Programmheft »Nabucco«

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NABUCCO Giuseppe Verdi


INHALT

Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Keine Kaffeewärmer → Günter Krämer

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Nicht die erste Oper Verdis, aber die erste Verdi-Oper → Christian Springer

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Mythos »Va Pensiero« →Michael Sawall

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Aus dem jüdischen Lexikon / Aus dem Alten Testament

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Geschwisterrivalität → Hans Sohni

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Macht und Überleben → Elias Canetti

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Nabucco aus der Sicht des Psychotherapeuten → Georg Titscher

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Massensymbole der Nationen → Elias Canetti

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Die Monopolisierung der Macht → François Fejtö

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»Das Werk eines jugendlichen Talentes« → Michael Jahn

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Der Gewinn des Thrones wiegt den Verlust des Vaters auf! Assai più vale il soglio che un genitor perduto! Abigaille, 3. Teil


NABUCCO → Dramma lirico in vier Teilen Musik Giuseppe Verdi Text Temistocle Solera

Orchesterbesetzung 2 Flöten (2. auch Piccolo), 2 Oboen (2. auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Cimbasso, Pauken, Schlagwerk, 2 Harfen, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 3 Klarinetten, 3 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, 2 Bombardini, Tuba, Schlagwerk Spieldauer ca. 2 1/2 Stunden (inkl. Pause) Autograph Verlagsarchiv Ricordi, Mailand Uraufführung 9. März 1842, Mailand, Teatro alla Scala Erstaufführung an der Wiener Hofoper 4. April 1843 Erstaufführung im Haus am Ring 31. Mai 2001 (Premiere dieser Produktion)




DIE HANDLUNG 1. Teil – Jerusalem Krieg herrscht zwischen Assyrien und Israel. Nabucco, König der Assyrer, hat Jerusalem besetzt, und die letzten Überlebenden der Israeliten – Leviten und Tempelvolk – sind in den Altarraum des Tempels geflüchtet. Der Prophet Zaccaria nimmt eine Geisel: Fenena, die Tochter Nabuccos, die einst dem Juden Ismaele gehol­fen hat, aus Babylon zu entkommen; Fenenas Schwester Abigaille hat ihn damals aus Eifersucht festgehalten. Ismaele will Fenena zur Flucht verhelfen, da werden beide von Abigaille überrascht. Sie er­presst Ismaele: Nur seine Liebe zu ihr könne die Juden noch retten. Ismaele entscheidet sich für Fenena. Als Nabucco in den Tempel eindringt, will Zaccaria seine Geisel töten, doch Ismaele fällt ihm in den Arm und rettet Fenena. Sein Volk verflucht ihn. Alle Hebräer gehen in die Gefangenschaft.

2. Teil – Der Frevler Ismaele lebt fluchbeladen in Freiheit. Nabucco hat Fenena für die Zeit seiner Abwesenheit die Krone übergeben. Der Oberpriester der Babylonier lässt Abigaille ein geheimes Dokument zukommen, das die Gründe ihrer Benachteiligung nennt: sie ist die Tochter einer Sklavin. Somit ist Abigaille erpressbar und für die Machtansprüche des Oberpriesters benützbar. Er bietet ihr die Krone an; von der Priesterschaft ist das Gerücht vom Tod Nabuccos schon verbreitet worden. Um den Bann von Ismaele zu lösen, hat Fenena die Juden befreit, doch diese bleiben unbarmherzig. Mit dem Übertritt zum jüdischen Glauben macht sich Fenena des Hochverrats schuldig – ganz nach Plan des Oberpriesters. Beide Schwestern sind nun Rivalinnen der Macht, doch den entscheidenden Kampf führen im Hintergrund Zaccaria und der Oberpriester. Der zurückgekehrte Nabucco sieht sich von allen Seiten verraten und verflucht sowohl den babylonischen als auch den jüdischen Glauben. Als neue Instanz setzt er sich selbst einem Gott gleich – dessen erstes Opfer Fenena werden soll. Diese Anmaßung und der Missbrauch seiner Macht lassen Nabucco zusammenbrechen.

DIE H A N DLU NG

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3. Teil – Die Prophezeiung Abigaille kann nun den Ruhm einer Königin genießen: Alle Hebräer sind wieder in Gefangenschaft – auch der geliebte Ismaele. Der Oberpriester fordert die Vernichtung aller. Der durch Wahnsinn hellsichtige Nabucco durchschaut Abigailles Absichten. Vater und Tochter erpressen sich nun gegenseitig: Er nennt sie eine Sklavin, sie provoziert ihn mit seiner Schwäche als König. Noch ist Nabucco nicht soweit, das Schicksal eines ganzen Volkes zu begreifen, er bittet nur um Gnade für Fenena. Vergebens. Nachdem er das Todesurteil unterschrieben hat, wird er selbst zum Gefangenen. Im Kerker warten die Juden auf den Tod. Zaccaria prophezeit in einer blutigen Vision Untergang und Vernichtung für alle Feinde Israels.

4. Teil – Das zerbrochene Götzenbild Nabucco ist durch die schrecklichen Ereignisse gezeichnet. Er beweint sein ganzes Leben, das Leben eines Völker- und Tochtermörders. Plötzlich stehen die Türen des Kerkers offen. Nabucco kann mit seinen Soldaten die Hinrichtung der Juden verhindern und Fenena befreien. Für Abigaille kommt er zu spät. Sie hat ihrem Leben ein Ende gesetzt. Der König der Assyrer schenkt allen die Freiheit.

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DIE H A N DLU NG


SYNOPSIS Part 1 – Jerusalem Assyria and Israel are at war. Nabucco, king of the Assyrians, has occupied Jerusalem and the last survivors of the Israelites – Levites and priests – have taken refuge in the sanctuary of the Temple. The prophet Zaccaria seizes a hostage; it is Fenena, Nabucco’s daughter, who once helped the Jew Ismaele to flee Babylon. Fenena’s sister Abigaille had held him captive out of jealousy. Now Ismaele wishes to help Fenena to flee, but both are taken by surprise by Abigaille. She tries to blackmail Ismaele, saying that only his love for her can rescue the Jews. Ismaele, however, remains true to Fenena. As Nabucco forces his way into the Temple Zaccaria tries to kill his hostage, but Ismaele blocks his arm and rescues Fenena. His people place a curse on him. All Jews are taken prisoner.

Part 2 – The Blasphemer Ismaele lives, accursed, in freedom. Nabucco has given Fenena his crown for the period of his absence. The High Priest of the Babylonians sends Abigaille a secret document indicating the reason for the discrimination against her: she is the daughter of a slave. With this, Abigaille becomes subject to blackmail and thus useful for the High Priest’s claim to power. He offers her the crown, the rumor of Nabucco’s death already having been spread by the Priesthood. In an effort to end the curse on Ismaele, Fenena has freed the Jews, but they remain unforgiving. With her conversion to Judaism, Fenena becomes guilty of high treason – exactly in accordance with the High Priest’s plan. Both sisters are now rivals for the throne, but the definitive struggle is between Zaccaria and the High Priest. Upon returning, Nabucco sees himself betrayed from all sides and puts a curse on both the Babylonian and the Jewish religions. As the new authority, he assumes god-like powers and plans that his first victim shall be Fenena. This presumption and the misuse of his authority result in Nabucco’s collapse.

SY NOPSIS

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Part 3 – The prophecy Abigaille now enjoys the power of a queen. All Jews are again in captivity, including her beloved Ismaele. The High Priest demands the destruction of them all. Nabucco, having become clairvoyant as the result of his madness, sees Abigaille’s real intentions. Father and daughter now blackmail each other; he calls her a slave, and she taunts him with his weakness as monarch. Nabucco does not yet comprehend the plight of the Israelites, and asks only for clemency for Fenena. This, however, is in vain, and upon signing the death sentence he is himself taken prisoner. In prison the Jews await death. Zaccarias prophecies in a bloodstained vision the downfall and the destruction of all the enemies of the Israelites.

Part 4 – The fallen idol The mark of these terrible events shows on Nabucco. He laments his life as that of a murderer of an entire people as well as daughter. Suddenly the doors of the prison stand open. With the help of his soldiers, Nabucco is able to prevent the destruction of the Jews and to free Fenena. He is too late to help Abigaille, for she has taken her own life. The king of the Assyrians grants freedom to all.

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SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

Mit Nabucco (bei der Uraufführung lautete der Titel noch Nabucodonosor) gelang dem noch nicht 30jährigen Giuseppe Verdi nach einem vorangegangenen Achtungserfolg und einem veritablen Misserfolg der Durchbruch als Opernkomponist. Sehr zum Missfallen Otto Nicolais übrigens, der das zunächst ihm angebotene Libretto Temistocle Soleras als unkomponierbar abgelehnt und somit letztlich den Weg für Verdis Erfolg geebnet hatte. Die ausführliche Vor- und Entstehungsgeschichte bzw. die erfolgreiche Uraufführung Nabuccos und die Neuartigkeit der vehementen Musiksprache vor dem Hintergrund des damaligen italienischen Opernmainstreams analysiert der Verdi-Experte Christian Springer ab Seite 14. Mit den unterschiedlichen – auch politischen – Legenden rund um den »Va pensiero«-Chor räumt Michael Sawall ab Seite 32 auf. Die Rivalität der Halbschwestern Abigaille und Fenena sowie das aus dieser Konkurrenz entstehende gestörte Kräftedreieck, das die beiden Frauen mit ihrem Vater Nabucco bilden, stellt neben dem Thema der Vertreibung und Unterdrückung eines ganzen Volkes den zweiten handlungsbestimmenden Schwerpunkt dar. Mechanismen und Ursachen die hinter solchen innerfamiliären Konfliktherden stehen, beschreiben die Psychotherapeuten Georg Titscher (Seite 60) und Hans Sohni (Seite 50), Fragen zum wahnhaften Überlebenswillen der Diktatoren sowie zu massentauglichen Symbolen von Nationen geht Elias Canetti nach (Seite 56 und 66), François Fejtö untersucht die Gefahr der Monopolisierung der Macht (Seite 70). Anmerkungen des Regisseurs Günter Krämer (Seite 10) sowie ab Seite 74 eine Zusammenfassung der erstaunlichen Wien-Rezeption Nabuccos (an der Staatsoper feierte das Werk erst 2001 seine Erstaufführung!) runden das Beitragsangebot ab. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

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Thornton Wilder

» DIE STRENGSTEN RICHTER EINES MANNES SIND SEINE KINDER. «


Günter Krämer

KEINE KAFFEE­­WÄRMER

Nabucco ist scheinbar keine sehr klar konzipierte Oper. Und die Tradition, eine wahre Geschichte über Tyrannenwahnsinn mit pompöser Ausstattung und aufwendigen Kostümen ungewisser Herkunft zu inszenieren, trägt nicht viel zur Verstehbarkeit dieses Werkes bei. In Wahrheit ist die Geschichte, die Verdi erzählt, eine sehr einfache, eine Familiengeschichte. Ein älterer Herrscher merkt, dass seine Kräfte nachlassen, es wird um die Nachfolge gemunkelt. Seine beiden Töchter kämpfen um die Macht: Die »gute« Tochter, überraschenderweise Mezzosopran, ist Fenena, die »böse« Tochter ist Abigaille. Sie stammt aus der unrechtmäßigen Verbindung Nabuccos mit einer Sklavin. Es ist im Prinzip eine Lear-Geschichte – und wir wissen, dass Verdi sein Leben lang um den Lear gerungen, aber sich nie recht dazu getraut hat. Die Person des Nabucco ist eine von Verdis ersten Vater-Gestalten, für die er ja immer besonders schmerzliche und schöne Musik gefunden hat. GÜ N T ER K R Ä MER

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Zum ersten Mal sah ich diese Oper in Berlin, als mich Hans Lietzau auf eine Freikarte mitnahm. Die Inszenierung von Rudolf Sellner war ganz im Geschmack der Zeit: mit großen Quadern und Blöcken. Alles sah sehr babylonisch aus, und Lietzau fragte mich nach einigen Minuten leise, warum wohl alle Darsteller Kaffeekannen-Wärmer auf dem Kopf haben. Wir sahen den ganzen Abend nur mehr babylonische Kaffeewärmer und hatten einen Spaß, der wohl nicht in Verdis Absicht lag. Da beschloss ich, niemals Nabucco zu inszenieren. Aber 2001 war es dann doch soweit! Ich war bestrebt, eine trotz verwickelter Intrigen einfache Geschichte auch klar zu erzählen. Die Bühne ist weitgehend leer und mein Ausstatter und ich benutzten einen großen Video-Beamer, der hebräische Schriften projiziert, die im Bühnenraum entstehen und wieder in sich zusammenfallen. Wir versuchten damit, einen geistigen Raum für die Geschichte von Nabucco zu schaffen und sie so ohne Aktualisierung in unsere Nähe zu holen. Eine Stelle in Nabucco hat mich ihrer Grausamkeit wegen besonders fasziniert. Es geht da um die Kinder. Nabucco ordnet die Vernichtung an und sagt: »Mitleid wäre ein Frevel! Vergebens suchen die Kindlein Schutz am Busen ihrer Mütter!« Der Hass wird über die Kinder ausgetragen (auch über die »Kinder Israels«), und im Zentrum der Handlung steht die für Verdi typische zwiespältige Vater-Gestalt. Nabuccos Schwäche ist schon zu Beginn deutlich, sein Machtverzicht (wie bei Shakespeares Lear) oder gewaltsamer Machtverlust zeichnet sich ab. Politik steht nur scheinbar im Vordergrund; es geht um private Emotionen, um Glück oder Enttäuschung, um Geliebt­oder Verstoßenwerden. Und erst aus enttäuschter Liebe wird die politische Macht angestrebt.

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K EIN E K A FFE­­E -WÄ R MER




Christian Springer

NICHT DIE erste OPER VERDIS… …aber die erste VERDI-OPER

Vorgeschichte und Entstehung der Oper


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Nabucodonosor – wie die Oper bei ihrer Uraufführung an der Mailänder Scala am 9. März 1842 noch heißt, bis bei einer Aufführung in Korfu 1844 der Titel erstmals zu Nabucco abgekürzt wird – ist die erste Verdi-Oper. Sie ist nicht die erste Oper Verdis, denn der damals als Spätstarter empfundene Komponist hatte mit Oberto, conte di San Bonifacio bereits 1839 an der Scala sein vielversprechendes Debüt gegeben und im Jahr darauf mit Un giorno di regno einen (unverdienten) Misserfolg eingefahren. Die aggressiven Publikumsreaktionen – es wurde gepfiffen und gezischt, gebuht und miaut – und das schlechte Presseecho führten zu seinem Entschluss, das Komponieren aufzugeben. Diese scheinbare Überreaktion ist neben Selbstzweifeln vor allem einer Tragödie in Verdis Privatleben zuzuschreiben. In einer »authentischen« Kurzautobiographie, die er seinem Verleger Giulio Ricordi 1879 zur Veröffentlichung freigab, um sich vor aufdringlichen Reporterfragen zu schützen, fasste er diesen Lebensabschnitt lapidar so zusammen: »Innerhalb eines Zeitraums von nur zwei Monaten hatte ich drei geliebte Wesen verloren. Meine ganze Familie war dahin!« Im Rückblick komprimierte Verdi die schrecklichen Geschehnisse: das erste Kind war schon 1838 gestorben, das zweite während der Proben zu Oberto im Jahr darauf, seine Frau Margherita Barezzi 1840. Bei seinem Sensationserfolg mit Nabucco ist Giuseppe Verdi achtund­ zwanzigeinhalb Jahre alt. Sein Weg zu diesem Erfolg war nichr leicht. Die Ausbildung des aus kleinen Verhältnissen stammenden Komponisten war nur unter persönlichen Opfern und mit Hilfe von Zuwendungen eines Gönners, des Kaufmanns und Verdis späteren Schwiegervaters Antonio Barezzi, möglich, denn das Konservatorium in Mailand hatte ihn als Schüler abgelehnt und er musste ein Privatstudium absolvieren. Danach hatte er sich nicht nur gegen die Konkurrenz, sondern auch gegen den Neid, die Missgunst und die provinzielle Engstirnigkeit des Städtchens Busseto bei Parma, Lebensmittelpunkt seiner Jugend, zu behaupten. Die beiden Jugendopern zeigen noch den Einfluss Bellinis, Rossinis und Donizettis. Sie könnten – bis auf einige Stellen, die aufhorchen lassen – auch von einem anderen begabten Komponisten der Zeit stammen. Im Nabucco erscheinen dann zum ersten Mal der packende dramatische Zugriff, die große populäre Chormelodie, der neuartige, grandiose, virile Stil, der die italienische Gesangstradition allerdings nicht verleugnet – das wird Verdi niemals tun –, Ingredienzien, die die Oper zum Erfolg führen und Verdis ganz persönliche Handschrift deutlich erkennen lassen. 1841, im Kompositionsjahr des Nabucco (der im Frühherbst des Jahres fertig vorliegt), befindet sich die Welt der Lieferanten italienischer Opernneuheiten, nach denen das Publikum beständig verlangt, und deren Ästhetik im Umbruch. Ein Generationswechsel ist im Gange: Von den drei Großen ist Bellini 1835 jung verstorben, Rossini komponiert seit Guillaume Tell (1829) keine Opern mehr, allein Donizetti, der nur mehr sieben Jahre zu leben hat, ist noch aktiv. Er wird 1842 in Wien Beifallsstürme für seine Linda di Chamou­

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nix ernten und sich am Kärntnertortheater für den talentierten jungen Kollegen, dessen neue Oper er in Mailand gehört hat, stark machen. Verdis ältere Kollegen Pacini, Mercadante und die Brüder Ricci erfreuen sich zwar großer Popularität, doch wird die Wirkung ihrer Werke nicht so nachhaltig sein wie die Verdis, der sich mit dem Nabucco als führender italienischer Opernkomponist etablieren und diese Position unangefochten bis zum Ende seines Jahrhunderts, ja bis heute innehaben wird. Zu deutlich als Legende erkennbar ist die von Verdi 1879 seinem Verleger Ricordi erzählte Anekdote (wie der Impresario Merelli dem nach dem Verlust seiner Familie und nach dem Desaster von Un giorno di regno schwer depressiven, kompositionsunwilligen Verdi im Winter 1840/41 in Mailand den Nabucco-Text aufnötigt und wie dieser zu Hause mürrisch das Libretto hinwirft, das sich wie durch eine Schicksalsfügung auf dem Gefangenenchor »Va, pensiero, sull’ali dorate« öffnet, er nach einem Blick auf diesen Chor in einer einzigen Nacht das ganze Libretto auswendig lernt und sich sofort in die Komposition stürzt), als dass sie hier im Detail zitiert werden müsste. Ganz anders und realitätsnäher klingt die Version, die Verdi 1869 – also zehn Jahre vor dem autobiographischen Bericht – Michele Lessona erzählt, der sie in seinem Buch Volere è potere (Wo ein Wille ist, dort ist auch ein Weg) veröffentlicht: »Der junge Maestro ging mit seinem Drama [das ihm Merelli aufgedrängt hatte] nach Hause, warf das Libretto in eine Ecke, ohne es eines Blickes zu würdigen und fuhr die nächsten fünf Monate fort, Groschenromane zu lesen. Eines schönen Tages, gegen Ende Mai [1841], kam ihm das vermaledeite Drama wieder in die Hände: Er überflog die letzte Szene, die Todesszene der Abigaille (die später gestrichen wurde), setzte sich fast mechanisch ans Klavier, das so lange stumm geblieben war, und komponierte die Szene. Das Eis war gebrochen. Wie jemand, der aus einem schwülen, dunklen Gefängnis kommt und wieder die reine Luft der Felder atmet, befand sich Verdi plötzlich wieder in seinem Element. Innerhalb von drei Monaten war Nabucco fertig komponiert und in jeder Hinsicht so, wie wir ihn heute kennen.« Verdi selbst bestätigt diese Version seinem Freund Arrivabene gegenüber, als Lessonas Buch erscheint: »Hier hast Du die hundertprozentig wahre Ge­ schichte meines Lebens«, auch wenn das Klavier nicht »so lange stumm geblieben« sein kann, wie Verdi erzählt, hat er doch in der Zwischenzeit für Oberto etliche Nummern nachkomponiert und die Hauptrolle für einen Bariton adaptiert.

Das Libretto Temistocle Solera hat für das Nabucco-Libretto die Geschichte des Nebukadnezar einer unergiebigen Quelle (Altes Testament, 2. Könige 24, 25) entnomCHR IST I A N SPR INGER

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men und die übrigen Bühnenfiguren dazu frei erfunden. Dies wurde zumindest angenommen: Als Nabucco in Paris zum ersten Mal aufgeführt wird, melden sich Auguste Anicet-Bourgeois und Francis Cornue, die Autoren eines erfolgreichen Theaterstücks mit dem Titel Nabuchodonosor, das 1836 am Pariser Théâtre l’Ambigu-Comique gespielt worden ist, und reklamieren, dass Teile des Opernlibrettos aus ihrem Stück stammen. Wie sich herausstellt, besteht der Vorwurf zu Recht, und Verdis Verleger Ricordi muss zähneknirschend 1.000 Francs an Tantiemen auszahlen. Darüber hinaus hat sich Solera auch von Antonio Cortesis Nabucodonosor-Ballett (uraufgeführt an der Mailänder Scala 1838) inspirieren lassen. In die vorliegende definitive Form hat Solera das Libretto aber doch primär aus eigener Fantasie und nur zu ganz geringem Teil unter Verdis Einflussnahme gebracht (Verdi erinnert sich auch im hohen Alter noch gerne an ihn und spricht von ihm als dem »kraftvollsten meiner Opernlibrettisten«). Das französische, formal sehr konventionelle Theaterstück war noch in routinierter Scribe-Manier verfasst und hat mit dem Solera-Text nicht viel gemein. Als beinahe unbekannter Anfänger kann Verdi Solera seinen Gestaltungswillen noch nicht so tyrannisch aufzwingen wie später seinem Freund Francesco Maria Piave. Immerhin bewirkt er Änderungen wie z.B. den Austausch eines bereits komponierten Liebesduetts zwischen Fenena und Ismaele, das ihn selbst nicht überzeugt, gegen die berühmte Prophezeiung des Zaccaria.

Ein Text für Otto Nicolai Soleras Nabucodonosor-Libretto ist kein für Verdi oder in dessen Auftrag ge­ schriebener Operntext. Merelli hat es zuerst dem Preußen Otto Nicolai (Königsberg 1810 – Berlin 1849) angeboten, der sich mit seiner italienischen Oper Il templario (nach Walter Scotts Roman Ivanhoe, Turin 1840) neben den Erfolgskomponisten des Tages behaupten konnte. Nicolai lehnt das Buch ab und entscheidet sich für Il proscritto, der ursprünglich Verdi angeboten worden war und den dieser nicht komponierte. Diese Oper fällt im März 1841 genauso durch wie Verdis Melodramma giocoso Un giorno di regno. Nicolais Karriere in Italien erfährt durch den Misserfolg ein abruptes Ende (die Oper wird in Wien 1844 unter dem Titel Die Heimkehr des Verbannten aufgeführt). Er verlangt von Merelli die Auflösung seines Vertrages, seinem Wunsch wird entsprochen und er geht nach Wien. Dort hört er zähneknirschend vom Erfolg des Nabucco. Zu seinen italienischen Kollegen und zu Verdi schreibt Nicolai in sein Tagebuch: »Wie sehr ist aber auch Italien in den letzten fünf Jahren gesunken?! Donizetti lebt fast immer in Paris oder Wien, in welch letzterer Stadt er jetzt als k. k. Kammerkapellmeister und Hofkompositeur mit 4000 fl. Gehalt auf Lebenszeit engagiert ist – und thut nichts mehr für Italien. Rossini ist ganz verstummt. Wer jetzt in Italien Opern schreibt ist 17

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← Luca Salsi als Nabucco, 2018

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Verdi. Er hat auch den von mir verworfenen Operntext Nabucodonosor komponiert und damit großes Glück gemacht. Seine Opern sind aber wahrhaft scheußlich und bringen Italien völlig ganz herunter. – Ich denke unter diese Leistungen kann Italien nicht mehr sinken – und jetzt möchte ich dort keine Opern schreiben.« Nicolais Frustration ist deutlich spürbar. Der Ärger über den Erfolg der Oper des fast gleichaltrigen Kollegen ist aber weniger Erfolgsneid als vielmehr die Einsicht über die Beschränktheit der eigenen musikdramatischen Mittel: »Das für Mailand bestimmte neue Buch von Temistocle Solera Nabuco [sic] war durchaus unmöglich in Musik zu setzen – ich musste es refüsieren, überzeugt, dass ein einziges Wüten, Blutvergießen, Schimpfen, Schlagen und Morden kein Sujet für mich sei. – Der Nabuco taugte nicht. Der Proscritto taugte nicht.« Die akademische Frage, was Nicolai aus dem Libretto gemacht hätte, erübrigt sich. Wie der Komponist selbst betonte, lag es thematisch und kompositorisch außerhalb seiner Reichweite. Soleras Text stellt als Libretto keine hohen literarischen Ansprüche (eine mehr als legitime Haltung) und leistet, was ein Opernlibretto zu leisten hat: dem Zuhörer jene Informationen zu vermitteln, die er zum Verständnis des Handlungsablaufs benötigt, und der Musik die Vorbedingungen in Form eines Gerüsts zu liefern, anhand dessen sie sich mit all ihren Möglichkeiten entfalten kann. Vereinfachend kann man sagen: Was das Libretto nicht sagt oder nur andeutet, wird von der Musik gesagt. Oder auch: Ein gutes Libretto soll gar keine großen literarischen Qualitäten haben, denn sonst bedürfte es der Musik nicht. Sowie: Ein schlechtes Libretto kann eine gute Oper niemals verhindern. Es ist immer der Komponist, der eine große Oper schreibt, niemals der Librettist. Die Ausnahmen der Literaturopern von Fibich, Debussy, Richard Strauss, Berg oder Janáček bestätigen die Regel, Boitos Shakespeare­ Opern sind nicht Shakespeare, sondern nur ein für die Opernbühne ge­ eigneter Teil davon. Wagner war sein eigener sakrosankter Shakespeare, wie immer man seine Texte auch beurteilen mag. Nicolai, der sich in seinen Briefen immer wieder über die italienischen Opernverhältnisse mokiert hat und nach seinem Weggang aus Italien kein großer Freund des Landes gewesen sein dürfte – auch weil ihn seine Kurzzeitverlobte, die Sopranistin Erminia Frezzolini (sie sang zwei Verdi-Ur­ aufführungen, I lombardi alla prima crociata und Giovanna d’Arco) verlassen hat, um den Tenor Antonio Poggi zu heiraten –, kann seinen einzigen bleibenden Erfolg erst wenige Monate vor seinem frühen Tod mit Die lustigen Weiber von Windsor (Berlin 1849) erzielen. Das Libretto von Salomon Hermann von Mosenthal stützt sich allerdings allein auf die Komödiantik des Shakes­peareStücks, weshalb die Oper zu einem biederen, seichten Schwank gerät. Nicolais Vertonung des Shakespeare-Stoffes ist – Ironie des Schicksals – nach demselN ICH T DIE ERST E OPER V ER DIS… A BER DIE ERST E V ER DI- OPER


ben Stoff komponiert, aus dem Verdi zum Abschluss seiner unvergleichlichen Karriere 1893 den Falstaff formen wird, mit dem Unterschied, dass sein Librettist Arrigo Boito auch auf Text- und Charakterisierungspassagen sowie Anregungen aus anderen Shakespeare-Dramen zurückgreift und ein Werk mit philosophischem Tiefgang schafft.

Nabucco-Uraufführung und Beginn von Verdis internationaler Karriere in Wien Bevor Nabucodonosor uraufgeführt werden kann, gilt es noch einige Schwierigkeiten zu überwinden, denn Merelli will die Oper vorderhand zurückstellen. Er hat bereits drei andere neue Opern von erfolgreichen Komponisten im Programm. Eine weitere Neuheit eines bereits einmal durchgefallenen Komponisten scheint ihm ein unnötiges Risiko zu sein. Als Verdis neue Oper im Dezember nicht auf dem Spielplan der Scala aufscheint, stellt der jugend­ lich-­hitzköpfige Verdi seinem Impresario ein Ultimatum: Nabucco entweder in der Karnevals-Stagione oder gar nicht. Verdi kann zwei bedeutende Sänger der Scala, die Sopranistin Giuseppina Strepponi (die seine zweite Frau werden wird) und den Bariton Giorgio Ronconi, für seine neue Oper begeistern. Gemeinsam überreden die Strepponi und Ronconi (der spätere glänzende Interpret der Titelrolle) Merelli dazu, sich zur Uraufführung des Nabucco unter Einschränkungen durchzuringen. Es brauche keine neue Inszenierung geschaffen zu werden, man könne vielmehr auf Bühnenbilder und Kostüme des erwähnten Nabucodonosor-Balletts von Antonio Cortesi aus dem Jahre 1838 zurückgreifen. Diese Lösung erweist sich nach Verdis eigenen Worten als überaus zufriedenstellend. Am 9. März 1842 findet die Premiere von Nabucco in der Mailänder Scala statt. Die Oper ist ein solch beispielloser Erfolg, dass sie nach der ersten (acht Vorstellungen umfassenden) Serie in der Herbstsaison der Scala ab 13. August siebenundfünfzig Mal wiederholt werden muss, ein absoluter Aufführungsrekord. Dieser Erfolg legt den Grundstein zu Verdis internationaler Karriere. Seine erste Auslandsreise führt den Komponisten nach Wien, wo er auf Betreiben Gaetano Donizettis (der die Oper selbst einstudiert) am k. k. Hof-Opernthea­ ter nächst dem Kärntnertore im Frühjahr 1843 den Nabucodonosor zweimal selbst dirigiert. Diese Vorstellungen sind die ersten Aufführungen einer Verdi­ Oper außerhalb Italiens (sofern man von der damaligen politischen Konfiguration des von verschiedenen Mächten besetzten Landes von »Ita­lien« sprechen kann). Der Kritiker Eduard Hanslick läutet mit seiner Nabucco-Rezension eine Kampagne gegen Verdi ein: »Herr Temistocle Solera verdient für sein LibretCHR IST I A N SPR INGER

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to einen Kranz von Stechpalmen anstatt des Lorbeers. Er entstellt den biblischen Stoff mit großer Ungeniertheit; überdies entbehren seine will­kürlichen Erfindungen aller inneren Wahrheit und Poesie. Neben den ge­wöhnlichen, hier zur Ungeheuerlichkeit gewachsenen Mängeln der italienischen Oper musste an dieser Musik noch der Mangel eines fließenden melodiösen Gesangs auffallen.« Seine an absurden Fehlurteilen über Verdis Werke nicht eben arme Kritikerkarriere setzt Hanslick unbeirrt bis zum Falstaff (den er 1893 in Rom hört) fort. Dieses Wunder einer Oper (als Steigerung von absolutem Meisterwerk gemeint) ordnet er hinter Nicolais Lustigen Weibern ein und macht sich dadurch zum Gespött seiner Zunft. Verdi ist von dem Orchester des k. k. Hof-Operntheaters begeistert. Es ist dies bereits die von Nicolai ins Leben gerufene Urform der Wiener Philharmoniker, deren erstes Konzert – auf den Ankündigungsplakaten als »Philharmonische Akademie«, auf dem Programmzettel dann als »ein großes Concert« bezeichnet – am 28. März 1842 stattgefunden hatte. Bereits das zweite Konzert am 27. November 1842, bei dem »das sämmtliche Orchester=Personal des k. k. Hof=Operntheaters« spielte, trug die Bezeichnung »das zweite Philharmonische Concert«, obwohl kein erstes mit diesem Namen stattgefunden hatte. Bei diesem hervorragenden Orchester lernte Verdi Neuerungen hinsichtlich der Anordnung der Orchestermusiker kennen, die er italienischen Opernhäusern zur Nachahmung empfahl. Ab diesem Zeitpunkt wird Verdi, der 1875 nach Wien zurückkehren wird, um vier Aufführungen seiner neuen Messa da requiem und zwei der Aida zu dirigieren, immer wieder seine Begeisterung über die Gruppen der Wiener Oper zeigen. So schreibt er der ihm befreundeten Gräfin Clarina Maffei (21. Februar 1879): »Immer und immer wieder habe ich in Mailand sagen gehört: Die Scala ist das erste Theater der Welt. In Neapel: Das San Carlo – erstes Theater der Welt. Früher sagte man in Venedig: Das Fenice – erstes Theater der Welt. In Petersburg: Erstes Theater der Welt. In Wien: Erstes Theater der Welt, und dieser Meinung wäre auch ich.« Betrachtet man den Nabucco, der sich seit seiner Wiener Erstaufführung zu einer der beliebtesten und meistaufgeführten Opern Verdis entwickelt, neben den im selben Zeitraum entstandenen Opern berühmter Komponisten, so erkennt man im direkten Vergleich unschwer die Neuartigkeit seiner vehementen Musiksprache. Die in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft entstandenen Opern italienischer Komponisten sind Donizettis La Fille du régi­ ment (1840), La Favorite (1840), Linda di Chamounix (1842) und Don Pasquale (1843), Pacinis Saffo (1840) und Medea (1843), Mercadantes II proscritto (1841) und II reggente (1843), Luigi Riccis Le nozze di Figaro (1838) und Federico Riccis Luigi Rolla e Michelangelo (1841), Corrado da Altamura (1841) und Val­ lombra (1842). Außerhalb Italiens entstehen Werke, die das italienische Publikum, wenn überhaupt, erst Jahrzehnte später kennenlernen wird: Auber 21

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triumphiert mit Les Diamants de la Couronne (1841), Thomas bleibt mit seiner Oper Le comte de Carmagnola (1841) vorläufig unbeachtet, Wagner kommt mit seiner Grand opéra Rienzi (1842) und mit Der fliegende Holländer (1843) heraus, Glinka setzt sich mit Ruslan und Ludmilla (1842) endgültig durch, Flotow behauptet sich mit Alessandro Stradella (1844), Lortzing komponiert nach Zar und Zimmermann (1837) und Hans Sachs (1840) seine Undine (1845). Der Erfolg des Nabucodonosor liegt nicht so sehr im Interesse der katholischen Italiener an einem alttestamentarischen Stoff begründet (biblische Sujets wurden bis dahin nur selten für Opern verwendet: erwäh­ nenswert sind nur Rossinis Moïse et Pharaon und Mehuls Joseph en Egypte), als vielmehr in dem Umstand, dass die Mailänder Zuhörerschaft in das Werk ihre Haltung gegenüber der herrschenden politischen Situation (Norditalien war von den Österreichern und den Franzosen besetzt) hineinprojizieren konnte. Dass Verdi mit einigen seiner Opern den Nerv der damaligen politischen Situation Italiens im Sinne der Befreiungsbewegung trifft, ist allerdings nicht Berechnung, sondern unbeabsichtigte Nebenwirkung. Nie­ mand hätte abschätzen können, dass sich das Publikum der ersten Auf­ führungsserie des Nabucodonosor, der von Solera für den politisch völlig unverdächtigen und an den italienischen Verhältnissen uninteressierten Otto Nicolai verfasst wurde, mit den von den Babyloniern unterjochten Juden identifizieren und der »Va pensiero«-Chor im Zuge der Befreiungsbewegung zur geheimen Nationalhymne des Risorgimento würde. Einzig und allein La battaglia di Legnano (uraufgeführt im Jänner 1849) wird von Verdi als Reaktion auf die Geschehnisse von 1848 mit politischen Hintergedanken gewählt. Der historische Stoff über den Sieg des Lombardenbundes, eines Zusammenschlusses mehrerer oberitalienischer, vorwiegend lombardischer Städte, über Kaiser Friedrich I. Barbarossa bei Legnano im Jahre 1176 begeistert den Komponisten, wohl auch, weil Legnano 1848 noch immer unter österreichischer Herrschaft steht und daher politische Aktualität besitzt, und obwohl er aus Zensurgründen gezwungen ist, über ein historisches Ereignis zu schreiben, ist er sicher, dass das Publikum verstehen wird, dass es in Wahrheit um 1848 gehe.

Zwei Premierensänger Der Bariton Giorgio Ronconi (Mailand 1810 - Madrid 1890) ist an dem Erfolg maßgeblich beteiligt. Der Sänger wurde von seinem Vater, dem Tenor und Gesangslehrer Domenico Ronconi (1772 - 1839) ausgebildet und debütierte 1831 in Pavia in Bellinis La straniera. Donizeni erfuhr von der außergewöhnlichen stimmlichen Begabung des jungen Sängers: Ronconi wurde zwar dem Fach des basso cantante (eine dem Bassbariton ähnliche Stimmgattung) zugeordnet, doch verfügte er über eine ausgezeichnete, fast tenorale Höhe und CHR IST I A N SPR INGER

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Horst-Eberhard Richter

» Wie sieht aber nun heute überhaupt eine psychisch gesunde Familie aus? Schon die Frage verrät die Annahme einer Veränderung der Bewertungsmaßstäbe. Heute sind bestimmte interne Spannungen sowohl zwischen Eltern als auch zwischen Eltern und ihren Kindern nicht nur »noch normal«, sondern sogar unter Umständen ein wichtiges Zeichen für die geistige Lebendigkeit, das heißt ein positives Gesundheitsmerkmal der Familie. Die klassische Harmonievorstellung musste revidiert werden. Nicht das Vorhandensein stärkerer Konflikte, sogar eklatanter Kontroversen, beweist einen Defekt der Familie, sondern nur die Unfähigkeit ihrer Mitglieder, derartige Spannungen auszuhalten und miteinander zu klären, ohne einander zu verstoßen oder zu bestrafen. «

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fühlte sich auch in einer hohen Tessitura wohl. Diese Qualitäten kamen Donizettis Vorstellungen entgegen und er komponierte für Ronconi den Cardenio, die Hauptrolle in II furioso all’isola di San Domingo (Rom 1833), eine Rolle, die hinsichtlich der Tessitura dem Rigoletto vergleichbar und eineinhalb Mal so lang wie diese Partie, wenn auch weniger dramatisch ist. Dieser Oper ließ Donizetti für Ronconi die Titelrolle in Torquato Tasso (ebenfalls Rom, 1833) folgen sowie die Baritonrollen in Il campanello (Neapel 1836), Pia de’ Tolomei (Venedig 1837), Maria di Rudenz (Venedig 1838), Maria Padil­ la (Mailand 1841) und Maria di Rohan (Wien 1843). Ab 1839 ist Ronconi an der Mailänder Scala zu hören, wo Giuseppe Verdi seine Stimme schätzen lernt und für ihn den Nabucco schreibt (nach den ersten acht Nabucco-Vorstellungen wird Ronconi übrigens nicht mehr an die Scala zurückkkehren). Verdi, von dessen Baritonpartien Ronconi auch die Hauptrollen in Ernani und I due Foscari singt, beschreibt den Sänger nicht nur als »ausdrucksstark«, sondern auch als »Künstler«. Man kann ihn als den ersten echten Bariton in der Geschichte der italienischen Oper bezeichnen. Die Sopranistin Giuseppina Strepponi (Lodi 1815 - Sant’Agata 1897), die als hochintelligente, gebildete, sprachgewandte, einfühlsame, aber auch leidensfähige Gattin Verdis berühmt ist, hat mit der Rolle der Abigaille redliche Mühe und erzielt nur einen Achtungserfolg. In einigen Zeitungen erntet sie deutliche Verrisse. Es wurde vielfach die Frage erhoben, wieso diese Sängerin, deren Repertoire aus Koloratur- und lyrischen Partien in Opern von Bellini, Donizetti, Mercadante, Auber, Rossini, Pacini usw. bestand, in der hochdramatischen Partie der Abigaille besetzt wurde. Eine der denkbaren Antworten ist, dass Verdi ursprünglich die in dieser Saison an der Scala engagierte Sofia Loewe für die Partie im Sinne hatte und die Strepponi aus unbekannten Gründen im letzten Moment eine Notlösung für die Rolle ist. Temistocle Solera, der Librettist des Nabucco, hat einen blumigen Bericht über den Karrierebeginn der Sängerin hinterlassen: »In nur fünf Jahren, in denen sie unter lebhaftem und freundlichem Beifall ihre Kunst ausübt, ist sie im blühenden Alter von knapp vierundzwanzig Jahren in gut siebenund­ zwanzig Theatern ruhmreich aufgetreten. – Wien, Florenz, Venedig, Bologna, Rom, Turin und im vergangenen Frühjahr das kultivierte Mailand bewunderten an dieser jungen Frau die schönsten, durch ständiges Üben vervollkommneten Gaben der Natur. [ ...] Mit einem ungewöhnlichen Sinn für das Sensitive ausgestattet, versteht sie es, sich mit ihrem Gesang und ihrem Ausdruck in die Herzen der Zuschauer einzuschmeicheln. Gebildet und liebenswert in Gesellschaft, vorbildlich als Tochter und Schwester, hat sie sich großzügig ihrer ganzen Familie angenommen und lässt ihre heranwachsenden jüngeren Geschwister auf ihre Kosten in den besten Schulen erziehen.« Wegen ihrer ausgewogenen Urteilsfähigkeit und Intelligenz hat sie im Machtund Intrigengefüge der Scala ein Wörtchen mitzureden. Nabucco mit oder trotz der für ihre Stimme ungeeigneten Rolle der Abigaille ist für die Strepponi CHR IST I A N SPR INGER

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und ihre private Zukunft jedenfalls so etwas wie eine Schicksalsoper. Sie singt die Abigaille an der Scala in nur acht Vorstellungen. Bei der Wiederaufnahme der Oper im August 1842 wie auch in Wien wird sie von Teresa De Giuli ersetzt. Sie singt die Rolle allerdings später noch in Bologna, Verona, Alessandria und Modena. 1843 wird der Nabucco in Parma aufgeführt, wieder mit der Strepponi als Abigaille, diesmal mit Verdi als Dirigenten. 1847 beendet sie, erst zweiunddreißigjährig, nach letzten Konzertauftritten ihre Karriere. Ab 1846 ist ihr Zusammenleben mit Verdi belegt, 1859 findet in aller Stille die Hochzeit statt, die Ehe besteht trotz mancher Turbulenzen bis zu Giuseppinas Tod im Jahre 1897.

Die Musik Was hat das Mailänder Publikum am Nabucco zu solcher Begeisterung hingerissen, dass es die Scala stürmte und kaum genug Vorstellungen angesetzt werden konnten, um die Kartennachfrage zu befriedigen? Im Nabucco überwindet Verdi, der hier bereits als der geborene Operndramatiker mit einem unfehlbaren Instinkt für Bühnenwirksamkeit zu erkennen ist, seine Vorgänger Rossini, Bellini und Donizetti mit einem Schlag: Er grenzt sich stilistisch deutlich von ihnen ab, indem er anstelle der bisher üblichen lose aneinander gereihten Musiknummern eine Gliederung in ge­ schlossene musikalische Szenen vornimmt und damit seine spätere Entwicklung in Ansätzen vorwegnimmt. Darüber hinaus stellt er jeden der vier Teile der Oper unter ein Motto: »Gerusalemme – L’Empio – La profezia – L’idolo infranto« ( Jerusalem – Der Frevler – Die Prophezeiung – Das zerbrochene Götzenbild). Damit und mit der Bezeichnung »parte« (Teil) statt »atto« (Akt) wird angedeutet, dass es sich um keine durchgehende psychologische Entwicklung der Personen handelt, sondern um vier statische Bilder, bei denen die fertigen Charaktere mit der jeweiligen Situation konfrontiert werden. Der Handlungsablauf wird ohne Leerläufe vorangetrieben, das teilweise zum Selbstzweck degenerierte Ideal des virtuosen Ziergesanges, der pure Tonschönheit vor Charakterinterpretation stellte, wird zugunsten eines scharf konturierten expressiven Gesanges, der nach dramatischer Wahrheit strebt (eine von Verdi oft erhobene Forderung) und auch vor grellen Effekten nicht zurückschreckt, rigoros abgeschafft. Das schlägt auch auf die von Verdi bevorzugten Stimmkategorien durch: Die tiefen Männerstimmen werden zunehmend in den Vordergrund gestellt (die Figur des Nabucco ist die Keimzelle der zerrissenen Verdi-Vaterfiguren wie z.B. Rigoletto, Simon Boccanegra oder König Lear, ein Stoff, der Verdi fünfzig Jahre lang beschäftigte, dessen fertig vorliegendes Libretto von Antonio Somma er jedoch nie komponierte), die Tenöre treten als manchmal schwächliche Charaktere in den Hintergrund (Ismaele, Foresto in Attila, 25

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← Roberto Tagliavini als Zaccaria, 2017

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Carlo Moor in I masnadieri), die Soprane erhalten dramatische Aufgaben zugewiesen (Abigaille, Odabella in Attila, Lady Macbeth). Die Singstimme ist nach wie vor – und dabei wird es über Puccini, Leoncavallo, Mascagni und Catalani hinaus bis hin zu Respighi, Montemezzi und Pizzetti bleiben – Trägerin des musikalischen Ausdrucks, jedoch übernimmt das Orchester nicht mehr nur die gitarrenartige Begleitung, sondern tritt mit bis dahin undenkbaren krassen Effekten in den Vordergrund: Enorme dynamische Kontraste, abrupte Tutti-Schläge, akzentuierte Blechbläsereinwürfe, straffe Rhythmik und oft extrem schnelle Zeitmaße sowie die geschickte Instrumentation (wie z.B. manche wirkungsvolle dunkle Holzbläsereffekte, die in späteren Werken vervollkommnet werden) zielen auf bislang unbekannte Emotionen beim Zuhörer ab (der Nabucco wurde manchmal als die »lauteste« Oper Verdis bezeichnet). Doch Verdi erzielt auch kammermusikalische Wirkungen: Die Cello-Introduktion zu Zaccarias Gebet »Vien, o Levita!... Tu sul labbro« gibt Zeugnis von Verdis Kenntnis der Kammermusik- und Oratorienlireratur (er kannte nicht nur etliche Haydn-Quartette, sondern hatte auch wenige Jahre vor der Komposition des Nabucco in Mailand Die Schöpfung dirigiert). Nur die aus einigen Themen der Oper potpourriartig zusammengesetzte Ouverture ebenso wie einige konventionell koloraturverzierte Kadenzen sind eine Reverenz an seine älteren Kollegen und den Publikumsgeschmack. Das statische Textbuch erhält durch die Musik eine Dynamik, die man bei der Lektüre darin nicht vermuten würde. Der Konflikt zwischen Abigaille und Nabucco hat ein Gegengewicht in der Chormasse der gefangenen Juden, die mit dem berühmten »Va pensiero, sull’ali dorate« eine dramaturgisch und musikalisch dominierende Rolle übernimmt. Die Wirkung dieses Chores und das in ihn projizierte patriotische Credo ging schon während der ersten Aufführungsserie an der Scala über die opernsituationsbedingte Bedeutung hinaus und verselbständigte sich: Der Chor wurde im Zuge der italienischen Befreiungsbewegung zu einer Art geheimer Nationalhymne. Solera kommt das Verdienst zu, dramaturgisches Gewicht auf diesen Chor gelegt zu haben, doch waren zu keinem Zeitpunkt ihm oder Verdi die möglichen politischen Interpretationen bewusst. Er ist der erste der monumentalen patriotischen Chöre – oder, genauer gesagt: der Chöre, die beim Zuhörer patriotische Emotionen und Reaktionen auslösten –, die in vielen Verdi-Opern der frühen Periode anzutreffen sind. So naiv sie auch manchmal zu sein scheinen, so banal oder sogar vulgär einige von ihnen den mit deutscher Klassik und Romantik aufgewachsenen naserümpfenden Hörer nördlich der Alpen anmuten mögen, so ehrlich und leidenschaftlich sind sie komponiert. Mit der durch ihre überwältigende musikalische Kraft und mitreißende rhythmische Vitalität erreichten Popularität sind sie imstande, ein ganzes Werk zu tragen.

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Die Folgen: Berühmtheit, Aufträge und » Galeerenjahre « Verdi ist mit dem Nabucco über Nacht zur gefeierten Komponistenzelebrität geworden. Er beginnt im kultivierten literarischen Salon der Gräfin Clarina Maffei in Mailand zu verkehren, die ihm eine Freundin auf Lebenszeit werden soll, ebenso in jenem von Giuseppina Appiani, und wird trotz seiner noch harschen Umgangsformen rasch von der im Musikmilieu tonangebenden Mailänder Aristokratie akzeptiert. Später wird er sich erinnern: »Nabucco ist die Oper, mit der in Wahrheit meine eigentliche künstlerische Laufbahn begann.« Und: »Nach Nabucco bekam ich so viele Aufträge, wie ich nur wollte.« Die vielzitierten anni di galera (»Man kann sagen, dass ich vom Nabucco an keine Stunde Ruhe gehabt habe. Sechzehn Galeerenjahre!« schrieb Verdi am 12. Mai 1858 im Rückblick an Clarina Maffei) – jene Jahre, in denen Verdi wie ein Galeerensträfling bis zum Umfallen arbeitete – konnten beginnen.

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William Shakespeare

» DAS IST EIN WEISER VATER, DER SEIN EIGENES KIND KENNT. «

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KOLUMN EN T IT EL




Michael Sawall

MYTHOS »VA PENSIERO«

Verdi, ein » Prophet des Risorgimento «?


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Trotz der unbestrittenen musikalischen Qualität sind es letztlich erst außermusikalische Bezüge persönlicher und politischer Natur, die der Oper Nabucco ihren außerordentlichen Rang verleihen. Da sind zunächst persönliche Umstände. Verdis private und künstlerische Lebenssituation im Vorfeld von Nabucco war denkbar schlecht: Innerhalb von zwei Jahren waren seine beiden Kinder und seine noch junge Ehefrau gestorben. Die »grässliche Seelenqual«, von der Verdi später berichtet, nach diesen Schicksalsschlägen eine komische Oper (Un giorno di regno) komponieren zu müssen ist durchaus glaubhaft – wie auch seine Reaktion nach dem Misserfolg der Oper, »dass in der Kunst kein Trost für mich sei« und er »nie wieder eine Note komponieren« wolle. Nach all diesen Erfahrungen ließ er sich angeblich nur widerwillig von Bartolomeo Merelli, den Impresario der Scala, ein Libretto aufdrängen, das zuvor noch Otto Nicolai als unvertonbar zurückgewiesen hatte. Doch: »Zu Hause angekommen, warf ich das Heft mit einem so bösen Schwung auf den Tisch, dass es herabschnellte und vor meinen Füßen liegen blieb. Im Fallen aber hatte es sich geöffnet, und ohne dass ich wusste wie, blieben meine Augen an der offenen Seite hängen und jener Vers blickte mich an: ›Va pensiero, sull’ali dorate.‹« Diese Erinnerung an die Geburtsstunde des Nabucco, von Verdi sicherlich auch mit einigen legendenhaften Zügen versehen, stammt aus einem seiner wenigen Selbstzeugnisse, der autobiographischen Skizze über seine ersten Lebensjahrzehnte, die er 1879 seinem Verleger Ricordi zu Protokoll gab. Einem größeren Publikum bekannt machte diese Geschichte erst ihr Abdruck in Vita aneddotica di Verdi (1881) von Folchetto (eigentlich Jacopo Caponi). Das Buch erschien bei Ricordi in Mailand und war somit von höchster Stelle »autorisiert«. Als erste Verdi-Biographie ist sie rezeptionsgeschichtlich außerordentlich bedeutsam, bildete sie doch die Grundlage aller weiteren Arbeiten über Verdi. Nachfolgende Generationen von Verdi-Forschern haben daraus geschöpft und – vielfach unhinterfragt – auch das dort gezeichnete politische Verdi-Bild weiter tradiert, ein Bild, das Folchetto, von Beruf Musikkritiker und Theaterrezensent, mit starken patriotischen Strichen gezeichnet hat. Er schrieb: »Mit Nabucco und I lombardi fing Verdi an – ich möchte sagen, anfangs fast instinktiv –, politische Aktionen mit seiner Musik anzuzetteln. Ausländer werden nie begreifen können, welchen Einfluss zu einer gewissen Zeit die zündenden, lodernden Melodien ausübten, die Verdi erfand, wenn ihn Situationen oder auch nur einzelne Verse an den unglückseligen Zustand Italiens gemahnten. Das Publikum erkannte überall Anspielungen, aber Verdi fand sie zuerst und formte sie zu einer begeisterten Musik, was oft damit endete, dass sie im Theater eine Revolution auslösten.« Bei den Chören »Va pensiero« und »O Signore, dal tetto natìo« kam es zu den »ersten politischen Demonstrationen, die das Wiedererwachen der Lombardei und des Veneto signalisierten«.

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Das Bild von Verdi als »Propheten des Risorgimento« setzt sich also im Wesentlichen aus zwei Komponenten zusammen: Die eine ist die Stilisierung Verdis zum »patriotischen Instinktmusiker«. In dieser Sicht handelt »Va pensiero« nur vordergründig von den Klagen der »hebräischen Sklaven« über ihre verlorene Heimat Israel. Tatsächlich sei der Chor von Verdi und seinem Librettisten Solera als politische Metapher für die seinerzeit unter österreichischer Fremdherrschaft leidenden Italiener in Lombardei-Venetien konzipiert. Diesen angeblichen politischen Subtext der Oper hat der Musikwissenschaftler Roger Parker in der neuen kritischen Edition von Nabucco durch den Nachweis, dass der Chor und die unmittelbar darauffolgende »Prophezeiung« des Zaccaria musikalisch wie inhaltlich eine Einheit bilden, als Projektion der späten Mit- und Nachwelt entlarvt. Die andere – und im Folgenden näher ausgeführte – Komponente ist der angebliche politische »Einfluss« (Folchetto) und die patriotisch-aufrührerische Wirkung von Verdis frühen Opern. Dieser Sehweise kam sicherlich entgegen, dass gerade in der Zeit von Verdis ersten großen musikalischen Erfolgen Nabucco, I lombardi und Ernani auch die italienische Freiheits- und Einigungsbewegung mit den patriotischen Schriften von Gioberti, Balbo und d’Azeglio, den Aufständen in der Romagna 1845 und der Wahl des sich anfangs liberal gebenden Papstes Pius IX. 1846 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Vor diesem historischen Hintergrund wurde vielfach ein enger Zusammenhang zwischen Kunst und Politik konstruiert: Verdis Chöre der frühen 1840er Jahre wurden so zu »risorgimentalen Vorboten« (die namensgebende Turiner Zeitung Risorgimento wird erst Ende 1847 von Cavour gegründet), die im Theater patriotische Jubelstürme ausgelöst haben sollen. Hierbei schreckte man nicht einmal davor zurück, Premierenkritiken aus zeitgenössischen Musikjournalen im patriotischen Sinne zu verfälschen. Roger Parker konnte dem auch heute noch immer hochgeschätzten Franco Abbiati, Verfasser einer monumentalen vierbändigen Verdi-­Biographie (1959), ein solches Vorgehen nachweisen. Die von Abbiati zitierte Rezension der Uraufführung von Nabucco, die von regelrechten öffentlichen Demonstrationen für die Wiederholung des Chores trotz Verbotes der österreichischen Polizei berichtet, ist schlichtweg erfunden. Die Anekdote ist solchen Forschungsarbeiten gegenüber offensichtlich äußerst resistent. Noch in den neuesten Veröffentlichungen anlässlich Verdis 100. Todestags wird der Chor politisch verklärt. Der Dramaturg und Autor Christoph Schwandt schreibt etwa: »Der Gefangenenchor aus Nabucco wurde ... zur inoffiziellen Nationalhymne des bis 1861 nicht existierenden Staates« (Frankfurter Rundschau, 27. Jänner 2001); und auch für den Doyen des italienischen Journalismus, Giorgio Bocca, ist Nabucco noch immer eine Geschichte, die von einem »patriotischen« Komponisten, von Freiheitsstreben, Vaterlandsliebe und Demonstrationen im Theater handelt (La Repubblica, 27. Jänner 2001). Nach einer unvoreingenommenen Auswertung der zeitgeMICH A EL SAWA LL

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nössischen Quellen lässt sich die These von der patriotischen Rezeption der frühen Opern Verdis unter seinen Zeitgenossen nicht aufrechterhalten. Zwar wird in allen Rezensionen zur Uraufführung von Nabucco »Va pensiero« zitiert und besonders gelobt, von einer patriotisch-aufrührerischen Wirkung des Chores bei Publikum ist aber nirgends die Rede. Dasselbe trifft auch auf die zweite Aufführungsserie der Oper zu: Die 57 Reprisen in der Herbst-Stagione 1842 – eine in der Geschichte der Scala bisher unübertroffene Wiederholungszahl – dokumentieren vor allem den großen Publikumserfolg. Wäre es bei den Aufführungen zu politischen Demonstrationen gekommen, dann hätte die zuständige österreichische Theaterpolizei eingegriffen – wie nach Krawallen Anfang 1848, als daraufhin das Fenice in Venedig kurzzeitig geschlossen wurde, oder 1859, als weitere Aufführungen von Bellinis Norma an der Scala und in Triest und von I puritani in Venedig untersagt wurden. In allen bislang bekannten Rezensionen der zahlreichen Produktionen von Nabucco auf der Halbinsel bis zu den Revolutionen 1848/49 gibt es keinerlei Hinweise auf patriotische Kundgebungen oder auf die Rezeption von »Va pensiero« als Symbol der nationalen Hoffnungen der Italiener. Hervorgehoben werden in der Presse dagegen öfters das Duett Abigaille-Nabucco im 3. Akt, die beeindruckenden Finali und die abschließende Hymne »Immenso Jehova«. Die seinerzeit herrschende Pressezensur erklärt dieses Faktum nur unzureichend, denn gelegentlich wird von patriotischen Demonstrationen bei Theater-, Oper- und Ballettaufführungen, vor allem in der Phase der verstärkten Politisierung der italienischen Öffentlichkeit in den Jahren 1846/47, berichtet. Das Publikum patriotisch »entflammt« haben in dieser Zeit Chöre von Rossini und Mercadante, aber auch von Verdi. So wurde etwa bei verschiedenen Aufführungen des Ernani in Bologna und Rom zur Huldigung des neuen »Reform«-Papstes Pius IX. im Hymnus (Finale 3. Akt) auf Kaiser Karl V. die Chorstelle »A Carlo Quinto sia gloria e onor« durch »A Pio Nono sia gloria e onor« ersetzt. Aufführungen von Attila Ende Jänner 1848 im San Carlo zu Neapel nahm das Publikum zum Anlass, den Bourbonenkönig Ferdinand II., also einen Fremdherrscher, wegen der kurz zuvor von ihm angeordneten liberalen Umgestaltung seines Ministeriums und der Ankündigung einer Verfassung für das Königreich beider Sizilien zu feiern. Trotz Zensur wurden all jene Stellen beklatscht, die auch nur entfernt mit »Freiheit« zu tun hatten, und Rufe wie »Ferdinando il Grande« schallten durch das Opernhaus. Diese Demonstrationen waren Herrscherhuldigungen – und in diesem Sinne eher systemstabilisierend als umstürzlerisch oder revolutionär. Im Sinne des Risorgimento wurde unter Verdis Opern einzig der Chor der schottischen Flüchtlinge aus Macbeth rezipiert: Als diese Oper am 26. Dezember 1847 die Karnevals-Stagione im österreichisch besetzten Venedig eröffnete, forderte das Publikum im Fenice stürmisch die Wiederholung des Chores »Patria oppressa«. 35

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Auch die Revolutionen 1848 verstrichen, ohne dass sich die Gefühle der patriotischen Italiener explizit gegenüber ihrem angeblichen nationalen Helden und »Propheten« geäußert haben. Zunächst fehlte die Gelegenheit: Während der Karnevals-Stagione (Dezember 1847 bis März 1848) wurden an der Scala keine Verdi­-Opern gespielt, nach der erfolgreichen Mailänder Revolution und der Vertreibung der Österreicher (die »cinque giornate«, 18. bis

← Viva V.E.R.D.I. – Graffiti, 19. Jhdt.

22. März 1848) blieb das Haus – wie viele andere italienische Opernhäuser auch – aus ökonomischen Gründen geschlossen. Im volkstümlichen Teatro Carcano dagegen wurden revolutionär­patriotische Schauspiele wie La cadu­ ta del Dispotismo oder La caduta d’un impero aufgeführt; am 24. April 1848 war am gleichen Haus mit Aubers La Muta di Portici (nach einer nicht ganz so berühmten Legende soll diese Oper 1830 in Brüssel die belgische Revolution ausgelöst haben) die erste Oper im befreiten Mailand zu sehen. Verdis Verleger Ricordi kündigte die Veröffentlichung einer Serie von patriotischen Stücken an, so u.a. eine Kantate Gioachino Rossinis auf Pius IX. Bis zur Rückeroberung Mailands durch die Österreicher im August 1848 hatten weder die kurzzeitig von österreichischer Zensur befreite (Theater-)Presse noch MICH A EL SAWA LL

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die Öffentlichkeit besonderes Interesse an Verdis Musik; stattdessen sangen die Mailänder lieber patriotische Lieder und jene kämpferischen Hymnen auf das befreite Mailand und den nationalen Hoffnungsträger Pius IX., die heute nahezu unbekannte Komponisten reihenweise produziert hatten. Die Lage in anderen Städten Italiens gestaltete sich kaum anders: In Bologna setzte man I lombardi – trotz des patriotischen Chores »O Signore, dal tetto natio« – ab, um Nationalchöre singen zu lassen, in Neapel hatte Nabuc­ co nur mäßigen Erfolg, weil man dort nach typisch italienischer Musik verlangte und nicht nach dem alten Orient, in Venedig hatten patriotische Proklamationen größeren Zulauf als Pacinis neue Oper. Und auch die österreichischen Behörden befürchteten offenbar keine patriotischen Demonstrationen, als sie im Winter 1848 an der wiedereröffneten Mailänder Scala Aufführungen von Ernani, Attila und Nabucco zuließen. Die Monate vor dem Krieg Piemont/Frankreich gegen Österreich im Frühjahr 1859 ergeben ein ähnliches Bild: Aufführungen von Simon Boccanegra (Mailand), Il trovatore (Florenz) und La battaglia di Legnano (Turin) verliefen störungsfrei, in der römischen Herbst-Stagione 1859 ersetzte Donizettis Lu­ cia di Lammermoor gar die erfolglosen Lombardi. Offensichtlich wollten die Italiener in der Zeit des zweiten Befreiungskrieges 1859 keine theatralischen Metaphern, sondern eine Kunst, die sich direkt und unmissverständlich auf die eigene aktuelle politische Situation beziehen ließ: So wurden Anfang 1859 in Venedig und Mailand der Chor »Guerra, guerra« aus Bellinis Norma und in Florenz der erfolgreiche Volksaufstand aus Aubers Muta di Portici bejubelt, Ende 1859 im weiterhin österreichisch besetzten Triest wiederum »Guerra, guerra« und in Venedig das Freiheitsduett »Suoni la tromba« aus Bellinis I puritani. Wenn die patriotische Rezeption von Verdis Musik bis in das Jahr 1859 hinein ein Mythos ist, wie konnte dann Verdi und vor allem »Va pensiero« trotzdem zum Sinnbild des Risorgimento werden? Bei dieser Frage hat man sich die damalige geschichtliche Situation zu vergegenwärtigen. Nach dem erfolgreichen Verlauf der Befreiungskriege 1859/60 – Niederlage Österreichs und Abtretung der Lombardei, Vertreibung der Monarchen aus dem Großherzogtum Toskana, den Herzogtümern Parma und Modena und dem Königreich beider Sizilien – wurde Anfang 1861 das Königreich Italien offiziell proklamiert. Italien war damit erstmals seit Jahrhunderten frei von spanischer, französischer und österreichischer Fremdherrschaft. Da historische Vorläufer fehlten, musste die nationalstaatliche Identität zwangsläufig »konstruiert« werden, sei es durch nationale Helden, Mythen oder Legenden. Während in patriotisch gesinnten Gelehrtenkreisen Dante Alighieri zum »Propheten« der Einheit Italiens stilisiert wurde kam Verdi die Rolle des volkstümlichen nationalen Helden zu. Laut Zeitungen aus dem Königreich Piemont-Sardinien entdeckten im Winter 1858/59, in der Zeit der aufgeheizten Stimmung vor dem Krieg 1859, findige italienische Patrioten die politische 37

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Deutbarkeit von Verdis Namen. In Florenz war auf den Straßen der Gruß »Viva Verdi« verbreitet, in Modena und Mailand schmierten Jugendliche Graffiti mit Verdis Namen auf Mauern und Wände. V.E.R.D.I. – das stand für »Vittorio Emanuele Re D’Italia« und war das Symbol für die Befreiung von österreichischer Fremdherrschaft in Norditalien und ein geeintes Italien unter Führung des piemontesischen Königs. Verdis Auftreten auf der politischen Bühne förderte die Herausbildung des politischen Verdi-Mythos. Mitte September 1859 übergab er im Vorfeld triumphal von der Turiner Bevölkerung empfangen – als Mitglied der Parmeser Deputation dem piemontesischen König das Abstimmungsergebnis seiner Heimatprovinz für den Anschluss an Piemont. Anfang 1861 trat er – widerwillig und nur auf massives Drängen des ersten italienischen Ministerpräsidenten Cavour – sein Abgeordnetenamt im ersten italienischen Parlament (1861-65) an. Erst im Kontext der gelungenen Nationalstaatsbildung Italiens wurden in Zeitungsartikeln die Chöre aus Verdis frühen Opern Nabucco, I lombardi und Ernani politisch konnotiert. In der historischen Rückschau auf die Anfänge des Risorgimento wurde Verdi nun zum großen italienischen Patrioten stilisiert, zum »Propheten« der italienischen Einheit, und schließlich zum »genio musicale«, der instinktiv die Gefühle von »patria« und »libertà« in Töne gesetzt und damit musikalisch die Einigung Italiens vorweggenommen habe. Dass im Folgenden gerade »Va pensiero« – und nicht ein anderer Chor, der ähnliche Gefühle ausdrückt, wie »O Signore, dal tetto natìo« (I lombardi) oder »Patria oppressa« (Macbeth) eine solche Bedeutung erringen konnte, hat sicherlich mit den oben dargestellten persönlichen, historischen und politischen Hintergründen zu tun. Den anhaltenden Erfolg der Komposition jedoch sicherte letztlich die außergewöhnliche Qualität der Musik: der getragene, einstimmig geführte Gesang, der stets gleiche, natürlich dahinfließende Rhythmus und die Einprägsamkeit der einfachen, gleichsam schmucklos in Erscheinung tretenden Melodie.

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Malte Olschewski

» Der Diktator will nach Möglichkeit alles selbst erledigen. Weder Zuckerrübenanbau noch Stadtplanung oder gar die Außenpolitik überlässt er seinen einfältigen Ministern. Die Macht scheint 24 Stunden am Tag beschäftigt zu sein. Im Idealfall braucht der Diktator kaum Schlaf. Untertanen von Kaiser Haile Selassie haben erzählt, dass der Kaiser nach dem Aufwachen immer einen Wutanfall bekam. Die Natur hatte ihn übermannt und zu einigen Stunden Schlaf gezwungen. Alle Diktatoren hassen den Schlaf, denn dies sind die Stunden, in denen ihre Macht ruht. «

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KOLUMN EN T IT EL




AUS DEM JÜDISCHEN LEXIKON

Einige Stichworte zur Geschichte


Nebukadnezar II. König von Babel (605-562 v. Chr.), der das von seinem Vater Nabopolassar gegründete neubabylonische Reich zur höchsten Blüte brachte. Den Namen geben die biblischen Zeitgenossen, Jeremia (meistens) und Ezechiel, richtiger Nebukadrezzar wieder; er lautet babylonisch Nabukudurri-uzur, »Nebo, mein Land schütze!« [...] Nebukadnezar besiegte, vielleicht noch als Erbprinz, bei Karkemisch 605 v. Chr. den Ägypterkönig Necho. Ägypten selbst eroberte er nicht (im Gegensatz zu Berichten aus dem Altertum). Das Reich Juda aber fiel ihm als Vasallenstaat zu; und als dessen Könige im Vertrauen auf Ägypten mehrfach von ihm abfielen, ließ er schließlich Jerusalem zerstören und schlug das Land als Provinz zu seinem Reiche (586 v. Chr.). Die harte Behandlung der Besiegten war nicht Ausfluss eines grausamen Charakters, sondern politische Notwendigkeit zur Sicherung des Reiches. Schon die in Babylon angesiedelten Juden behandelte Nebukadnezar freundlicher. Die zweite Hälfte seiner 40jährigen Regierung füllte er mit Kulturarbeit größten Stils aus [...]. Er baute Tempel und Paläste, Terrassen und Kanäle (Wasserbecken bei Sippara) zur Euphrat-Regulierung, die »schwebenden Gärten«, 7 m dicke Mauern mit 100 ehernen Toren um die Residenzstadt, vielleicht auch die »medische Mauer« zwischen Euphrat und Tigris. Babel wurde durch ihn erst richtig die vielbewunderte Metropole ganz Vorderasiens.

Babylonische Gefangenschaft

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Die Verpflanzung der Juden aus Palästina nach Babylonien folgte einer mindestens seit Tiglat-Pileser I. geübten Taktik von Völkerdeportationen nach Mesopotamien. Bei Nebukadnezar entsprang sie der uralten Tendenz, Palästina als äußerstes Kulturland gegen Ägypten hin zum Bollwerk gegen dessen etwaige Angriffe zu machen und zugleich die Kolonisation fast unbebauter Länderstrecken in Babylonien zu fördern. Die Überführung geschah in mindestens drei großen Schüben: 597 v. Chr. nach der Entthronung des unglücklichen Jojachin, der mit seiner Familie und seinem Hofstaat nebst 7000 wehrfähigen Männern und 1000 Schmieden und Schlossern ins Exil ging, während kurz darauf, wohl infolge neuer Unruhen, die eher konservativen Kreise der Priester, Propheten und des Landadels das gleiche Schicksal traf. Im Sinne seiner Politik führte dann Nebukadnezar nach der Zerstörung Jerusalems 586 den Hauptteil – er wird auf 40 000 Männer geschätzt – fort, und schließlich dürften auch die Wirren nach der Ermordung Gedaljas eine letzte Siebung des spärlichen Restes nach sich gezogen haben. Dem Zweck der radikalen Verpflanzung entsprach es, dass nach assyrischer Gepflogenheit auch die Familien mitzogen. [...] Ob damals schon in den durch den Talmud berühmten Orten Nehardea, Sura und Pumbedita Juden wohnten, ist nicht festge-

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AUS DEM J Ü DISCHEN LEX IKON


stellt. Jedenfalls waren die ersten Ansiedlungen provisorisch, da die Juden sich weigerten, feste, steinerne Häuser zu bauen, da sie ja wenigstens bis 586 nicht an eine längere Dauer des Exils glaubten, also keine Treulosigkeit gegen Jerusalem begehen wollten. Ohne von der Regierung anerkannt zu werden, blieb auch jetzt noch die Geschlechterverfassung und Autorität der Ältesten oder sonstiger Persönlichkeiten, etwa von Propheten wie Ezechiel, in Kraft. Jedenfalls mussten die Juden auch gleich den anderen, nicht besonders privilegierten Untertanen bei Tempelbauten, Befestigungswerken, Strom- und Sumpfarbeiten Frondienste leisten, was neben dem den freien Bauern entwürdigenden körperlichen Zwang auch schwere materielle Schädigung bedeutete, da sich die Arbeiter selbst erhalten mussten. Dazu drückten die schweren Tempel- und Staatssteuern, die, wie eine Urkunde aus dem Archiv zu Ninive zeigt, nicht einer bestimmten Kopfzahl, sondern einem Steuerbezirk, ungeachtet der schwankenden Bevölkerungsmenge, auferlegt wurden; Gründe genug, dieses Leben in der Knechtschaft mit der sich schon verklärenden Vergangenheit schmerzlich und sehnsuchtsvoll zu vergleichen. Gerade das Exil aber musste Probleme aufwerfen, deren Lösung eine Voraussetzung für die unerschütterliche Festigkeit im Glauben war; so wagte sich Ezechiel an die durch die Katastrophen der letzten Königszeit auftauchende Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und die Rechtfertigung seiner Geschichtslenkung, um zum Aufbau eines neuen, von göttlichem Geiste durchglühten Israel in der Form einer Gottesstaats-Utopie zu gelangen. Das überlieferte Schrifttum wurde gepflegt und nach den neuen Gesichtspunkten überarbeitet bzw. schöpferisch ergänzt. Der Hoffnungsstrahl, der mit Amil Marduks Thronbesteigung und der Befreiung Jojachins aus dem Kerker, einer durchaus politischen Anerkennung der Juden, aufzuckte, verschwand ohne Folgen für die Gesamtheit. Erst als der Achämenide Cyrus in unaufhaltsamem Siegeszug ganz Vorderasien erschütterte und die babylonischen Priester selbst ihm 539 die Tore der Hauptstadt öffneten, erfüllte sich die von dem sogenannten Deutero-Jesaja verkündete Geschichtsauffassung von der Mission des Cyrus im Dienste Gottes: Der Weltenbesieger gewährt dem winzigen Völkchen Heimkehr und Wiederaufbau seiner religiösen und nationalen Existenz.

Bundeslade Ein von den Israeliten als größtes Heiligtum verehrter hölzerner Schrein; über seinen Charakter sowie über die an ihn geknüpten religiösen Vorstellungen weiß die Überlieferung Verschiedenartiges zu berichten, wie auch die Ansichten der Bibelforscher und Archäologen darüber sehr weit auseinandergehen. Im vollen Lichte der Geschichte erscheint die Bundeslade in der Epoche der Philister-Kriege, wo sie als Symbol des die Heere Israels befehligenAUS DEM J Ü DISCHEN LEX IKON

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den Kriegsgottes Jahwe (oder, nach anderer Auffassung – in Anlehung an eine im alten Orient, hauptsächlich in Ägypten, häufig bezeugte religiöse Vorstellung als Sessel, auf dem Jahwe unsichtbar thronte) mit in die Schlachten geführt wurde (1. Sam. Kap. 4-7). Aber auch schon früher wird von der Bundeslade als dem Stammesheiligtum Ephraims berichtet, das in Silo aufgestellt war. Andere Traditionsschichten verbinden die Bundeslade mit der Religionsstiftung Moses’ der sie nach den Weisungen Gottes vom Künstler Bezalel, zugleich mit der Stiftshütte und deren Geräten, schon in der Wüste anfertigen ließ. [...] Bei der Einweihung des Tempels durch Salomo erscheint die Bundeslade als ein im »Dewir«, dem Allerheiligsten, aufgestellter Kultgegenstand, der einerseits die Urkunden des Bundesvertrages Gottes mit Israel, die Bundestafeln, in sich barg (1. Kön. 8, 9), andererseits die Gegenwart des »über den Cherubim thronenden« Gottes im Tempel bekundete. Erst das Deuteronomium kennt die Bundeslade als Behälter der beiden steinernen Tafeln. [...] Bei der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier ging die Bundeslade verloren; im zweiten Tempel wurde sie nicht wiederhergestellt. Der Talmud enthält eine sehr große Anzahl verschiedenster Sagen über den Ursprung, die magische Kraft und die Geschicke der Bundeslade.

Aus dem Alten Testament DER PROPHET JEREMIA → aus dem 52. Kapitel Zedekia war einundzwanzig Jahre alt als er König wurde; und er regierte elf Jahre zu Jerusalem. Seine Mutter hieß Hamutal, eine Tochter Jeremias aus Libna. Und er tat, was dem HERRN missfiel, gleichwie Jojakim getan hatte. Denn so geschah es mit Jerusalem und Juda um des Zornes des HERRN willen, bis er sie von seinem Angesicht wegstieß. Zedekia fiel ab vom König von Babel. Im neunten Jahr seiner Herrschaft, am zehnten Tage des zehnten Monats, kam Nebukadnezar, der König von Babel, mit seinem ganzen Heer vor Jerusalem, und sie belagerten es und machten Bollwerke ringsumher. Und die Stadt blieb belagert bis ins elfte Jahr des Königs Zedekia. Aber am neunten Tage des vierten Monats nahm der Hunger überhand in der Stadt, und das Volk des Landes hatte nichts mehr zu essen. Da brach man in die Stadt, und alle Kriegsleute wandten sich zur Flucht und zogen zur Stadt hinaus bei Nacht durch das Tor zwischen den zwei Mauern auf dem Weg, der zum Garten des Königs geht. Aber die Chaldäer lagen rings um die Stadt her. Und als sie den Weg zum Jordantal nahmen, jagte das Heer der Chaldäer dem König nach, und sie holten Zedekia ein im Jordantal von Jericho. Da zerstreute sich 45

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sein ganzes Heer. Und sie nahmen den König gefangen und brachten ihn hinauf zum König von Babel nach Ribla, das im Lande Hamat liegt; der sprach das Urteil über ihn. Allda ließ der König von Babel die Söhne Zedekias vor dessen Augen töten und tötete auch alle Oberen von Juda in Ribla. Aber Zedekia ließ er die Augen ausstechen und ihn in Ketten legen. So führte ihn der König von Babel nach Babel und legte ihn ins Gefängnis, bis er starb. Aber im siebenunddreißigsten Jahr, nachdem Jojachin, der König von Juda, weggeführt war, am fünfundzwanzigsten Tage des zwölften Monats ließ Evil-Merodach, der König von Babel, im Jahr, da er König wurde, Jojachin, den König von Juda, aus dem Kerker holen und redete freundlich mit ihm und setzte seinen Sitz über die Sitze der Könige, die bei ihm in Babel waren. Und Jojachin legte die Kleider seiner Gefangenschaft ab und aß bei dem König sein Leben lang. Und ihm wurde stets sein Unterhalt vom König von Babel gegeben, wie es für ihn verordnet war, sein ganzes Leben lang bis an sein Ende. Dies ist das Volk, das Nebukadnezar weggeführt hat: im siebenten Jahr 3023 Judäer; im achtzehnten Jahr aber des Nebukadnezar 832 Leute aus Jerusalem; und im dreiundzwanzigsten Jahr des Nebukadnezar führte Nebukadnezar, der Oberste der Leibwache, 745 Leute aus Juda weg. Alle zusammen sind 4600.

Aus dem Alten Testament NEBUKADNEZARS TRAUM VON DEN WELTREICHEN → Daniel, 2,1 – 49 Im zweiten Jahr der Herrschaft Nebukadnezars hatte dieser einen Traum. Sein Geist wurde davon so beunruhigt, dass er nicht mehr schlafen konnte. Da ließ der König die Zeichendeuter und Wahrsager, die Beschwörer und Kaldäer zusammenrufen; sie sollten ihm Aufschluss geben über seinen Traum. Die Kaldäer hielten dem König entgegen: Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der sagen könnte, was der König verlangt. Auch hat noch nie ein König, mag er noch so groß und mächtig gewesen sein, ein solches Ansinnen an irgendeinen Zeichendeuter, Wahrsager oder Kaldäer gestellt. Was der König verlangt, ist zu schwer. Es gibt auch sonst niemand, der es dem König sagen könnte, außer den Göttern; doch diese wohnen nicht bei den Sterblichen. Darüber wurde der König so wütend und zornig, dass er befahl, alle Weisen in Babel umzubringen. [...] Darauf ging Daniel zu Arjoch, dem der König aufgetragen hatte, die WeiAUS DEM A LT EN T E STA MEN T

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sen Babels umzubringen; er trat ein und sagte zu ihm: Bringe die Weisen von Babel nicht um! Führe mich vor den König! Ich werde dem König die Deutung seines Traums geben. In aller Eile brachte Arjoch Daniel vor den König und meldete ihm: Ich habe unter den verschleppten Juden einen Mann gefunden, der dem König die Deutung seines Traumes geben will. Darauf sagte der König zu Daniel, den man auch Beltschazzar nannte: Bist du wirklich imstande, mir das Traumgesicht, das ich hatte, und seine Deutung zu sagen? Daniel antwortete dem König: Weise und Wahrsager, Zeichendeuter und Astrologen vermögen dem König das Geheimnis, nach dem er fragt, nicht zu enthüllen. Aber es gibt im Himmel einen Gott, der Geheimnisse offenbart; er ließ den König Nebukadnezar wissen, was am Ende der Tage geschehen wird. Der Traum, den dein Geist auf deinem Lager hatte, war so: Auf deinem Lager kamen dir, König, Gedanken darüber, was dereinst geschehen werde; da ließ er, der die Geheimnisse enthüllt, dich wissen, was geschehen wird. Dieses Geheimnis wurde mir enthüllt, nicht durch eine Weisheit, die ich vor allen anderen Lebenden voraus hätte, sondern nur, damit du, König, die Deutung erfährst und die Gedanken deines Herzens verstehst. Du, König, hattest eine Vision. Du sahst ein gewaltiges Standbild. Es war groß und von außergewöhnlichem Glanz; es stand vor dir und war furchtbar anzusehen. An diesem Standbild war das Haupt aus reinem Gold; Brust und Arme waren aus Silber, der Körper und die Hüfte aus Erz. Die Beine waren aus Eisen, die Füße aber zum Teil aus Eisen, zum Teil aus Ton. Du sahst, wie ohne Zutun von Menschenhand, ein Stein sich von einem Berg löste, gegen die eisernen und tönernen Füße des Standbildes schlug und sie zermalmte. Da wurden Eisen und Ton, Erz Silber und Gold mit einem Mal zu Staub. Sie wurden wie Spreu auf dem Dreschplatz im Sommer. Der Wind trug sie fort, und keine Spur war mehr von ihnen zu finden. Der Stein aber, der das Standbild getroffen hatte, wurde zu einem großen Berg und erfüllte die ganze Erde. Das war der Traum. Nun wollen wir dem König sagen, was er bedeutet. Du König, bist der König der Könige; dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht, Stärke und Ruhm verliehen. Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen, die Tiere auf dem Feld und die Vögel am Himmel in deine Gewalt gegeben; dich hat er zum Herrscher über alle gemacht: Du bist das goldenen Haupt. Nach dir kommt ein anderes Reich, geringer als deines; dann ein drittes Reich, von Erz, das die ganze Erde beherrschen wird. Ein viertes endlich wird hart wie Eisen sein; Eisen zerschlägt und zermalmt ja alles; und wie Eisen alles zerschmettert, so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern. Die Füße und Zehen waren, wie du gesehen hast, teils aus Töpferton, teils aus Eisen; das bedeutet: Das Reich wird geteilt sein; es wird aber etwas von der Härte des Eisens haben, darum hast du das Eisen mir Ton vermischt gesehen. Dass aber die Zehen teils aus Eisen, teils aus Ton waren, bedeutet: Zum Teil wird das Reich hart sein, zum Teil brüchig. Wenn du das Eisen mit Ton vermischt gesehen hast, heißt das: Sie werden 47

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sich zwar durch Heiraten miteinander verbinden; doch das eine wird nicht am andern haften, wie sich Eisen nicht mit Ton verbindet. Zur Zeit jener Könige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen. Es wird alle jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen. Du hast ja gesehen, dass ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach und Eisen, Erz und Ton, Silber und Gold zermalmte. Der große Gott hat den König wissen lassen, was dereinst geschehen wird. Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlässig. Da warf sich der König Nebukadnezar auf sein Gesicht nieder, huldigte dem Daniel und befahl, man solle ihm Opfer und Weihrauch darbringen. Und der König sagte zu Daniel: Es ist wahr: Euer Gott ist der Gott der Götter und der Herr der Könige, und er kann Geheimnisse offenbaren; nur deshalb konntest du dieses Geheimnis enthüllen.

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Fjodor Michailowitsch Malte Olschweski Dostojewski

» DIE EINBILDUNG DES GRÖSSENWAHNSINNIGEN WIRD IMMER STÄRKER SEIN ALS JEDE WAHRHEIT, DIE ER ERFAHREN KÖNNTE. «

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KOLUMN EN T IT EL


Hans Sohni

GE­SCHWISTER­RIVALITÄT

Entwicklungsfördernde versus und gestörtdestruktive Dynamik


Wenn ein jüngeres Geschwister geboren wird, erwirbt das ältere durch existenzielles Rivalisieren die Erkenntnis »Ich und du, wir sind beide gleich und wir unterscheiden uns, es gibt Platz für dich und für mich«. Doch auch Kleinkinder, Vorschul- und Schulkinder rivalisieren. Zwischen Geschwistern ist Rivalisieren eines der häufigsten Interaktions- und Beziehungsmuster. Geschwister zwischen zwei und neun Jahren geraten alle neun Minuten aneinander, bei den Älteren dauern diese Auseinandersetzungen im Schnitt 45 Sekunden an. Ihre Kämpfe nehmen also beträchtliche Zeit ein und rauben ihren Eltern oft den »letzten Nerv«. In der Bewertung des Rivalisierens vollzog sich in den letzten 20 Jahren ein bemerkenswerter Wandel, in dem die Entwicklungspsychologie der psychoanalytischen Entwicklungslehre um einiges voraus ist. Wenn Geschwister während vieler Jahre nichts anderes so häufig betreiben, wie miteinander zu streiten, hat das vielleicht doch noch einen anderen Sinn, als die Eltern nur zu nerven? Zwar finden wir immer noch die Annahme, man könne die Geschwisterbeziehung verbessern, indem man versucht, die geschwisterlichen Konflikte zu reduzieren. Wie Studien zeigen, führt die Reduzierung von Geschwisterkonflikten aber nicht etwa zu einer harmonischeren Beziehung, sondern zu einem Nebeneinanderherleben, und später verlieren sich diese Geschwister aus den Augen. Es ist vielmehr so: Im Streiten und Rivalisieren lernen Brüder und Schwestern, klar zu kommunizieren, zu verhandeln und Konflikte einvernehmlich zu beenden. Es geht ja nicht um das Streiten an sich, sondern um das Aushandeln eines Kompromisses, Streiten um eine gemeinsam akzeptierte Lösung. Streiten ist ein Instrument, mit dessen Handhabung Geschwister lernen, ihre Affekte zu regulieren, emotionale und soziale Kompetenz zu erwerben, sich selbst zu vertreten und sich gegenseitig zu respektieren. Eltern stellen Beratern, Kinder- und Jugendpsychiatern, Psychotherapeuten und Familientherapeuten immer wieder die Frage, wann und wie sie in den Streit ihrer Kinder eingreifen sollen – oft fragen sie nur rhetorisch und wollen die Therapeuten dazu bringen, ihr bisheriges Eingreifen zu legitimieren. Therapeuten verblüfft dabei oft, dass manche Eltern schon bei den geringsten Anzeichen von Konfrontation eingreifen wollen, andere erst dort, wo ernsthafte Verletzungen drohen oder dauerhafte verbissene Kämpfe stattfinden. Das lässt darauf schließen, dass hier eigene Erfahrungen der Eltern maßgeblich mitspielen. Darüber sollten wir Therapeutinnen und Therapeuten mit den Eltern reden. Streitende Geschwister sind ein Lieblingsthema für Elternratgeber, pauschale Tipps für die Eltern zum Eingreifen sind aber wenig hilfreich. Übrigens: Wenn Geschwister nicht streiten, sollten wir als Berater und Therapeuten aufmerksam werden: Da stimmt etwas nicht! Es ist eine wichtige Aufgabe, Eltern dabei zu unterstützen, das Rivalisieren und Streiten ihrer Kinder als eine Art tägliches Brot für die psychische Entwicklung verstehen und schätzen zu lernen und das eigene Eingreifen 51

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auf diesen Punkt hin immer wieder zu reflektieren, mit all den Klippen, die diese Mutter und dieser Vater zu umschiffen haben – seien es eigene ängstigende Kindheitserfahrungen, sei es die Angst, selbst ausgeschlossen zu werden, sei es die vorgebliche Aufgabe von Eltern, alles im Griff zu haben. Bei diesem Reflektieren geht es um den Unterschied in der Haltung: Fordern die Eltern als regulative Instanz »Vertragt euch« oder neigen sie zu »Ihr dürft euch streiten«? Ratsam für »starke« Eltern scheint mir diese Haltung: Sie werten das Rivalisieren ihrer Kinder positiv, beziehen es nicht auf sich als geschwisterlichen Kampf um elterliche Liebe und respektieren und schützen die Geschwisterbeziehung ihrer Kinder und gönnen ihnen diesen eigenständigen Raum. Der Wandel hin zu einer positiven Bewertung des Rivalisierens beinhaltet auch eine bessere Unterscheidung zwischen entwicklungsfördernder und gestört-destruktiver Dynamik. Da sich beides in den Köpfen vieler Psychotherapeuten noch immer vermischt, möchte ich diese wichtige Unterscheidung klar betonen. […] In der Psychotherapie erfahren wir, dass feindselige geschwisterliche Kämpfe häufig vorkommen. Ich finde es dennoch wichtig, das jeweilige Misslingen (auch hinsichtlich seiner Entstehung) als Störung und nicht als eine Dynamik aufzufassen, die alle Geschwister miteinander erleben. Wenn Psychoanalytiker tödliche Geschwisterkämpfe als typische dunkle Seite jeder Geschwisterbeziehung beschreiben, dann ist das keine zeitgemäße psychoanalytische Auffassung, sondern ein Relikt der Freud’schen Fehlannahme – Freud verallgemeinerte seine zumindest partiell traumatische Geschwistererfahrung zu einem geschwisterlichen Entwicklungsgesetz. Bleiben wir noch bei den Störungsmöglichkeiten des Rivalisierens, weil wir es als Psychotherapeutinnen und -therapeuten oft mit ihnen zu tun haben. Erkennen wir die Störungen, soll das der Anreiz sein, hier therapeutisch anzusetzen und an der Geschwisterdynamik zu arbeiten, damit sie (wieder) als Ressource für die Freude am Zusammenleben wirksam werden kann. Die Störungen können von den Eltern induziert werden, sei es durch deren Versagen bei der »sozialen Geburt«, sei es durch eigene ungelöste Konflikte (über Projektion und Identifikation); sie können aber auch von den Geschwistern ausgehen, zum Beispiel weil eines subjektiv erlebt, dass ein anderes vorgezogen wird. Konkret gibt es eine Fülle von Varianten, eine große Bandbreite zwischen gesunder und gestörter Rivalitätsdynamik. Neid kann eher blockierend wirken, wenn im Erleben die Betonung darauf liegt: »Was ich nicht habe, sollst auch du nicht haben!« Dagegen kann Neid progressiv wirken, wenn die Betonung lautet: »Wohin du gekommen bist, da will auch ich hin!« Eifersucht verstehen wir szenisch vor allem in einem Vergleichen: »Sie ist die Schönere, gegen sie bin ich hässlich!« Geschwister lieben sich und hassen sich – das, so wird immer wieder behauptet, kennzeichne diese wie keine andere Beziehung. Geschwisterliebe H A NS SOHN I

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ja, aber ist das andere Hass? Ich verstehe unter Hass eine konstante feindliche Einstellung und nehme an, auch in dieser Formel steckt die Vermischung, von der ich sprach. Entweder ist nicht Hass gemeint, sondern so etwas wie situative Wut (die kann heftig sein – vielleicht möchte ich dem Bruder an die Gurgel oder ihn »auf den Mond« schießen). Geschwister streiten sich und versöhnen sich, immer wieder. So können sie sich gerade im dauernden Wechsel zwischen Einverständnis und Auseinandersetzung sehr nahe verbunden fühlen. Geschwisterbeziehungen sind nicht hasserfüllt, sondern konfliktträchtig. »Ich mag dich, du nervst mich und zwingst mich ständig zu neuen gemeinsamen Lösungen«. Oder sind mit Hass diese latent lauernden Todeswünsche gemeint, weil sich Geschwister in ihrem Selbst vom anderen so abgründig bedroht fühlen können? Dann halte ich das für eine (meist von den Eltern induzierten) gestörten Dynamik. […] Erscheinungsformen gestörter Geschwisterdynamik fallen in Psychotherapien häufig auf, deshalb ist es sinnvoll, den therapeutischen Blick zu üben für Möglichkeiten, diese Dynamik positiv zu verändern. Durch Konfliktbearbeitung können eingefrorene oder »vergiftete« Geschwisterbeziehungen wieder lebendiger und sogar zu Lebensressourcen werden. In tiefgreifenden Geschwisterkonflikten sind häufig mehrere Themen miteinander verwoben (Gewalt, Dominanz, Rivalität etc.), doch überwiegt im Erleben der Betroffenen selbst oft nur ein »Motto«. Zunächst werden Störungen vorgestellt, denen eine vertikale Dynamik gemeinsam ist, das heißt, sie werden von den Eltern induziert. Eine Form gestörter Psychodynamik ist die transgenerationale Weitergabe gespaltener Beziehungsstrukturen. Zwischen Eltern und Kindern und zwischen Geschwistern ist unter dieser Voraussetzung kein Dialog möglich. Auf beiden Seiten geht es um die Angst, ausgeschlossen zu werden. Szenisch gesehen wird um einen Platz gekämpft. »So kommt es oft zu der mörderischen [...] Rivalität zwischen Elternteilen und Kindern, aber auch zwischen Geschwistern«. Zeigt sich zwischen Geschwistern eine derartige zerstörerische Rivalität, dann ist sie nicht als struktureller Zug aufzufassen, sondern als eine identifikatorisch von den Eltern übernommene, gespaltene Beziehungsstruktur. Narzisstisch gestörte Eltern ertragen die Nähe ihrer Kinder zueinander nicht. Auch wenn Geschwister streiten, kommen sie sich emotional und körperlich nahe, weil sie dabei ja oft handgreiflich werden. Die Eltern ertragen die Angst nicht, selbst ausgeschlossen zu werden.

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GE SCH W IST ER R I VA LITÄT


William Shakespeare → König Lear LEAR: Sei’s drum. Nimm deine Wahrheit dann zur Mitgift, Denn bei der Sonne heil’gem Strahlenkreis, Bei Hekates Mysterien und der Nacht, Bei allen Kräften der Planetenbahn, Durch die wir leben und dem Tod verfallen, Sag ich mich los hier aller Vaterpflicht, Aller Gemeinsamkeit und Blutsverwandtschaft, Und wie ein Fremdling meiner Brust und mir Sei du von jetzt auf ewig. KENT: Was tust du, alter Mann? Meinst du, dass Pflicht die Rede scheut, weil Macht Sich Schmeicheln fügt? Die Ehre fordert Gradheit, Wenn Könige töricht werden. LEAR: Denn nie Hatt’ ich solch Kind, und nimmer grüße sie Mein altes Aug mehr. Folg deinen Wegen Ohn’ unsre Lieb’ und Gunst, ohn’ unsren Segen. LEAR: Höll’ und Tod! ich bin beschämt, Dass du so meine Mannheit kannst erschüttern, Dass heiße Tränen, die mir wider Willen Entstürzen, dir geweint sein müssen. Pest Und Giftqualm über dich! NARR: Ja, wahrhaftig, du würdest einen guten Narren abgeben. LEAR: Mit Gewalt muss ich’s wiedernehmen. Scheusal Undankbarkeit! NARR: Wenn du mein Narr wärst, Gevatter, so bekämst du Schläge, weil du vor der Zeit alt geworden bist. LEAR: Was soll’s? NARR: Du hättst nicht alt werden sollen, eh’ du klug geworden wärst. REGAN: O Mylord, Ihr seid alt, Natur in Euch steht auf der letzten Neige Ihres Bezirks; Euch sollt ein kluger Sinn, Der Euern Zustand besser kennt als Ihr, Zügeln und lenken.

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LEAR: Ich will dir nicht zur Last sein; Kind leb wohl! Wir wolln uns nicht mehr treffen, nicht mehr sehn. Und doch bist du mein Fleisch, mein Blut, mein Kind – Nein, eine Krankheit eh’r in meinem Fleisch, Die mein ich nennen muss. Bist eine Beule, Ein Pestauswuchs, ein schwellender Karfunkel In meinem kranken Blut. Doch ich will dich nicht schelten. Scham komme, wenn sie will, ich ruf sie nicht. Ich heiße nicht den Donnerträger schleudern, Noch schwatz ich aus von dir vor Jovis Thron. Geh’ in dich, ganz nach Muße bessre dich.

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Elias Canetti

MACHT UND ÜBERLEBEN

» Ich will heute von Überleben sprechen […] und zu zeigen versuchen, dass dieses Überleben im Kern alles dessen steht, was wir – etwas vage – als Macht bezeichnen. «


­­ [...] das Glücksgefühl konkreten Überlebens ist eine intensive Lust. Einmal eingestanden und gebilligt, wird sie nach ihrer Wiederholung verlangen und sich rapid zu einer Passion steigern, die unersättlich ist. Wer von ihr besessen ist, wird sich die Formen gesellschaftlichen Lebens um ihn in der Weise zu eigen machen, dass sie der Frönung dieser Passion dienen. Die Passion ist die der Macht. Sie ist so sehr an die Tatsache des Todes gebunden, dass sie uns natürlich erscheint; wir nehmen sie hin wie den Tod, ohne sie wirklich in Frage zu stellen, ja ohne sie auf ihre Verzweigungen und Auswirkungen hin ernsthaft ins Auge zu fassen. Wer Geschmack am Überleben gewonnen hat, der will es häufen. Er wird Situationen herbeizuführen suchen, in denen er viele zugleich überlebt. Die zerstreuten Augenblicke von Überleben, die das tägliche Dasein bietet, werden ihm nicht genügen. Da dauert es allzu lange, er kann nicht nachhelfen. [...] Wer gern in den Krieg zieht, handelt in dem Gefühl, dass er zurückkehren wird, ihn wird es nicht treffen; es ist eine Art von umgekehrter Lotterie, bei der nur die Nummern gewinnen, die nicht herauskommen. Wer gern in den Krieg zieht, geht mit Vertrauen, und dieses Vertrauen besteht in der Erwartung, dass die Gefallenen auf beiden Seiten, der eigenen auch, lauter andere sind, und er der Überlebende. Der Krieg bietet so auch dem einfachen Mann, der sich in Friedenszeiten als nichts Besonderes vorkommen mag, die Gelegenheit zu einem Gefühl von Macht, nämlich eben dort, wo dieses Gefühl seine Wurzel hat, im gehäuften Überleben. Die Gegenwart von Toten ist hier gar nicht zu umgehen, auf sie ist alles abgestellt; und selbst wer in dieser Richtung persönlich nicht viel geleistet hat, wird durch den Anblick aller Gefallenen gehoben, unter denen er sich nicht befindet. Worauf im Frieden die schwersten Sanktionen stehen, das wird hier nicht nur von einem gefordert, es wird massenhaft bewirkt. Der Überlebende kehrt mit einem gesteigerten Gefühl von sich zurück, selbst wenn der Krieg für seine Seite nicht gut ausgegangen ist. Anders wäre es nicht zu erklären, dass Menschen, die die grauenvollen Aspekte des Krieges sehr wohl aufgefasst haben, diese so rasch vergessen oder verklären. Etwas vom Glanz der Unverletzlichkeit umstrahlt jeden, der heil zurückkehrt. Aber nicht alle sind einfach, nicht alle begnügen sich damit. Es gibt eine aktivere Form dieses Erlebnisses, und sie ist es, die uns hier eigentlich inter­ essiert. Ein Einzelner allein kann gar nicht so viele Menschen töten, als seine Passion fürs Überleben sich Wünschen mag. Aber er kann andere dazu veranlassen oder sie dirigieren. [...] Die berühmten Eroberer der Geschichte sind insgesamt diesen Weg gegangen. Tugenden aller Art sind ihnen später zugeschrieben worden. Noch Jahrhunderte wägen Historiker ihre Eigenschaften gewissenhaft gegeneinander ab, um zu einem – wie sie glauben – gerechten Urteil über sie zu ge 57

ELI AS CA N ET T I


langen. Ihre fundamentale Naivität bei diesem Geschäft ist mit Händen zu greifen. Faktisch erliegen sie noch der Faszination einer Macht, die längst vergangen ist. [...] Da die Geschichte weiterging, ist ein scheinbarer Sinn in ihrer Kontinuität immer leicht zu finden; und es wird dafür gesorgt, dass dieser Sinn eine Art von Würde bekommt. Die Wahrheit nämlich hat hier gar keine Würde. Sie ist so beschämend, wie sie vernichtend war. Es geht um eine private Passion des Machthabers: seine Lust am Überleben wächst mit seiner Macht; seine Macht erlaubt es ihm, ihr nachzugeben. Der eigentliche Inhalt dieser Macht ist die Begierde, massenhaft Menschen zu überleben. [...] Denn die eigentliche Absicht des wahren Machthabers ist so grotesk wie unglaublich: er will der Einzige sein. Er will alle überleben, damit keiner ihn überlebt. Um jeden Preis will er dem Tod entgehen, und so soll niemand, überhaupt niemand da sein, der ihm den Tod geben könnte. Solange Menschen da sind, wer immer sie seien, wird er sich nie sicher fühlen. Selbst seine Wachen, die ihn vor seinen Feinden beschützen, können sich gegen ihn wenden. Der Nachweis, dass er sich heimlich immer vor denen fürchtet, denen er befiehlt, ist unschwer zu erbringen; und immer überkommt ihn auch Furcht vor seiner nächsten Umgebung. Es hat Machthaber gegeben, die aus diesem Grund keinen Sohn haben wollten. [...]

M ACH T U N D Ü BER LEBEN

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Horst-Eberhard Richter

» Gefährlicher noch als die Tyrannei der Macht ist allerdings oft die Tyrannei der Ohnmacht und der Gebrechlichkeit. [...] Der Hinweis auf das Grab, an dessen Rand die Kinder vielleicht noch einmal ihren Egoismus bereuen würden, ist meist der letzte Trumpf dieser ebenso grotesken wie allzu oft noch effektiven Strategie. « 59

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Georg Titscher

NABUCCO AUS DER SICHT DES PSYCHO­ THERAPEUTEN Bevor wir uns näher mit den beiden Hauptfiguren, Nabucco und Abigaille beschäftigen, sehen wir uns einige inhaltliche Analogien und Personenkonstellationen an. Wie in den beiden ersten und mehreren späteren Opern gibt es das Vater-Tochter-Thema, bei Nabucco sind es sogar zwei (vermeintliche) bzw. (Halb-)Schwestern. Unterdrückung und Gefangenschaft eines Volkes, Liebe über die verfeindeten Nationen hinweg, die Dreiecksbeziehung, die Macht des Vaters über die Tochter, alles das finden wir in Aida wieder. So wie Fenena von den Hebräern wird Aida von den ÄgypGEORG T ITSCHER


tern gefangen gehalten. Die äthiopische Königstochter Aida liebt den Ägypter Radames, die babylonische Königstochter Fenena den Hebräer Ismaele. Beide haben eine Rivalin, Aida die ägyptische Prinzessin Amneris, Fenena ihre angebliche Schwester Abigaille. Und in beiden Opern geht es um Macht oder Ohnmacht eines Vaters, Nabucco beziehungsweise Amonasro. Der inhaltliche Hauptunterschied liegt in der Gewichtung der Liebesgeschichte und der Gestaltung der Beziehungen. In Nabuc­ co wird die Liebe zwischen Ismael und Fenena im Vergleich zum Schicksal des jüdischen Volkes und von Abigaille und Nabucco in den Hintergrund gedrängt. Das Liebesduett wurde von Verdi schon im Libretto gestrichen, es gibt keine große Schlussszene des Liebespaares, obwohl einem lieto fine nichts mehr im Weg steht. Ganz anders in Aida, wo die Liebe zwischen Radames und Aida und ihr tragischer Ausgang im Zentrum der Handlung stehen. Eine weitere Parallele gibt es mit einem Stoff, der Verdi fünfzig Jahre lang beschäftigte, den er unbedingt komponieren wollte, dessen Libretto wahrscheinlich fertiggestellt war (von Antonio Somma), den er aber doch nicht schaffte. Es ist King Lear von Shakespeare. Und wieder steht das Vater-Tochter-Motiv im Zentrum der Handlung. Auch Shakespeare behandelt die Abdankung eines Königs, die Abgabe der Macht an eine seiner Töchter. In Nabucco gibt es eine gute und eine böse Tochter, in König Lear eine gute und zwei böse Töchter. So wie Nabucco wird auch Lear vorübergehend wahnsinnig. Ein Jahr nach dem Erfolg von Nabucco, Jahre vor seiner ersten Shakespeare-Oper Macbeth, fasste Verdi den Plan, Re Lear zu komponieren (1843), er beschäftigte ihn bis 1893. Die Titelpartie ist Verdis erste große dramatische Baritonrolle. Nabucco begegnet uns zunächst als mächtiger brutaler Herrscher, der vor der Entweihung des Tempels der Hebräer nicht zurückschreckt. Während seines Feldzugs wird er fälschlich für tot erklärt. Als er siegreich zurückkehrt, hält er sich wahrscheinlich für unsterblich. Er ruft sich zum Gott beider Völker, der Babylonier und Juden, aus. Sein Größenwahn wird mit Wahnsinn bestraft. (Regieanweisung: »Es donnert, ein Blitz bricht auf das Haupt des Königs nieder. Nebukadnezar fühlt entsetzt, wie ihm die Krone von einer übernatür­ lichen Macht entzogen wird. Zeichen des Wahnsinns prägen sich in seinen Zügen aus.«) Im dritten Teil erscheint Nabucco »mit verwildertem Bart und in heruntergekommener Kleidung«. Verwahrlosung ist ein in der Opernliteratur häufiges äußerliches Erkennungsmerkmal von Wahnsinn. (Weitere Beispiele sind Daniel-François-Esprit Auber: Masaniello in La Muette de Por­ tici und der wahnsinnige Müller in Dargomyschskis Rusalka.) Aber wird Nabucco wirklich wahnsinnig, ist er im klinischen Sinn »verrückt«? Die medizinischen Kriterien des Wahns sind 1. die subjektive Gewissheit, der Betroffene ist von der Realität seiner Wahnvorstellungen überzeugt; 2. die Unkorrigierbarkeit, er ist nicht durch Erfahrungen und zwingende 61

NA BUCCO AUS DER SICH T DE S PSYCHO­T HER A PEU T EN


Schlüsse beeinflussbar und 3. die Unmöglichkeit des Inhalts. Alle drei Kriterien treffen auf Nabucco nicht zu. Er hat keine Wahnvorstellungen, er erkennt seinen »Wahn« selbst, er ist zeitlich, örtlich, in seiner Identität und in seinen Beziehungen orientiert. Was also bedeutet sein Wahnsinn? Nabucco ist verrückt in dem Sinn, dass sich seine Realität, seine Wertigkeit geändert hat. Er wird für seine Hybris, seine Gotteslästerung bestraft, gemäß dem Motto des 2. Teils: »Und der Blitz des Himmels wird auf die Gottlosen herabfahren.« Kurz vorher singt er Folgendes: Nabucco (furibondo) »Tu menti! [...] O iniqua, prostrate / Al simulacro mio.« […] (prendendola per un braccio) »Giù! Prostrati! / Non son più re, son Dio!« – Nabucco (wütend): »Fenena! In mir sieh deinen Gott! / Sink in den Staub und bete!« [...] (Er packt sie am Arm.) »Knie nieder! / Nicht König bin ich, nein, ich bin Gott!« Nabucco will für seine Tochter Gott sein, es genügt ihm nicht, Vater zu sein. Fenena soll ihn anbeten, vor ihm knien. Das ist der besondere Frevel, dafür wird er bestraft – oberflächlich gesehen und als theatralisches Symbol – mit Wahnsinn. Eigentlich ist es aber eine Umkehr, seine Tat, sein Größenwahn ist wahnsinnig, die Strafe nicht. Im Wahnsinn tritt Nabucco in einen veränderten Bewusstheitszustand ein, er sieht jetzt klarer als vorher. Menschen im Wahnsinn hellsichtiger und klüger darzustellen als vernünftige Personen oder als sie selbst vor ihrem Wahn ist ein beliebtes dramaturgisches Mittel, um den »ganz normalen Wahnsinn« her auszustreichen und uns vor Augen zu führen. Vor allem Shakespeare, den Verdi am meisten bewunderte, wendet diesen Trick gerne an. Erst im Wahnsinn wird Nabucco vom gefühllosen machtgierigen König zum Vater und liebenden Menschen. Allerdings immer noch sehr ichbezogen, möchte er Mitleid von Fenena und kann selbst Gefühle zeigen: »Oh, mia figlia! E tu pur anco / Non soccorri al debile fianco? [...] Ah, perché, perché sul ciglio / una lagrima spuntò? – Weh! Ach, meine Tochter, geliebtes teures Wesen. / Lass mich Mitleid in deinen Zügen lesen... Ach, im Auge zum ersten Male/ rinnt die Träne. Und sie lindert meinen Schmerz!« Dem »wahn­ sinnigen« geläuterten Nabucco ist die Liebe zur Tochter wichtiger als seine Krone. In einer berührenden Melodie im Duett mit Abigaille beschwört er sie, Fenena zu verschonen und ist bereit, seinen Thron Abigaille zu überlassen. (»Deh, perdona, deh, perdona / Ad un padre che delira! Deh, la figlia mi ridona, / Non orbarne il genitor! – Einem Vater schenk Erbarmen, / Ach, Verzeihung ihm gewähre! / Lass die Tochter ihn umarmen, / Dankbar wird er stets dir sein!«) Die zweite Hauptfigur der Oper ist Abigaille, die vermeintliche ältere Tochter Nabuccos, in Wirklichkeit die Tochter einer Sklavin. Ob sie die uneheliche Tochter Nabuccos ist, bleibt offen. Budden ist der Meinung, sie sei die Tochter eines Haremssklaven und einer der Frauen Nabuccos. Im GEORG T ITSCHER

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Libretto gibt es dafür aber keinen Beleg. Abigaille ist ein hebräischer Name und kann übersetzt werden als »mein Vater jauchzt« oder »mein Vater ist Freude«. Nun ist sie in der Opernhandlung für den Vater keineswegs ein Grund zur Freude, sondern eine große Gefahr für seine Herrschaft und seine eigentliche Tochter Fenena. Aber Abigaille möchte ursprünglich ihrem Vater gefallen, sie identifiziert sich stark mit Nabucco, orientiert sich an seinem Machtanspruch, gibt sich männlich, tritt mit dem Schwert in der Hand auf. Sie kennt ihre Herkunft und versucht, sie zu verbergen, sie überkompensiert ihren Minderwertigkeitskomplex. Noch dazu wird sie mehrfach enttäuscht und gekränkt. Zuallererst, dass sie keine Prinzessin ist. Dann wird sie in ihrer Liebe zu Ismaele von ihm zurückgewiesen, ihre angebliche Schwester wird zur doppelten Rivalin, sowohl in der Liebe zum Hebräer als auch in der Zuneigung ihres Vaters. Da sie als Erstgeborene gilt, müsste Nabucco ihr die Vertretung überlassen, als er in den Krieg zieht. Auch hier wird ihr die Jüngere vorgezogen. Das lässt ihre Gefühle verhärten, früher war sie mitfühlend, sie sehnte sich nach Liebe (»Piangeva allʼaltrui pianto, / Soffriva degli altri al duol; Ah! Chi del perduto incanto / Mi torna un giorno sol? – Ich weinte, sah ich Tränen, / Mich quälte fremdes Leid, / Ach, ewig verloren das Sehnen / Nach Liebe, nach Seligkeit!«). Als Folge enttäuschter Liebe gibt sie sich der Rache und der Gier nach Macht hin (»Se del cor nol può lʼaffetto, / Pago lʼodio almen sarà! – Ja, statt Neigung und Verstehen / Jetzt nur Hass im Herzen brennt.«). Die gleiche Motivation hat Alberich in Richard Wagners Rheingold, nachdem ihn die Rheintöchter abgewiesen haben und er der Liebe abschwört. Die Oper Nabucco zeigt auch, dass Machtstreben ins Verderben führt. Tiefenpsychologisch kann man die beiden Figuren Abigaille und Fenena als zwei Anteile derselben jungen Frau und Tochter sehen. Als einen »bösen« destruktiven und einen »guten« angepassten Persönlichkeitsanteil. Aber auch die »gute« Fenena lehnt sich auf ihre Art gegen den Vater auf, indem sie (auch aus Liebe zu Ismaele) den Glauben wechselt. Und sie gibt die Gefangenen gegen den Willen ihres Vaters frei. Ähnlich verhält sich der Sohn Idamante in Mozarts Idomeneo, auch er lässt als erste Tat seiner Selbstständigkeit die Gefangenen (hier Trojaner) frei. Kinder müssen sich gegen eine starke Vaterfigur auflehnen, um eigenständig und erwachsen werden zu können. Dass eine Person auf zwei verschiedene Figuren aufgeteilt wird, ist ein häufiges Phänomen am Theater, im Märchen, in der Kunst über­ haupt. Dieses Phänomen der Spaltung oder Doppelung wurde das erste Mal von Otto Rank in seinem Essay Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage (1926) beschrieben. Er weist, wie schon Freud in der Traumdeutung, auf Analogien und ähnliche Entstehungsmechanismen von Traum und Dichtung hin und stellt neben die Verdichtung deren Gegenteil, die Spaltung von Personen. Damit lassen sich gegensätzliche Charak 63

NA BUCCO AUS DER SICH T DE S PSYCHO­T HER A PEU T EN


tereigenschaften oder einander widerstrebende innerseelische Tendenzen klarer darstellen. Wir werden diesem Kunstgriff auch noch in anderen Verdi-Opern begegnen. So kann man die Geschichte von Nabucco, Abigaille und Fenena auch als Entwicklung einer Familie sehen. Das kleine Mädchen träumt sich als Prinzessin und den Vater als allmächtig und bewundernswert und muss später lernen, dass es keine Prinzessin ist und der Vater nicht der liebe Gott. Der Vater wiederum muss seine Allmachtstellung aufgeben lernen, muss ertragen, dass die Tochter eigene Wege geht und ihn nicht mehr anhimmelt. Was auffällt, ist, dass in dieser Familie die Mutter fehlt. Dieses Phänomen wird uns bei mehreren Opern Verdis begegnen.

NA BUCCO AUS DER SICH T DE S PSYCHO­T HER A PEU T EN

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Friederich Schiller

» Gefährlich ist’s den Leu zu wecken, Verderblich ist des Tigers Zahn; Jedoch der schrecklichste der Schrecken Das ist der Mensch in seinem Wahn. «


Elias Canetti

MASSENSYMBOLE DER NATIONEN » Es sollen also die Nationen hier so angesehen werden, als wären sie Religionen. Sie haben die Tendenz, von Zeit zu Zeit wirklich in diesen Zustand zu geraten. Eine Anlage dazu ist immer da, in Kriegen werden die nationalen Religionen akut. «


Italiener Das Selbstgefühl einer modernen Nation, ihr Verhalten in einem Krieg, ist in hohem Maße abhängig von der Anerkanntheit ihres nationalen Massensymbols. Die Geschichte spielt da manchem Volk nachträglich einen bösen Streich, lange nachdem es sich seine Einheit erkämpft hat. Italien mag als Beispiel dafür dienen, wie schwer eine Nation es hat, sich selbst zu sehen, wenn ihre Städte von größeren Erinnerungen heimgesucht sind und ihre Gegenwart mit diesen Erinnerungen bewusst verwirrt wird. Solange Italien seine Einheit noch nicht gewonnen hatte, war in den Menschen alles viel klarer: Der zerstückelte Leib würde wieder zusammengehören, sich als ein einziger Organismus fühlen und gehaben, sobald der Feind, dieses Ungeziefer, von ihm vertrieben war. In solchen Fällen akuten Unterdrückungsgefühls, wenn der Feind sehr lange schon im Lande war, bilden sich alle Völker ähnliche Vorstellungen ihrer Lage. Der Feind kommt als das Zahlreiche, das Hässliche und Verhasste, als ein Heuschreckenschwarm, der vom guten und biederen Boden des Einheimischen lebt. Wenn er aber ernsthaft vorhat, zu bleiben, zeigt er die Neigung, diesen Boden aufzuteilen und die Einheimischen zu schwächen, indem er ihre Verbindung untereinander auf tausend Arten schwächt. Die Gegenregung ist dann geheime Verbindung und in einer Reihe von glücklichen Momenten das Wegfegen des Geziefers. Dies geschah denn auch schließlich, und Italien fand seine Einheit, von vielen und oft den besten seiner Geister lange vergeblich ersehnt. Aber von diesem Augenblick an zeigte es sich, dass man eine Stadt wie Rom nicht gefahrlos am Leben lässt. Die Massen-­Gebäude der alten Zeit standen noch herum, leer, das Amphitheater war eine zu wohlerhaltene Ruine. Man mochte sich darin anspruchslos und verstoßen fühlen. Das zweite Rom dagegen, das Rom St. Peters, hatte sich genug von seiner alten Anziehung bewahrt. Die Peterskirche füllte sich mit Pilgern aus aller Welt. Aber als Pol für nationale Diskriminierung war gerade dieses zweite Rom in keiner Weise geeignet. Es wandte sich noch immer unterschiedslos an alle Menschen, seine Organisation stammte aus einer Zeit, da es Nationen im modernen Sinne gar nicht gab. Zwischen diesen beiden Rom war das Nationalgefühl des modernen Italien wie gelähmt. Es gab kein Entrinnen davon, denn Rom war da, und die Römer waren Italien gewesen. Der Faschismus versuchte die scheinbar einfachste Lösung und warf sich ins echte, alte Kostüm. Es saß ihm aber gar nicht wie angegossen, es war viel zu weit, und so heftig waren die Bewegungen, die er sich darin erlaubte, dass er sich alle Glieder brach. Die Fora mochten wieder ausgegraben werden, eines nach dem anderen: sie füllten sich nicht mit Römern. Das Rutenbündel erregte nur den Hass derer, die mit Ruten gestrichen wurden; niemand war auf Drohung oder Züchtigung stolz. 67

ELI AS CA N ET T I


Der Versuch, Italien ein falsches nationales Massensymbol aufzuzwingen, ist zum Glück für die Italiener gescheitert.

Juden Kein Volk ist schwieriger zu begreifen als die Juden. Sie sind über die ganze bewohnte Erde verbreitet, ihr Stammland war ihnen verloren. Ihre Fähigkeit zur Anpassung ist berühmt und berüchtigt, doch der Grad ihrer Anpassung ist ungeheuer variabel. Es gab unter ihnen Spanier, Inder und Chinesen. Sie tragen Sprachen und Kulturen von einem Land ins andere mit sich und hüten sie zäher als Besitz. Narren mögen von ihrer Gleichheit überall fabeln; wer sie kennt, wird eher zur Meinung neigen, dass es unter ihnen viel mehr verschiedene Typen gibt als unter jedem anderen Volk. Die Variationsbreite der Juden in Wesen und Erscheinung gehört zum erstaunlichsten, das einem unterkommen kann. Die populäre Sage, dass es unter ihnen die besten wie die schlechtesten Menschen gibt, drückt die Tatsache auf naive Weise aus. Sie sind anders als die andern. Aber in Wirklichkeit sind sie, wenn man so sagen konnte, untereinander am meisten anders. [...] Man muss sich fragen, worin denn diese Menschen Juden bleiben, was sie zu Juden macht, was das letzte, allerletzte ist, das sie mit anderen verbindet, wenn sie sich sagen: Ich bin Jude. Dieses letzte steht am Anfang ihrer Geschichte und hat sich mit unheimlicher Gleichmäßigkeit im Laufe dieser Geschichte wiederholt: es ist der Auszug aus Ägypten. Man vergegenwärtige sich den Inhalt dieser Überlieferung: ein ganzes Volk, gezählt zwar, aber in ungeheuren Mengen, zieht vierzig Jahre lang durch den Sand. Seinem sagenhaften Urvater war eine Nachkommenschaft angekündigt worden, zahlreich wie der Sand am Meer. Nun ist sie da und wandert, ein anderer Sand durch den Sand. Das Meer lässt sie passieren, über den Feinden schlägt es zusammen. Ihr Ziel ist ein gelobtes Land, das sie sich mit dem Schwert erkämpfen werden. Das Bild dieser Menge, die Jahre und Jahre durch die Wüste zieht, ist zum Massensymbol der Juden geworden. Es ist so deutlich und fassbar geblieben wie damals. Das Volk sieht sich beisammen, bevor es sich noch niedergelassen und zerstreut hat, es sieht sich auf der Wanderschaft. In diesem Zustand der Dichte empfängt es seine Gesetze. Es hat ein Ziel wie nur je eine Masse. Es hat Abenteuer auf Abenteuer, ein immer gemeinsames Geschick. Es ist eine nackte Masse, von dem Vielerlei, das sonst Menschen in vereinzelte Leben verflicht, ist in dieser Umgebung kaum etwas vorhanden. Um sie ist nur Sand, die nackteste aller Massen; nichts vermöchte das Gefühl des Alleinseins dieses wandernden Zuges mit sich selbst mehr auf die Spitze zu treiben als das Bild des Sandes. Oft versinkt das Ziel, und die Masse droht zu zerfallen; ELI AS CA N ET T I

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mit starken Schlägen der mannigfaltigsten Art wird sie geweckt, gefasst und zusammengehalten. Die Zahl der Menschen im Zug, sechs- bis siebenhunderttausend, ist nicht nur für die bescheideneren Ansprüche der Vorzeit ungeheuer. Von besonderer Bedeutung ist die Dauer des Zuges. Was sich in der Masse zu vierzig Jahren dehnt, kann sich später zu jeder Zeit dehnen. Die Verhängung dieser Dauer als Strafe ist aber wie alle Pein späterer Wanderschaften.

↓ William Blake, Nebukadnezar, 1795

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M AS SEN-SYMBOLE DER NAT ION EN


François Fejtö

DIE MONO­ POLISIERUNG DER MACHT

Die selbstsichere Gelassenheit, die monolithische Einheit, die der Kongress an den Tag legte, waren jedoch nur Schein. Hinter den Kulissen gingen in immer stärkerem Maße die inneren Kämpfe weiter, die seit dem Tode Schdanows (1948) sowie der Kaltstellung und Hinrichtung Wosnessenskijs (1949) zu zahlreichen Umstellungen geführt hatten. Eine Atmosphäre des allgemeinen Misstrauens herrschte im Kreml, die auf die anderen kommunistischen Zentren übergriff. Der Außenwelt zeigte Stalin ein väterliches und friedliches Gesicht. Drei Jahre zuvor war er anlässlich der Feiern zu seinem siebzigsten Geburtstag auf den Gipfel seines Ansehens und seiner Autorität getragen worden. Wenige Männer waren seit Napoleon Gegenstand einer so glühenden und weit verbreiteten Verehrung gewesen. Im Laufe der Jahre 1949 bis 1952 hatte sich diese Verehrung in einen wahrhaft religiösen Kult verwandelt. FR A NÇOIS FEJ TÖ

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Der Gegenstand dieser Verehrung, sagte Gomulka später, »verstand sich auf alles, wusste alles, entschied alles, leitete alles... Und neben seinen Kenntnissen, seinen Fähigkeiten, seinen persönlichen Vorzügen, war er auch der weiseste Mann.« Stalin war die Verkörperung der ewigen Wahrheit des Marxismus-­Leninismus, der Heilsträume auf Erden. Während der gleichen Zeitspanne hat sich allerdings dieser Übermensch seinen Mitarbeitern gegenüber – wie diese das einige Jahre später enthüllen sollten – immer argwöhnischer und despotischer gezeigt. Ebenso wie die Zaren, die im selben Palast residiert hatten, war er von einer Art Verfolgungswahn befallen worden. Er traute nicht einmal mehr seinen ergebensten, seinen unterwürfigsten Dienern. »Er kam von der absurden und lächerlichen Idee nicht los, Woroschilow sei ein Agent Englands.« Er ließ bei diesem ein ganz spezielles Aufnahmegerät einbauen, um alles abzuhorchen, was er sagte. Bei der ersten Sitzung des vom XIX. Parteikongress gewählten Zentralkomitees griff er Molotow und Mikojan an »und schrieb ihnen imaginäre Untaten zu«. Er hatte »die Absicht, mit allen Mitgliedern des einstigen Politbüros abzurechnen«. Als damals einmal Bulganin im selben Wagen wie Chruschtschow heimfuhr, vertraute er diesem an: »Es kann vorkommen, dass man auf eine freundliche Einladung hin zu Stalin geht und, wenn man ihm gegenüber sitzt, nicht weiß, ob man zu Hause oder im Gefängnis übernachten wird.« Dies alles gehört natürlich zur Lokalchronik. Doch blieb es nicht ohne Nachwirkung auf die »große« Geschichte. Der Stalinismus bedeutete die Monopolisierung der Macht, vorerst durch eine begrenzte Gruppe von Personen, später durch Stalin selbst, und in der Folge hatte die Störung seines geistigen Gleichgewichts äußerst schwerwiegende Folgen sowohl für die UdSSR wie für die Volksdemokratien. Die Führer der kommunistischen Oststaaten ahmten bis zu den kleinsten Befehlen alles gewissenhaft nach und öffneten zugleich mit dem Kult um ihre eigene Person den Polizeimethoden eines orientalischen Despotismus Tür und Tor.

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DIE MONO­P OLISIERU NG DER M ACH T




Michael Jahn

DAS WERK EINES JUGEND­LICHEN TALENTES

Nabucco in Wien


Italienische Stagione am Kärntnertortheater Carlo Balochino und Bartolomeo Merelli, seit 1836 Pächter des Wiener Kärntnertortheaters, boten ihrem Publikum in einem eigenen Abonnement jedes Jahr von April bis Juni italienische Stagione: die Werke eines Rossini, der seit 1829 keine Oper mehr komponiert hatte, eines Bellini, welcher 1835 gestorben war, eines Mercadante und Pacini, aber auch Mozarts Don Giovanni und Fi­ garo wurden den Wienern von erstklassigen Interpreten vorgeführt. In den Jahren 1842 bis 1845 war das Opernwesen der Habsburger-Hauptstadt zudem untrennbar mit dem führenden aktiven italienischen Komponisten jener Zeit, Gaetano Donizetti, verbunden, welcher als »Hofcompositeur« der Liebling Wiens geworden war. Er zeigte sich jedoch nicht nur um die Einstudierung seiner eigenen Werke, sondern auch um die Inszenierung der Opern seiner Landsleute bemüht. Der Hoffnungsträger der italienischen Oper war seit kurzer Zeit Giu­seppe Verdi. Er hatte an der Mailänder Scala 1842/43 mit Nabucco und I lombardi alla prima crociata Erfolge gefeiert; es lag also nahe, dass die beiden Pächter der Wiener Oper, die gleichzeitig auch lmpresarii der Scala waren, diese Klassenschlager auch in Wien auf die Bühne bringen wollten und auch Donizetti hatte den Nabucco in Mailand gehört und schwärmte von dieser Oper. Am 28. März 1843 meldete die Allgemeine Wiener Musik­Zeitung: »Mad. Tadolini, de Giuli aus Mailand und die Herren Salvi, Roverre, Guasco, Derivis, Varese und der Compositeur des Nabuconosor Verdi von der italienischen Oper, sind bereits in Wien angekommen.« Donizetti hatte zuerst angenommen, dass die prestigeträchtige Eröffnung der Stagione dem Verdi’schen Œuvre vor­behalten sei, doch die Verantwortlichen entschieden anders: Am 1. April 1843 erschien Donizetti selbst am Pult der Wiener Oper, um die höchst erfolgreiche Wiederaufnahme seiner in der vorhergehenden Saison uraufgeführten Linda di Chamounix (diesmal bereits mit den für Paris vorgenommenen Änderungen) zu leiten. Dies war der Auftakt zu einem einzigartigen Donizetti-Festival: insgesamt 43 Aufführungen von Werken aus der Feder des Bergamasker Meisters bildeten den Schwerpunkt der Stagione.1

Die Erstaufführung ← vorherige Seiten: Szilvia Vörös als Fenena, Dan Paul Dumitrescu als Oberpriester und Anna Pirozzi als Abigaille, 2021

Am 4. April folgte die mit Spannung erwartete erste Novität der Saison: Verdis Nabucco, damals noch unter dem Titel Nabucodonosor, unter der Leitung des Komponisten. Für eine prachtvolle Ausstattung war gesorgt: unter der Leitung von Carlo Brioschi wurden Dekorationen und Kostüme neu angefertigt. Zwei Stützen der Mailänder Uraufführung wurden auch in Wien aufgeboten: Giorgio Ronconi, einer der führenden italienischen Baritone jener Zeit und ein erfolgreicher Interpret vieler Donizetti-Premieren (u.a. II furioso

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MICH A EL JA HN


Horst-Eberhard Richter

» Es ist eine triviale, dennoch offensichtlich nicht überflüssige Feststellung, dass zunächst die ausgewogene Respektierung der Interessen der alten neben den Interessen der jungen Generation abzuwarten ist. So wichtig es erscheint, dass sich die junge Generation mehr und mehr von schädlichen Bevormundungen und tradierten Unterdrückungen seitens der Älteren befreit und dass diese Älteren von sich aus ihre kulturell eingewurzelte Tendenzen des Machtmissbrauchs aufgeben, so gerechtfertigt erscheint andererseits die Mahnung an die Jugend, sich nicht etwa die vordem draußen bekämpften Fehler künftig selbst zu eigen zu machen. Ansätze für derartige mögliche Fehlentwicklungen findet man immerhin in mannigfachen Äußerungen aus radikalen Kreisen, wonach man sich die Alten am liebsten nur noch als Erfüllungsgehilfen im Dienste der Bedürfnisse einer jungen revolutionären Generation vorstellen möchte. Zweifellos sind derartige einseitig defensive wie repressive Thesen noch von unverarbeiteten Ängsten und Racheimpulsen gespeist. [...] Die Gesellschaft wird die Rolle der alten Menschen in unserer sich schnell wandelnden Welt nur dann verständnisvoll und fair definieren, wenn sie in ihnen mehr sehen kann als die Agenten einer reaktionären Repression, als lästige Sozialhilfeobjekte oder schließlich allgemein als geeignete Projektionsfläche für die Entschuldigung eigenen Scheiterns. «

A N DR EAS LÁ NG

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all’isola di San Domingo und Torquato Tasso 1833, Maria di Rudenz 1838 und Maria di Rohan 1843), sang die Titelrolle; der angesehene französische Bass Prosper Dérivis (Interpret von Hauptrollen in den Uraufführungen von Meyerbeers Les Huguenots, Berlioz’ Benvenuto Cellini, Donizettis Les Martyrs und Linda di Chamounix, sowie Verdis I lombardi) den Zaccaria. Teresa de GiuliBorsi, die in Mailand Giuseppina Strepponi als Abigaille abgelöst hatte, sang ihre Erfolgsrolle auch in Wien – sie kreierte später die weibliche Hauptrolle in Verdis La battaglia di Legnano (Rom 1849). Francesca Salvini (später unter dem Namen Fanny Salvini-Donarelli als erste Darstellerin der Traviata berühmt geworden) als Fenena, Francesco Severi als Ismaele und, als einheimischer Beitrag, Gustav Hölzel (25 Jahre später der Beckmesser in der Uraufführung von Wagners Meistersinger) als Oberpriester, komplettierten die Besetzung der Hauptrollen. Verdi, der sich über die ihm ungewohnte Orchesteraufstellung (mit den Kontrabässen in der Mitte) gewundert hatte2, wurde vom (nicht so zahlreich wie erwartet erschienenen) Publikum »freundlich« empfangen.3 Die Kritik reagierte, je nach persönlicher Vorliebe des Rezensenten, zwiespältig. Einige Rezensenten brachten ihre Hochachtung vor dem jungen Komponisten zu Papier: »Verdi hat offenbar gute Studien gemacht und verräth ein Talent, das jetzt schon zu den seltenen gehört«, schreibt etwa Ferdinand von Seyfried im Wanderer.4 Weiters hebt Seyfried hervor, »dass Verdi die Bedeutung des Chores erfasst und diesen mit Vorliebe behandelt hat.« August Schmidt, der Herausgeber der Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung, meinte, dass die Erwartungen nach den Berichten der Mailänder Uraufführung zu hoch waren, man habe nur »Gewöhnliches zu hören bekommen... Damit soll aber keineswegs gesagt seyn, dass Sigr. Verdi mit dieser Oper einen Missgriff gethan, im Gegentheile ist sie ein verdienstliches Werk eines jugendlichen Talentes, das für die Zukunft Erfreuliches erwarten lässt.«5 Julius Becher hingegen, ein kämpferischer Gegner der Italiener, schreibt trotzig: »Mit einer solchen Plattheit der Erfindung dürfte sich kein Deutscher vor ein Publikum wagen.«6 Natürlich gingen die Kritiker auch auf »Reminiszenzenjagd« und vernahmen Anklänge an Rossini – hier im Besonderen an Mosé (die Ähnlichkeit des Sujets bot diesen Vergleich geradezu an) und an Semiramide. Doch auch anderen Kollegen soll Verdi einiges zu verdanken haben: »Verdi ist ein Eklektiker und setzt unverzagt seine melodischen Saugröhren bald an den Werken Rossinis und Bellinis, bald an jenen Mercadantes und Donizettis an; dies die Ursache, warum diese Gedanken häufig Gefallen und Missfallen zugleich erregen: ersteres, weil man sie hört, letzteres weil man sie erkennt.« Die Interpreten wurden durchgehend wohlwollend beurteilt, besonders hervorgehoben wurde Giorgio Ronconi, der »größte italienische Sänger, den die neueste Zeit hervorgebracht hat. Welche geistreiche characteristische Auffassung, welche meisterhafte Darstellung verbunden mit der größten Kunstvollendung im Gesange.«8 Das Publikum hatte den Künstler begeistert empNA BUCCO IN W IEN


fangen, das Sextett »Tremin’ gl’insani« im ersten Finale musste wiederholt werden und bereits nach dem ersten Akt wurden die Sänger und der Komponist öfters vor den Vorhang gerufen, während der zweite Akt am wenigsten gefiel. Im dritten Akt wurde der Schlussteil »Deh perdona« des Duettes Abigaille-Nabucco wiederholt, während Prosper Dérivis mit der Arie des Zaccaria beeindruckte. Verdi und Dérivis wurden nach dem dritten Akt zweimal gerufen. Der in Mailand so erfolgreiche Chor »Va pensiero« fand keine Erwähnung in den Kritiken und wenig Applaus beim Publikum. Als Höhepunkt der Oper wurde eine andere Chorpassage, nämlich »Immenso Jehova« zitiert. Mit diesem Chor endete auch die Wiener Erstaufführung; die Schlussszene der Abigaille wurde weggelassen – im vollständigen gedruckten Klavierauszug, den Anton Diabelli noch im Jahre 1843 herausbrachte, ist dieser Auftritt jedoch sehr wohl zu finden. Einige Rezensenten bemängelten das Fehlen einer großen Tenor-Arie, ein Faktum, welches zeigt, wie sehr Konventionen gefragt waren. Allgemein wurde vermerkt, dass das Kärntnertortheater für die kompakte Verdi’sche Instrumentierung, die ja für den wesentlich größeren Rahmen der Mailänder Scala konzipiert war, zu beengt sei – ein Problem, das allerdings bei Aufführungen aller großen Opern, so auch den Werken eines Meyerbeer, Halévy oder später auch eines Wagner, auftrat und erst im Jahre 1869 mit der Eröffnung der neuen Hofoper gelöst werden konnte.

Erstaufführung in deutscher Sprache Die Aufnahme des Nabucodonosor in Wien war also mit jener enthusiastischen Begeisterung, die in Mailand geherrscht hatte, nicht zu vergleichen. Verdi dirigierte am 5. April auch die zweite Vorstellung, insgesamt gab es während der Stagione 1843 sieben Wiedergaben des Werkes, welches in italienischer Sprache nicht mehr wiederaufgenommen werden sollte.9 Am 22. Jänner 1848 fand jedoch die (von einigen Rezensenten missbilligend aufgenommene) Übernahme in das deutsche Repertoire statt, ebenfalls noch unter dem Titel Nabucodonosor. Die Übersetzung stammte von Heinrich Proch, die Ausstattung von Brioschi wurde beibehalten, der Dirigent war Wilhelm Reuling. Wilhelmine von Hasselt-Barth sang die Abigail, Eduard Leithner die Titelpartie, Josef Draxler den Zacharias, Louise Liebhart die Fenena, Wilhelm Brandes den Ismael, Gustav Hölzel wieder den Oberpriester. »Ist denn wirklich ein solch totaler Mangel an deutschen Original­Novitäten, dass man bei den Welschen borgen muss?... wenn man stolz genug ist, in Wien einen selbständigen Geschmack anzusprechen, warum bestellt man sich für diesen Geschmack nicht eigene, eigens für Wien verfasste Werke?«10 Ähnliches war in einigen Kritiken zu lesen. Eduard Hanslick verfasste eine MICH A EL JA HN

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↑ Ferruccio Furlanetto als Zaccaria, 2004

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Rezension für die Wiener Zeitung und sprach von einer »größtentheils sehr gelungenen Vorstellung... Die tüchtigsten Leistungen des Abends waren die der Fr. v. Hasselt-Barth und des Hrn. Draxler. Erstere exzellirte als Abigail durch die außerordentliche Volubilität ihrer Stimme, letzterer (Zacharias) durch den kräftigen würdevollen Vortrag der Cantilenen. Hr. Leithner hatte gelungene Momente; um die ganze Rolle wirksam durchzuführen, fehlt es seiner Stimme, besonders in der Höhe, an Fülle und Kraft... Die Ausstattung war hübsch, Chöre und Orchester tadellos.«11 Nabucco wurde im Jahre 1848 sechsmal gegeben, die letzten Aufführungen (mit Josef Staudigl in der Titelrolle) folgten am 13. und 15. Februar 1849. Hanslick nahm diese Vorstellungen zum Anlass, über das Werk (wie auch über Ernani) vernichtend zu urteilen: »Diese zwei Verdi’schen Opern [sind] das Geschmack- und Sinnloseste, was die neuere OpernLiteratur hervorgebracht hat.«12 Ernani blieb allerdings trotz dieser Ausfälle eines Rezensenten ein Lieblingsstück der Wiener; Nabucco jedoch verschwand vom Spielplan des Kärntnertortheaters und wurde bis 2001 (!) weder an der Hof- noch an der Staatsoper neu einstudiert. An der NA BUCCO IN W IEN


Volksoper jedoch wurde das Werk nach dem Zweiten Weltkrieg zweimal in Szene gesetzt: im Jahre 1957 unter der Leitung von Argeo Quadri sowie 1992 (Dirigent: Jan Latham-König, Regie: Christine Mielitz). Wiens führendes Opernhaus hingegen wagte sich mit der vorliegenden Produktion erst nach 152 (!) Jahren wieder an Verdis Frühwerk.

Dies waren Linda di Chamounix (16mal), Gemma di Vergy (6), die Erstaufführung von Don Pasquale (8), Alina, regina di Golconda (3), die Uraufführung von Maria di Rohan (7) und Lucrezia Borgia (3). Dazu kamen die damals beliebten Abende mit einzelnen Akten verschiedener Opern (einmal wurden der 1. und 2. Akt aus Linda und der 2. Akt aus Lucrezia aufgeführt, einmal der 2. Akt Linda und, für den Bariton Varesi, der 3. Akt aus Torquato Tasso, gekoppelt mit Ballett). Die ersten Aufführungen von Don Pasquale und Maria di Rohan leitete der Komponist selbst. Dazu kamen, neben Nabucco, Aufführungen von Rossinis Barbiere (dirigiert von Otto Nicolai, 15mal), Federico Riccis Corrado di Altamura (3), Matteo Salvis La Primadonna (2) und Bellinis La sonnambula (2).

1

2 Der Komponist erinnere sich daran Jahre später in einem Brief an Francesco Florimo vom 27. März 1869; er sah ein, dass die Wiener Orchesteraufstellung doch ihre guten Seiten hatte. 3 Im Gegensatz dazu wurde Donizetti »mit auszeichnendem Beifall empfangen« (Allgemeine Wiener Musik-Zeitung vom 6. April 1843) 4

Wanderer, 31. Jahrgang 1843, Nr. 132

5

Allgemeine Wiener Musik-Zeitung vom 8. April 1843

Sonntagsblätter, 2. Jahrgang 1843, Nr. 15 – für dieses Blatt schrieb auch Otto Nicolai Rezensionen. Nicolai hatte ja bekanntlich das Libretto zu Nabucco abgelehnt und damit Verdi den Weg zu dessen großen Triumph geebnet. 6

7

Wiener Zeitschrift 1843, Nr. 70

8

Allgemeine Wiener Musik-Zeitung, a. O.

Am Kärntnertortheater folgten 1844 Ernani, 1845 I due Foscari und 1846 I lombardi alla prima crociata. lm Gegensatz zu Nabucco wurden diese Werke sehr wohl in den italienischen Spielzeiten wiederholt: Ernani in den Jahren 1845 bis 1847 (von 1849 bis 1870 wurde Ernani abwechselnd in deutscher und italienischer Sprache gesungen), Foscari 1851, Lombardi 1847, 1853 und 1865.

9

Wiener allgemeine Musik-Zeitung vom 25. Jänner 1848 (der Name des Blattes war in der Zwischenzeit leicht modifiziert worden).

10

11

Wiener Zeitung vom 29. Jänner 1848

12

Beilage zum Morgenblatte der Wiener Zeitung vom 3. April 1849

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Impressum

Giuseppe Verdi NABUCCO Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion: 31. Mai 2001) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng basierend auf dem von Christoph Wagner-Trenkwitz konzipierten Programmheft der Premiere von 2001 Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Irene Neubert Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Andreas Láng, Über das Programmbuch ÜBERNAHMEN aus dem Nabucco-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2001: Die Handlung sowie deren Übersetzung (für dieses Programmheft überarbeitet), aus: Programmheft der Wiener Volksoper, Saison 1991/92 – Günter Krämer, Keine Kaffeewärmer – Christian Springer, Nicht die erste Oper Verdis – Michael Sawall, Mythos Va pensiero – Aus dem jüdischen Lexikon, aus: Jüdisches Lexikon, Berlin, 1927, zit. nach: Programmheft der Deutschen Oper Berlin, Saison 1978/79 – William Shakespeare, König Lear (Übersetzung Wolf Heinrich Graf Baudissin), Stuttgart, 1966 – Elias Canetti, Macht und Überleben, aus: Gesammelte Werke, Band 5; daraus: Das Gewissen der Worte, München, 1995 – Elias Canetti, Massensymbole der Nationen, aus: Gesammelte Werke, Band 3; Masse und Macht, München, 1994 – François Fejtö, Die Monopolisierung der Macht, aus: Die Geschichte der Volksdemokratien, Band 2, Graz/Wien/Köln, 1972 Michael Jahn, Das Werk eines jugendlichen Talents WEITERE ÜBERNAHMEN Hans Sohni, Geschwisterrivalität, aus: Geschwister­dynamik, Gießen, 2020 – Georg Titscher, Nabucco aus der Sicht des Psychotherapeuten, aus: Viva Verdi, Wien, 2012

BILDNACHWEISE Coverbild: Eingang zum südlichen Palast Nebukadnezar II. Szenenbilder Seite 2, 3, 18, 26, 30, 31, 72, 73: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbilder Seite 12, 13, 79: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbilder Seite 40, 41: Terry Linke Seite 36, 69: akg images Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


→ wiener-staatsoper.at


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