Wohngeschichten aus den 1950er/60er Jahren

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DIE SIEDLUNG SIEMENSSTRASSE IN WIEN-FLORIDSDORF

n e t h c i h c s e g n h o W

n e r h a J er 0 6 / er 0 5 9 1 aus den


Lageplan der Siedlung Siemensstraße




Wohngeschichten ren h a J er 0 6 / er 0 5 9 1 en d aus DIE SIEDLUNG SIEMENSSTRASSE IN WIEN-FLORIDSDORF

Herausgegeben von Wolfgang Fichna Werner Michael Schwarz Georg Vasold Susanne Winkler


INHALT

Vorwort

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Die Siedlung Siemensstraße. Sozialer Wohnbau in Wien nach 1945 Werner Michael Schwarz Susanne Winkler 16

Wohngeschichten aus der ­Siedlung ­Siemensstraße Christiane Strobach · Leo Marek Martha Misof · Rosi Jaksic 42

36 m² 44 Alteingesessen 47 Ausgebombt 51 Bambusstecken 52 Bankerl spielen 52 Beatles 55 Bettbank 56 Bombentrichter 57 Brausekabinen 57 Buama-Menscha 58 Capri-Brausekabinen 58 Contergan 60 Eismann 63 Erntedankfest in Stammersdorf Erster Mai 64 Extrawurst 66 Extrem eng 69 Fernsehen 69

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Feuerwehrauto 70 Freibad 70 Fünf in einem Zimmer 73 Fünfuhrtee 73 Gaswerk 74 Girls und Hutschen­ schleuderer 77 Goggomobil 77 Goldteufel 78 Großfamilie 81 Hackstock 84 Häfenflicker und ­Messerschleifer 84 Hausmeisterinnen 85 Heimarbeit 87 Hofkind 88 Kastenverbau 90 Küchentisch 91 Lady spielen 93 Lignano 93 Linke Hand 94 Linoleum 94 Matratzenlager 97 Meller-Ofen 97 Mutter und der ewige Häuptling 98 Polizist und Nikolo 101 Riesenwohnungsnot 101 Schillerlocken und ­Bensdorp-Schleifen 102

Schleiftag 105 Schlüsselkind 106 Schneewechten 106 Schnitzel und Fleischlaberl Schöner Arsch 107 Schwemm 109 Sperrgeld 109 Spukschloss 110 Stecknadeln 113 Stoffbikini 114 Strobach-Eislaufplatz 114 Turner-Gschnas 117 Vorturner 117 Vorzimmergeld 118 Wände 120 Wahnsinnshacke 120 Waschtag 123 Wichtigmachen 123 Wickel 124 Wunschwelt 126 Zündapp 126

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Kommentar aus der Nachbarschaft Michael Ludwig 127

Franz Schuster – der ­Architekt der Siedlung ­Siemensstraße Georg Vasold 128


VORWORT

Christiane Strobach, Leo Marek, Martha Misof und Rosi Jaksic sind in der Siedlung Siemensstraße in Floridsdorf geboren oder als Kinder mit ihren Familien zugezogen. Zum Zeitpunkt ihrer Errichtung im Jahr 1950 lag die Gemeinde­ bausiedlung am Rand des verbauten Stadtgebiets inmitten von Wiesen, Äckern und in Nachbarschaft von Kleingarten­ siedlungen und großen Industriebetrieben. Im sozialen Wohnbau der unmittelbaren Nachkriegszeit nahm sie eine besondere Stellung ein. Die Siedlung Siemensstraße war ein „Versuchsfeld“, um die drastische Wohnungsnot zu ­bewältigen, und eine Art Musterstadt, um die neuen ­Grundsätze des sozialen Wohn- und Städtebaus zu ­erproben. Krieg und NS-Zeit lagen erst wenige Jahre zurück. Die Anlage der Siedlung war ein „Nachkriegsbau“ im doppelten Sinn, so ging es auch um die Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens nach dem vorangegangenen Horror. Unter dem Schlagwort „Neue Nachbarschaft“ sollte das ­Verhältnis von individuellem und kollektivem Leben neu gedacht ­werden. Die Wohnungen, sogenannte Duplexwoh­ nungen, waren selbst für die Zeit klein, hatten neben der Küche nur ein Wohnschlafzimmer, die Häuser waren aber von einer groß­zügigen Gartenlandschaft umgeben. Christiane, Leo, Martha und Rosi erzählen über Kind­ heit und Jugend in der Siedlung, über das Spielen in den ­weit­läufigen Höfen, das Sommervergnügen im Freibad der ­Anlage, den Eislaufplatz, das Kino im Volksheim. Es geht um die Beengtheit in den Wohnungen, die objektiv 6


viel ­Improvisation erforderten und Konfliktpotenzial bargen, um ­Familienleben, die Geschichte der Eltern, um Geschlech­ terrollen, das gängige Frauenideal der Zeit, das Zusammen­ leben der Generationen. Die Erinnerungen reflektieren das Verhältnis von kindlichen Empfindungen und erwachsenen Urteilen. Tragische Momente blitzen auf, Spuren der Kriegs­ schrecken leuchten durch. Ihre Erinnerungen und Stimmen bilden das Herzstück des vorliegenden Buches. Sie kommunizieren mit Expert*in­ nenwissen, konkretisieren und konterkarieren es. Einem Glücksfall ist es zu verdanken, dass die Erzählungen auch von einem eindrücklichen und für die Zeit seltenen ­visuellen Material begleitet werden. Es stammt überwiegend von Karl ­Bachmeier (1922–2007), dem Vater von ­Christiane. ­Bachmeier war ­Werkmeister bei der ÖBB, ­Weltreisender, ­rühriger Funk­ tionär der Naturfreunde, kam so zum F ­ otografieren und Filmen, hielt zahlreiche Vorträge in ganz ­Österreich. Seine ­Aufnahmen sind deshalb so außergewöhnlich, weil sie den eigentlich ­unspektakulären Familienalltag in einer der Klein­ wohnungen der Siedlung festhalten. Gesprächskreis Christiane, Leo, Martha und Rosi sind Teil eines Gesprächs­ kreises, der sich 2018 auf Initiative von wohnpartner zusammen­fand. Das Nachbarschaftsservice der Stadt Wien für den Gemeindebau vermittelt bei Konflikten und unterstützt vielfältige Nachbarschaftsinitiativen. Bei einem Gespräch zwischen wohnpartner und den Mietervertre­ ter*innen ­anlässlich des 70-Jahr-Jubiläums der Siedlung rückte die Geschichte der Anlage in den Mittelpunkt. Im 7


Gesprächskreis der Siedlung Siemensstraße, 2018 Foto: wohnpartner

­ ahmen der Gemeinwesen­arbeit moderierte wohnpartner R den ­regelmäßigen Gesprächskreis mit den Zeitzeug*innen im Bewohner*innen-Zentrum Ruthnergasse. Zentrale Themen waren Wohnen, Arbeit, Freizeit, Kindheit oder Jugend. Bald kam der Wunsch auf, die Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Grätzels einer größeren Öffentlichkeit in einer Ausstellung zugänglich zu machen. Als idealer Ort stellte sich eine leer stehende, möglichst original erhaltene Wohnung in der Siedlung heraus. Während die Zeitzeug*innen ihre Schub­ laden und Keller nach Erinnerungsgegenständen durchfors­ teten, machte sich wohnpartner auf die Suche nach Koopera­ tionspartner*innen für die Ausstellung. 8


Ausstellung So kam das Wien Museum ins Spiel. Anlässlich der Aus­ stellung Das Rote Wien 2019 war es durch die Stadt getourt und hatte signifikante Orte jener Zeit für das Publikum ­temporär zugänglich gemacht. Erste Station war der Tanz­ saal im ­Karl-Seitz-Hof in Großjedlersdorf, wo der 1. ­Wiener Gemeinde­bauchor aufspielte und wohnpartner auf das Museum aufmerksam wurde, das wiederum die Wiener ­Wohnbauforschung (MA 50) ins Team holte. Diese leistete durch die Finan­zierung, Beauftragung und Betreuung des Ausstellungsprojekts einen wesentlichen Beitrag. Auch flossen dabei bestehende ­Expertisen zum sozialen Wohnbau insbe­ sondere der Epoche der kommunalen Nachkriegssiedlungen in das Ausstellungsprojekt ein.1 Für beide Institutionen waren die historischen Beson­ der­­heiten der Siedlung ein starkes Motiv, das eigentlich ­Faszinierende war die Möglichkeit, das Thema in intensiver ­Zusammenarbeit mit dem Gesprächskreis aufzubereiten. Gerade bei der Siedlung Siemensstraße mit ihrem hohen ­konzeptiven Charakter erschien die Frage nach dem Verhält­ nis von theoretischer Planung und gelebter Praxis besonders relevant. Im Oktober 2020 wurde die Ausstellung unter dem Titel Terra Nova. 70 Jahre Siedlung Siemensstraße. Eine ­Ausstellung zum sozialen Wohn- und Städtebau in Wien nach 1945 in einer originalen Duplexwohnung eröffnet. Neben Die Ausstellung wurde durch ein Forschungsprojekt der Stadt Wien (Wiener Wohnbauforschung/MA 50) gefördert, das von Wolfgang Fichna und Georg Vasold durchgeführt wurde. Die Publikation der Ergebnisse erfolgt mit ­freundlicher Genehmigung der Werknutzungsrechte.

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Plänen des ­Architekten Franz Schuster, Zeugnissen der Städtebau­ideale der Zeit und dem Modell einer Duplex­ wohnung zeigt sie ­zeitgenössische Einrichtungsgegenstände, Möbel, ­Amateurfilme und private Fotografien. Die Schau will so vor dem Hintergrund der historischen Besonderheiten der ­Siedlung differenzierte Einblicke in private Wohn- und ­Lebensgeschichten der 1950er und 1960er Jahre in Wien ­geben. Für wohnpartner zeigt das Ergebnis dieser Arbeit des Gesprächskreises, dass die Gemeinwesenarbeit einen

Die Ausstellung in der Scottgasse 5 in der Siedlung Siemensstraße, 2021 Foto: Klaus Pichler

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­ esentlichen Beitrag zum Verständnis von Geschichte l­eisten w und so zur Stärkung der Gemeinschaft im Gemeindebau ­beitragen kann. Für ein Stadtmuseum wie das Wien Museum, das aus dem Blickwinkel aktueller Fragen ein breites Publikum für die Geschichte der Stadt interessieren möchte, ist das Projekt Siemensstraße ein Glücksfall. Ein wichtiger Abschnitt der Gesellschafts- und Architekturgeschichte der Stadt kann an einem Originalschauplatz erzählt werden, die Zeitzeug*innen vermitteln die Erinnerungsgegenstände in ihrer ­Komplexität, ihrem Gebrauch und ihren symbolischen Bedeutungen, die Beschäftigung mit der Vergangenheit kann den Anstoß für Fragen nach der gegenwärtigen und zukünftigen Stadt geben. Die Herausgeber*innen

Zeitzeug*innen Agnes Bernhart, Rosi Jaksic, Gerhard Jordan, Leo ­Marek, ­Martha Misof, Ricky ­Nemet, Adolf Podlesak, ­Theresia und ­Herbert Rudolph, Eva ­Schachinger, Otto ­Strnadel, ­Christiane und ­Herbert ­Strobach, Helga und Erich Strobl, Paul ­Zimmerle wohnpartner – Gebiet 21 Nora ­Batelka, Burak Büyük, Stefan ­Karasek, Christina Reithofer, Andrea Tučková Wiener Wohnbauforschung/MA 50 Susanne Reppé

Ausstellungsteam Wolfgang ­Fichna, Julia Teresa Fries (Lektorat), Joanna Grochowska und Sevinc ­Aytok (Modellbau, TU Wien), Lisa Ifsits (­Grafik), Alex Kubik (­Gestaltung), Sabrina Rahman (Übersetzung), Werner ­Michael Schwarz (Wien M ­ useum), Georg ­Vasold (Univ. Wien), Susanne Winkler (Wien Museum) Dank an ALIWA – ­Kulturverein ­Jedlersdorf, Bezirksmuseum ­Floridsdorf, ­Bezirksvorstehung Floridsdorf, TU Wien/FB Soziologie, Wiener Wohnen 11


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„Terra Nova. 70 Jahre Siedlung Siemensstraße. Eine Ausstellung zum sozialen Wohn- und Städtebau in Wien nach 1945“ in einer originalen Duplexwohnung in der Scottgasse 5/Stiege 107/1 in der Siedlung Siemensstraße in Floridsdorf, eröffnet am 9.10.2020 Fotos: Klaus Pichler, 2021

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DIE SIEDLUNG SIEMENSSTRASSE SOZIALER WOHNBAU IN WIEN NACH 1945 Werner Michael Schwarz Susanne Winkler

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Die Siedlung Siemensstraße in Floridsdorf ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswertes Beispiel des sozialen Wohn­ baus in Wien nach 1945. Sie war zum Zeitpunkt der Fertig­ stellung nach der Zahl der Wohnungen (ca. 1.700) die größte kommunale Wohnhausanlage Wiens und wurde im Rahmen des „Sozialen Schnellbauprogramms“ errichtet (1950–1954). Damit sollte zusätzlich zur „regelmäßigen Bautätigkeit“1 kos­ tengünstig und rasch Wohnraum für besonders ­Bedürftige aus ganz Wien hergestellt werden, für Wohnungslose, Flüchtlinge und junge Paare. Als „Versuchsfelder“2 sollten die Anlagen zudem bautechnische und wohnsoziologische Erkenntnisse liefern. Der die Planungen leitende politische Begriff war „Neue Nachbarschaft“, womit unter anderem die Schaffung überschaubarer Einheiten mit reicher Infrastruktur und ein neues Verhältnis von gemeinschaftlichem und individuellem Wohnen gemeint waren. Die Siedlung fand in den 1950er Jahren internationale Beachtung, wobei bereits bei den ­Planungen von einem „Beitrag zur internationalen Diskussion um den europäischen sozialen Wohnungs- und Städtebau“ die Rede war.3 Seit 2001 steht die Siedlung unter Denkmalschutz. Die trapezförmige Anlage wurde auf einer Grundfläche von rund 18 Hektar auf der ‚grünen Wiese‘, den ehemaligen Wankläckern, errichtet (Abb. 1). Sie schloss unmittelbar an die gründerzeitlich verbaute Brünner Straße sowie mehrere Gemeindebauten des „Roten Wien“ in der Berzeliusgasse (1924/25) an. Mit nur 20 Prozent verbauter Grundfläche verfügt die Siedlung Siemensstraße über große Garten- und Grünflächen mit dichtem Baumbestand. Sie entsprach den städtebaulichen Idealen der Zeit, die eine „Durchgrünung“ und „Entdichtung“ der Stadt sowie die „Entmischung“ der 17


Abb. 1 Siedlung Siemensstraße, ­Schrägluftaufnahme, 1956 Wiener Stadt- und Landesarchiv

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Abb. 2 „Die neue Stadt braucht unsere ­Einordnung“, 1951 Aus: Der Aufbau (Februar 1951), S. 71

Funktionen von Arbeit und Wohnen forderten und in erster Linie Kleinfamilien adressierten (Abb. 2). „Herzstück“4 der ­Anlage ist der von einem großen Park umgebene Kindergar­ ten. Die Wohnungen waren mit ca. 30 Quadratmetern selbst für die Zeit vergleichsweise klein, verfügten nur über ein Zim­ mer und eine Küche und hatten kein eigenes ­Badezimmer. Die räumliche Beengtheit im Inneren neben dem groß­ zügigen, parkähnlichen Außenraum erzeugte eine spezielle Ambivalenz hinsichtlich Zufriedenheit und Identifikation der Bewohner*innen, die auch in den Erinnerungen der Zeit­ zeug*innen zum Ausdruck kommt. Bereits in einer von der 19


Stadt ­beauftragten Wohnzufriedenheitsstudie der 1950er Jahre wurde diese Besonderheit der Siemensstraße hervorgehoben und unter anderem die Beengtheit in den Wohnungen als Grund für eine vergleichsweise höhere Anfälligkeit für Krank­ heiten und eine niedrige Geburtenrate genannt.5 Architekt der Siedlung war Franz Schuster (1892–1972), der stark von der Gartenstadt- und Siedlungsbewegung der Zwischenkriegszeit geprägt war und an zahlreichen Wohn­ bauprojekten im „Roten Wien“, später im „Neuen Frankfurt“ mitgewirkt hatte. In der Wiener Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts zählt er zu den einflussreichsten und pro­ duktivsten, wegen seiner Willfährigkeit gegenüber dem NSRegime aber auch zu den politisch umstrittenen Architekten. Zum Zeitpunkt ihrer Errichtung befand sich die Siedlung am Rand der städtischen Verbauung, grenzte im Norden an landwirtschaftliche Flächen, lag im Süden und Osten in der Umgebung großer Industriebetriebe, die sich zwischen ­Nordund Nordwestbahn angesiedelt hatten, wie die SiemensSchuckert-Werke, die Floridsdorfer Lokomotivfabrik, die Lohner-Werke, die Fiatwerke, die Pauker-Werke, das Gaswerk Leopoldau oder die Traktorenfabrik (ursprünglich Clayton & Shuttleworth, später Hofherr und Schrantz). Wien nach dem Krieg Rund 13 Prozent der Wiener Bevölkerung wurden nach dem „Anschluss“ 1938 und während des Zweiten Weltkriegs aus Wien vertrieben, ermordet oder durch Kriegshandlungen getötet.6 Zu diesen Verlusten kamen große Kriegszerstörun­ gen an der technischen, ökonomischen und kulturellen Infra­ struktur der Stadt. Das betraf Schulen, Fabriken, Brücken, 20


­ leisanlagen, die Kanalisation, Wasserleitungen, elektrische G Oberleitungen, den Fuhrpark der städtischen Verkehrsbe­ triebe, das gesamte Eisenbahn- oder Straßennetz. Die ersten Monate nach Kriegsende waren von der Beseitigung der riesigen Schutthalden und dem Auffüllen der ­Bombentrichter geprägt. Die Wiener Bevölkerung war aufgerufen, sich zu beteiligen, ehemalige Nationalsozialist*innen waren dazu ­verpflichtet. Große Zerstörungen verursachte der Krieg im Wohnungsbestand. 50.024 Wohnungen wurden schwer beschä­ digt, 36.851 zerstört. 12,3 Prozent des Wohnungsbestands waren unbenutzbar geworden, wovon ca. 270.000 Menschen betroffen waren.7 Floridsdorf mit seinen großen Industriebe­ trieben und wichtigen Bahnverbindungen war von den Kriegs­ ereignissen besonders betroffen. Von den 9.827 bestehenden Wohnhäusern wurden 240 zerstört und 2.963 schwer beschä­ digt.8 Das Überleben der Wiener*innen in der unmittelbaren Nachkriegszeit war nur durch internationale Hilfe bewältigbar. Dazu zählten die Unterstützungsprogramme der vier Befrei­ ungsmächte und die Hilfe aus neutralen Staaten. Floridsdorf wurde von der Westschweizer Stadt Biel unterstützt, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg geholfen hatte. Städtebau und Wohnungspolitik nach 1945 Die unmittelbare Herausforderung für die Wohnungspolitik in Wien war die Instandsetzung beschädigter Wohnungen. Bau­ materialien, Transportmöglichkeiten und Facharbeiter waren allerdings rar. Zur Produktion von Baumaterialien spendete 1947 Schweden zwei Vibro-Anlagen, die aus Bauschutt Ziegel pressten (das Material wurde durch Vibration verfestigt).9 Unter Fachleuten und insbesondere sozialdemokratischen 21


Politikern herrschte die Meinung vor, dass die Stadt nicht nur wiederaufgebaut, sondern „verbessert“ werden sollte.10 Die Politik des „Roten Wien“, Wohnen als öffentliche Aufgabe aufzufassen, wurde zwar prinzipiell fortgeführt, aber für den Städte- und Wohnungsbau galten nun neue, stark von interna­ tionalen Ideen der 1930er Jahre („Charta von Athen“, 1933) beeinflusste Grundsätze, wie die angesprochene „Durch­ grünung“ und „Entmischung“, die 1952 programmatisch im „8-Punkte-Programm des sozialen Städtebaues in Wien“ zusammengefasst wurden (Abb. 3).11 Auch die Förderung der Massenmotorisierung spielte in den Planungen eine bedeutende Rolle. Anders als im „Roten Wien“ wurde bei der Architektur der Gemeindebauten auf repräsentative Formen verzichtet, auf monumentale Hofanlagen in Blockverbauung, stattdessen ging es um nüchterne und ökonomische Zweck­ architektur. In der Alltagssprache wurden die Wohnbauten dieser Zeit abschätzig als „Emmentalerarchitektur“ bezeich­ net.12 1947 wurde mit der ersten größeren Wohnanlage der Zweiten Republik auf dem Wienerfeld im zehnten ­Wiener Gemeindebezirk begonnen, die später in Würdigung der Hilfe Schwedens nach dem Ministerpräsidenten Per Albin Hansson benannt wurde. Bis 1951 entstanden hier mehr als 1.000 Kleinwohnungen neben Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Geschäften oder einem Volks­ heim. Ab den frühen 1950er Jahren erreichte die Neubauleis­ tung von Gemeindewohnungen wieder das Niveau der Bau­ tätigkeit im „Roten Wien“.13 1951 wurden 6.448 ­Wohnungen fertiggestellt. Seit 1952 wurden neue Gemeindewohnungen standardmäßig mit Badezimmern ausgestattet, und die ­Mindestgröße wurde von 42 auf 55 Quadratmeter ­Wohnfläche 22


Abb. 3 „Das 8-Punkte-Programm des sozialen Städtebaues in Wien“, 1953 Aus: Der Aufbau (Juli 1953), Cover

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angehoben. Dennoch konnte die Wohnbauleistung ­dieser Jahre den Bedarf nicht decken. Noch 1950 zählte Wien 55.000 Wohnungssuchende.14 Das „Soziale Schnellbauprogramm“ 1950 wurde auf Initiative des Architekten Franz Schuster das „Soziale Schnellbauprogramm“ beschlossen, in dessen ­Rahmen einige Tausend Wohnungen in Mehrfamilien- und Siedlungshäusern entstehen sollten. Das Programm hatte mehrere ambitionierte Ziele: Zunächst sollten rasch und zusätzlich zur Bautätigkeit „Notwohnungen“ errichtet ­werden. Die Dringlichkeit beschrieb Schuster wie folgt: „Wer unter Brücken und in Schuppen schlafen muss, wer für seine Frau und seine Kinder kein bergendes Heim hat, wer mit ­vielen, oft fremden Menschen notdürftig in einem Raum ­hausen muss, dem werden Leben, Arbeit und Nachbar ­gleichgültig – ja verhaßt.“15 Anstelle von Notquartieren wie Baracken sollten dauerhafte Häuser gebaut werden, deren Standard nur ­vorübergehend niedriger sein sollte. So argumentierte Schuster: „Es gilt den Zwiespalt zu lösen, der darin besteht, daß man jetzt rasch und so billig wie möglich viele grund­ rißlich und baulich noch vertretbare Kleinwohnungen bauen möchte, die aber in besseren Zeiten nicht eine Belastung und Behinderung ­darstellen, nicht wertvolles Bauland blockieren, nicht ­verwahrlosen, ­sondern im Gegenteil nutzbringend neu verwendet werden können. Die so zu schaffenden Woh­ nungen müssen städtebaulich wie architektonisch, aber auch wohnkulturell auch künftigen Ansprüchen entsprechen.“16 Diese Ziele wurden mit der Anlage sogenannter Duplexwoh­ nungen verfolgt. Das k ­ onzeptive Prinzip selbst war einfach: 24


TOP 2

WK 12.14 m2

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WK 12.14 m2

SZ 16.5 m2

SZ 16.5 m2 VZ

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SZ 16.5 m2

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SZ 16.5 m2

WK 9 m2

WK 9 m2

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Abb. 4 Grundriss der vier Wohnungen im Erdgeschoß der Scottgasse 5 nach einem Plan von 1951, 2020 Grafik: Lisa Ifsits

Man ging gedanklich von einer „Normalwohnung“ mit circa 60 Quadrat­metern aus, teilte diese in zwei kleine Wohnein­ heiten, die später, sobald sich die Versorgungslage verbessert haben würde, ohne großen technischen Aufwand zusam­ mengelegt werden sollten.17 So entstanden in den Häusern paarweise Zimmer-Küche-Wohnungen mit circa 30 Quadrat­ metern (Abb. 4). Badezimmer waren in den Duplexwohnun­ gen nicht vorgesehen. Erst nach ihrer Zusammenlegung zu einer „Normalwohnung“ sollte aus der zweiten Küche das Badezimmer, aus der zweiten Toilette eine Abstellkammer werden. Noch vor der Anwendung in der Siemensstraße war 25


Abb. 5 Franz Schuster: Volksbad

(„Tröpferlbad“) in der Scottgasse, um 1950 Universität für angewandte Kunst Wien, ­ Kunstsammlung und Archiv, Inv.-Nr. 3035/1/A

das ­Duplexsystem ­versuchsweise in der Per-Albin-HanssonSiedlung erprobt worden.18 In der Praxis erwies sich die Idee allerdings als schwer durchführbar. In der Siemensstraße wurden nur wenige Wohnungen tatsächlich zusammengelegt, denn das hatte zur Voraussetzung, dass eine der benachbarten Wohnparteien zum Umzug bereit sein musste. Die Folge war, dass der Großteil der Wohnungen in der Siedlung bis heute Kleinwohnungen geblieben sind und räumlich so auf dem niedrigen Standard des „Schnellbauprogramms“ der 1950er Jahre. Von individuellen Behelfskonstruktionen abgesehen, 26


die in den Erinnerungen der Zeitzeug*innen einen großen Stellenwert einnehmen (Stichwort „Capri-­Brausekabinen“), blieben die Wohnungen auch ohne ein eigenes B ­ adezimmer. In der Siedlung gab es ein öffentliches Volks- oder Tröpferlbad (Stichwort „Brausekabinen“), das mit nur zwölf Brausekabi­ nen und Wannenbädern offenbar deshalb so klein dimensio­ niert war, weil es als Übergangslösung gedacht war (Abb. 5). „Versuchsfeld“ Im „Schnellbauprogramm“ wurden die Bauvorhaben der ­ersten Phase, die Wohnbauten in der Gudrunstraße im zehnten Wiener Gemeindebezirk und die Siedlung Siemens­ straße, als städtebauliches, bautechnisches und wohnungs­ typologisches „Versuchsfeld“ definiert, auf dem systematisch Erfahrungen mit Grundrissen, Baustoffen und Bautechniken gesammelt werden sollten. Zur Betreuung dieser Aufgabe richtete das Stadtbauamt ein eigenes „Studienbüro“ ein.19 Franz ­Schuster, Mastermind hinter „Schnellbauprogramm“ und Siedlung, stellte 1950 in der Zeitschrift Der Aufbau fünf von ihm entworfene Haustypen vor, die für ihn „alle Grundformen des Wohnens“ abbildeten und in der Siedlung Siemens­straße gleichzeitig ausgeführt werden sollten.20 Tat­ sächlich wurden schließlich vier Typen von Häusern errichtet: ein „erdgeschoßiges“ und ein „zweigeschoßiges Siedlungs­ reihenhaus“, deren Wohnungen jeweils über einen kleinen, eigenen Nutzgarten verfügten, sowie zwei Varianten des „mehrgeschoßigen Wohnhauses“.21 Die Häuser wurden in der Siemensstraße so gruppiert, dass die höheren Gebäude außen, die niedrigeren im Inneren des Areals errichtet wurden (Abb. 6, 7). 27


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