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Ein neues Leben zu dritt

Querschnittsgelähmt und schwanger – wie sich das anfühlt, erzählt uns Tina. Sie ist eine der wenigen Frauen mit einer hohen Querschnittslähmung, die als sogenannte Tetraplegikerin ein Kind zur Welt brachten.

Wir trefen uns in ihrer hellen Wohnung in St. Johann in Tirol. Tina sitzt uns gegenüber, ihre Hände liegen auf ihrem Bauch. Sie ist im achten Schwangerschaftsmonat und steht kurz vor ihrer ersten Geburt. „Es ist komisch und schwer zu beschreiben. Durch meine Verletzung spüre ich ab der Höhe der Brust nur noch wenig, aber die Bewegungen in meinem Bauch fühle ich ganz deutlich“, so die 35-Jährige mit leiser Stimme. Sie atmet merklich schwer. Die Schwangerschaft ist eine Belastung für ihren Körper. Seit sie 21 Jahre alt ist, ist Tina hoch querschnittsgelähmt.

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Schicksalstag

Damals bereist sie Länder wie Indien und Nepal und kehrt von ihrer Weltreise in ein verschneites Tirol zurück. Wieder daheim, geht sie gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder snowboarden. Ein richtiger Familientag. Nach ein paar Abfahrten schlägt das Schicksal zu: Ihr Snowboard verkantet sich. Tina stürzt unglücklich, schlägt mit dem Nacken auf der Piste auf und bricht sich dabei einen Halswirbel. „Ich habe den Sturz mitgekriegt und auf einmal nichts mehr gespürt. Ich war hilflos und voller Panik“, erzählt Tina, während sich der Schmerz dieses Tages in ihrem Gesicht abzeichnet.

Nach dem Unfall verbringt sie viele Wochen in Krankenhäusern und Rehazentren. Die Diagnose: kompletter Querschnitt ab dem 6. Halswirbel – das bedeutet, dass die meisten Körperfunktionen unterhalb des Verletzungsniveaus ausfallen. Ihre Psyche leidet stark unter der Verletzung: „Ich habe mich nach meinem Unfall fast verloren. Ich wusste nicht mehr, wer ich bin.“

Das schönste Geschenk Seitdem ist so viel passiert. Tina hat gelernt, mit ihrem neuen Leben umzugehen. Obwohl sie ihre Finger nicht bewegen kann, ist sie erfolgreiche Künstlerin – kreiert verspielte, freundliche Motive und vertreibt selbst designte Produkte in ihrem Shop. Vor einem Jahr lernt sie ihren Partner Richard on-

Durch meine Verletzung spüre ich ab der Höhe der Brust nur noch wenig, aber die Bewegungen in meinem Bauch fühle ich ganz deutlich.

line kennen. Er ist ebenfalls aus Tirol. Die beiden verlieben sich und ziehen zusammen.

Kurze Zeit später wird Tina überraschend schwanger. „Ich habe das Thema Kinder nach meinem Unfall eigentlich abgeschrieben. Deshalb freue ich mich umso mehr. Aber ich stehe vor einer großen Herausforderung“, erzählt die werdende Mama.

Als wir wissen wollen, wovor sie sich fürchtet, wird ihre Erschöpfung sichtbar. Und eine leichte Anspannung. „Es ist so schwierig einzuschätzen, zu was ich körperlich in der Lage sein werde. Am liebsten würde ich alles selbst machen“, so Tina.

Familienglück: Die beiden Eltern genießen jede freie Minute mit ihrem Sohn Elias.

Familienglück: Die beiden Eltern genießen jede freie Minute mit ihrem Sohn Elias.

Foto: Lisa Jungmann

SECHS MONATE SPÄTER ...

Wir trefen uns wieder in der hellen Wohnung. Tina sitzt uns am selben Platz gegenüber – mit weniger Bauchumfang und einem anderen Ausdruck im Gesicht. Sie wirkt verändert. Das ist deutlich zu spüren. Sie hat ein neues Leben auf die Welt gebracht – und schwebte dabei für kurze Zeit in Lebensgefahr.

Eine richtige Familie

Ihr Sohn Elias kommt vor sechs Monaten mit einem geplanten Kaiserschnitt auf die Welt. Die OP verläuft normal, aber Tina kämpft an den ersten Tagen danach mit starken Schmerzen. Dann verschlechtert sich ihr Zustand. Das durch die Schwangerschaft eingelagerte Wasser sammelt sich in der Blase. Aufgrund der großen Menge erleidet Tina eine sogenannte „autonome Dysrefexie“. Dabei steigt der Blutdruck in eine lebensbedrohliche Höhe. „Das ist eigentlich das Schlimmste, das bei einem hohen Querschnitt passieren kann. Aber darauf war niemand vorbereitet – eine Schwangerschaft mit einer Rückenmarksverletzung wie meiner ist sehr selten. Ich weiß nur von einer einzigen weiteren Frau in Österreich, die als Tetraplegikerin Mama wurde“, erzählt Tina. Nach einigen kritischen Stunden ist Tina wieder stabil. Sie und ihr

Sohn müssen noch ein paar weitere Tage im Krankenhaus verbringen. Richard ist ständig an ihrer Seite. „Es war ein überwältigendes Gefühl, als unser Elias dann da war. Beim ersten Blick in seine Augen hat es mir vor Liebe fast mein Herz zerrissen. Als wir aus dem Krankenhaus durften, waren wir plötzlich zu dritt daheim. Eine richtige Familie. Da gab es viele Freudentränen“, so Tina, die vor Stolz zu strahlen beginnt. Die

Beim ersten Blick in seine Augen hat es mir vor Liebe fast mein Herz zerrissen.

Gefühlslage der jungen Mutter ist eine emotionale Achterbahnfahrt. Größtes Glück und Freude stehen neben schmerzhafter Wehmut. Freude darüber, ein gesundes Kind auf die Welt gebracht zu haben. Wehmut darüber, den eigenen Ansprüchen nicht gänzlich gerecht werden zu können. Das eigene Kind nicht schnell aufeben zu können, wenn es weint. Nicht stillen zu können, weil der Kreislauf nicht mitmacht. „Das ist manchmal schon schlimm für mich. Wenn mein Sohn beispielsweise in der Nacht aufwacht, kann ich ihn nicht zu mir holen. Richard holt ihn dann ins Bett, damit wir ihn gemeinsam trösten können. Ich brauche Hilfe bei vielen Dingen, die ich nur allzu gern selbst machen würde“, so Tina.

Ein letzter Traum

Tinas Körper hat sich noch nicht von der Geburt erholt. „Man muss akzeptieren, dass nicht alles geht, was man sich vornimmt. Das ist gar nicht so einfach“, so die Tirolerin. Aber das Leben zu dritt funktioniert. Zumindest wirkt es so. Wenn ihr Kind schläft, arbeiten die beiden Eltern für die gemeinsame Firma.

Auf die Frage, wie sie alles unter einen Hut bringen, tauschen Tina und ihr mittlerweile Verlobter Blicke aus und lachen. Sie bräuchten schon einen großen Hut, damit alles darunter passe. „Es ist nicht immer leicht, aber

Der Schoß seiner Mama gehört zu Elias’ liebsten Plätzen.

Der Schoß seiner Mama gehört zu Elias’ liebsten Plätzen.

Foto: Lisa Jungmann

unser Kind füllt eine Lücke, von der wir vorher nicht wussten, dass es sie gibt“, so Richard. „Da ist so viel Liebe! Jeder Tag mit unserem Sohn ist ein Geschenk“, ergänzt Tina, während sie zu Elias schaut. Sie wirkt nachdenklich. Auf die Frage nach ihren Wünschen für die Zukunft muss sie nicht lange überlegen: „Dass ich irgendwann mit meinem Jungen über die Wiese laufen kann, das Gras zwischen den Zehen spüren kann. Das wäre so schön. Ich kann gar nicht abwarten, dass dieser Traum Wirklichkeit wird.“

Gemeinsame Runde an der frischen Luft: Die Familie liebt es, draußen zu sein.

Gemeinsame Runde an der frischen Luft: Die Familie liebt es, draußen zu sein.

Foto: Lisa Jungmann

Richard mit seinem Sohn Elias.

Richard mit seinem Sohn Elias.

Foto: Lisa Jungmann

Schwangerschaft mit Querschnittslähmung

Eine Verletzung der Rückenmarksnerven führt in der Regel nicht zu einer Beeinträchtigung des weiblichen Zyklus. Frauen, die eine Rückenmarksverletzung erleiden, können also durchaus eine normale Schwangerschaft erleben. Eine vaginale Geburt ist möglich, auch wenn die Mutter oft nicht aktiv zu pressen vermag, weil die Bauchmuskulatur nicht mehr angesteuert werden kann. Bei Schwangeren mit einer hohen Lähmung ist bei der Geburt ein Kaiserschnitt üblich.