
3 minute read
Was nun?
Nun wussten meine Familie und die Polizei davon. Also suchte ich bald darauf auch das Gespräch mit der Direktion Berger. Ich erzählte ihnen von der Vergewaltigung. Nun hatten sie endlich einen plausiblen Grund, der meine Verhaltensänderungen erklärte. Das Einzige, das ich ihnen vorwarf und auch äusserte, war der Hinweis, dass man vielleicht in Zukunft nicht voreilig über Verhaltensänderungen urteilen sollte. Zumal es doch wirklich seltsam war, dass sich eine Mitarbeitende, die immer gute Leistung erbracht hatte, von einem Tag auf den anderen wie ein umgekehrter Handschuh verhielt.
Das Verständnis war gross und das Direktoren-Ehepaar ging herzlich mit mir um. Sie waren betroffen und entsetzt, dass in einem idyllischen Ort wie Interlaken so etwas passieren konnte. Ich bedankte mich für die gute Zeit, die ich in diesem grossartigen Hotel erleben durfte, und für alles, was ich dort lernen durfte. Ich teilte ihnen ebenfalls mit, dass ich nun vorhatte, am 25. September 2004 zwecks Sprachaufenthalts für ein halbes Jahr nach Frankreich zu gehen. Das war der Abschluss meiner Zeit in diesem Hotel.
Da nun die drei Monate vorbei waren, konnte ich endlich auch den Aidstest machen. Mein damaliger Hausarzt führte den Test mit mir durch. Dann die Erleichterung, ich hatte mich nicht mit HIV oder Hepatitis infiziert.
Meine Mutter begleitete mich auch noch zu meiner Gynäkologin. Zum Glück war auch körperlich soweit alles gut verheilt. Was mir zu schaffen machte – aufs Körperliche bezogen –, war die Schilddrüse. Vom Würgen des Täters bis zur Bewusstlosigkeit hatte sich meine Schilddrüse nicht wieder erholt. Ich entwickelte eine starke Überfunktion und musste daher viele Tabletten schlucken. Ebenso hatte ich seit der Tat Schwierigkeiten beim Atmen. Der heftige Schlag auf meine Nase hatte die Nasenscheidewand verschoben. Die Ärzte rieten mir zu Operationen an Schilddrüse und Nase, aber ich wollte noch zuwarten. Den Entscheid, doch zu operieren, traf ich erst später.
Bei der Polizei wurde ich verhört. Das war schrecklich. Alles verlief so herzlos. Ich musste alles im Detail schildern. Ein mehrseitiges Protokoll wurde erstellt. Jede Seite musste ich einzeln nochmal durchlesen und signieren und das alles, damit ich dann am Schluss die Aussage bekam: «Ist gut Frau Maurer, wir glau-
ben Ihnen.» Was soll das? Anscheinend gibt es tatsächlich Menschen, die so etwas erfinden. Traurig, sage ich da nur. Die Polizei versprach mir, nach dem Täter zu suchen. Ich musste ihn beschreiben. Ich sehe den Text noch heute vor mir:
Hautfarbe: Marokkanisch oder arabisch (Annahme der Polizei)
Haare:
Statur: Schwarz, kleine Locken, glatt am Kopf mit Gel festgepresst, an den Schläfen graue Strähnen Sehr breite Schultern und dicker Bauch
Alter:
Schwer einzuschätzen, ca. zwischen 38 und 45 Jahren alt Augen: Sehr nahe zusammen, Farbe schwer zu erkennen im Dunkeln Besonderes Merkmal: Sein Daumen an der linken Hand war krallenförmig
Kleider: Schwarze Jeans und langes dunkles Hemd
Stimme: Heisere Stimme mit einem französischen Akzent, «r» stark rollend
Das also beschrieb das Monster vom 18. Juni 2004… Sie haben ihn bis heute nie erwischt. Die Polizei vermutet, dass er abgetaucht ist. Doch wie weiter?
Ich bekam Opferhilfe und einen Anwalt zur Seite gestellt. Wusstet ihr, dass man für eine Vergewaltigung finanziell entschädigt wird? Doch kann Geld helfen? Nein, mit Geld werden keine Erinnerungen gelöscht … Ich wollte einfach nur vergessen. Abstand nehmen vom Bösen. Vielleicht fragt ihr euch, wieso ich nicht früher zur Polizei gegangen bin. Ich glaube, auf so eine Situation kann man sich nie vorbereiten. Ich persönlich konnte nicht klar denken. Ich wollte mir einreden, dass ich das alles vergessen könnte und normal weiterleben würde. Das war natürlich eine grosse Illusion. Ich machte mir selbst Vorwürfe, schämte mich. Je mehr Leute davon erfuhren, desto schlimmer wurde es für mich. Die Sprüche im Umfeld, mit denen man konfrontiert wird, sind unglaublich. Dinge wie: «Hast du es provoziert?» – «Stell dir doch einfach vor, dass es Sex gewesen wäre.» – «Du hast ja Glück gehabt, er hätte dich umbringen können.» usw. Ich konnte all das nicht verstehen. Wie kann man so was provozieren? Selbst wenn ich nackt über die Strasse gelaufen wäre, gäbe das niemandem das Recht, mich einfach so zu nehmen. Und wie kann man so etwas mit Sex vergleichen? Und grundsätzlich kann man nach so einer Tat schon gar nicht von Glück sprechen. Ein Täter kriegt wahrscheinlich zwei Jahre Zuchthaus. Ich
verstehe das nicht. So eine Tat zerstört einen Menschen. Zurück bleibt Scham, Angst, Trauer, Einsamkeit, Depression und vieles mehr. Mein Versuch, die Normalität ohne fremde Hilfe zu finden, scheiterte kläglich. Aber das fand ich leider erst später heraus.
Ich entschied mich für den Sprachaufenthalt in Montpellier, Frankreich. Ich dachte an meine schöne Zeit in den USA zurück und erhoffte mir, durch einen Kulissenwechsel etwas Abstand zu meinen Ängsten zu gewinnen. Doch genau diesen Entscheid würde ich ebenfalls bereuen. Vor den eigenen Problemen davonzulaufen, ist grundsätzlich eine schlechte Idee.