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Niels Werber im Interview: Diese kleinen, dummen Dinger

Der Literaturwissenschaftler Niels Werber im Gespräch über Schwärme, Städte und Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft.

Interview von Anke Bliedtner und Demian Göpfer

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fool: Warum eignet sich die Schwarmtheorie, also das Bild eines Ameisenstaates, um moderne Gesellschaft zu beschreiben?

Werber: Ich würde da erst einmal die Perspektiven unterscheiden und fragen: „Wer glaubt eigentlich, dass sich das Bild so gut eignet?“ Mich interessiert, warum das als Bild Verwendung findet. Das hat viele Ursachen, ich nenne mal zwei, die besonders wichtig sind: Erstens gibt es eine große Tradition. Seit über zwei Jahrtausenden gelten Ameisen etwa, oder auch Bienen, als soziale Insekten. Aristoteles sagte schon: Nicht nur der Mensch ist ein zoon politikon, sondern auch Insekten. Seitdem hat man also diesen Bildbereich, der als Metapher, als Bild der Gesellschaft dient. Und zweitens eignet sich dieses Bild besonders gut, weil es natürlich immer schon Mengen sind; es sind viele und anders als bei politischen Ikonen, ikonischen Tieren, z.B. Löwen oder Adlern, können Ameisen immer auch Massenphänomene darstellen. Das wird dann interessant, wenn die Gesellschaft sich als Menge oder als Masse entdeckt, also im 19. Jahrhundert, dann greift man quasi sofort auf dieses wohletablierte Bild zurück, um zu schauen, wie das in der Natur läuft. Was in der Natur existiert, hat immer eine gewisse Rechtfertigung. Und deshalb ist es schon im 19. Jahrhundert für Soziologen, Biologen und Gesellschaftswissenschaftler interessant zu schauen, wie man eigentlich Gesellschaften beschreiben kann, und zu fragen: Haben wir nicht in den Ameisen ein Vorbild? Man kann sich natürlich vorstellen, dass der Zugang zu den Ameisen wissenschaftlichen Veränderungen unterworfen ist, d.h.: Mit der ganzen epistemischen Formation ändert sich natürlich auch das, was Ameisenstaaten sind. Das können mal Republiken sein, das können mal totalitäre Staaten sein. Etwa im Nationalsozialismus sind die Insekten Vorbilder für ein kastenartig durchformiertes, autoritäres Staatsbild und heute – und jetzt kommen wir zum Schwarm – heute sieht man in den Ameisengesellschaften Schwärme, d.h. Mengen, die aus simplen Akteuren bestehen, die aber durch die Art ihrer Vernetzung ein surplus schaffen, das ist der Schwarmeffekt. Eigentlich sind die Ameisen ganz einfache, relativ dumme kleine Dinger, aber wenn die sich in Selbstorganisation zu einem Schwarm erheben, wie ein destruiertes, verteiltes, laterales Netzwerk, dann nennt man das ‚Schwarmintelligenz‘. Genau das machen Soziobiologen, Entomologen oder auch Kybernetiker: Seit den 70er-Jahren schauen die sich mit dieser Idee von einem verteilten Netzwerk, einem surplus oder einem Emergenzeffekt, Ameisengesellschaften an, wo aus simplen Akteuren dann doch etwas Kompliziertes wird.

Aber was ist an diesem Bild, das Soziobiologen, Entomologen, Kybernetiker usw. entwickeln, jetzt wiederum interessant für einen kulturell-gesellschaftlichen Diskurs?

Meine These wäre, dass dieses Bild eine attraktive Alternative bereithält zu dominanten Modellen von Gesellschaft, die auf Schichtung oder Funktionsdifferenzierung setzen. Man kann sich vorstellen, dass einzelne Akteure allein durch Vernetzung, und nicht durch Hierarchisierung, sondern durch ihre Kollaboration, ein intelligentes Ganzes schaffen. Das ist die Attraktivität dieses Bildes und deshalb nimmt man es auch zum Vorbild für menschliche Gesellschaften. Die Unterschiede, die zwischen Ameisen und Menschen bestehen, sind natürlich ein Problem. Aber wenn Sie genau in die Theorien reingehen, dann sehen Sie, dass bestimmte Unterschiede weggewischt werden. Wenn Sie ganz abstrakt rangehen und sagen: Gesellschaften bestehen aus Kommunikation, aus Akteuren, Gesellschaft ist ein Emergenzeffekt, dann können sie Insektengesellschaften und menschliche Gesellschaften auch vergleichen.

Die Ameisenmetapher findet man ja auch in der Urbanismus-Forschung um ganz konkrete Probleme darzustellen...

Ja, für Urbanisten ist das natürlich nochmal attraktiver, weil Sie da schon die ganzen Bildbereiche der Stadt haben, die der Ameisenhügel natürlich anbietet: Sie haben die Ameisenstraßen als Lösung für Verkehrsprobleme und komplizierte Infrastrukturen, Sie haben extreme Hygieneprobleme, die die Ameisen vorbildlich lösen – der Ameisenhügel ist quasi bakterienfrei, es gibt also ein vorbildliches Lüftungssystem wie etwa in Termitenbauten, usw. Die Probleme haben wir auch in der Stadt: Wie entsorgt man Abfälle? Wie organisiert man den Verkehr? usw. Und das machen die Ameisen alles ohne zentrale Steuerung. Die Forschung fragt sich dann, wie schaffen die das? Können wir das nicht auch so machen? Das deutsche Institut für Weltraumforschung in Berlin führt ein Verkehrsprojekt durch und überlegt, ob wir nicht mit dem Algorithmus der Ameisen, dem sogenannten ANT-Algorithmus, den Verkehr leiten können oder im Internettraffic Staus vermeiden. Man versucht, diese Ameisengesellschaften in Computern zu simulieren und transferiert diese Modelle dann auf den Bereich unserer, oder auch urbaner Probleme, um sich dann zu fragen: Kann man das nicht so regeln wie die Ameisen? Die Zirkulation zwischen den Diskursen kann man sich jetzt ganz gut vorstellen.

Heißt die Hinwendung zur Schwarmtheorie denn, dass sich die Möglichkeit, Gesellschaft anhand funktional differenzierter Systeme zu beschreiben, erübrigt hat? Laufen die Schwarmtheorie und die Netzwerktheorie jetzt der Systemtheorie den Rang ab?

Es gibt Soziologen, die eine Soziologie für eine andere Gesellschaft einfordern. Die würden natürlich stark machen, dass die jetzt im Entstehen begriffene Gesellschaft eigentlich mit den alten Mitteln – also mit Schichtung und mit Zentrum-Peripherie-Unterscheidung und auch mit Funktionsdifferenzierung – nicht mehr zu beschreiben ist. Und wie sonst? Mit Netzwerk- und Schwarmtheorien. Dirk Baecker und Bruno Latour sind Forscher, die in diese Richtung denken – also im Bezug auf die nächste Gesellschaft eher über Vernetzung nachdenken und nicht über Funktionsdifferenzierung. Ein Grund ist so einer Art impliziter Medientheorie der Soziologie geschuldet, d.h.: mit großen Medienschwellen gibt es auch soziale Veränderungen: Der Computer und das Internet führen jetzt zu einer Art Vernetzung und man könnte nun die sozialen Akteure in diesen Netzwerken als Schwärme beschreiben. Aber auch die Leute, die die Systemtheorie umbauen, würden ja nicht sagen: ‚Kommunikation, das brauchen wir jetzt nicht mehr.‘ Das ist immer noch die zentrale Einheit, wie auch der Bezug auf bestimmte Problemlösungen, also es gibt so heilige Kühe der Systemtheorie, die werden nicht geschlachtet. Es geht natürlich darum, ob sich jetzt die Gegenwartsanalyse ändern muss und man die Beschreibung der Gesellschaft als funktionsdifferenzierte Gesellschaft, ob man die vielleicht [überlegt kurz] aufgeben muss. Das heißt nicht, dass man die Systemtheorie aufgibt, sondern man würde sagen: Mit unserem Handwerkszeug kommen wir jetzt zu anderen Ergebnissen und wir sehen, dass die Anschlussfähigkeit in der Gesellschaft anders organisiert wird. Dirk Baecker hat in mehreren Publikationen gesagt, dass die Anschlussfähigkeit primär nicht über das Funktionsprimat läuft, sondern dass es jetzt primär um Vernetzung geht, also dass der Grad der Vernetzung, die Partizipation an einem Netz, der Platz in einem Netz, dass das vielleicht wichtiger sein könnte als der sachliche und problemorientierte Gehalt einer Kommunikation. Wenn das so ist, dann müsste man natürlich die Gegenwartsbeschreibung der Gesellschaft komplett ändern.

D.h.: Systemgrenzen weichen auf?

Ja, könnte man so sagen. Die eingeübten Unterschiede zwischen Wissenschaft und Wirtschaft usw., die gibt's zwar noch, aber sie sind nicht mehr entscheidend, das ist ja genauso wie es heute auch noch Klassen gibt oder Schichten und Entfernungen, die sind nur nicht mehr so wichtig.

Wie hängen denn diese beiden Bilder, Netzwerk und Schwarm, innerhalb des neuen Beschreibungsmodells zusammen?

Netzwerke sind ja erstmal nur die Infrastrukturen, jetzt könnte man überlegen, wer in diesen Netzwerken agiert, das könnte ja auch eine Spinne sein, die im Zentrum sitzt und alle Fäden in der Hand hat. Das wäre ein Bild aus den 30er, 40er-Jahren, aber heute würde man natürlich sagen: Der Akteur in den Netzwerken ist der Schwarm, er nutzt diese Verbindungsfähigkeit, um sich immer wieder neu zu konfigurieren. Sie sind ja nicht ein Mitglied in der Gesellschaft wie sie auch Mitglied in einer Organisation sind. Um in die Uni reinzukommen, werden sie immatrikuliert; um exmatrikuliert zu werden, müssen sie schon was Schlimmes machen, es ist ein richtiger bürokratischer Aufwand. Und wenn man drin ist, dann ist man erstmal drin und solange man die Studiengebühren bezahlt, bleibt man auch ewig dabei. Beim Schwarm ist das natürlich etwas völlig anderes: Sie schließen sich dem an und dann wird etwas gemacht und dann löst der sich auch wieder auf. Das sind ganz andere Formen sozialer Organisation, die durch diese neuen Medieninfrastrukturen auch ermöglicht werden und das ist die Attraktivität für dieses neue Modell.

Sie sind also durchaus ein Anhänger dieses Bildes und der Art wie es in der Forschung verwendet wird?

Wenn Sie mich nach meiner Meinung dazu fragen, dann muss ich sagen: Ich sehe das einerseits mit Faszination, andererseits auch skeptisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die zentralen Funktionen, die unsere Gesellschaft benötigt, damit sie funktioniert – also die Verteilung knapper Güter, die Regelung bindender Entscheidungen, wir brauchen Gesetze, wir brauchen Geld, wir brauchen eine Wissenschaft – diese Funktionsimperative, die sind ja immer noch da und man müsste jetzt die Frage zurückgeben an die Netzwerk- und Schwarmtheoretiker: Wie stellt man sich jetzt eigentlich vor, wie diese Funktionen oder diese Probleme in Schwärmen gelöst werden? Und da ist gerade wieder das Ameisenmodell eine attraktive Antwort, weil die Ameisen der neuesten Forschung im Grunde Multitasker sind, es gibt Leute, die arbeiten erst im ‚foraging‘ und wenn's woanders ein Problem gibt, dann wechseln die irgendwie zur ‚Nestmaintenance‘, die switchen also und können mit einem relativ geringen Pool an Arbeitskräften und dadurch, dass die immer die Kräfte bündeln, addieren und dann wieder abbauen, extrem flexibel agieren und verschiedene Probleme gemeinsam lösen. Man sieht eigentlich sofort, das ist ein neoliberales Modell. Stellen Sie sich eine Arbeitswelt vor, mit einer ‚Workforce‘, die sie immer hin- und herschieben können. Man sagt heute schon, dass das so ist: Arbeitsplätze verlagern, Flexibilität schaffen, am Besten nur noch über Arbeitsvermittlungen und solche Firmen. Und man könnte jetzt so ein bisschen boshaft fragen, ob die Schwarm- und Netzwerktheorie über diesen Umweg nicht extremste Formen neoliberaler Ökonomie abbildet, nur dass die das super finden.

ANT-/Ameisenalgorithmus

Abb. 1) Eine Ameise auf Futtersuche findet eine tote Maus. Sie begibt sich zum Ameisenhügel und hinterlässt dabei eine Pheromonspur. Abb. 2) Die anderen Ameisen folgen dem markierten Weg bis zur Maus und hinterlassen ihrerseits Pheromone. Dabei versuchen sie verschiedene Wege zum Ziel. Nach einer Weile wählen immer mehr Ameisen den kürzesten Weg zur Maus, da sich die Pheromonspur hier konzentriert. Abb. 3) Endlich folgen alle Ameisen dem kürzesten Weg und es entsteht eine leitende Ameisenstraße. Diesen Prozess versucht man in vielen netzwerknahen Anwendungen zu imitieren, um optimale Ergebnisse zu erreichen, zum Beispiel bei der Berechnung von Bus- oder Postrouten.

Illustration: Philipp Petzold

Ein wesentliches Medium unserer Gesellschaft ist der Computer und mit ihm das Internet. Beides hat eine Netzwerkstruktur zur Grundlage. Sind Sie der Ansicht, dass dadurch auch die Strukturen und Rahmen, in denen wir denken, beeinflusst werden? Dass durch die netzwerkartige Struktur der von uns genutzten Medien auch immer mehr eine solche Art von Kollektivität im Alltag, eine Netzwerkgesellschaft entsteht und unser Handeln netzwerkartige Züge annimmt?

Das könnte man zumindest vermuten. Was dem vielleicht entgegenstehen würde, wäre z.B. eine ausgeprägte Identität, oder, dass man ein ganz bestimmtes Rollenklischee, einen Rollenhabitus eingeübt hat, von dem man nicht abweicht. Man ist halt z.B. Beamter oder Polizeiwachtmeister und man hat eben Leute, die sagen: „Ich bin Richter“ oder „Ich bin Banker“ oder „Ich bin Hochschullehrer“ oder auch Student, mit aller Konsequenz in Bezug auf Selbsteinschätzung, Habitus usw., denen ist es egal, wenn sich diese Zusammenhänge auflösen und man sagen kann: „Na ja, jetzt ist es viel wichtiger zu sagen: Ich bin auf Facebook und nicht auf Myspace“ oder so. Man weiß, dass die Einübung bestimmter Rollenklischees historisch relativ schnell entstanden ist und man könnte sich natürlich vorstellen, dass das auch wieder weggeht. Vielleicht sind nun soziale Netzwerke für die Identitätsbildung viel wichtiger, vielleicht ist es viel wichtiger zu sagen, mit wem ich meine Interessen teile, wer sind meine Freunde, meine ‚Follower‘, wer hört die gleiche Musik, all das, was da so...

...was verbindet?

Genau. Man könnte sich schon vorstellen, dass das langfristig unsere persönliche und auch kulturelle Identität ändert. Das liegt ja nahe, man kann das ja schon beobachten. Das muss einen ja gar nicht so verunsichern. Wenn man historisch forscht, dann weiß man: Weltbilder, Selbstentwürfe usw. ändern sich immer ziemlich stark und daran haben Medien einen großen Anteil und das wird nun vermutlich wieder so sein. Aber es kommt auch auf die Art und Weise an, wie man sich ein Medium aneignet: Man kann mit den gleichen Medien nämlich unterschiedlich umgehen. Gerade in Siegen, z.B. in der Medienethnologie, würde man sagen: Die gleichen Techniken sind nicht unbedingt die gleichen Kulturtechniken. Es gibt immer auch andere Möglichkeiten, mit den gleichen Medien umzugehen und genau diese Möglichkeiten, die habe ich mal fürs 19. und frühe 20. Jahrhundert untersucht und gesehen: Ja, es gibt mit Blick auf bestimmte Medien – etwa Telegrafen, Telefone, Radio – völlig unterschiedliche Möglichkeiten, darauf zurückzugreifen. Und dann sieht man: Medien sind zwar wichtig, sie liefern aber nicht die letzte Entscheidung darüber, was kulturell läuft. Diese Beobachtung würde ich gern noch mal an die Ameisengesellschaftsfrage rückkoppeln, weil das nämlich an diesem Bild genau das Gleiche ist: Sie haben also diesen starken Bildbereich, diese Analogien und sagen: Wir sind eine Ameisengesellschaft, wir sind auch alle ein Schwarm. Aber sie können auch genau die gleiche Ameisengesellschaft beobachten und dann sagen: Die sind totalitär. Wir sind ein totalitärer Staat. Sie können in der gleichen Sache völlig andere Dinge mitkonstruieren und man sieht, dass es eben nicht nur von der Sache, den Medientechniken abhängt, sondern von der Art, wie sie die konstruieren, und das geht ganz verschieden. Das wäre natürlich ein Plädoyer für eine Medienkulturwissenschaft, die auch diese Aneignungsweisen, den Umgang, die Konstruktion im Blick hat.

Aus der Distanz betrachtet ist die Stadt ein chaotisches Gewimmel, ohne Ordnung, ohne Führung, alles läuft durcheinander. Die Schwarmmetapher setzt auf das Fehlen eines Zentrums, die Stadt allerdings hat ein Zentrum. Eignet sich das Bild des Schwarms überhaupt zur Beschreibung der Stadt?

Wenn sie sagen, die Stadt hat ein Zentrum, dann sind sie natürlich Europäer, und zwar Alteuropäer. Los Angeles hat kein Zentrum. Oder was soll das Zentrum sein in solchen riesigen Städten wie Mexico City? Man könnte jetzt sagen, das passt natürlich viel besser zu solchen urbanen ̦'sprawls', wo man diese Unterschiede Zentrum/Peripherie gar nicht mehr machen kann. Die Stadt hat sich ja auch sehr verändert, aber trotzdem haben sie natürlich Recht, dass die Begeisterung für diese Schwarmsache natürlich auch zeigt, dass man jetzt Neues oder etwa Anderes stärker in den Vordergrund rücken möchte. Ja, da könnte man natürlich überlegen, was das ist. Es gibt unterschiedliche Probleme, die mit dem Schwarm-Bild gelöst werden sollen, zumindest erstmal nur bildlich oder semantisch. Einerseits sind das Organisationsprobleme: Sie können immer auf zentrale Steuerung verzichten und sagen: „Das lösen wir vor Ort selber.“ Selbstorganisation ist attraktiv für alle möglichen Bereiche, beim Verkehr angefangen, überall dort, wo Sie Mengen beherrschenoder ordnen müssen: in der U-Bahn, auf Plätzen usw. Das ist für die Stadtplanung natürlich sehr interessant. Sie haben damit die Möglichkeit, solche unübersichtlichen, urbanen Areale zu organisieren. Ein neues Modell, mit dem sie Leute über Interessen, über Leidenschaften usw. als Schwarm organisieren, die dann gemeinsam agieren. Das können Protestmengen sein, wie in Seattle, das können irgendwelche Interessen bürgerrechtlicher Art sein, das können Fans sein, die sich treffen, weil sie – keine Ahnung – Brad Pitt mögen. Sie können da Interessen, Leidenschaften usw. neu organisieren, natürlich wieder mit Hilfe der neuen Medien. Sie haben damit eine vollkommen andere Form von Organisation. Das ist ja auch attraktiv, etwas völlig anderes, das ist die Möglichkeit, wie man sich heute in diesen unübersichtlichen Verhältnissen dieser Multimillionenstädte organisiert.

Also auf dem Land, in einer dörflich-familiären Struktur, hätten Sie immer noch permanente Netze, da wird man immer miternährt oder man ist der Dorfdepp, was auch immer, aber immer Teil des Dorfes.

Wo sind denn die Grenzen der Netzwerktheorie? Welche Entwicklung, welche urbanen Phänomene sind mit Netzwerk- oder Schwarmtheorie nicht abbildbar?

Es gibt ja eine interessante Entwicklung, die man global beobachten kann, und das wäre einerseits die extreme Ballung von Menschen. Immer mehr Menschen wohnen in der Stadt, also es gibt diese Bewegung und zugleich aber auch die immer stärkere Exklusion. Also man könnte fast sagen, dass jede Groß- oder Riesenstadt, die diese These der Verstädterung bestätigt, die entlässt aus sich heraus auch diese Exklusionszonen, also Slums usw., und da haben Sie dann – und das hat Luhmann auch schon gesehen – tatsächlich die Auflösung der funktionsdifferenzierten Gesellschaft, weil da haben Sie natürlich keine Erziehung, kein Wirtschaftssystem; da haben Sie Handgreiflichkeiten, Überfälle, brutale Gewalt, Sie haben keine Polizei, Sie haben keine Gerichte, Sie haben kaum Schrift, d.h. die Leute sind Analphabeten usw. Das ist ja ein Phänomen, dem man sich auch stellen müsste, das also gerade die Weiterentwicklung der Gesellschaft betrifft, also die weitere Urbanisierung. Da haben Sie in Brasilien oder in Mexiko oder auch in Asien diese riesigen Müllhaufen mit Hunderttausenden von Leuten, die da irgendwie wohnen und die ja gar nicht anschlussfähig sind. Das ist sozusagen das Ende der Anschlussfähigkeit. Die haben auch keine Medien. Es gibt ja riesige Menschengruppen, die mitten in diesen Städten hausen oder vegetieren, die an nichts angeschlossen sind, und das ist eigentlich eine Sache, die man meines Erachtens mit Netzwerk- und Schwarmtheorien gar nicht erklären kann. Aber systemtheoretisch kann man das; wenn man an Funktionsdifferenzierung glaubt, kann man das sehr gut erklären. Die Funktionssysteme inkludieren. Die wollen jeden erreichen: Jeder soll Wähler sein, jeder soll Kunde sein, jeder soll Wissen haben usw., aber wenn Sie da rausfallen, dann entsteht so eine Art Addition von Exklusion. Sobald Sie kein Geld mehr haben, kriegen Sie auch keine Ausbildung. Sobald Sie keine Ausbildung haben, haben Sie kein Geld und auch keine medizinische Versorgung, ja sobald Sie nicht lesen und schreiben können, können Sie auch nicht wählen, weil Sie dann nicht mal die basalen Sachen mitbringen. Die moderne Welt inkludiert immer anspruchsvoller, das wird immer komplizierter. Wenn man drin ist, ist man drin, aber es ist immer schwieriger geworden, reinzukommen, man muss alphabetisiert sein, man braucht eine Adresse usw. Sobald da was nicht klappt, fliegen Sie aus den ganzen Agenturen der Funktionsdifferenzierung raus und dann sind Sie aber richtig draußen! Diesen Zusammenhang von Inklusion und Exklusion, den hat Luhmann sehr genau beschrieben und damit auch auf eines der zentralen globalen Probleme hingewiesen. Dass es nämlich eine Schattenseite der Funktionsdifferenzierung gibt, und das ist die Exklusion. Mir würde jetzt nichts einfallen, wie man mit so tollen Netzwerk- und Schwarmtheorien diesem Phänomen gerecht werden sollte. Das ist ein Phänomen der Stadt, Slums und die Favelas haben sie ja genau da.

D.h.: Die Stadt als Ort maximaler Inklusion ist auch gleichzeitig der Ort maximaler Exklusion.

Genau.

Das ist auch ein weiterer Unterschied zum Land, wo so etwas in sehr viel abgeschwächterem Maße passiert.

Genau, gar nicht! Also auf dem Land, in einer dörflich-familiären Struktur, hätten Sie immer noch permanente Netze, da wird man immer miternährt oder man ist der Dorfdepp, was auch immer, aber immer Teil des Dorfes. Und durch die Verstädterung und durch diese extreme Mobilisierung, die ja auch Bindungen abschneidet, haben Sie dann diese radikale Exklusion. Ich bin kein Stadtsoziologe, ich kenne ja nur so ein bisschen was. Aber nehmen Sie z.B. Mike Davis’ ‚City of Quartz‘: Der beschreibt Los Angeles, und interessiert sich genau für diese Exklusionsmechanismen in der Stadt. Jede Form der Inklusion – das würde er vielleicht nicht so drastisch sagen, aber das kann man aus dem Buch durchaus rauslesen – jede Form der Inklusion ist auch eine Form der Exklusion. Wenn Sie sich die neuen Städte anschauen, z.B. die Stadtmöblierung, die obdachlosenunfreundlich ist, also:

keine Bänke mehr, auf denen man es sich gemütlich macht, all diese Sachen – das geht alles in die Richtung Gentrifizierung. Ihre Formel, das Zentrum der Inklusion, ist auch gerade deswegen eines der Exklusion, das würde mir jetzt als These erstmal einleuchten. Man müsste das natürlich weiter prüfen, aber das wäre eine Hypothese.

Herr Werber, vielen Dank für dieses Gespräch.

Prof. Dr. Niels Werber ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaften in Siegen. Er befasst sich in seiner Forschung unter anderem mit Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft und sozialen Insekten.

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