Prolog Mai 2012 | Wiener Staatsoper

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AM STEHPL ATZ er in Wien lebt und theaterbegeistert ist, landet unweigerlich früher oder später auf dem Stehplatz unserer Staatstheater. Die vorwiegend Musikinteressierten also in unserer Oper. Ich selber verliebte mich schon als Kind in das Musiktheater. Mein Vater erzählte öfter von seinen Opernerlebnissen im Stehparterre der k.k. Hofoper, etwa wie spannend es war, zu Beginn der Vorstellung den Dirigenten zu verifizieren, der am Theaterzettel nicht angegeben war. Wenn Gustav Mahler dann ans Pult trat, gab es einen ganz besonderen Empfangsapplaus. Meine ersten Operneindrücke empfing ich aus dem Radio und endlich ergab sich die Möglichkeit, für den ersten Opernbesuch. Es war „nur“ in der Volksoper Die Meistersinger von Nürnberg. Da war ich zehn Jahre alt. Die erste Vorstellung in der Staatsoper erlebte ich 1937 Die verkaufte Braut mit Jarmila Novotná in der Titelrolle, aber zunächst natürlich noch auf Sitzplatz. Eineinhalb Jahre später – nachdem ich schon etliche Aufführungen in der Staats- bzw. Volksoper gesehen hatte –, „eroberte“ ich mir den Stehplatz auf der 4. Galerie, wie der oberste Rang unserer Oper damals bezeichnet wurde. Es gab Tosca und zufällig drei Sänger-Rollendebüts, was ich erst viel später einmal feststellte: Tosca – Else Schulz, Cavaradossi – Todor Mazaroff und Scarpia – Paul Schöffler. Zu dieser Vorstellung – es war ein Samstag – fuhr ich einfach zwei Stunden vor Beginn in die Stadt und stellte mich zu den dort schon wartenden Stehplatzbesuchern. Zu der Zeit war der Eingang für die Wartenden der erste in der Kärntnerstraße (jetzt Karajan-Platz) wo ein Queue war, in den man sich einreihen musste bis die Stehplatz-Kassa aufgemacht wurde. Mit der Karte in der Hand rannte man dann die langen Treppen bis zur 4. Galerie hinauf um einen möglichst guten Platz zu bekommen. Ich durfte nur einmal im Monat am Samstag die Oper besuchen. Das Gymnasium stand natürlich von meinen Eltern aus gesehen an erster Stelle. Solange meine Noten dort halbwegs akzeptabel waren, durfte ich meine Opernbesuche erweitern. Als ich aber in der Schule schlechter wurde, bekam ich „Opernverbot“, was ein

schwerer Schlag für mich war. Erst als ich ab Herbst 1942 begann an der Musikakademie (jetzt MusikUniversität) Klavier und Musiktheorie zu studieren, um mich für die Aufnahme in die Dirigierklasse vorzubereiten, die ich schließlich unter Hans Swarowski erfolgreich abschließen konnte, war der fast tägliche Weg auf den Stehplatz für mich frei. Bald hatte man auch viele etwa gleichaltrige „Opernnarren“ kennengelernt, sodass schon das Anstellen für die Vorstellungen ein gesellschaftliches Vergnügen war. Es gab verschiedene Cliquen, von den Fans der diversen Stars gebildet. Man traf viele, von denen man noch nicht wusste, wie prominent sie einmal sein werden. Da war zum Beispiel Leonie Rysanek, Liane Synek, Melitta Muszely, Ernst Stankovski – aber auch etwas jüngere wie Eberhard Waechter, Otto Schenk oder Karl Löbl. Am Ende der Vorstellungen wurden in Sprechchören die Namen der Lieblinge gerufen. Negative Äußerungen wurden durch Zischen oder eventuell Pfeifen geäußert. Das „Buh“ existierte noch nicht. Zu dieser Zeit bestanden echte Ensembles in allen Operntheatern die – je nach Bedeutung des jeweiligen Hauses – das entsprechende Niveau hatten. Das der Wiener Staatsoper war also von höchster Qualität. Alle Hauptpartien waren durch Spitzensänger mehrfach vertreten. So wurde unter den Besuchern heftig diskutiert, wer wohl in den jeweiligen Fächern die besseren wären. Nach den Vorstellungen ging man zum „Bühnentürl“ um dort die Künstler „abzufangen“, um ihnen frankierte Kuverts zu geben mit der Bitte, Fotos mit Autogrammen zurückzuschicken. Das klappte immer. Als man wegen der Bomben-Katastrophe, die unsere Oper traf, ins Theater an der Wien ausgewichen war, übersiedelten wir natürlich mit auf den dortigen Stehplatz, den es im Volksoperngebäude, das ja auch von der Staatsoper bespielt wurde, nicht gab. Ab September 1951 war ich am Linzer Landestheater als Solokorrepetitor mit Dirigierverpflichtung engagiert und ab Mai 1955 begann meine Tätigkeit an der Wiener Staatsoper. Damit hatte meine Stehplatzzeit, die mir ungeheuer viel gegeben hatte, ein Ende gefunden.

HUBERT DEUTSCH Reg.-Rat Professor Hubert Deutsch war ehemaliger Leiter der Regiekanzlei der Wiener Staatsoper und Vizedirektor des Hauses nach dem Tod Eberhard Waechters.

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www.wiener-staatsoper.at

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