Startet den Motor. Man fährt über die Hauptstraße, die man täglich fährt. Vorbei an geschlossenen Geschäften. An schlafenden Häusern. An blinden Fenstern. An irgendeiner Abzweigung. Hinaus aus einer Stadt, die gleichmäßig im Dunkeln liegt; weg, weit weg von Fabriken, Bahnhöfen, Straßenbahnen, Taxifahrern, Tankstellen, Supermärkten. In einen Wald, in dem es kühl ist. In den Nebel. Ins Dunkelgrün. Auf einen Parkplatz, der in zwei Stunden gefüllt ist, aber jetzt noch nicht. Auf dem jetzt noch das eigene Fahrzeug das einzige ist. Auf dem man sich
nicht sicher fühlt. Auf dem man sich erst sicher fühlt, wenn die Läufer, die Wanderer, die Sammler kommen; wenn die Alten kommen; wenn die Kinder, die Familien, die Fahrradfahrer, die Jugendlichen kommen. Anhalten. Die Tür öffnen. Die Kälte eines Noch-zu-früh. Die Füße auf den weichen Waldboden setzen. Der Geruch der Bäume. Das gefallene Laub. Der Nebel, der einen umschließt. Ein paar Meter hinauf auf ausgetretenen Wegen. Schnaufen. Hinter dem Hügel, das Wasser: eine weite Ebene. Grau hingegossen, wie die zähflüssige Farbe eines Bildes. Wie Abwässer einer Fabrik. In der Entfernung verschwindend: das andere Ufer. Das nur die Schemen der Bäume erkennen lässt. Von dem man sich fragt, wie es wäre, dort zu sein. Von dem aus man gerne einmal zurückblicken möchte. Man steigt hinab. Vorsichtig, um nicht auszurutschen. Klammert sich an Äste wie ein Kind. Das feuchte Moos unter den Fingern. Das Knacken brechenden Holzes. Das Kratzen der Zweige an der Haut. Setzt sich auf einen unbequemen, kühlen Stein. Im Wasser: eine Bewegung. Im Wald: ein Knacken. Sieht sich um. Stille. Wellen, die wieder ausglätten. Zieht die Knie an: ein träumender Junge! Wartet. Wartet, neben einer weggeworfenen Plastikflasche, bis die Sonne aufgeht. Bis der Nebel sich lichtet. Bis am anderen Ufer die Wohnhäuser, die Straßen, die Eisenbahnlinien erscheinen. Bis wieder Motorengeräusche erklingen. Bis Adidas-Schuhe über den Boden schleifen. Bis der Parkplatz sich füllt. Hofft, während die Sonne zunimmt, auf das Klingeln des Mobiltelefons. Auf eine vertraute Stimme, die fragt. Auf den Wagen, der einen sicher und schnell nach Hause bringt. Weiß, dass man sich wieder beruhigt, wenn die leisen Worte im Kopf deutlicher werden: „Man könnte. Aber warum sollte man?“ b
Michael Helwig studiert Philosophie, Informatik und Mathematik. Von 2007 bis 2009 war er Herausgeber der studentischen Zeitschrift für Geisteswissenschaften Umblicke und Aus/schnitte in Siegen.
Das Zentrum für Politische Schönheit, das wohl spannendste Projekt deutscher Künstler seit der Gruppe 47, wagt einen „Versuch eines poetischen Humanismus“. Auf der Suche nach einem neuen, moralischen Menschenbild bedient es sich vor allem der Aktionskunst, um die Menschen mit seiner Botschaft zu erreichen. Nur, wie lautet die?
Text von David Schmidt
Können Sie sich Jungminister Rösler vorstellen, wie er aus einem Bergschacht kriecht? Überall hätte er Ruß auf der Haut, im Gesicht, an den Händen, aber auch an den Kleidern, dem Jackett und dem weißen Hemd. Er käme aus dem Schacht gekrochen, richtete sich auf und brächte, mit nur zwei eingeübten Bewegungen, den Anzug flugs wieder in Form. Haben Sie das Bild? Dann denken Sie sich die gelbe Kravatte weg und den Liberalen irgendwo anders hin. Vor Ihnen steht Philipp Ruch, der Gründer des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS). Das Zentrum ist das wohl spannendste Projekt von Künstlern in Deutschland seit der Gruppe 47; Ruch, Jahrgang `81, einer der vielversprechendsten jungen deutschen Intellektuellen. ZEIT Campus wählte ihn jüngst unter die 100 Studenten, von denen wir noch hören werden, Dutzende Nachrichtenblätter nehmen auf ihn und die Gruppe Bezug, sogar von Alexander Kluge hat Ruch bereits Lob für seinen Film Über das Verschwinden erhalten.
Die ersten Begegnungen mit Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit irritieren ein wenig: Wollen sie unterhalten, amüsieren, sind sie gar ernst gemeint? Aber wie? Vor dem Reichstag findet eine Inszenierung mit Schauspielern statt, die in Megaphone sprechen. Es geht um die letzten Stunden vor dem Massaker in Srebrenica 1995, und wir betrachten eine Sitzung der UN, die im Angesicht des Holocausts nichts unternehmen wollen: 8.000 Kinder, Männer und Frauen werden getötet. Ein anderes Mal werden Bombenhüllen vor dem Reichstag platziert. Als Angela Merkel symbolisch ihre Stimme zur vergangenen Bundestagswahl in die Urne wirft, steht neben ihr eine Figur ganz in schwarzem Tuch verhüllt, steht einfach nur da, folgt dann der Kanzlerin und den Kamerateams langsam in den nächsten Raum, gespenstisch. Und im Internet finden sich diverse Videos, auf denen eine bildschöne Frau Menschen auf der Straße befragt: „Was ist das Größte, was du im Leben erreichen willst?“ In ihr Gesicht ist schwarzer Kohlestaub geschmiert, das Erkennungszeichen des ZPS. Als auch die X-te Person die Frage damit beantwortet, sie wolle Kinder haben, Glück und Wohlstand, überreicht die politische Schöne ihr einen Umschlag, darin liegen zwei Stücke Kohle.
Die Aktionen des ZPS sowie deren professioneller Auftritt im Internet und in den Medien zeugen sowohl von einer hohen poetischen Qualität als auch von gut beherrschtem Handwerk; vor allem die Videoproduktionen glänzen, deren Schmied anscheinend Bill van Bergen heißt. Die Aktionen, die Schriften, ja selbst die Portraitfotografien der Mitglieder des ZPS sind penibel durchdacht und aufwendig inszeniert. Die Gestalt im schwarzen Tuch: Das Gespenst der politischen Melancholie. Die Kohle, der Ruß, den die Artisten im Gesicht haben: Symbole für verbrannte Hoffnungen.
Die Bomben vor dem Reichstag erinnern an das UN-Versäumnis, das Massaker von Srebrenica zu verhindern. Was wir sehen ist fraglos Kunst, aber nicht Kunst um der Kunst willen. Die beschriebenen Darbietungen teilen Inhalte mit, die über den Selbstzweck weit
hinausgehen, und als wir uns mit Philipp Ruch in Berlin treffen, dem Chefunterhändler des ZPS, sprechen wir nicht über Kunst, wir sprechen über Politik. Die anfängliche Irritation weicht der Einsicht, woher sie rührt: aus jenem Kunstverständnis nämlich, welches dominant im 20. und den Anfängen des 21. Jahrhunderts war. Ruch hält es eher mit Schiller denn mit Yves Klein: Die Kunst soll in ihrer Autonomie nicht bloß sich selbst bedienen, sondern die Menschen zu einem besseren Selbst erziehen, sie soll ihnen helfen, das Schöne zu denken und so zum schöneren Handeln führen. Dass das ZPS neben seinen politischen Ambitionen den dominanten Kunstbegriff der Gegenwart derart in Frage stellt, kann Philipp Ruch nur mehr als recht sein.
Dennoch schwierig bleibt es, das Zentrum politisch einzuordnen. Am ehesten ließe sich vielleicht noch ein humanistischer Liberalismus attestieren; ein Liberalismus, der mit der Politik der FDP nur wenig gemein hat. Philipp Ruch, der das ZPS am 8. Mai 2009 ins Leben rief – dem Jahrestag der Befreiung Deutschlands –, ist ein Mensch mit gut durchdachten Ideen, der zu wissen scheint, wovon er spricht, der begeistern und überzeugen kann. Sieben Jahre lang studierte der Wahlberliner aus Dresden Philosophie und politische
Theorie, daneben Geschichte, Kulturwissenschaft und Germanistik. Mit Platon und Schiller ist er per Du, er zitiert viel, beruft sich dabei vor allem auf Schillers 9. Brief „Über die ästhetischen Erziehung des Menschen“. Nicht so gut kann er mit Marx. Der habe seine Politik nie erklärt. Es sei gefährlich, für eine Politik zu kämpfen, die eigentlich nicht weiß, wo sie hin will. Die liberale Marktwirtschaft hingegen wisse genau, was sie will. Unternehmer, stille Helden der Wirtschaft, die nicht der Gier verfallen, sondern durch Taten vorangehen: Das sind Menschen nach dem Gusto des ZPS. Überhaupt geht es vor allem um den Menschen, sein Selbstverständnis und sein Bewusstsein für richtiges Handeln. Ruch will in Deutschland keinen Systemwechsel herbeiführen, er ist kein Sozialist, aber er ist ein Verfechter moralischer Werte. Er glaubt nicht daran, dass Systeme, die davon ausgehen, der Mensch würde durch sie besser als er ist, für den Menschen besser funktionieren können als das unsrige. Er bemerkt eine große Resignation im Land, spricht von Lethargie und Verdrossenheit gegenüber dem Weltgeschehen. Insofern leben wir nach Ruch in einem System, dessen Dysfunktionalität erwiesen ist, das es aber nicht abzulösen, sondern zu verändern gilt. Nach einer „APO des 21. Jahrhundert“, wie sie die Berliner Zeitung entdeckt zu haben meint, klingt das nicht. Dem ZPS geht es nicht um eine andere Politik, sondern vor allem um einen anderen Menschen.
„Ich ahne, dass im 21. Jahrhundert mehr Menschen sterben werden als im gesamten 20. Jahrhundert gestorben sind. An den EUAußengrenzen gibt es schon heute mehr Mauertote‘als es jemals im Kalten Krieg an den Grenzen gegeben hat. Jeden Tag sterben weltweit 100.000 Menschen an Hunger, Krankheit und Krieg. Mindestens die Hälfte davon könnte gerettet werden, wenn wir es als Gesellschaft denn wollten. Unsere Kinder werden fragen: Was habt ihr damals eigentlich dagegen unternommen?“ Auch wenn er sich selbst nicht so bezeichnen mag – Ruch ist vor allem ein Künstler, und zwar einer, der genau weiß, welche Wirkung er beim Publikum erreicht, wenn er solche Zahlen nennt. Wachrütteln will Ruch und wachrütteln sollen die Aktionen, sie sollen an unsere Hoffnungen und Träume appellieren, uns zu mehr Verantwortungsbewusstsein führen, zu einem konsequent moralischen Handeln.
Politische Schönheit ist moralische Schönheit, so bringt es Ruch auf eine Formel. Für die Menschen, sagt er, müsse das Wichtigste auf diesem Planeten der Mensch sein, und es spielt dabei keine Rolle, wo dieser lebt. Genozide müssen verhindert werden, wenn man sie verhindern kann. Doch dazu sei die Gesellschaft nicht bereit: „Die Debatte darum, ob diese Gesellschaft bereit ist, Genozide zu verhindern, die wird nicht geführt.“ Auch der Krieg müsse in letzter Instanz legitimes Mittel zur Verhinderung des Holocaust werden, sagt er und verweist auf Fischer, der 1999 die Erinnerung an Auschwitz als Begründung für eine deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg heranzog. Schließlich könne es nicht „Nie wieder Krieg“ heißen, solange auch gilt: „Nie wieder Holocaust.“ Dass hierzu kein öffentlicher Diskurs stattfindet, sei aber kein Versäumnis der Politik, sondern müsse vor allem ein Thema werden, zu dem die Gesellschaft sich mittels der Kunst und der Presse äußert: eben so, wie das Zentrum für Politische Schönheit. Als ein „monumentales Symbol“ und „internationales Bekenntnis zur abendländischen Humanität“ wird dessen aktuelles Projekt „Seerosen für Afrika“ im Internet vorgestellt. Darin geht es um Menschen, die aus Verzweiflung den gefährlichen Weg über das Mittelmeer einschlagen, um in Europa ihr Glück zu versuchen. 67.000 Menschen versuchten allein im letzten Jahr, Europa auf dem Seeweg zu erreichen. Dieser immerwährende Flüchtlingsstrom kommt vor allem aus Libyen. Für viele der Menschen, die aufbrechen, um ein besseres Leben zu finden, endet die Reise im Tod, die Schiffe sinken oder bleiben auf hoher See liegen, weil sie zu wenig Treibstoff haben. Wer es doch bis an die Grenzen Europas schafft, den erwartet mit Sicherheit eines von 112 Schiffen der europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen Frontex, die den Auftrag hat, Flüchtlinge an der Einreise nach Europa zu hindern. Die sogenannten „Seerosen für Afrika“ stellen 1.000 schwimmende Plattformen dar, die im Mittelmeer platziert werden sollen. Auf sie sollen sich Schiffsbrüchige kurzzeitig retten können; Frontex hätte nunmehr die Aufgabe, die gestrandeten Flüchtlinge von den schwimmenden Plastiktellern zu retten.
Natürlich ist dieses Vorhaben keines, von dem Ruch glaubt, es könne ernsthaft das Ertrinken Tausender Menschen verhindern, die ohne
Seerosen für Afrika:
„Ein monumentales Symbol des 21. Jahrhunderts“
Treibstoff, Nahrungsmittel und Schwimmwesten, einhundert Seemeilen vom Festland entfernt, auf der rauen See treiben. Allein schon der für das Mittelmeer typische hohe Wellengang brächte das Projekt zum Scheitern. Auch mit dem Projekt „Seerosen für Afrika“ will das ZPS offenbar vor allem irritieren, Aufsehen erregen und ein Zeichen setzen, das ganz an und für sich ein moralisch Schönes ist. Dass die Aktionen der Politischen Schönheit von vielen falsch aufgefasst werden, zeigt schon ein kurzer Blick in die Presse. Derart dramatische Themen wie den Völkermord zu behandeln, sie aber nicht klipp und klar zu besprechen, sondern metaphorische Aktionen an ihrer statt sprechen zu lassen, bringt einige Schwierigkeiten in der Verständigung nach außen mit sich: Wer nimmt die Ideen zu wörtlich, wer erkennt sie als Bilder, sieht auch den wichtigen Ernst darin? Will man nicht nur provozieren, sondern jene Diskurse, an denen Ruch so viel liegt, tatsächlich anstoßen, dann kann es nicht sonderlich dienlich sein, die Interpretation des eigenen Tuns nur anderen zu überlassen. Ruch wird sein Anliegen in den kommenden Jahren immer wieder umfassend erklären müssen.
Immerhin, viele sind inzwischen aufmerksam geworden auf die Aktionen des Zentrums, täglich werden es mehr, die sich über facebook und twitter zu Anhängern des politisch schöneren Denkens bekennen. Irritation schafft eben auch Neugier, und die Anziehungskraft schöner Bilder ist hinreichend bekannt. Ob die Gruppe für ihre Themen mehr Gehör fände, wenn sie als Partei auftreten würde, ist fraglich. Alleine Ruchs Thesen zum Krieg als Mittel gegen den Holocaust enthalten genügend Sprengstoff, um jeden Stammtisch zu spalten. Das ZPS ist laut Ruch der „Versuch eines poetischen Humanismus’“. Nach allem was wir gehört haben, ist es besonders der Versuch eines moralischeren Menschen. Denn das Zentrum der Politischen Schönheit ist nach dem Prinzip der Menschheit organisiert: Viele denken, manche handeln.
David Schmidt studiert Philosophie und Literaturwissenschaft. 2006 beteiligte er sich an der Gründung von fool on the hill und ist seitdem Mitglied der Redaktionsleitung.
Aktionskünstler Philipp Ruch und Nina Van Bergen: „Versuch eines poetischen Humanismus“Philipp Ruch - Zentrum für Politische Schönheit
Wie schön sind unsere Medien?
Vier esen über den Umgang der deutschen Medien mit Menschenrechtsthemen
Alle Menschenrechtsorganisationen kämpfen mit demselben Problem: die klassischen Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit versagen ihnen unter der Hand. Pressemitteilungen werden nicht gelesen, hartnäckiges „Lobbying“ versandet im Nichts, sogar Interventionen in den Chefredaktionen führen nur zu Verlegenheitsgesten.
Die Berichterstattung über die Belange und Interessen von Krieg, Hunger und Verfolgung betroffener Menschen findet im besten Falle noch an der Medienperipherie statt. Journalistinnen und Journalisten erstatten ihrer Gesellschaft keinen Bericht mehr. Dadurch wird eine ganze Gesellschaft in den Zustand von Ahnungslosigkeit versetzt.
Beispiel: Am 7. Januar 2010 warnten 140 Menschenrechtsund Hilfsorganisationen vor einem Krieg im Süden des Sudan. Am selben Tag vermeldete die UNO ein Massaker an 139 Zivilisten in einem Dorf im Südsudan. Die klassischen Muster für eine breit gefächerte Medienberichterstattung waren gegeben. Die deutsche Presse reagierte, mit ehrenwerten Ausnahmen wie dem Glocalist, dem Online-Angebot der Süddeutschen Zeitung und dem Berliner Kurier, mit Schweigen. Die Öffentlichkeitsarbeit von 140 Hilfsorganisationen konnte nichts ausrichten gegen die Selektionskriterien der deutschen Medien.
Darauf müssen wir reagieren.
THESE 2: BERICHTERSTATTUNG IST DIE MÜNDIGSTE FORM DER ERZIEHUNG.
Im selben Moment, in dem sich ein bis dato gänzlich unbekannter Fußballspieler der Nationalmannschaft im Herbst 2009 vor einen Zug wirft, verhaften Fahnder des BKA sozusagen im Schatten Ignace Murwanashyaka. Der Fall ist spektakulär: Murwanashyaka war Chef ruandischer Paramilitärs im Kongo. Er organisierte und steuerte die FDLR, so der Name der Truppen, von Mannheim aus. Jahrelang. Die deutschen Behörden versuchten, ihn wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsbestimmungsrecht dranzukriegen. Das ist so, wie wenn man einem Mörder den Prozess wegen unbezahlter Abfallgebühren machen wollte.
Die Geschichte des Fußballspielers landet auf den Titelsei-
ten, der tote Nationaltorwart wird posthum zur Galionsfigur Deutschlands verklärt. Berichte über die erste Festnahme eines auf deutschem Staatsgebiet gefassten internationalen Kriegsverbrechers, nach den Bestimmungen des Völkerrechts, landeten im hinteren Teil der Zeitungen. Fernsehsender zogen erst Monate später nach und mussten alle Aufnahmen aus dem Kongo mit „Archiv“ überschreiben. Weder Justiz noch Journalisten haben die Ungeheuerlichkeit genozidaler Kriegsführung wirklich verstanden. Im Kongo sind in den vergangenen dreizehn Jahren mindestens fünf Millionen Menschen gestorben. UNO, Human Rights Watch und Amnesty International warnten die Behörden ab 2001. Aber die Justiz interessierte sich nicht für Ignace Murwanashyaka. Und die Medien, die auf die Behörden hätten Druck ausüben können, auch nicht.
Wir beklagen uns nicht über die Boulevardmedien: Die „seriösen“ Medien haben jedes Maß für ausgewogene Berichterstattung verloren. Sie berichten über 13 Tote in Fort Hood, nicht aber über 138 Tote in Guinea (Massaker vom 28. September 2009). Sie berichten über fünf Opfer der Schweinegrippe, nicht aber über 50.000 Tote, die die weltweit grassierende „Hungergrippe“ Tag für Tag fordert. Unnötig Gestorbene. Wir hätten ihren Tod verhindern können. Die medialen Auswahlkriterien kommen in den Augen aller, die sich für die Menschenrechte einsetzen, einer Kriegserklärung gleich.
Worüber einer Gesellschaft Bericht erstattet wird, ist eine Form der Erziehung. Womöglich die dezenteste. Was lernt ein Jugendlicher über den Wert des Menschen aus der Presse? Was ihm vorgelebt wird, ist dies: dass 13 Tote in Amerika „irgendwie“ mehr wert sind als 130 Tote in Guinea. Dass der Tod eines bis dato völlig unbekannten und unbedeutenden Nationalspielers der Fußballmannschaft „irgendwie“ berichtenswerter ist als der Tod von 100 Menschen am Tag, die vor der „Festung Europa“ ertrinken.
Deutschland ist der drittgrößte Waffenhändler der Welt. Im Wahlkreis des Chefs der CDU/CSU-Bundestagsfraktion befindet sich ein Unternehmen, dass die zweitmeistgebrauchte Waffe nach der Kalaschnikow produziert. „Made in Germany“ bedeutet in den Krisengebieten dieser Welt eben nicht „BMW“ oder „Mercedes“, sondern „G3“: ein deutsches Sturmgewehr.
Die Medien tanzen wie ein afrikanischer Stamm um die Fetische „CDU“ und „SPD“ (die sie mit Politik verwechseln). Politik ist die höchste Form der Kunst, hat Schiller einmal gesagt. Die Politiker dieses Landes sind in ihrem Fetischismus unerträglich: sie opfern sich monatelang für die weltweit
„Wenn die Jugendlichen des reichsten und mächtigsten Landes der EU, eines Landes, dessen wirtschaftliche Leistung sich seit 1960 verdreifacht hat, überzeugt sind, in einer instabilen ökonomischen, politischen oder mentalen Welt zu leben, worin befinden sich geschätzte drei Milliarden der Weltbevölkerung, die von Hunger, Tod und politischem Wahnsinn verfolgt werden?“
25.000 Angehörigen des Volksstammes „Opel“ auf, anstatt diese Energien in unser aller Zukunft zu investieren. Lange vor der „Finanzkrise“ sagte ein deutsches Mädchen, gefragt danach, wie sie die Zeit empfinde, in der sie lebe: „Seit ich denken kann, herrscht Krise.“ Uns würden die Gefühle dieses Mädchens heute, drei Jahre und siebzehn Krisen später, interessieren. Die Quittung für diesen Exzess, diese Hysterie, diese journalistische Maß-, Regel- und Verantwortungslosigkeit wird uns alle erreichen, wenn diese Generation politische Entscheidungen zu treffen hat. Eine Aufgabe, die von heutigen Politikern keineswegs beispielhaft vorgelebt wird. Wenn die Jugendlichen des reichsten und mächtigsten Landes der EU, eines Landes, dessen wirtschaftliche Leistung sich seit 1960 verdreifacht hat, überzeugt sind, in einer instabilen ökonomischen, politischen oder mentalen Welt zu leben, worin befinden sich geschätzte drei Milliarden der Weltbevölkerung, die von Hunger, Tod und politischem Wahnsinn verfolgt werden?
Es ist eine unausgesprochene Tatsache, dass im Jahre 2010 in Deutschland selbst Tiere politisch besser geschützt werden als Menschen. Es erinnert an den Zoo von Sarajevo, wo während der dreijährigen Belagerung ein Gorilla von einem serbischen Scharfschützen erschossen wurde. Der Tod des Gorillas brachte eine mediale Lawine ins Rollen, die 11.000 tote Bosnierinnen und Bosnier zuvor nicht in Gang bringen konnten. „Gorilla müsste man sein“, zitiert auch Hans Christoph Buch seinen ruandischen Fahrer 1994. „Heute geht es ihnen besser als uns Menschen; sie leben in Reservaten, sind
vor Wilderern geschützt und bekommen regelmäßig zu fressen.“ Dieser Nachrichtenselektionsmechanismus kommt einer Kriegserklärung gleich.
Ein Teil der Schuld liegt in der Natur der Sache: Menschenrechtsverletzungen, bei denen so viel mehr als „Rechte“ verletzt werden, müssen zunächst dokumentiert werden, sich den Weg aus der politischen Zensur bahnen. Danach erschöpfen sich die Kräfte der etablierten Menschenrechtsorganisationen. Amnesty International versendet als Gegenstrategie Briefe aus den reichsten Weltteilen an die Diktatoren der Welt. Human Rights Watch schreibt erstklassige Berichte. Aber keine dieser Organisationen trägt „Wissen“ auf die Straße. Keine hat es geschafft, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Präzedenzklage einzureichen gegen die EU-Mitgliedsstaaten wegen gezielter Tötungen zur „Sicherung“ der Außengrenzen. Keine Organisation ist auf die Idee gekommen, Rettungsinseln für die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu bauen.
Wenn einen die Nachrichtenselektionsmechanismen anwidern, hat man zwei Möglichkeiten als Menschenrechtler: Entweder weiterhin an den Bildungsauftrag von Journalisten appellieren, dass Menschen tagtäglich sterben, gerade weil wir nichts dagegen unternehmen. Oder die Journalisten bedienen mit Lärm, Sensation und Hysterie. Eine eigentümliche Verbindung, wie sie Greenpeace in den 1990ern für die Umweltthemen erfolgreich vorgelegt hat. Deutschland besitzt heute die umtriebigsten Umwelt- und Tierschützer. Fehlt da nicht etwas?
Der britische Historiker John Paul Davis kratzt am Image von Robin Hood und behauptet in einer Studie, der Volksheld sei gar nicht der selbstlose Freund der Armen gewesen, der seine Beute mit ihnen teilte – Robin Hood habe ihnen das Geld nur geliehen. Eine frühe literarische Darstellung über sein Leben aus der Zeit um 1500 dient Davis dafür als Beleg. In dieser Erzählung werde geschildert, wie Robin Hood mit einem verarmten Ritter über Kredit-Garantien verhandele. Der Held war in Wahrheit also nichts anderes als ein früher Kredit-Hai.
Der Informatiker Thorsten Strufe von der TU Darmstadt arbeitet an einem sicheren Gegenentwurf zum Netzwerk „Facebook“, das u.a. von Stiftung Warentest in Bezug auf die Sicherheit der Nutzerdaten als mangelhaft eingestuft wurde. Strufes „Safebook“ schützt die Daten seiner Nutzer, indem es keine zentrale Stelle haben soll, die Zugriff auf alle Daten hat. Auf diese Weise wird verhindert, dass sowohl Betreiber als auch Hacker eine Möglichkeit haben, Nutzerdaten zu missbrauchen. Der Informatiker bastelt schon seit eineinhalb Jahren mit zwei Kollegen an „Safebook“ und möchte Ende des Jahres damit online gehen.
Den Sprachenpreis der „Vrijen Universiteit Amsterdam“ erhielt vor Kurzem der niederländische Fußballspieler Mark van Bommel, zur Zeit in Diensten von Bayern München. Unter den Fußballern, die nicht gerade dafür bekannt sind, eloquente Interviews zu geben, scheint er eine Ausnahme zu sein – die Hochschule lobt in ihrer Begründung besonders, dass der Spieler gut argumentiere und analysiere, sich bewusst ans Publikum wende und die üblichen Floskeln vermeide. Van Bommels Auszeichnung ist bereits der zweite Rhetorik-Preis innerhalb von zwei Wochen für ein Teammitglied von Bayern München. Sein Landsmann und Trainer Louis van Gaal war zuvor vom Magazin „Deutsche Sprachwelt“ ausgezeichnet worden.
Sex-Videokabinen sind keine kulturelle Einrichtung
Kinos sind kulturelle Einrichtungen und müssen deshalb nur den ermäßigten Mehrwertsteuersatz ans Finanzamt abführen. Diese Vergünstigung wollte nun der Inhaber eines belgischen ErotikCenters auch für sein Geschäft beanspruchen und klagte beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg: seine Sex-Videokabinen seien auch Kinos. Das sahen die Richter anders: Da der Besucher die Filme in den Kabinen einzeln und nicht in der Gruppe ansehe, müsse weiterhin der volle Mehrwertsteuersatz gezahlt werden. Herkömmliche Sexkinos dagegen können dem Urteil zufolge weiterhin steuerlich als kulturelle Einrichtungen eingestuft werden.
Das Stadttheater Konstanz nimmt Bertolt Brechts Idee vom Lehrstück ernst und lädt die Mitarbeiter der Drogeriemarkt-Kette „Schlecker“ zum kostenlosen Besuch des Brecht-Stückes „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ ein. Brecht beschreibt in diesem Stück die Zustände auf dem Schlachthof von Chicago zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1930 und thematisiert vor allem Rationalisierung, Entlassungen, schlechte Arbeitsbedingungen und Lohnsenkungen – Themen, die auch „Schlecker“-Mitarbeitern nicht fremd sein dürften.
Der Nachlass des Schriftstellers David Foster Wallace, der seinem Leben 2008 selbst ein Ende setzte, wurde an die Universität Texas verkauft. Unter den Sammlungsstücken sind sowohl Manuskripte als auch Kuriositäten wie Listen, auf denen David Foster Wallace seltene Wörter sammelte oder auch frühe Kindergeschichten. Bonnie Nadel, die frühere Agentin des Autors, sagte, Wallace sei ein Messie gewesen, der seine zahlreichen Papiere in einem chaotischen Zustand hinterlassen habe. Außerdem zeige der Nachlass, wie genau Wallace bei seiner schriftstellerischen Arbeit vorgegangen sei.
Bundeswehr-Radio streicht Rammstein
Der Armeefunk für die Bundeswehrsoldaten in Afghanistan muss zukünftig u.a. ohne die Musik der Berliner Rockband Rammstein auskommen. Hauptmann Christian Wahl erklärte dazu der Musikzeitschrift Rolling Stone, dadurch könne ein verzerrtes Bild Deutschlands im Ausland entstehen. Aber auch Karnevalslieder fliegen am Hindukusch aus der Playlist. Hauptmann Wahls Erklärung dazu: „Stellen Sie sich vor, ein Soldat gerät unter Beschuss und hört die Zeile: Da simmer dabei, datt is pri-ima...“.
dem Papier liegt ihr iPhone, in dem sie von Zeit zu Zeit die Twitter- und Facebook-Seiten der Aktion abruft. Sie und eine GoogleGroup helfen dem kleinen Team, sich zu organisieren und die Aktion bekannt zu machen.
Kampf für den Klimaschutz setzen AktionistInnen auf ungewöhnliche Mittel
Text von Linda Richter
Eine Karotten-Kette baumelt vor dem Eingang des kleinen Kiosk-Cafés. Im Geschäft warten sieben Leute in einer Schlange, immer wieder kommen neue KundInnen hinein. Sie verbindet ein Ziel: Einkaufen für den Umweltschutz. Kaugummis, Limonade, Zigaretten oder Bier, alles, was an diesem Samstag über die Theke des Bremer Kiosks Que Pasa Amigos geht, kommt der Umwelt zugute. Die Hälfte des Tagesumsatzes wollen die Besitzer ins Energiesparen investieren. Das haben sie mit den OrganisatorInnen des Carrotmobs ausgemacht.
Der Carrotmob ist eine neue Aktionsform aus den USA, die nach dem Flashmob-Prinzip funktioniert. Ähnlich wie eine Möhre einen Esel anspornt, soll eine Kundenschar Geschäfte dazu verlocken, ihre Läden umweltfreundlicher zu machen. Die Carrotmob-Organisatoren mobilisieren Menschen über soziale Netzwerke im Internet dazu, an einem bestimmten Tag in einem Geschäft einkaufen zu gehen. Einen Teil des Umsatzes investieren die BesitzerInnen dann in umweltfreundliche Maßnahmen. In Berlin, München und Frankfurt fanden die Aktionen bereits statt. Und auch in Bremen ist der Karotten-Mob nun eingefallen.
„Wissen wir schon, was mit den Einnahmen am Que Pasa verändert werden soll?“ Fragend schaut Jaisha Elena an. „Am Mittwoch treffe ich mich mit der Energieberaterin und rede mit ihr darüber“, antwortet sie. Nachdem die Gruppe ihr Konzept 30 verschiedenen Geschäften im Viertel vorgestellt hatte, gab es drei Läden, die mitmachen wollten. Das Kiosk-Café Que Pasa Amigos machte das höchste Angebot. 50 Prozent der Einnahmen wollen sie in Energiesparmaßnahmen stecken. Doch das war erst der Anfang: Um das Geld sinnvoll investieren zu können, soll der Laden zunächst von einer Energieberaterin evaluiert werden. Damit am Tag des Carrotmobs viele KundInnen kommen, will die Gruppe nicht nur über soziale Netzwerke, sondern auch mit Flyern, Postern und Buttons werben
Das Geld für die Organisation ist knapp. „Bei unseren Anfragen in Geschäften waren zwar nicht alle bereit mitzumachen, einige spendeten aber“, sagt Jaisha. Rund 100 Euro konnte die Gruppe sammeln. Den Rest müssen sie selbst finanzieren oder neue SpenderInnen finden.
Der Carrotmob ist eine neue Aktionsform aus den USA, die nach dem Flashmob-Prinzip funktioniert. Ähnlich wie eine Möhre einen Esel anspornt, soll eine Kundenschar Geschäfte dazu verlocken, ihre Läden umweltfreundlicher zu machen.
Einen Monat zuvor, im Internet-Café Lift: Jaisha Laduch sitzt zusammen mit sechs anderen OrganisatorInnen des Carrotmobs um einen kleinen Holztisch. Die Online-Redakteurin und Kulturwissenschaftsstudentin hat selbst an einem Carrotmob in Berlin teilgenommen. „Das Prinzip hat mich sofort begeistert und ich wollte dabei helfen, es auch nach Bremen zu bringen“, sagt sie. Die sieben StudentInnen, Azubis und SchülerInnen, die zum wöchentlichen Planungstreffen gekommen sind, kannten sich vorher nicht. Die meisten von ihnen erfuhren im Internet von der Aktion und fanden dort zusammen. Seit November treffen sie sich wöchentlich, um den Carrotmob zu planen.
Jaishas Gesicht versinkt in ihrem Wollkragenschal, während sie auf ihrem Notizblock die anstehenden Aufgaben durchgeht. Neben
Über derart knappe Budgets denkt Brent Schulkin aus San Francisco nicht mehr nach. Der Erfinder des Carrotmobs hat seine Idee in ein Geschäftsmodell verwandelt. Zusammen mit Steve Newcomb, einem IT-Experten aus dem Silicon Valley, gründete der Aktivist und Filmemacher aus San Francisco Virgance. Das Unternehmen entwickelt und kauft Kampagnen auf, die nach dem Carrotmob-Prinzip funktionieren. 1Bog ist eines dieser Projekte. Es verfügt nach Angaben von Virgance über rund 280 Millionen Euro Finanzierungskapital. Bei 1Bog schließen sich HausbesitzerInnen über ein Online-Netzwerk in Gruppen zusammen, um Solaranlagen zu kaufen. Je größer die Gruppe, desto höher wird der Rabatt, der mit den Herstellern ausgehandelt wird. Über 550 Solaranlagen wurden durch die Internetaktion in den USA bereits errichtet. Mehr als 300.000 AnhängerInnen folgen ihr auf Twitter.
124 Follower‘hat der Bremer Carrotmob am Tag des Events. In Munir Akbaris Kiosk kaufen mehr Kunden ein als an einem gewöhnlichen Samstag. „Wir haben schon 30 Prozent mehr eingenommen als sonst“, sagt der gebürtige Afghane. Dabei ist der Carrotmob für ihn nur bedingt lukrativ. Er und seine Angestellten arbeiten heute umsonst, damit möglichst viel Geld zusammenkommt. „Dafür wird es sich langfristig auszahlen“, sagt er.
Aber können Web 2.0-Kampagnen langfristig wirklich ökologische Bewegungen verstärken? Der Soziologe Dieter Rucht bezweifelt das. Am Wissenschaftszentrum Berlin erforscht er soziale Bewegungen. „Die Rolle des Internets als Mittel der Politisierung
wird reichlich überschätzt“, sagt er. Internet-Aktionen, die sich rasant ausbreiten, seien nur Einzelfälle. Denn in der Regel werde in sozialen Netzwerken Menschen nicht von neuen Ideen überzeugt. „Es bilden sich hier vielmehr Teilöffentlichkeiten, in denen die eigenen Ansichten wechselseitig verstärkt werden.“
Jaisha freut sich über die vielen KundInnen. „Die vergangenen Tage waren anstrengend, deshalb ist es schön, dass es jetzt ganz gut läuft.“ Auf soziale Netzwerke allein wollten sich die Initiatoren nicht verlassen. Sie entwarfen Flyer. Der BUND bezahlte die Druckkosten. KunststudentInnen fertigten Poster an, die die Carrotmobber in Bremen aushingen und der AStA der Uni Bremen half dabei, die Buttons anzufertigen.
Am Ende des Tages hat der Carrotmob den Tagesumsatz des Que Pasa Amigos verdoppelt. 1.765 Euro sind insgesamt zusammengekommen, 880 Euro investiert Munir Akbari ins Energiesparen. Ökostrom soll in Zukunft den Laden mit Energie versorgen und durch neue Sensoren in den Kühlschränken sollen Bionade und Co energiesparend gekühlt werden.
Weitere Informationen zum Carrotmob gibt es im Internet unter: http://www.carrotmobberlin.com und http://carrotmob.org.
Linda Richter studiert Journalismus an der Hamburg Media School. 2006 war sie an der Gründung des fool on the hill beteiligt.
Kunstbruch: Literatur
Jeden Abend zur gleichen Zeit versammeln sich Hunderte Krähen am Himmel über dem Schlossplatz. Sie fliegen eine ganze Weile hin und her, um dann, müde und gemeinsam zufrieden, in den Bäumen der Gegend Schlafplätze zu finden und in der Sicherheit des Vielseins zu übernachten.
Unter Touristen gilt dieser Anblick als Geheimtipp.
Habe ich Zeit, fahre ich mit der S-Bahn zum Alexanderplatz, laufe das Stück bis zum Lustgarten, suche mir einen Platz mit freier Himmelssicht und erlebe den Flug der Vögel und das Erstaunen der Menschen mit großer Wonne.
Ich will dann nicht sprechen oder teilen. Ich will nur gucken, mit den Augen so lange folgen, bis das Herz mitfliegt.
Seit ein paar Jahren lebe ich nun in Berlin. Berlin! Hier ist das Leben immer zuerst! Hier tobt der Bär! Hier steppt der Wolf!
Ich stehe früh auf, arbeite, esse, schlafe. Und dazwischen bin ich auf der Suche nach dem Nicht-allein-sein.
Ich weiß es ja, lese es immer gerne nach in der aktuellen Tagespresse: Um mich herum atmen und schlafen und essen über 3 Millionen andere Menschen, wie kann ich mich da einsam fühlen?
Sonntags liege ich im Bett, mit Kaffee und Croissant, wie alle anderen Berliner auch, und zähle in der Zeitung die Verstorbenen. An dunklen Wochenenden sind es bis zu 60 Tote, die betrauert werden. Die ziehe ich dann von der Einwohnerzahl ab und fühle eine graue Leere in mir. Mein Herz tut weh und der Kaffee schmeckt bitter.
Sonntags fahre ich schon am Mittag zum Lustgarten und erwarte die Krähen sehnlicher als sonst. Sonntags ist die Bahn voll mit gut
gelaunten Menschen, Familien, Kinderwagen. Ich suche die Gegend ab, wo sind die Vögel tagsüber? Ich schaue in Bäume und hoch auf die Dächer. Hin und wieder entdecke ich zwei oder drei auf dem grünen Dach des Domes, auf den Streben einer Baustelle oder im Gras, an einem alten Brötchen pickend. Dann setze ich mich erschöpft auf eine der Bänke am Wasser und schaue in die Spree, begrüße ihre Wellen und winke jedem Dampfer, der vorüber fährt. Ich zähle heimlich die Zurückwinkenden. Meine Statistik füllt bald ein ganzes Schulheft. An sonnigen, heiteren Tagen winken Viele zurück. Bei Regen und Kälte nicht. Wenn es dann endlich dämmert und die Krähen sich rufen und begrüßen und jeden neuen Vogel aufgeregt in ihre Mitte nehmen, packe ich meine Tasche und fahre in meine Wohnung. Ich koch mir eine Kanne Tee, ziehe meine dicken Socken über und mache es mir auf dem Balkon gemütlich. Da hocke ich dann und schaue hinunter auf meine Nachbarn und auf die Freunde meiner Nachbarn. Die Straße, in der ich wohne, istbeliebt und bekannt. Hier trifft man sich zum Brunch oder zum Picknick oder auf eine Flasche vom feinsten Wein und lauscht schlürfend der Straßenmusik. Ich werde schnell müde von all dem Gucken und Hören und Riechen und dann schließe ich die Doppeltüren meines Balkons fest zu und gehe schlafen.
Im Traum höre ich letzte Ziehharmonikafetzen und verblassenden Applaus, fernes Lachen, drehe mich auf meine Schlafseite, fühle mich warm und wohl.
Gestern, in der S-Bahn, auf dem Weg zur Arbeit, gestern spricht
mich ein Kind an, ein vielleicht zwölf Jahre altes Kind, und fragt mich nach der Uhrzeit und nach dem Wochentag und nach etwas zu Essen, nach Geld. Und dann, nach einer ganz kurzen Pause, fragt das Kind mich nach meinem Namen und wohin ich jetzt fahre. Ich hatte ja gar keine Zeit und nichts zu Essen, ich esse nie in der SBahn. Außerdem musste ich auch schon aussteigen und die vielen, harten Stufen hochhasten zum Umsteigen und meine Bahn bekommen, und ich habe gar keine Ahnung wie man mit einem Kind redet. Einen Sitzplatz habe ich auch nicht bekommen und stehe also an der Tür und versuche, dem Atem meines Nachbarn auszuweichen, und da sehe ich, das Kind ist mir gefolgt und wartet. Und guckt so geduldig und neugierig und grinst ein bisschen dabei. Mein Nachbar guckt auch, erst auf das Kind, dann auf mich, voll in meine Augen rein guckt er, und zwinkert dann so erst links und zwinkert noch mal, jetzt rechts, freut sich, holt tief Luft, räuspert sich. Ganz plötzlich muss ich an die Krähen denken. Ich habe noch nie auf dem Weg zur Arbeit an die Schwärme denken müssen, oder denken wollen. Meine Arbeit macht Spaß, und das reicht mir morgens. Jetzt fällt mir auf, dass das Kind keine Mütze trägt und sein Anorak steht offen, kann sogar sein, der Reißverschluss ist rausgerissen?
mich also erst mal auf den nächsten Stuhl, nah am rotglühenden Wärmepilz, es ist ja noch kalt von der Nacht. Das Kind und der Mann stehen, still. Trägt er eine Gitarre bei sich? Sie setzen sich erst, als ich sie darum mit heiserer Stimme bitte. Ich wusste nicht, dass ich das tue. Sofort kommt eine Kellnerin, zündet das kleine Teelicht an, rückt den Aschenbecher zurecht und wartet, mit dem
Ganz plötzlich muss ich an die Krähen denken. Ich habe noch nie auf dem Weg zur Arbeit an die Schwärme denken müssen, oder denken wollen.
Kugelschreiber und dem Block. Ich bestelle: Eine Tasse Kakao, zwei Tassen Kaffee, ja, bitte groß, dreimal Frühstück, Schrippen, Wurst, Käse, Butter, Marmelade? Nein, keine Marmelade, aber Milch und Zucker und dreimal Plunder mit Pudding und Obst gefüllt.
Wir essen. Es schmeckt gut, so gut. Ich bestelle noch Kaffee, mehr Kakao. Wann habe ich so viel Hunger bekommen?
Unsicher schaue ich erst einmal ausgiebig aus dem Fenster: Spree, Museumsinsel, Hackescher Markt, Busse, Spatzen, Tauben... Tauben?
Bevor ich nach Berlin kam, habe ich nicht geahnt, wie viele Tiere hier leben.
Vögel, Hunde, Schweine, Ratten, Fische, Kröten, Fledermäuse, Katzen, Pferde, Füchse, Eichhörnchen.
Die Bahn hält, hier muss ich raus. Der Mann, das Kind, fast alle steigen hier aus oder um und verlaufen sich in ihre vielen Richtungen. Erst am frühen Abend, am späten Nachmittag, stehen und sitzen sie wieder in der Bahn. Erkennen sich, erkennen sich nicht.
Jeden Morgen, jeden Abend.
Ich bin so aufgeregt.
Wie lange ist das her, dass mich ein Mensch, zwei Menschen, so aufregten? Zwei, nein drei Jahre, damals, noch in ..., als ...
Mein Handy klingelt. Ich lasse meine Tasche fallen, nein, meine Hand hält die Tasche nicht. Das Kind hilft. Der Mann guckt.
Mein Mitarbeiter will wissen, ob ich mich heute verspäte. Ja, sage ich, ohne es zu wissen, ich komme etwa 2 Stunden später als sonst. Aufwiederhören.
In Berlin gibt es immer Cafés, Bäckereien, Sitze, Hocker, Bänke, Liegestühle. Nirgendwo wird so viel gesessen wie hier. Ich setze
Da sind auch Tauben. Viele. Die meisten humpeln oder schwanken, wie betrunkene Matrosen, ihre Füße sind verkrüppelt, manche haben nur einen Stumpf mit einer Kralle. Großstadtmiete.
Das Kind heißt Alexander. Ein langer Name für so ein Kind. Der Mann heißt Jurek. Gerade richtig. Guten Appetit Alexander, guten
Appetit Jurek!
Guten Appetit, Nadja!
Dann muss ich mich beeilen. Ich zahle, nachdem ich auf der Toilette war. Draußen gebe ich Jurek die Hand:
Auf Wiedersehen.
Ja?
Ich schweige. Mein Herz wird ganz rosa.
Wir sehen uns, in der S-Bahn, vielleicht.
Das Kind, Alexander, sollte zur Schule gehen, fällt mir ein.
Wir haben Ferien! Du weißt aber auch gar nichts!
Das stimmt, vielleicht.
Und wo gehst du jetzt hin? Nach Hause?
Nein. Ich geh zu meinem Freund. Wiedersehen! Und, du, Nadja, das mit dem Frühstück war echt cool!
Gerne.
Ich kann es kaum glauben, dass ich zwei Fremde zum Frühstück eingeladen habe. Hat die Stadt mich mutig gemacht und ich habe gar nichts davon gewusst?
Nach der Arbeit, nach diesem Tag, muss ich früh ins Bett. Doppeltüren zu, Decke warm, Licht aus, nachdenken, nachfühlen.
Drei Nachmittage später steht das Kind da und hält mir einen Platz frei in der S-Bahn. Guten Tag!
Wir freuen uns.
Wo ist Jurek?
Alexander nimmt mich am Ärmel, wir gehen, wohin er will. Der Junge kennt sich aus. Er geht schnell, ohne zu zögern, links, rechts, geradeaus.
Hier wohne ich.
Da oben, das Fenster mit dem Aufkleber. Aha. Hier treffen wir uns immer.
Ein Platz unter einer Treppe, ein altes Sofa ohne Rücken, läuft da hinten eine Ratte? Wer denn? Meine Kumpels und ich, wir halt. Ach so.
Hier gibt’s den besten Döner überhaupt.
Eine bunte Bude mit lauter, orientalischer Musik und einem Mann
mit weißer Schürze und frechem Blick. Ich kaufe
zwei Döner mit allem. Lecker!
Das Zuviel, das uns runterfällt, schnappen sich kleine, flinke Spatzen. Nichts bleibt auf dem Gehsteig liegen. Sind alle satt? Und müde. Ich will nach Hause.
Alexander bringt mich zur S-Bahn. Ein langer unterirdischer Bahnsteig. Am anderen Ende Musik. Das Kind zieht aufgeregt an meinem Ärmel. Ich will nicht mehr laufen.
Erst vor dem Musiker bleibt der Junge stehen. Ich krame nach 50 Cent, oder vielleicht einem Euro, die Musik ist gut. Gucke hoch.
Es ist Jurek. Er spielt Gitarre. Er singt. Seine Mütze liegt vor ihm, einige Münzen schmiegen sich an die warme Wolle.
Ach, ich fühle mich gerade so schön. Viele Menschen kommen von dem Bahnsteig, viele sind ganz in sich drin, müde, manche gucken ohne zu sehen und einige nicken mir zu beim Vorübergehen, wenige bleiben kurz stehen, genießen die Musik, machen Sekundenurlaub, teilen ihre Münzen mit Jurek.
Dann packt er seine Mütze, die Gitarre, mich. Er geht mit mir hinaus auf die Straße.
Hier war ich auch noch nicht. Die Stadt ist so groß und groß, ich weiß nicht, ob ich jemals überall gewesen sein kann.
Es ist kalt, unsere Atem vermischen sich zu hellen, leichten Wolken und fliegen hoch zu den Dächern.
Der Mann führt uns zu einer bunten Tür, ein Restaurant mit orangenen Wänden und dicken, fliegenden Engeln an den Decken und Kerzen auf langen, dunklen Holztischen. Wir setzten uns auf drei freie Stühle mitten an einen Tisch, links und rechts sitzen andere,
Auf dem dunklen, kalten Bahnsteig warten wir auf unsere Bahn. In traumweiches Licht gehüllt hält sie vor uns, die Türen laden ein, wir lassen uns auf die Sitze fallen, gucken durch die zerkratzten Fenster, sehen nur uns.
Wird es schon hell? Da hinten, am Horizont, hinter all den Häusern und Autos und Gleisen, hinter der ganzen Stadt, da traut sich vielleicht ein vages, fast grünes Licht an den ersten Rand des Himmels?
Wir steigen aus, bleiben auf der Brücke stehen, schauen. Ja, es wird hell. Hinter der gesamten Schwärze und den verschlossenen Fenstern und Türen und den stillen Schornsteinen.
Und da, ein dunkler Schatten über uns, ein Krächzen, dann mehr, jetzt viele. Ich recke mich hoch, ich schaue gleichzeitig nach Überall und rufe Guten Morgen! Guten Morgen! Ein großer Schwarm Krähen fliegt über uns hinweg. Ich kann sogar ihre Flügelschläge hören. Zwei, drei Federn schwirren ohne Ton. Jurek fängt mir eine graue, weiche.
Ich liebe Berlin.
fremde Menschen und essen, trinken, gucken kurz hoch, in unsere Gesichter, nicken uns freundlich zu, sie begrüßen uns wie ewige Bekannte. Das Kind, Alexander, muss nach Hause. Schade. Ich gebe ihm meine Adresse, lade ihn ein.
Jurek und ich bestellen lauter Vorspeisen und eine Flasche dunkelroten Wein.
Wir reden viel. Auch mit den anderen Leuten am Tisch. Ich lache ständig. Freue mich, fühle mich so zu Hause, wie kann das sein? Dann spielen zwei schöne, dicke Frauen und ein bärtiger Mann Gitarre, Geige. Traurige Lieder, fröhliche Lieder. Wenn ich könnte, würde ich gerne mitsingen. Es ist so warm, die Luft tropft. Später, am Ende der Nacht, draußen, auf den Wegen nach Hause, halten wir uns in den Armen, drücken uns aneinander, er trägt mich ich trage ihn.
Letzten Sonntag habe ich in der Zeitung gelesen, die Krähen sind umgezogen. Sie schlafen gar nicht mehr in den Bäumen am Schlossplatz, im Lustgarten. Sie leben seit Kurzem in den Bäumen und auf den Dächern am Potsdamer Platz.
Alle.
Niemand weiß, warum.
Ich freue mich darüber. Überlege, ob ich es ihnen gleichtun soll.
Wenn ich könnte, würde ich gerne mitsingen. Es ist so warm, die Luft tropft.
Geisteswissenschaft
Text von Alexander Buhmann
Die Frage nach der Wirklichkeit ist bisweilen schmierig und unbequem – zumindest solange man sich nicht diesem oder jenem Dogma verpflichtet fühlt, sich diese Frage also im Grunde nicht mehr ernsthaft stellt. Mehr noch ist der Wahrheitsbegriff selbst schon irgendwie hinfällig geworden. Das alleine ist erst einmal so wenig neu wie problematisch und verursacht ebenso wenig Kummer wie jeder andere Begriff, der durch einen gewissen Erkenntnisgewinn oder aber durch fruchtlose Debatten spiegelglatt geworden ist – man wird dann den expliziten wie impliziten Gebrauch dieser Begriffe einfach vermeiden, um sich die notwendigerweise rutschigen Situationen zu ersparen; purer Pragmatismus, menschlich, verständlich. Das packende und zuweilen betrübliche an der Wahrheit ist nun, das wir, solange wir in irgendeiner Weise produktiv sind, immer wieder von ihr Gebrauch machen werden, um unsere Hebel anzusetzen, um zu begreifen und zu bewegen; ob wir die benötigte Kraft nun mit philosophischen oder physikalischen Werkzeugen entwickeln. Wahrheitsfragen drängen sich also im Zuge unserer Handlungen quasi natürlich auf, und dadurch unterscheiden sie sich von allen anderen. So reizvoll es sein mag, sich beim Explizitwerden von Wahrheitsfragen in schwindelerregend entweltlichte bis kontrafaktische Regionen zu flüchten, so ist es doch immer wieder zumindest spaßig (vielleicht auch geboten), diese auf den Boden der eigenen lebensweltlichen Tatsachen zurückzuholen: der Chemiker in seine Laborwirklichkeit, der Maurer in seine Baustellenwirklichkeit und der Student in seine Schreibtischwirklichkeit; und zwar immer noch in seine Schreibtischwirklichkeit. Denn wir wurden bereits im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zum Schreiben an Schreibtischen gezwungen; in einem kindlichen Alter, in dem uns nicht bewusst sein konnte, was wir da eigentlich tun. Nicht etwa auf die gleiche Weise haben wir quasi von Beginn an dasTischlern an Werkbänken oder irgendein anderes ehrliches Handwerk gelernt. Der Schreibtisch ist das Möbel der Schulpflicht, der Ort der Alphabetisierung. Und er ist der Ort unseres Studiums. Der freie Weg in die Universität erfolgte innerhalb der Ausweglosigkeit des Universums Schreibtisch.
An Schreibtischen sind wir aufgewachsen, haben in und durch ihre Gegenwart gelernt, was es heißt, uns im Sinne unserer Kultur zu entwickeln, d.h. zu erwachsen. Am Schreibtisch haben wir gelernt und begonnen, uns frei zu schreiben, während er sich unbemerkt und schleichend in uns eingeschrieben hat. Und während es äußerlich dann irgendwann mit dem Schreibtischzwang vorbei ist, merken wir plötzlich: der Bruch ist passiert, wir bleiben trotzdem an ihm sitzen, weil der
Tisch eben nicht bloßes Objekt in unserer Umgebung ist, sondern längst begonnen hat, mit uns gemeinsame Sache, nämlich Gesellschaft zu machen. An Schreibtischen und durch Schreibtische entsteht Wirklichkeit, in ihren Schubladen liegen die Formulare, die die Evidenzen speichern, ohne die die Dinge nicht in der Welt sein können. Dies ist, grosso modo, doch eine ähnlich katastrophale Beschränkung wie die hermetische Struktur unserer lateinischen Schreibtischprodukte, die uns nur das ausdrücken lassen, was wir auch aussprechen können. Die Existenz von „Etwas“ in der Welt ist ohne Evidenzen für uns so undenkbar geworden wie ein schriftlicher Ausdruck, der sich nicht verbalisieren lässt. Diese beiden Komplizen, Schrift und Schreibtisch, haben einen Horizont gezogen, über den selbst unsere Affekte kaum noch hinausreichen können. Wir sind in ein unauflösbares Abhängigkeitsverhältnis hineingewachsen, weil aus unseren kindlichen Wünschen, Urteilen und Empfindungen längst Schreibtischwünsche, Schreibtischurteile, Schreibtischempfindungen geworden sind. Im Zuge der oktroyierten Alphabetisierung hat also eine weitere, heimlichere Programmierung zum Schubladendenken stattgefunden. Und dieses Basisprogramm als unser „basic input output system“ (BIOS) führt nun gerade in unseren Uni-Jahren zu erheblichen Reibungen und lässt sich am Grunde fast jeder handfesten Diskussion lokalisieren. Wir merken, wie der Schreibtisch, wie seine sorgfältig-einfältige Zweckstruktur unsere Lebensform hölzern, flach und starr gemacht hat.
Die studentische Lebenswelt (aber natürlich lange nicht nur diese) wird beschreibbar als eine Schreibtischwirklichkeit, denn die Strukturen dieser Tische sind fester Teil unseres BIOS; einer „Firmware“ also, die durch uns als „Anwender“ nicht austauschbar und deswegen unsere Wirklichkeit, unser Leben ist ( βιός = Leben).
Der Schreibtisch wird aber, wie viele andere Dinge, die in uns „eingreifen“ und so mit uns zu Sachen werden, kaum hinterfragt; in der Regel auch dann nicht, wenn man in einer ruhigen Minute auf die Wirklichkeit zu sprechen kommt. Es ist eben weitaus spannender (vielleicht auch weitaus bequemer), Wirklichkeitsfragen aus irgendwelchen systemischen oder formalen, eben abstrakten Kategorien heraus zu stellen (ein Hang zum Deduktiven?); lieber die Dinge aus der Theorie in den Griff bekommen, als mit immer vorläufigen empirischen Wahrheiten Klinken zu putzen (der Hang zum Deduktiven als der Wille zur Macht?). Das Schöne an den Wirklichkeitsfragen auf Ebene der Dinge ist, dass sie hier bisweilen wirklich entmachtende Einsichten produzieren. Wer fragt sich schon, ob und warum der eigene Schreibtisch wirklich die stützende, solide Platte ist, auf der man Seite um Seite Seminararbeiten produziert (vielleicht auch isst, säuft, schläft), ob nicht auch dieser zentrale Gegenstand studentischer Alltagserfahrung bloß vorgibt, objektiv da zu sein, ob er nicht bloß im Fluchtpunkt menschlicher, nein: bürgerlicher, studentischer, akademischer Absichten steht. Der Schreibtisch als Ort einer zentralen Übereinkunft, an der wir alle, die wir Texte produzieren, teilnehmen; nicht als objektive, sondern eben intersubjektive Tatsache, als Folge und als Ursache unseres Denkens.
„Schnittstelle Schreibtisch oder Wider ein Denken in Schubladen“
ist der Titel eines Projekts, das gemeinsam mit 25 Studentinnen und Studenten des Integrierten Diplomstudiengangs Medien-Planung, -Entwicklung und -Beratung in den Jahren 2007 und 2008 an der Universität Siegen verwirklicht werden konnte. Gegenstand des Projekts war der Schreibtisch und Ziel eine den Schreibtisch reflektierende Ausstellung in Siegen, zu deren Realisierung zwischen
2. Dezember 2008 und 31. Januar 2009 das KrönchenCenter der Stadt Siegen eingeladen hatte.
Als wohl erste Ausstellung zu diesem Thema überhaupt nahm „Schnittstelle Schreibtisch oder Wider ein Denken in Schubladen“ den Schreibtisch aus kulturhistorischer wie medienwissenschaftlicher Perspektive in den Blick und suchte ihn als Spielwiese von Kreativität und Exerzierfeld von Disziplinierung genauso wie als Unterbau neuer Unternehmenskulturen und Sprungbrett für digitale Revolutionen zu entdecken. Leitend war dabei ein Verständnis von Schreibtisch als zu sichernde Spur, als starkes Medium und als Experimentalsystem. Konkret wurde in sieben Sektionen gefragt, wie und was als „Schreibtisch“ gedacht werden kann: „Schreibtischportraits“, „Schreibtische im Film“, „Der Schreibtisch als Subjekt und Akteur“, „Der genormte/normierende Schreibtisch“, „Schreibtische der Macht – Macht der Schreibtische“, „Vom Schreibtisch zum Desktop“ und „Zukünfte des Schreibtischs“. Zu studieren waren von realen Möbelstücken bis zum Epoche machenden Computer, vom Blechspielzeug bis zum Brettspiel, von Filmausschnitten bis zu Fotokunst mannigfache Facetten des Schreibtischs. Die Exponate konnten deutschlandweit dank generöser Unterstützung aus Privatbesitz und bedeutenden öffentlichen Sammlungen wie dem Heinz Nixdorf MuseumsForum zusammengetragen werden.
Nicht zuletzt dank der Mitarbeit von Dominika Szope ergab sich im Anschluss an die Ausstellung in Siegen die Gelegenheit, „Schnittstelle Schreibtisch oder Wider ein Denken in Schubladen“ vom 21. Februar 2009 bis, nach zweimaliger Verlängerung, zum 5. Juli 2009 im ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe zu zeigen (siehe YouTube/ZKMtube: Thomas Hensel, „Schnittstelle Schreibtisch“ [2009]). Begleitet wurde die Ausstellung von einem breiten und überaus positiven Medienecho; so widmete etwa SWR2 dem Thema eine 45-minütige „Forum“-Sendung.
Dieser Erfolg wäre ohne die großzügige Unterstützung durch Sponsoren nicht möglich gewesen. Genannt seien die Universität Siegen und KulturSiegen, das ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe sowie das Heinz Nixdorf MuseumsForum in Paderborn, ebenso ophelis Pfalzmöbel GmbH, Gerlach – Büro- und Objektkonzepte GmbH und die Sparkasse Siegen. Schließlich gewährte der Studienförderfonds Siegen e.V. Ende 2009 Mittel für die Finanzierung einer SHK-Stelle, die Alexander Buhmann bekleidet.
Durch solchen Zuspruch motiviert, soll das Projekt in dreierlei Gestalt fortgeführt werden, woran Alexander Buhmann wesentlich beteiligt sein wird. Zwecks wissenschaftlicher Vertiefung der Ausstellung soll bei Universi – Universitätsverlag Siegen 2010 eine Publikation/DVD erscheinen, die sämtliche Exponate in Bild und Ton dokumentiert und eine Sammlung von Aufsätzen umfasst, deren AutorInnen sowohl prominente TheoretikerInnen und WissenschaftlerInnen wie auch am Projekt beteiligte Studierende sind. Anknüpfend an Ausstellungen und Publikation ist eine Tagung internationalen und interdisziplinären Zuschnitts geplant, die an der Universität Siegen stattfinden soll. Darüber hinaus werden Gespräche über weitere Ausstellungen zum Thema mit Institutionen im In- und Ausland geführt.
Dr. Thomas Hensel Universität Siegen FB 3/MedienwissenschaText von Katharina Knorr
Bereits mit seinem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Dezember 2007 entfachte der österreichische Schriftsteller Raoul Schrott einen wissenschaftlichen Streit, der Homer und die Ilias wieder ins Interesse der breiteren Öffentlichkeit rückte. Schrott gibt in diesem Artikel Einblicke in sein Buch Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe (2008), das aus den Arbeiten an einem Vorwort für seine Übertragung der Ilias ins Deutsche entstand.
Während des Übersetzens fiel Raoul Schrott – wie schon vor ihm auch Martin West und anderen WissenschaftlerInnen – die Ähnlichkeit einiger Textstellen zu assyrischen Texten wie dem Gilgamesh Epos auf, den Schrott ebenfalls ins Deutsche übertragen hat. Er stellte sich die Frage, wie ein griechischer Dichter, der angeblich in der Gegend um Smyrna lebte, an assyrische Texte herankommen konnte, die mittlerweile unmittelbar vor der Niederschrift der Ilias datierbar sind. Da in der erhaltenen Literatur der Antike keine Übersetzung dieses Epos’ zu finden ist, musste Homer der assyrischen Sprache mächtig sein. Schrott geht deshalb davon aus, dass Homer nicht wie bisher angenommen im Nordwesten Kleinasiens (in der heutigen Provinz Çanakkale) gelebt haben kann, sondern in Kilikien, im Südosten (in der heutigen Provinz Osmaniye in der Nähe von Adana), wo sich die in der Ilias erkennbaren Kulturen und Traditionen vermischten. Und nur in Kilikien – so Schrott –wurde die Bevölkerung im 2. Jahrtausend gleichzeitig als Danaer und Achaier bezeichnet. Seiner Meinung nach war Homer ein griechischer Schreiber in assyrischen Diensten, der die über Zypern tradierten Geschichten um das historische Troia aufgenommen hat, um sie in einen zeitgenössischen Horizont einzubinden und sie um Verweise auf bestimmte Personen, Götter und aktuelle Ereignisse in Kilikien zu erweitern. Auch die Beschreibungen der Landschaft und der Traditionen wie Pferdezucht, Schiffsbau oder Mode in der Ilias verwiesen eher auf die Region Kilikien als auf die Gegend um Troia. Die Kriege der Assyrer gegen drei Revolten der Danaer zwischen 715 und 676 v. Chr. sieht Schrott als Anlass für das homerische Epos sowie das Publikumsinteresse. Schrott nennt Ereignisse und Namen, die von diesen Aufständen überliefert und von Homer verarbeitet worden sind. Im Zuge seiner Forschungen hat Raoul
Schrott schließlich über 1400 Fakten und Indizien gesammelt, die seine Theorie stützen sollen – „hunderte von Mosaiksteinen, die ein geschlossenes Bild ergeben“ (Schrott in der FAZ vom 22. Dezember 2007).
Noch vor Erscheinen des Buches Homers Heimat reagieren JournalistInnen und HistorikerInnen. Je nach Wohlwollen könne man Schrotts Mutmaßungen eine „charmante Plauderei“ oder eine „irrwitzige Fantasterei“ nennen, sagt der Altphilologe Joachim Latacz im Deutschlandradio Kultur am 28. Dezember 2007. Er vermutet hinter Schrotts Ansichten eine „völlige Verkennung der Ilias und ihrer Intention“. Arno Orzessek wirft Schrott im Deutschlandradio Kultur vor, auf „höchste Geheimnislüfter-Ehre“ aus zu sein, Anne-Catherine Simon spekuliert in Die Presse über eine „geniale Vermarktungsstrategie“. „Wir sind Kinder des Orients“ titelt die FAZ und erhofft sich von Schrotts Erkenntnissen die Versöhnung von Orient und Okzident. Darauf antwortet Christian Meyer, Althistoriker aus München, mit „Anmerkungen zur [...] Kulturgeschichtlichen Eigenheit Europas“ und macht uns wieder zu Kindern des Okzidents. Gerhard Henschel ironisiert in der tageszeitung die Thesen Schrotts und die gesamte Diskussion mit einem Artikel über „Jim Knopf und Raoul den Inselführer“. Peter Mauritsch, Grazer Althistoriker, der den Kommentar zu Schrotts Ilias-Übertragung verfasst hat, äußert sich im Deutschlandradio Kultur als einer der Ersten positiver. Er erwartet eine wissenschaftliche Diskussion, die durchaus bereichernd werden kann. Diese Position vertritt auch der Althistoriker Hans-Joachim Gehrke, der Schrotts Buch als „anregende Belletristik“ bezeichnet. Walter Burkert, Altphilologe aus Zürich, beschreibt Schrotts Thesen eher als „Bereicherung der Perspektiven“ denn als „Lösung“. Der österreichische Altorientalist und Althistoriker Robert Rollinger schließlich erklärt, warum der Aufruhr um Raoul Schrott so groß ist: Schrott befasst sich mit Fragen, über die innerhalb der Wissenschaft selbst Uneinigkeit herrscht.
Die Frage nach der Entstehungsgeschichte der Ilias ist offen. Während ein Teil der WissenschaftlerInnen das Epos auf die Zeit um das 7. Jahrhundert vor Christus datiert, versuchen VertreterInnen der Oral-Poetry-Theorie die Genese der Ilias bis in die Bronzezeit zurückzuverfolgen. Damit verbunden ist die Ungewissheit über den
zu breiten öffentlichen Auseinandersetzungen geführt, die besonders für die Wissenschaft so grundlegend sind wie ihr Gegenstand für unsere
Wolfgang Schadewaldts, 1975 :
Der Peleus-Sohn aber sprach von neuem mit harten Worten Den Artriden an und ließ noch nicht ab von seinem Zorn. „Weinbeschwerter! mit den Augen eines Hundes und dem Herzen eines Hirsches! Weder zum Kampf dich zu rüsten zugleich mit dem Volk Noch auf die Lauer zu gehen mit den besten der Achaier Hast du jemals gewagt im Mut: das scheint dir der Tod zu sein! Ist doch viel einträglicher, im breiten Heer der Achaier Gaben dem abzunehmen, der immer dir entgegenredet, Volksgut verzehrender König! da du über Nichtige gebietest. Denn sonst hättest du, Atreus-Sohn! jetzt zum letztenmal beleidigt! [...]“
Raoul Schrotts, 2009:
agamemnon gegenüber aber brauste er erneut auf und verhöhnte ihn desto heftiger mit seinen schimpfreden: du saufkopf! geil wie ein köter, auf einen knochen aussonst aber den Schwanz einziehen! denn geht es darum ganz vorn mit den besten mitzukämpfen, in der schlacht oder bei einem überfall, dann drückst du dich jedesmal! du etappenhengst gehst viel lieber im lager auf beutezug und holst dir die trophäen derer die gegen dich motzen. herrscher? ein schmarotzer an den eigenen leuten bist dudoch das sind ja auch bloß schlappschwänze - denn sonst wäre diese hundesfötterei jetzt wohl deine letzte gewesen!
Autor bzw. die Autoren. Daran schließt sich die Frage nach dem ‚griechischen Geist‘der Ilias an, eine Frage, die heute zunehmend kritisch betrachtet wird. Der österreichische Althistoriker Christoph Ulf weist im ZDF-Nachtstudio und auch in seinem Artikel „Der Anfang ist eine Konstruktion“ in der Frankfurter Rundschau vom 26. September 2008 darauf hin, dass das Selbstbild der Griechen zu Zeiten Homers sich extrem unterscheidet von der Vorstellung, die wir heute von den Griechen haben. Genauso können ‚Europa‘ und ‚der Orient‘ schnell als Konstrukte entlarvt werden. Dennoch scheint für einige KritikerInnen die eigene Identität auf dem Spiel zu stehen. Die oben zitierten Artikel, die uns als Kinder des Orients bzw. des Okzidents beschreiben, weisen ebenfalls in diese Richtung.
Überschriften der Feuilletons wie „Nur ein assyrischer Schreiberling?“, „Homer ein genialer Stubenhocker?“, „War der große Homer ein Plagiator?“ oder „Ein ehrgeiziges Migrantenkind, leider kastriert“ zeigen, wie sehr Schrotts Thesen das Identifikationspotenzial Homers zu bedrohen scheinen. Provokativ wird der erste Dichter des Abendlandes als „Schreiberling“ verhöhnt, weil er – aufgewachsen in einem anderen Kulturraum als bisher angenommen – nicht mehr als Vorbild bestimmter politischer Werte betrachtet werden kann. Für weite Teile des Feuilletons scheinen nun ganze Weltbilder zu wanken. Dabei besteht eine Bedrohung des Weltbildes nur für diejenigen, die eine bestimmte Vorstellung von Europa haben. Im Sinne Christoph Ulfs, der darauf hinweist, dass Homer keine Weltliteratur habe schaffen wollen, weil es die Vorstellung einer solchen nicht gab, unterstellt Raoul Schrott Homer eine ganz anders identitätsstiftende Intention: „Das in seinem Epos assimilierte Kulturgut weist ihn als Griechen aus, der sich von der Dominanz einer fremden Kultur ebenso fasziniert zeigt, wie er sie zugleich mit der eigenen Tradition zu vereinen sucht ...“ (Schrott in der FAZ vom 22. Dezember 2007).
Der Baseler Altphilologe Joachim Latacz, der die Beschäftigung mit Troia auch als einen „Weg, den eigenen Ursprung zu ergründen“
Es wäre schade, wenn Raoul Schrott sich an Lataczs Forderung gehalten hätte, „ohne hervorragende Kenntnisse zumindest des Altgriechischen und Lateinischen und ohne solide Vertrautheit mit der Geschichte der Alten Welt“ solle sich niemand an „irgendwelche Arbeiten über die Antike heranwagen“.
bezeichnet, führt einen auffällig erbitterten Kampf gegen die Thesen Raoul Schrotts. Mit dem Artikel „Wir bleiben Troy“ reagiert er am 3. Januar 2008 in der Süddeutschen Zeitung ausführlich auf Schrotts Beitrag und setzt den verschiedenen Behauptungen Schrotts seine Sicht entgegen. Im Deutschlandradio Kultur hatte Schrott ihn zuvor darauf hingewiesen, dass er entgegen Lataczs Vorwurf nicht behauptet habe, die kilikische Stadt Karatepe sei mit dem historischen
Troia gleichzusetzen. Die Tatsache, dass Raoul Schrott durchaus unterscheidet zwischen dem historischen Troia und der Stadt Karatepe – der Festung, die Homer als zeitgenössische topografische Vorlage gedient habe – wird von verschiedenen RezensentInnen verwischt. Latacz aber bleibt unbeirrbar und wirkt verärgert. Was genau es ist, das diesen großen Ärger ausgelöst hat, lässt sich nicht endgültig ergründen. Das Wichtigste ist ihm, dass Raoul Schrotts Thesen „sicher keine Sensation“ sind, die das Homer-Bild der Wissenschaft in Frage stellen, das „Zweitwichtigste“, dass Troia da bleibt, wo Schliemann es gefunden hat, und schließlich, dass auch Homer da gelebt hat, wo ihn „die verschiedenen Fächer der neuzeitlichen Altertumswissenschaft“ nach 200-jähriger seriöser Arbeit vermuten – in der Region um Smyrna und auf der Insel Chios. Latacz spart nicht damit, Schrott als „altertumswissenschaftlichen Laien“, als „Dilettant“ zu bezeichnen, der es allerdings „nicht nötig zu haben“ glaubt, Altertumswissenschaften zu studieren, da er ja Dichter sei. Man hört den Verdruss heraus, den durchaus nachvollziehbaren, verbitterten Ärger über jemanden, der meint, etwas besser zu wissen, mit dem man sich selbst schon seit Jahrzehnten beschäftigt hat, für das man „Griechisch, Latein, Alte Geschichte, Archäologie, Indogermanische Sprachwissenschaft und zumindest in Ansätzen auch Orientalistik und Ägyptologie studiert, und zwar in der Regel fünf bis sechs Jahre lang – und falls man danach in die Forschung geht, sein Leben lang“. Joachim Latacz hat selbst Bücher veröffentlicht über Troia und Homer, einen Gesamtkommentar zu Homers Ilias sowie einen Band über Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Dazu übersetzt er auch die Ilias. Der Untertitel seines 2001 veröffentlichten Buches Troia und Homer lautet wohlproportioniert zur Größe des Verfassers bescheiden: Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels. Raoul Schrotts Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dagegen sind überschrieben mit „Homers Geheimnis ist gelüftet“ und „Homer hat endlich ein Zuhause – in der Türkei“; beides Überschriften, die keinen Weg mehr beschreiben, sondern selbstbewusst ein Ziel feiern. Diese Überschriften sind aber nicht unbedingt Raoul Schrott selbst zuzuschreiben, der immer wieder betont, dass er seine Thesen als Angebot versteht, das diskutiert werden kann und soll.
In Joachim Lataczs Buch Troia und Homer findet man eine Widmung in lateinischer Sprache auf der ersten Seite, gerichtet an seine Frau und die Freunde, die ihn mit Rat und Mühe unterstützt haben. Daraus spricht wahrscheinlich weniger eine bildungselitäre Haltung als vielmehr die authentische Freude an den Sprachen und Themen des Altertums. In seinem Vorwort beschreibt Latacz, wie er 1984 nach Troia reiste, um Manfred Korfmann zu treffen, dessen Vorhaben, in Troia erneut zu graben, er zunächst skeptisch gegenüberstand. Korfmann nahm Lataczs Skepsis ernst und lud ihn ein, sich selbst ein Bild zu machen, was dem Altphilologen imponierte. Es
entwickelte sich eine bis heute andauernde Freundschaft. Ganz anders dagegen hat sich Schrott verhalten. Nachdem Latacz Schrott über ein Jahr lang wissenschaftlich bei seiner Ilias-Übertragung begleitet und versucht hatte, ihm die „Grundlagen der Altertumswissenschaft auf allen möglichen Gebieten [...] klarzumachen und näherzubringen“, musste er den Auftrag zurückgeben, weil Raoul Schrott trotz freundlichen Austauschs von bestimmten Grundsätzen nicht zu überzeugen war.
In Troia und Homer beschreibt Latacz eine „im Menschen tief verankerte Rätsellösungsleidenschaft“, die die Wissenschaft seiner Meinung nach systematisiert bedienen kann. Dem breiten Publikum von den wissenschaftlichen Erfolgen zu berichten, ist Anliegen seines Buches. Interessant, dass hier noch die „Nicht-Spezialisten“ als Zielgruppe gesehen werden, die Dilettanten, denen allen gemeinsam die Rätsellösungsleidenschaft ist. Altertumswissenschaftler, Schüler, Lehrer und Studenten bezeichnet Latacz als „Fachkollegen“, die Gewinn aus seinen Erläuterungen ziehen können. In diesen Ausführungen ist noch gar nichts zu spüren von der Anspannung, die in der Reaktion auf Raoul Schrott mitschwingt.
geschafft habe, die Ilias in einer der älteren Übersetzungen ganz zu lesen, Schrotts Übertragung dagegen sehr zugänglich finde. Sogar Schrott selbst kannte die Ilias vor dem Beginn seiner Übersetzung nicht gut. Im ZDF-Nachtstudio erzählt Schrott, dass er in seiner „Unkenntnis der Ilias“ das Epos für ein bloßes Schlachtengemetzel gehalten habe. Latacz ist sich des Stilwandels bewusst, der sich innerhalb der deutschen Sprache vollzogen hat, den – so Latacz –„viele von uns (der Schreibende nicht ausgenommen) zwar wenig erfreulich finden, dessen Ignorierung uns jedoch immer mehr von jenem Publikum entfernt, das wir erreichen und gewinnen wollen“. Als „Plädoyer für einen solchen Steilabfall“ will Latacz diese Äuße-
Der Baseler Altphilologe Joachim Latacz, der die Beschäftigung mit Troia auch als einen „Weg, den eigenen Ursprung zu ergründen“ bezeichnet, führt einen auffällig erbitterten Kampf gegen die Thesen Raoul Schrotts.
Joachim Latacz formuliert sein Vorwort so beschwingt, als stünde er noch immer in Troia auf dem höchsten Punkt der Zitadelle, beseelt von den Eindrücken des „kleinen Bauernhäuschens mit weiß gekalkten Wänden und einfachsten Holzmöbeln“ sowie dem Anblick des „silbrige[n] Wasser[s] des Hellespont“, von wo er schließlich ausgerufen haben will: „Hier müssen Sie graben Herr Korfmann, hier!“
Dann aber beansprucht plötzlich jemand für sich, das Rätsel gelöst zu haben. Die Hoffnung auf eine zukünftige Lösung des Rätsels Homer wird Joachim Latacz genommen von jemandem, den er nicht als ebenbürtigen Homer-Forscher anerkennt. Ein wenig fühlt man sich erinnert an Achill und seine geraubte Trophäe.
Joachim Latacz ist aber keinesfalls nur in seiner Eitelkeit gekränkt. Er ist ein anerkannter Homer-Kenner, der sich lange geduldig mit den Ansichten und Verfahrensweisen Raoul Schrotts konstruktiv auseinandergesetzt hat – bis zu dessen Thesen über Homers Heimat. In der Zeitschrift Akzente. Zeitschrift für Literatur war 2006 ein Artikel von Latacz zu lesen, in dem er sich, wie Schrott zugesteht, „klug und klar“ zu Schrotts Übersetzungsarbeit äußert. Darin erkennt er die große Leistung an, Homer zu übersetzen, nach den mittlerweile klassisch gewordenen Übersetzungen und zu Zeiten des „Niedergang[s] nicht nur der ‚klassischen‘, sondern der literarischen Bildung überhaupt“. Eine Antike-Renaissance im deutschen Sprachraum seit Mitte der 90er Jahre ermögliche, dass eine neue Übersetzung im Trend liege und diesen noch verstärken könne, „wenn sie den Ton der Zeit trifft“. Jetzt scheint es aber doch, als ob Raoul Schrotts Übersetzung den Ton der Zeit getroffen habe. Der ZDF-Moderator und studierte Germanist Ralf Müller-Schmid gibt in einem Interview mit Raoul Schrott zu, dass er es während seines gesamten Studiums nicht
rung aber nicht verstanden wissen. Das Problem für Latacz in dieser frühen Debatte war darüber hinaus, dass Schrott bestimmte Anforderungen nicht erfüllt, die nach Lataczs Ansicht in der Übersetzungswissenschaft Konsens sind. Ganz vorne liegen dabei die Empfehlungen des englischen Dichters und Literaturkritikers Matthew Arnold von 1861, von denen Latacz besonders die Noblesse aufgreift. Als selbstverständliche Kompetenzen nennt Latacz „größtmögliche Sprachkompetenz im Altgriechischen und speziell im Homerischen Griechisch [...], größtmögliche Kompetenz in der Kenntnis der Stilschichten des Griechischen, gründliche Kenntnisse der griechischen Kultur- und Literaturgeschichte von den Anfängen in der Spätbronzezeit bis mindestens zur Kaiserzeit, besondere Vertrautheit mit den historischen Verhältnissen in Griechenland und der mediterranen Welt zur Entstehungszeit der Ilias [...] und außergewöhnliche Beherrschung der Feinheiten und Stilschichten der Ziel-, also in der Regel der Muttersprache des Übersetzers“. Latacz weiß selbst aber auch, dass die Gelehrtheit allein nicht ausreicht, Homers poetische Kraft zu vermitteln. Für eine Übersetzung eignet sich also besonders jemand, der Wissenschaftler und Dichter in sich vereint. Latacz gesteht Schrott zu, dem Ideal „zumindest nahe“ zu kommen. Aber er verurteilt Ungenauigkeiten der Übersetzung zugunsten „leichterer Verständlichkeit für ein größeres, nicht-professionelles Publikum“ und auch die saloppe Art, in der Raoul Schrott über die bisherigen Übersetzungen schreibt, welche keinesfalls, wie Schrott behauptet, unlesbar seien. Insgesamt kritisiert Latacz Schrott vor allem an den Punkten, wo er ihm zu lässig erscheint. In seinem Artikel liefert Joachim Latacz eine Reihe interessanter Argumente gegen die Vorgehensweise Raoul Schrotts, zum Beispiel, dass es sich bei der Ilias um eine Dichtung handelt, „deren äußere Form mit ihrem Inhalt fest verschmolzen ist. Die äußere Form – den Rhythmus, die Formelhaftigkeit, die Wiederholung – fortzuwerfen und nur den Inhalt zuzulassen, bedeutet, diese Dichtung zu verkrüppeln.“ Schrott
antwortet darauf in einer Replik – ebenfalls erschienen in der Zeitschrift Akzente im darauf folgenden Heft – ihm gehe es um einen „Aufarbeitungsprozess, an dessen Anfang Poesie steht – und am Ende auch wieder stehen sollte“. Sind die Konstituenten anachronistisch, müssen neue gesucht werden, damit die Poesie ihrer Maxime gerecht werden kann, nämlich Intention zu verbalisieren und in den Köpfen der LeserInnen oder ZuhörerInnen bestimmte Bilder hervorzurufen. Schrott bezieht sich auf Wieland, der forderte, so zu übersetzen, als hätte der Dichter die eigene Sprache gesprochen. Hans Joachim Gehrke bestätigt im ZDF-Nachtstudio, dass Sprachen im Grunde nicht kompatibel seien. Übersetzt man einen Text wortgetreu, verfehlt man ihn in der anderen Sprache. Friedrich Kittler hält – vielleicht im Sinne Lataczs – dagegen, dass man dem Deutschen neue Impulse geben könne, indem man aus dem Griechischen griechisch übersetzt, was allerdings die Zielgruppe begrenzt. Diese Diskussion betrifft auch die Rhythmik des Textes. Schrott bleibt dabei, dass „unsere atonal gewordene Prosodie die Polyphonie des griechischen Hexameters nicht einmal ansatzweise wiedergeben kann“. Eine neue, zeitgemäße Rhythmik zu schaffen, ermöglicht es, der rhapsodischen Tradition der Ilias treu zu bleiben. Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf Goethe, der in seinem Werk mit dem passenden Titel Dichtung und Wahrheit vermerkt: „Ich gebe zu bedenken, ob nicht zunächst eine prosaische Übersetzung des Homer zu unternehmen wäre [...] Nur will ich noch, zugunsten meines Vorschlags, an Luthers Bibelübersetzung erinnern: denn daß dieser treffliche Mann ein in dem verschiedensten Stile verfaßtes Werk und dessen dichterischen, ge-
schichtlichen, gebietenden, lehrenden Ton uns in der Muttersprache wie aus einem Guße überlieferte, hat die Religion mehr gefördert, als wenn er die Eigentümlichkeiten des Originals im einzelnen hätte nachbilden wollen. Für die Menge, auf die gewirkt werden soll, bleibt eine schlichte Übertragung immer die beste. Jene kritischen Übersetzungen, die mit dem Original wetteifern, dienen eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten untereinander.“
Ein interessanter Diskussionspunkt ist auch der der Epitheta, der schmückenden Attribute. Während Latacz Schrott vorwirft, eine charakteristische Eigenart der epischen und homerischen Diktion zu eliminieren, was auch zu einer inhaltlichen Verfälschung führe, ist Schrott der Meinung, dass die alten Sprachbilder neu belebt werden müssen, um verständlich zu werden. Erst danach können sie wieder zu schmückendem Beiwerk mit bestimmten Konnotationen werden. Was genau sich Homer bei den verschiedenen Epitheta gedacht hat, kann Schrott allerdings nicht wirklich wissen. Die von Latacz geforderte, wörtlichere Übersetzung ist aber genauso Interpretation wie die Lösungsvorschläge Raoul Schrotts. Was Latacz als niederer Sprachduktus erscheint und angeblich die angeborene „Noblesse“ Homers beschneidet, ist nach Schrott von Homer selbst, dessen Sprache nicht so flexibel sei wie unsere heutige. Schrott ist deshalb bemüht, das, was Homer gesagt oder gemeint hat – insofern man es erschließen kann – in ein heutiges klares Deutsch zu bringen. So werden wechselseitig stichhaltige Argumente genannt und zu entkräften versucht, die aufzulisten an dieser Stelle zu weit führen würde. Hat man beim Lesen von Lataczs Artikel zur Ilias-Übersetzung das
Gefühl, Schrott wisse manchmal wirklich nicht ganz genau Bescheid, versteht dieser es in seiner Replik immer, interessante und gehaltvolle Begründungen für sein Vorgehen zu liefern. Ähnlich gestaltet sich die Diskussion in den Feuilletons auch nach Erscheinen von Schrotts Buch Homers Heimat. Und immer wieder mischen sich grundsätzliche Fragen in die Diskussion. Wenn Latacz bestreitet, dass Karatepe topografisch als Vorlage für Troia gedient haben kann, weil die Stadt erst gegen 1000 v. Chr. gegründet worden ist, dann geht er, anders als Schrott, von einer Entstehungszeit der Ilias um 1200 v. Chr. aus, der Zeit, in der der troianische Krieg stattgefunden haben soll.
Die Veröffentlichungen Raoul Schrotts haben viele weitere interessante Diskussionen verschiedener WissenschaftlerInnen ausgelöst. Im November 2008 fand in Innsbruck ein Symposion zu „Homer – Troia – Kilikien“ statt, das von Robert Rollinger und Christoph Ulf organisiert wurde. Im Abschlussbericht beschreibt Christoph Ulf Raoul Schrotts Buch – zwar weniger wegen der enthaltenen Schlussfolgerungen – vor allem wegen „der Bündelung der in ihm gestellten Fragen“ als „nicht zu unterschätzenden Impuls für die Forschung“. Die „Gnade“, die Robert Rollinger fordert, „einen Blick über die Schwächen hinaus auf das Ganze zu werfen“, und die die interessanten Diskussionen eigentlich erst ermöglicht, ist Joachim Latacz abhanden gekommen.
Eines – so schreibt Kai Michel am 11. Dezember 2008 in der ZEIT – sei Joachim Latacz nicht: rechthaberisch. Während seiner Arbeit am Ilias-Kommentar befinde er sich in einem „Prozess ständiger Diskussion“: Wenn ein Gesang von Latacz kommentiert ist, wird er an Experten der ganzen Welt verschickt. Dieses Vorgehen bezeichnet Raoul Schrott im ZDF-Nachtstudio als „Konsenspolitik“ der Althistoriker. Sein Angebot dagegen versteht er als ein stärker dialektisches: „Wissen ist ja ein dialektischer Prozess.“ (Deutschlandradio 7. März 2008). Und auch Christoph Ulf rät, die „Wissenschaftler sollten sich auf ein offenes neues Denkspiel einlassen“. Einige WissenschaftlerInnen sprechen sich für eine stärkere transdisziplinäre Öffnung aus, die literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse Raoul Schrotts könnten die Erfahrungen der Altertumswissenschaften durchaus bereichern. Auch Latacz fordert einen „neuen Typus von Universalhistoriker“. Raoul Schrott macht mit seiner komparatistischen Arbeit einen Anfang. Es wäre schade, wenn Raoul Schrott sich an Lataczs Forderung gehalten hätte, „ohne hervorragende Kenntnisse zumindest des Altgriechischen und Lateinischen und ohne solide Vertrautheit mit der Geschichte der Alten Welt“ solle sich niemand an „irgendwelche Arbeiten über die Antike heranwagen“ – ganz abgesehen davon, dass Raoul Schrott solide Kenntnisse besitzt. Forderungen wie diese schlagen Gräben zwischen die ‚genialen Großen‘ und die an ihnen Interessierten, die nicht zu überwinden sind, wenn die Bedingung für die Beschäftigung mit antiken Themen ein mindestens sechsjähriges Studium ist. Dass dabei bestimmte wissenschaftliche Mindestanforderungen eingehalten werden müssen, steht außer Frage. Diese müssen jedoch auch immer wieder diskutiert werden dürfen. Der Behauptung Raoul Schrotts, die Ilias habe keine
Überlieferung seit der Bronzezeit überstehen können, was für einen späteren Entstehungszeitraum spreche, hält Latacz entgegen, dass man aus neuesten Forschungen zum kulturellen Gedächtnis z.B. von Jan und Aleida Assmann wisse, dass im Laufe der Zeit der Inhalt der Geschichte immer wieder neu an jeweilige Erzählzeit und das zeitgenössische Publikum angepasst werden konnte. Genau das hat Raoul Schrott versucht. Dass Joachim Latacz mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, steht ihm zu. Dass er aber seit der Veröffentlichung von Homers Heimat jegliche Diskussion verweigert, ist bedauerlich. Die meisten Artikel in den Feuilletons enden mit dem versöhnlichen Zugeständnis, dass Raoul Schrotts Buch dazu beigetragen habe, Homer und die Ilias wieder einer breiteren Öffentlichkeit zu-
gänglich zu machen. Diejenigen, die sich weiter interessieren, beschäftigen sich vielleicht auch mit nahöstlicher Hochkultur, dem Verhältnis von Orient und Okzident sowie den alternativen Übersetzungen. Latacz bezweifelt, dass die meisten die Übersetzungen vergleichen werden. Die Übertragung Schrotts werde für Homer gehalten, eine „bedauernswerte Täuschung“. Eine Feststellung, die auf jede Übersetzung zutrifft. Nur muss sie, wenn es sich um eine anregende Lektüre handelt, nicht als bedauerlich empfunden werden. Über diese Leistung hinaus macht die Diskussion aber auch die Schwierigkeiten transdisziplinärer Zusammenarbeit deutlich. Eine Problematik, die von der Thematik der Ilias gar nicht so weit entfernt ist: Durch den Streit – so Christoph Ulf – soll vermittelt werden, wie zwei Gemeinschaften intern funktionieren und wie Streitigkeiten zwischen den Gemeinschaften behandelt werden können. Die Antwort sollte Joachim Latacz doch kennen:
„wir aber sollten unseren streit vergessen – getan ist getan. schlucken wir unsern stolz, auch wenn es schwer fällt [...]“
oder wenn man es versöhnlich formulieren will:
„Lassen wir aber Geschehenes ruhen, so sehr es uns kränkte, Zähmen wir nun das Herz in der Brust, dem Zwange gehorsam.“
Achilleus wünscht sich im 18. Gesang, „der streit unter den göttern und den menschen ließe sich ganz aus der welt schaffen! und damit die wut, die den weisesten zur weißglut bringt“. Das wiederum wäre schade, zu wenige hätten ohne Diskussion die Ilias ganz gelesen.
Die Hoffnung auf eine zukünftige Lösung des Rätsels Homer wird Joachim Latacz genommen von jemandem, den er nicht als ebenbürtigen Homer-Forscher anerkennt.
Text von Anke Bliedtner
Sie, hübsche Tochter aus gutem Hause. Er, gebrochener Held mit Migrationshintergrund. Die beiden verlieben sich natürlich unsterblich, aber es wäre eine schlechte Geschichte, wenn das so einfach wäre. Intrigen, Machtspielchen und Strippenzieher im Hintergrund attackieren das junge Glück, schicken ihn nämlich weit weg. Das gefällt ihm zwar nicht, aber für sein privates Glück die berufliche Karriere zu opfern, dazu ist er dann doch zu feige. Sie bleibt weinend zurück und die Liebe – wie so oft am Ende der richtig guten Geschichten – auf der Strecke.
Hört sich nach Vorabendprogramm auf RTL an? Vielleicht auch, aber aus diesem Stoff sind die Geschichten gestrickt, die sich unsere Kultur seit Tausenden von Jahren erzählt. Sowohl im Vorabendprogramm als auch auf der Oper. Es ist das Drama des modernen Menschen. Dido and Aeneas, die Oper des englischen Barockkomponisten Henry Purcell erzählt diese Geschichte auch; dort hört sich das freilich etwas anders an, zumal diese Oper bereits gut 320 Jahre alt ist und eine Geschichte aus der Aeneis von Vergil, einem antiken Epos aus dem Jahre 19 v. Chr., erzählt.
Dass sich der Stoff erstaunlich frisch anfühlt, das dachten sich wahrscheinlich auch die StudentInnen des Fachbereiches Musik der Uni Siegen, die sich nun an die Produktion dieser Oper heranwagen. Opernprojekte gab es in den letzten Jahren schon einige, viele werden sich z.B. an die Aufführung von Humperdincks Hänsel und Gretel im Musiksaal der Uni vor einigen Jahren erinnern, wo bereits beachtlicher Aufwand betrieben wurde. Das, was sich das Fach Musik mit der Produktion von Henry Purcells Oper Dido and Aeneas vorgenommen hat, bewegt sich jedoch in vollkommen anderen Dimensionen: eine professionelle Opernproduktion – die erste der Uni Siegen – wird auf die Beine gestellt.
Die Initiative zu diesem Projekt kam von Susanne Schlegel, die ge-
rade die Nachfolge von Isabel Lippitz als Gesangslehrerin im Fach Musik angetreten hatte. Als ausgebildete Opernsängerin hat sie vor Jahren selbst schon die Rolle der Zauberin gesungen und hegt, wie sie selbst sagt, „eine alte Liebe“ zu diesem Stück. Anfangs, d.h. vor ca. 1,5 Jahren, als die Planungen dafür begannen, dachte sie noch an einen überschaubaren Rahmen: eine Aufführung im Musiksaal der Uni mit kleiner Chor- und Orchesterbesetzung, bestenfalls ein paar Andeutungen szenischer Darstellung oder gar nur konzertant.Doch begeisterte MitstreiterInnen unter den KollegInnen und StudentInnen und, wie sich bald zeigen sollte, der kulturellen Öffentlichkeit Siegens fanden sich rasch: Uta Debus, die Leiterin von Uni-Chor und -Orchester, war sofort begeistert und sagte ihr Mitwirken zu. Auch der Autor, Regisseur und für seine Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Theaterleiter Werner Hahn aus Hagen war schnell für das Projekt gewonnen. Was nun noch fehlte war ein geeigneter Aufführungsort, der rund 90 Solisten, Chorsängern und einem großen Orchester angemessenen Entfaltungsraum bieten konnte. Und wie es der Zufall wollte, erfuhr Magnus Reitschuster, der Intendant des Apollo Theaters, von dem Projekt. Reitschuster, selbst ein Fan von Purcells Werk, kennt und schätzt die Arbeit von Werner Hahn und fand vor allem Gefallen an der Idee, eine professionelle Opernproduktion mit Musik-LehramtsstudentInnen auf die Beine zu stellen. So bot er dem Opernprojekt im Juli 2009 an, doch mit der Aufführung ins Apollo Theater umzuziehen und auch für die Gestaltung von Kostümen und Bühne auf die Kreativität der hauseigenen Ausstattungsleiterin Petra GeorgAchenbach zurückzugreifen. Und diese Kooperation trifft sich auch thematisch sehr gut: Denn das Motto der in diesen Wochen auslaufenden Apollo-Spielzeit heißt „Lust auf Bildung“. Eine bessere Umsetzung dieses Mottos als in einer Opernproduktion mit zukünftigen MusiklehrerInnen, die die große Bühne „rocken“, kann es nicht geben. Und damit knüpft diese Inszenierung nahtlos an die der Uraufführung der Oper im Jahr 1689 an – diese fand nämlich in einem Mädchenpensionat im Londoner Stadtteil Chelsea statt, die Solistinnen waren Schülerinnen.
So kam eines zum anderen, das Projekt wuchs und gedieh und ist längst für alle Beteiligten zu einem großen Abenteuer geworden. Der Startschuss für die Probenarbeit fiel mit dem ersten großen Treffen aller Mitwirkenden im vergangenen Oktober, im Wintersemester 2009/10 begann Susanne Schlegel mit den musikalischen Proben mit ihren SolistInnen. Im März dieses Jahres, nach dem Abschluss des Hauptteils der musikalischen Proben resümiert sie: „Ich bin erstaunt, wie die Studenten und Studentinnen doch an die Leistung von professionellen Opernsängern rankommen.“ Denn
Als ausgebildete Opernsängerin hat Susanne Schlegel vor Jahren selbst schon die Rolle der Zauberin gesungen und hegt, wie sie selbst sagt, „eine alte Liebe“ zu diesem Stück.
schließlich ist es nicht die primäre Idee, eine in jedem Detail professionelle Produktion abzuliefern. Die meisten SolistInnen verfügten natürlich über Bühnenerfahrung und viele hätten durchaus Talent in Richtung einer Karriere als Opernsänger oder Opernsängerin, aber im Vordergrund dieses Projektes stehe der pädagogische Aspekt. Der Fokus liegt auf der Ausbildung von LehrerInnen, die etwas von ihrem Metier verstehen.
Auch der Regisseur Werner Hahn hat eher einen theaterpädagogischen Ansatz. Für seine Arbeit als Leiter des Kinder- und Jugendtheaters lutzhagen in Hagen wurde ihm im vergangenen Jahr das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Ihm liegt besonders daran, zu zeigen, dass Theater überall ist, er setzt nicht auf Effekte, sondern will das Echte zeigen. So interessiert es ihn besonders, zusammen mit dem Ensemble herauszuarbeiten, was uns die Geschichte von Dido and Aeneas heute zu sagen hat. Die szenischen Proben, die Ende April 2010 begonnen haben, werden sich also mit der Frage beschäftigen, wie man einem modernen Publikum vermitteln kann, dass die Konflikte, die Vergil vor 2000 Jahren in seiner Aeneis beschreibt und die Henry Purcell im Barock erneut aufgreift, auch noch etwas mit uns zu tun haben.
Dieser Idee folgend wird auch die Gestaltung der Bühne recht abstrakt ausfallen und auch die Kostüme eher an heutige als an barocke oder gar antike Gewänder erinnern. Petra Georg-Achenbach will eine reduzierte und eher metallisch-kühle Atmosphäre schaffen, die dem Publikum Raum für eigene Interpretationen lässt und vor allem auch die SängerInnen in den Vordergrund rückt. Für die wird es eine einzigartige Erfahrung sein, auf der großen Bühne des Apollo vor 500 ZuschauerInnen ihr Können zu zeigen und die Entstehung einer solchen Produktion mitzugestalten. Und genau das ist auch das erklärte Ziel von Susanne Schlegel, nämlich den zukünftigen MusiklehrerInnen zu vermitteln, wie eine Produktion zustande kommt – musikpraktisch, künstlerisch, planerisch. Dieser praktische Aspekt fehlt in der Tat allzu oft in der LehrerInnenausbildung – insofern ist das Anliegen dieses Projektes, nämlich eine Verbindung zwischen Kunst, Alltag und Lehre zu schaffen, eines, welches generell für die LehrerInnenausbildung in den Künsten – also auch für Literatur und bildende Kunst – wegweisend sein könnte. Den klugen Köpfen, die derzeit die LehrerInnenausbildung an der Universität Siegen umbauen, sei ein Besuch dieser Oper wärmstens ans Herz gelegt.
Meine künstlerische Arbeit bewegt sich zwischen Polen wie Welt und Bild, Konkretion und Abstraktion, Denken und Handeln. Einerseits werden die Bilder durch Eindrücke und Reibungspunkte des täglichen Erlebens gespeist, andererseits ergeben sich auch aus dem Arbeitsprozess wichtige Impulse für den Fortgang der Arbeit. Einerseits will ich mich in meinen Arbeiten stets mit einem konkreten ema oder Gegenstand befassen, andererseits soll dieser nicht bloß illustriert sondern in neue Zusammenhänge gebracht werden. Einerseits bilden sich während der Arbeit gedankliche Vorgänge auf dem Papier ab, andererseits liegt der Fokus häufig auf der konkreten Handlung, die beispielsweise beim Ziehen einer Linie vollzogen wird.
Für die Arbeit ohne Titel (Sonnenbahnkurve) (2009) bildet eine gefundene Folie, die mit geografischen Motiven bedruckt ist, den Ausgangspunkt. Die Zeichnung, die ich mithilfe der Folie auf das Bild übertragen habe, interessierte mich sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene. Die klare Ästhetik der Zeichnung ist typisch für Abbildungen aus Sachbüchern und wird daher vorwiegend als Informationsträger gelesen. Wie kann eine solche Grafik in einer Malerei funktionieren? Wie verändert sich ihre Wirkung im neuen Kontext?
Im Bild steht die Zeichnung kopf und vermag keinen Sinn zu erzeugen. Stattdessen wird zwischen Schlieren, Tropfen und Pinselstrichen ihre abstrakte Erscheinung als bloße Zeichnung, als ein Liniengeflecht freigelegt. Das ema des Strichs, der Linie und der zeichnerischen oder malerischen Geste, welches in meinen Arbeiten stets bedeutsam ist, umspielt die technoide Grafik und stellt sie dadurch in Frage.
Doch auch auf inhaltlicher Ebene tritt das Stichwort der „Geste“ in den Vordergrund, sobald man sich von der gewohnten Lesart der Grafik distanziert. Was genau sehen wir denn eigentlich in der Zeichnung? Imposant hält die kleine Person eine überdimensionale Karte in ihren Händen. Dabei wird sie umringt von einer Fülle an Bahnen und Kurven, die riesige Sonne geht über ihr auf, die Jahreszeiten kommen und gehen, sie steht im Zentrum des Geschehens und ist richtungsweisend wie die Nadel auf dem Kompass. Was sagt eine solche Grafik über unser Menschenbild und unsere Vorstellung von Wissenschaft aus?
Das Bild ist eine Fläche, auf der sich Gedanken und Handlungen durch Pinselstriche eingeschrieben haben. Beide können beim Betrachten ein Stück weit nachvollzogen werden und dazu beitragen, gewohnte Dinge anders anzuschauen und zu denken. Bei der künstlerischen Arbeit, wie übrigens auch in der Wissenschaft, gehen Denken und Handeln Hand in Hand. Doch meistens hinkt das Denken hinterher und man begreift erst nach und nach, was man da eigentlich gemacht hat.
Sagte nicht Gerhard Richter einmal: „Meine Bilder sind klüger als ich“?
Ludmilla TornoTitel:o.T.(Sonnenbahnkurve)
Siegen,2009
MischtechnikaufPapier,1,50x2,80cm
Kolumne
Professor Ralf Schnell, Germanist, Sprach- und Medienwissenschaftler, zu Hause in der Welt, besonders aber in Berlin, wohin er zurückgekehrt ist, nachdem er das Amt des Rektors der Universität Siegen im vergangenen Jahr abgegeben hat.
Sein neuer Job: Kolumnist beim fool on the hill.
„Und was heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in Hannover“, liest man in Arno Schmidts 1959 erschienener Erzählung Trommler beim Zaren. Wer, dieses Aperçu im Hinterkopf, heute die Großstadt Berlin durchstreift, reibt sich verwundert die Augen. „Großstadt ist Großstadt“? Welch ein Trugschluss! Berlin ist nicht einmal mit sich selbst identisch! Die deutsche Hauptstadt bezieht, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wende, ihre kulturellen Energien vielmehr aus einem bemerkenswerten Widerspruch: Der sozialen Entmischung der Stadtbezirke steht eine zunehmende Verdichtung des Verkehrs gegenüber. Kreuzberg und Neukölln, Prenzlauer Berg und Bötzow-Viertel, Pankow und Hohenschönhausen haben mit Dahlem oder Zehlendorf, AltTegel oder Charlottenburg, Wilmersdorf oder Schöneberg nicht viel gemeinsam. Das Netzwerk der öffentlichen Verkehrsmittel hingegen – ob U- oder S-Bahn, Bus, Straßenbahn oder Regionalverkehr – verknotet die einander fremden Bereiche nach dem Prinzip der Dynamisierung, ganz so, als müsse sie deren Annäherung betreiben. Wo sich in den städtischen Distrikten eine wachsende Homogenität der jeweiligen Bevölkerungen bemerkbar macht – hier der Osten, dort der Westen, hier die Türken, dort die Deutschen, hier das Prekariat, dort die Arrivierten, hier die Migranten, Randständigen und Herausgefallenen, dort die Anwälte, Ärzte und gesetzten Alten –, da entfalten die Techniken und Formen der Fortbewegung immer leichtere, komfortablere, zunehmend sich beschleunigende Verbindungen zwischen den Welten. Wer diesen Verbindungen folgt, wer sich treiben lässt von Ort zu Ort, eine Art Flaneur auf Schienen und Rädern, entdeckt freilich bald, dass er einem Trugbild aufsitzt: Das Verkehrsnetz verbindet die Extreme, aber es nähert sie einander nicht an.
Steigt man an einem beliebigen Ort im Westen Berlins – sagen wir: am Olympiastadion, einem ruhigen, nachgerade öden Platz, sofern dort nicht gerade ein sportliches Großereignis stattfindet – in die S-Bahn, um diese an einem beliebigen Ort im Osten Berlins – sagen wir: am Alexanderplatz, dem Umwälzplatz ungeheurer Massen von Menschen und Waren, der permanenten Baustelle Berlins – zu verlassen, so betritt man einen anderen Kontinent. An einem ganz normalen Freitagnachmittag sieht man sich an einem der Ausgänge des S-Bahnhofs Alexanderplatz einer schwarz gekleideten, mit Ketten behangenen, von Hunden umgebenen 50- bis 70-köpfigen Menschengruppe gegenüber, die, bunt frisiert und mit Nasen-, Ohren- und Lippenpiercings versehen, bisweilen in Zweier- und Dreiergruppen verhakelt und eifrig Bierflaschen wedelnd, einen lallenden Lärm veranstaltet, schwer verständlich und kaum verdaulich, eine, auf den ersten Blick zumindest, Furcht erregende Mischung aus Alkohol und Drogen, Finsternis und Feueraugen, die jeden Augenblick in die Luft zu gehen droht. Aber es geschieht nichts. Gar nichts geschieht. Die am Bahnhofsausgang zur Gontardstraße, genau gegenüber der Tram, erreichte Stellung wird gewissermaßen nur gehalten. Es gibt keine Eile und keinen Handlungsdrang. Die Gruppe genügt sich selbst. Sie kreist in sich, und sie kommuniziert mit sich. Die Hunde spielen den streunenden Kitt in dieser selbstgenügsamen Gemeinschaft. Sie wedeln von Herrchen zu Frauchen, holen sich hier ein wenig Zuwendung, dort einen freundschaftlichen Tritt und fühlen sich, im Wortsinn, pudelwohl, selbst wenn sie aparte Mischungen sind. Kaum ein Beobachter dieser Szene wird umhin kommen, seinen eigenen Status und seinen Wahrnehmungswinkel zu bedenken. Es ist nicht der des Benjaminschen Flaneurs – es ist der des Ethnologen. Zu beobachten sind die merkwürdigen Rituale und Verkehrsformen eines fremden Volkes.
Dass der Beobachter ausgeschlossen bleibt, dient seinem Selbstschutz. Dass er sich als Ethnograph versteht – der Schärfung seines Blicks. Erst als er sich abwendet, um den Ort zu verlassen, entdeckt er mehrere Gruppen dunkel uniformierter Herren, die – auf Distanz und doch erkennbar – das kleine Ritual dezent bewachen. Im doppelten Sinn des Wortes.
Alle Mitarbeiter, auch die Gesellschafter der fool on the hill GbR, arbeiten ohne Bezahlung. Wir schätzen die Arbeit aller am fool beteiligter Künstler, Fotografen und Autoren sehr und bedauern es, sie nicht entlohnen zu können. fool on the hill ist ein Non-Profit-Magazin und erscheint zum Selbstkostenpreis von 2€ in Siegen und der Region Wittgenstein in allen Verkaufsstellen, die Zeitschriften führen. Zur Finanzierung werden außerdem Gelder der Universität Siegen, ihrer Studierendenschaft sowie Anzeigengelder herangezogen.
Redaktionsleitung: Anke Bliedtner, David Schmidt, Kerstin Willburth.
Redaktion: Lea Baumeyer, Demian Göpfer, Michael Helwig, Kora Hoffmann, Katharina Knorr, André Wenclawiak, Julia Wießner.
Autoren: Nadine Appelhans, Ludwig Andert, Dirk Baecker, Anke Bliedtner, Alexander Buhmann, Hilde Schröteler-von Brandt, Lea Baumeyer, Katharina Damwerth, Simon Erll, Demian Göpfer, Stephan Habscheid, Arne Hartwig, Michael Helwig, Anja Hendrischk, Antonia Herrscher, Kora Hoffmann, Helmut Höge, Katharina Knorr, Stefan Mayr, Anna Molly, Philipp Ruch, Eike Rüdebusch, Sebastian Schäfer, David Schmidt, Susanne Schmidt, Ralf Schnell, Nico Schröder, Peter H. Stahl, Simone Tillmann, André Wenclawiak, Julia Wießner, Kerstin Willburth.
Fotografen: Nadine Appelhans (S. 52ff), Anke Bliedtner (S. 48, 115), Lena Däuker (S. 109), Julian Gandras (S. 118), Antonia Herrscher (S. 74ff), Helmut Höge (S. 71ff), Gabriel Klein (S. 8), Katharina Knorr (S. 70), David Schmidt (S. 16ff, 49, 88), Rabea Push (S. 93ff), André Wenclawiak (S. 24), Lara Wilde (S. 92).
Comics/Karikaturen: David „Yeo“ Füleki (S. 14, 25, 79ff), Michael Wild (S. 112).
Zeichnungen: Christian Block (S. 36), donnierobot (S. 43),Martin Geier (S. 91), Sven Lindhorst-Emme (S. 60), Yvonne Mainz (S. 102ff), Philipp Petzold (S. 50f, 61).
Kunstbruch: Ludmilla Torno. Die Auswahl des Kunstbruchs treffen Magdalena Eckes & Stefan Schäfer.
Den Kunstbruch: Literatur wählt die Redaktion aus.
Dieses Mal: Susanne Schmidt.
Titelbild (U1): Tang Yau Hoong. Bild U2: Philipp Petzold.
Die Bilder folgender Fotografen stehen unter Creative Commons: Claas Augner, Kevin Dooley, Πρωθυπουργό̋ τη̋ Ελλάδα̋, ESMT European School of Management & Technology, Iwan Gabovitch, Hobbes vs Boyle, International Monetary Fund,isafmedia, john19701970, Armin Kübelbeck, Jacob Kongaika, lilli2de,MEDEF, Hardo Müller, Neubie, Bengt Nyman, nz_willowherb, Pressedienst Droemer Knaur, Pressedienst Niederländisches Königshaus, Pressedienst NSA, Pressedienst Spanisches Königshaus, Pressedienst US Department of State, RooseweltPinheiro/ABr, Ryedo, Dierk Schaefer, Soppakanuuna, SPDSchleswig-Holstein, Tom Thai, ThisParticularGreg, Universität Siegen, Horia Varlan, World Economic Forum,Dieter Z., Zebramaedchen. Diese Bilder dürfen vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden. Abwandlungen und Bearbeitungen der Bilder sind erlaubt. In jedem Fall ist der Name des Urhebers in der von ihm festgelegten Schreibweise zu nennen. Für die genaue Zuordnung befragen Sie bitte die Redaktion.
Layout/Design: David Schmidt
V.i.S.d.P.: Anke Bliedtner
Anzeigenakquise: Anke Bliedtner, Katharina Knorr
Finanzen: Anke Bliedtner
Im Internet: www.foolmagazin.de
Postanschrift: Redaktionfool onthehill
c/o AStA der Universität Siegen
Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen
Büro: ENC-B 0119
Telefon: 0160 - 919 11 026 (A. Bliedtner)
oder 0176 - 611 99 279 (D. Schmidt)
Telefon Büro: 0271 - 740 47 68
E-Mail: thefool-siegen@gmx.net
Redaktionsschluss: Den Redaktionsschluss für Ausgabe 14 erfragen Sie bitte bei der Redaktion.
Vorschläge für die Rubriken „Kunstbruch“ und „Kunstbruch II“ (Literatur) können jederzeit eingereicht werden. Alle Materialien bitte an: thefoolsiegen@gmx.net
Auflage: 2.500 St.
Druck: Vorländer GmbH & Co KG.
Alle Rechte gesichert. Die Rechte an den in dieser Ausgabe abgedruckten Texten, Bildern, Grafiken, Anzeigen, Zeichnungen und allen sonstigen Inhalten liegen bei den Verfassern derselben. Unerlaubte Vervielfältigung kann strafrechtliche Konsequenzen haben. (Hiervon ausgenommen sind die unter Creative Commons stehenden Werke, s.o.) fool on the hill wird unter der Kennziffer 2326974-1 in der ZDB der Staatsbibliothek zu Berlin geführt.
Nicht heulen, mitmachen!
Denn wir hören auf: Weil wir die Semester bald nicht mehr zählen können, bringen wir im kommenden Herbst, nach über vier Jahren kon nuierlicher Arbeit am He und allem, was dazu gehört, unseren endgül g letzten fool on the hill heraus. Dass das für den fool nicht das Ende, sondern einen Neuanfang bedeutet, möchten wir mit eurer Hilfe erreichen. Die Strukturen dafür sind geschaffen. Es liegt an euch, sie aufzugreifen oder nach euren Vorstellungen neu zu gestalten. Gesucht werden Menschen, die sich für Geschriebenes begeistern, Idealisten, aber auch Pragma ker, und die bereit dazu sind, die Arbeiten anzugehen, die für die Erstellung einer Zeitschri notwendig sind. Meldet euch und mischt mit!
fool on the hill 14.
Herbst 2010.
thefool-siegen@gmx.net