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Kindheit und Jugend

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Interlaken

Interlaken

Geboren bin ich am 30. Mai 1983 in der Frauenklinik in Bern. Meine Kindheit war sehr schön. Meine beiden Schwestern und ich hatten das grosse Glück, dass Mama, als wir klein waren, unseretwegen aufs Arbeiten verzichtet hatte und somit immer für uns da sein konnte. Da wir drei Schwestern alle innerhalb von drei Jahren zur Welt gekommen sind, waren wir fast wie Drillinge. Papa war aus beruflichen Gründen sehr viel unterwegs und aufgrund seiner Arbeit sind wir in den ersten Jahren meiner Kindheit dementsprechend oft umgezogen.

Meine klarsten Erinnerungen fangen ungefähr im Kindergartenalter an. Zu dem Zeitpunkt wohnten wir in Benglen (Fällanden, Zürich). Ich weiss noch genau, wie unser Reihenhaus aussah. Ich erinnere mich an die Küche mit der grossen Eckbank, unser hässliches Sofa im Wohnzimmer – dunkles Holz mit einem Stoff, der schrecklich viele Muster hatte – damals war das wohl Mode. Dann die Teppichtreppe, auf der wir immer gespielt haben. Der Garten mit einem kleinen Gartenhaus, in dem wir im Sommer manchmal Mittagsschlaf abhalten durften. Ich habe viele glückliche Erinnerungen an die Zeit in Benglen.

Mama hat uns drei Kinder immer gerne ähnlich angezogen. Wir waren ein richtiges Dreimädelhaus. Doch unsere Charaktere konnten unterschiedlicher nicht sein. Meine ältere Schwester Michaela war unser kleiner Bücherwurm. Sobald sie lesen lernte, konnte man sie kaum noch von ihren Büchern trennen. Sie war die Ruhigste von uns dreien. Hingegen konnte ich mit meiner kleineren Schwester Carmen sehr gut mit Barbies spielen. Carmen war immer diejenige mit dem grössten Herz. Ihr war wichtig, dass es allen gut ging. Was wir alle zusammen sehr gut konnten, war streiten. Da flogen so richtig die Fetzen. Wenn es aber hart auf hart kam, hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel.

Von klein auf hatten wir ein gemeinsames Schlaf- und Spielzimmer. Somit konnten wir uns vor dem Schlafengehen Geschichten erzählen. Wir haben immer unsere eigenen Geschichten erfunden und uns gegenseitig so zum Weitererzählen angespornt, dass der Schlaf oft zu kurz kam. Im Spielzimmer wurde gezeichnet, gebastelt oder einfach nur Kassetten gehört. Michaela liebte die Kassette «Der kleine Muck», deswegen bekam sie auch den Spitznamen Mucki. Mich nannten alle in der Familie nur Bohni (auch heute noch). Diesen Namen verdanke ich Michaela, weil ich wohl als Kleinkind immer wie eine Bohne

geschlafen habe. Carmen hingegen war Griggi. Ihr Name entstand dadurch, dass sie für ihr Leben gerne Tirggel ass. Kennt ihr die? Das ist ein traditionelles Zürcher Gebäck. Doch die kleine Carmen konnte Tirggel damals noch nicht aussprechen, also nannte sie sie Girggi. Meine Lieblingskassetten waren die Geschichten über die verschiedenen Komponisten, erzählt von Karlheinz Böhm – dem Franzl von Sissi. Was uns schon zu einer weiteren Passion von mir bringt.

Filme… Oh ja, wie ich es geliebt habe, mit Mama Serien oder Filme zu schauen. Eigentlich liebe ich das immer noch. Ich konnte nicht genug davon kriegen und sog alles nur so in mich rein. Doch Bücher lesen; da rissen sich meine Eltern fast beide Beine aus, um mich zum Lesen zu bringen. Irgendwann aber entdeckte ich «Janosch und die Tigerente». Naja, ausgesprochen hochgestochene Lektüre waren diese Bücher nicht. Deswegen liebte ich sie wohl so. Viele Bilder, wenig Text – genau richtig für mich. Meine Eltern waren schon froh, dass ich überhaupt etwas lesen würde. Die richtige Passion für Bücher kam erst später. Dazu komme ich noch.

Ich war viel lieber draussen unterwegs. Am liebsten spielte ich in meiner Höhle. Ja, ihr habt richtig gelesen, ich hatte meine ganz eigene Höhle. Niemand wusste davon, nicht mal meine Eltern. Zu dem Zeitpunkt wohnten wir bereits in Goldiwil im Berner Oberland. Ich hatte bitterlich geweint, als wir Benglen verlassen mussten. Zurück liess ich meinen ersten richtigen Kindergartenfreund. Dominik und ich wollten heiraten. Für mich war er perfekt. Er hatte eine wunderschöne Lampengans in seinem Zimmer. Ich verbrachte viel Zeit mit ihm. An dem Tag, an dem ich erfuhr, dass wir wegziehen würden, versteckte ich mich bei ihm zu Hause. Ich wollte nicht weg. Doch meine Eltern versprachen mir, dass ich Dominik immer sehen kann, wenn ich möchte, und wir ihn und seine Familie oft zu uns einladen würden. Das war zwar ein schwacher Trost, aber wenigstens gab es mir Hoffnung. So stieg ich schweren Herzens in den Umzugswagen ein und sagte Benglen Adieu. Das erste Mal in meinem Leben verspürte ich Liebeskummer. Natürlich war es damals noch nicht so schlimm wie später…

Nun waren wir also im neuen Haus in Goldiwil. Das Haus war auch schön. Jetzt hatten wir alle unser eigenes Zimmer, einen grossen Garten und daneben eine Riesenwiese, auf der meistens Kühe weideten. Ich liebte Kühe und wollte deshalb auch einen Bauer heiraten. Als ich dann aber einen Bauer mit Käse zwischen den Zähnen sah, war der Wunsch schnell wieder verflogen. Die Liebe

aber zu Tieren, besonders zur Kuh, blieb. Wie zuvor erwähnt, musste Papa oft auf Dienstreisen. Manchmal war er tagelang weg und ich vermisste ihn fürchterlich. Also schenkte er mir «Kätheli». Kätheli ist – wie könnte es auch anders sein – meine Stoffkuh. Ein treues «Tier», das bis heute noch in meinem Bett schlafen darf. Wenn Papa wegfuhr, hatte er immer etwas von seinem Rasierwasser auf die Nase der Kuh gesprayt. Dann konnte ich vor dem Einschlafen ganz fest daran riechen und wusste, dass er bei mir war.

Man kann also sagen, dass ich ein absolutes Papa-Kind war. Am liebsten verbrachte ich Zeit mit ihm. Er war mein Held in allem, was er tat. Ich konnte mit ihm jeden «Seich» machen und habe das geliebt. So wurde ich wohl mehr oder weniger zum «Bueb» der Familie. Sobald Papa etwas im Garten oder im Keller machte, war ich sein kleiner Schatten. Ich wollte überall mit dabei sein, wenn es ums Handwerkern ging. Rasen mähen, Auto putzen oder Ikea-Möbel aufbauen war einfach super.

Doch wenn es um Kulinarisches ging, dann war ich das Mama-Kind. Meine Mama hat schon immer unglaublich gut gekocht und ich esse für mein Leben gern. Bei jeder Mahlzeit sass ich bei Mama in der Küche und lernte dazu. Ich sog wie ein Schwamm alle Handgriffe in mich auf. Mama machte die besten Saucen, die besten Knöpfli, Lasagne – oh, wie ich ihr Essen liebe. Sie war immer sehr geduldig mit mir, hat meine Fragen beantwortet und mir alles beigebracht, was sie wusste. Ich liebte die Zeit mit Mama in der Küche.

Mein Leben damals war so schön. Ich hatte einfach alles. Liebe Eltern, liebe Schwestern und liebe Haustiere. Da waren die Meerschweinchen «Joggeli» und «Fläckeli», dann waren da diverse Katzen, die mich in meiner Kindheit begleiteten. Wir hatten «Schnurrli», «Mitzi», «Killerwal», «Tigerli», «Guggeli» und «Kleinmitzi» und, nicht zu vergessen, unseren ersten und zweiten Hund «Bäri». Ja, das Leben war schön.

Kommen wir zurück zu meiner Höhle. Die geheime Höhle. Nahe bei unserem Haus war ein Wald. Ich ging sehr oft in diesen Wald und baute kleine Zwergenhäuschen. Dabei bin ich einmal auf eine kleine Höhle gestossen. Sie war unterhalb der Waldlichtung verborgen unter einem Baumstrunk. Für mich war sie perfekt. Heimlich habe ich eine Decke dort hineingeschmuggelt, eine kleine Taschenlampe und sogar mein Buch «Janosch und die Tigerente». Jedes Mal, wenn ich die Höhle besuchte, stellte ich mir vor, wie ich ein kleiner Geheimagent wäre und andere Leute beobachten würde. Ich bastelte aus einem Stein

sogar ein Funkgerät. Ich hatte ja schliesslich im Film James Bond gelernt, wie man damit umgeht. Ach, und Proviant hatte ich auch stets dabei. Man geht niemals auf ein Abenteuer, ohne etwas zu essen mitzubringen, nicht wahr? Ich glaube, Mama wusste genau, wo ich mich so rumtrieb. Sie sah ja, dass ich meistens verschmutzt nach Hause kam. Manchmal brachte ich Blindschleichen, Kaulquappen oder einmal sogar eine Schildkröte mit nach Hause. Sie hat immer nur gesagt: «Wo hast du dich bloss wieder rumgetrieben?»

Die Schule fing natürlich auch irgendwann an. Wir drei waren alle gute Schülerinnen, aber ich war definitiv der grösste Minimalist. Hat ja trotzdem für gute Noten gereicht. Papa sagte immer zu mir: «Wenn du etwas weniger minimalistisch wärst, würdest du es weit bringen.» Mama und Papa kannten mich halt doch am besten. Sie gaben mir viele Ratschläge, aber ich wollte immer schon mein eigenes Ding machen. Ich war ein richtiger Sturkopf. In allem, was sie mir geraten hatten, behielten sie Recht. Aber ein Sturkopf gibt sowas nicht zu. Ich sagte einmal zu Papa: «Papa, bloss keine Ziele.» Nein, reinschwatzen durfte mir keiner. Ich glaube, die besagte Sturheit hat meine Eltern oft an ihre Grenzen gebracht. Wir alle konnten damals noch nicht wissen, dass ich irgendwann genau diese Sturheit zum Überleben brauchen würde.

Nebst Sturheit, gerne zu viel essen und herumtollen im Wald hatte ich noch weitere Charaktereigenschaften. Ich redete für mein Leben gern. Ich glaube, man konnte mich in einen Raum mit Fremden stecken und nach fünf Minuten unterhielt ich alle. Ich war teilweise ein richtig fieser kleiner General. Wehe, man machte nicht, was ich sagte. Ich erinnere mich daran, dass Carmen mal die schönere Barbiepuppe zu Weihnachten erhalten hatte. Das konnte ich keinesfalls durchgehen lassen, also habe ich ihrer Barbiepuppe die Haare abgeschnitten. Als sie (verständlicherweise) damit zu Mama ging, war die Konsequenz, dass ich meine Puppe an Carmen abgeben sollte. Ihr werdet jetzt staunen, ich habe das sogar freiwillig getan – aber nicht, ehe ich auch meiner Puppe die Haare abgeschnitten hatte. Ich glaube, ich war schon eine kleine Hexe. Flavia, damals meine beste Freundin, hatte ich teilweise sogar damit erpresst, dass, wenn sie mir nicht ihr «Züni» gebe, sie nicht mehr meine Freundin sei. Aber hey, ich hatte auch gute Seiten. Ich hätte alles für meine Familie getan. Ich brachte sie gerne zum Lachen, ich habe auf meine Schwestern aufgepasst und bin meinen Pflichten immer – zwar manchmal etwas verspätet – nachgekommen. Ich glaube, im Grossen und Ganzen war ich einfach ein kleines «Lusmeitli» mit Sommersprossen und grünen Augen. Ein Lusmeitli, das schon damals ein recht starkes Mädchen war. Ich konnte gut mit Verletzungen umgehen.

Oft hatte ich Schrammen oder blaue Flecken von meiner Kletterei, aber Mama hat mir später mal gesagt, dass ich nie gejammert hätte. Im Gegenteil: Sie wusste immer, wenn ich wirklich mal weinte, war der Schmerz ganz schlimm. Auch das würde mir zu einem späteren Zeitpunkt wahrscheinlich noch das Leben retten. So vergingen die Jahre und nach der Primarschule in Goldiwil kam ich in die Sekundarschule.

Ich besuchte die Sekundarschule Länggasse in Thun. Dort lernte ich Fabienne kennen. Wir waren unzertrennlich. Da ich aufgrund der Distanz Thun–Goldiwil über den Mittag nicht nach Hause konnte, durfte ich sehr oft bei ihr zu Hause zu Mittag essen. Die Sekundarschulzeit brachte viele Veränderungen mit sich. Unter anderem zogen wir wieder einmal um. Nun wohnten wir in Merligen am schönen Thunersee. Ich wurde so langsam zum Teenager und mit der Pubertät kam auch das Interesse an Jungs. Somit komme ich zum Thema Lesen zurück. Ihr erinnert euch, dass ich bis anhin kein grosses Interesse am Lesen gehabt hatte. Das änderte sich abrupt, als ich meinen ersten Kitschroman in den Händen hielt. Das Buch «Shanna» von Kathleen E. Woodiwiss wurde zu einem regelrechten «Pageturner» für mich. Ich konnte das Buch nicht mehr weglegen. Es handelte von einer wunderschönen Gutsherrentochter, von Liebe, Piraten, Sex und Mord. Ich wollte mehr über Sex erfahren und kaufte mir von da an nur noch solche Bücher. Es entwickelte sich eine regelrechte Leidenschaft. Ab da konnte mir niemand mehr sagen, dass ich nicht gerne lese. Manchmal träumte ich davon, selbst einmal so einen Mann zu treffen, wie ich es in den Büchern las. Doch mein heimlicher Schwarm in der Sekundarklasse nahm mich nicht wirklich wahr. Ich war schwer verknallt in ihn. Aber für ihn war ich nur ein Kumpel. Das wusste ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht. Ihr fragt euch vielleicht, was aus dem Kindergartenfreund Dominik wurde? Dazu kann ich sagen, dass ich tatsächlich viele Jahre mit ihm in Kontakt geblieben bin. Wir hatten eine Brieffreundschaft und sahen uns immer mal wieder. Doch irgendwann kamen seine Eltern ohne ihn auf Besuch und da wusste ich, dass wir uns verändert hatten. Sein Interesse an mir hatte sich wohl über die Jahre nicht weiterentwickelt und so lebten wir uns auseinander. Somit kam mein Sekundarschwarm ins Spiel.

Ich traute mich nie, ihm gegenüber meine Gefühle zuzugeben. Nur Fabienne wusste davon. Eines Tages schmiedeten wir einen tollen Plan: Fabienne verreiste mit ihren Eltern jedes Jahr zusammen mit der Familie von meinem Schwarm und noch einer anderen Familie nach Italien. Sie fragte mich, ob ich auch mitkommen wolle. Klar wollte ich – aber ich musste zuerst die Erlaubnis

meiner Eltern haben. Sie kannten die Familie von Fabienne und waren daher einverstanden. Das war der erste Urlaub, den ich ohne meine eigene Familie unternahm. Ich war richtig aufgeregt. Ich hatte keine Ahnung, wie das werden würde. Fabienne und ich planten alles im Detail. Ich speckte extra einige Kilos ab, um eine gute Figur in meinem Bikini zu machen. Wir kauften diversen Schnickschnack ein und packten sorgfältig unsere Outfits, damit auch ja nichts «Wichtiges» zu Hause blieb.

Wir fuhren nach Lignano Sabbiadoro. Fabienne und ich teilten uns ein eigenes Apartment, die Klimaanlage darin versagte aber kläglich. So schleppten wir kurzerhand die Matratze vom Bett auf den Balkon, wo wir nachts bei herrlichen Temperaturen schlafen konnten. Gerade angekommen, zog es uns direkt an den Strand. Da war ich nun in meinem neuen Bikini und versuchte, meinen Schwarm von mir zu überzeugen. Aber er nahm mich kaum wahr. Im Gegenteil, er beleidigte mich sogar damit, dass ich aussähe wie ein Walross. Autsch – mein Herz war gebrochen. Ab diesem Zeitpunkt war er für mich Geschichte. Lange darüber zu trauern war nicht mein Ding. Ich war ja schliesslich im Urlaub.

Dann, eines Abends in einem Restaurant, traf ich Antonio. Er war ein Student aus Florenz, der dort kellnerte. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Antonio war sehr charmant und führte mich jeden Abend aus. Der Urlaub neigte sich dem Ende zu und unser Abschlussessen war erneut in dem Restaurant, in dem Antonio kellnerte. Ich vergesse nie den Moment, als er mir meinen Caprese-Salat brachte und am Rand mit Ketchup «Ti amo Patrizia» geschrieben stand. Alle lachten und machten doofe Sprüche, aber ich schwebte mit hochrotem Gesicht auf Wolke sieben. Nach Antonios Schichtende trafen wir uns am Strand. Ein wunderschöner Abend am Meer im Mondlicht. Der Sternenhimmel war klar und ich hörte das Rauschen des Meeres. Alles war so kitschig schön, wie ich das oft in meinen Büchern gelesen hatte. Ja, ihr könnt euch denken, was danach passierte. Antonio war mein erstes Mal. Und Gott sei Dank war mein erstes Mal wunderschön. Ich glaube, dank dieser Erfahrung konnte ich später Sex und Gewalt besser unterscheiden.

Der Urlaub war zu Ende und wir fuhren zurück in die Schweiz. Antonio und ich hatten noch einige Monate Kontakt, doch dann trennten sich unsere Wege. Ich glaube, uns beiden war klar, dass es nur eine wunderschöne Urlaubsbekanntschaft gewesen war. Ich war damals gerade mal 16 Jahre alt. Weiter wollte ich zu dem Zeitpunkt gar nicht denken. Der Urlaub veränderte mich. Ich glaube, am meisten spürten das meine Eltern. Ich kam nach Hause, hatte rot

gefärbte Haare und einen Knutschfleck am Hals. Ich glaube, die entsetzten Blicke meiner Eltern muss ich euch nicht schildern. Jeder Elternteil hätte wahrscheinlich gleich reagiert. Ach ja, und ich kam nicht etwa mit schönen Souvenirs nach Hause. Nein, ich brachte eine Flasche Keglevitch Vodka mit Shotgläsern. Die Freude des Wiedersehens hielt sich somit eher in Grenzen. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich meine Eltern nicht verstehen konnte. Wie auch, ich war ja ein pubertierender Teenager.

Nach der Sekundarschule in Thun besuchte ich das Gymnasium. Ich entschied mich aufgrund meiner Leidenschaft zur Musik für das musische Gymnasium Seefeld in Thun. Zu dem Zeitpunkt spielten wir alle drei Schwestern Klavier. Das heisst, die anderen beiden spielten, ich hämmerte. Klavier war nie meine Passion. Ich wollte Schlagzeug spielen. Ich wollte etwas Lautes. Zum Glück hatte ich eine wundervolle Klavierlehrerin. Denise war fantastisch. Eine temperamentvolle Französin, die gleich durchschaute, dass Balladen nicht mein Ding waren. Ich spielte Béla Bartók und brachte meine Eltern fast um den Verstand. Jeden Tag das gleiche Gehämmer. Ich fand es lustig, doch bald schon wurde beschlossen, dass Klavier wohl doch nicht so meins war. Somit wechselte ich auf Flöte. Das liebte ich. Ich spielte von Garklein bis Tenor alle Flöten und war auch gut.

Ansonsten denke ich nicht gerne an die Zeit im Gymnasium zurück. Ich hatte grosses Pech mit meiner Klasse. Ich fühlte mich als Aussenseiterin. Die einzigen Freunde, die ich fand, waren in Parallelklassen, in meiner eigenen Klasse fand ich keinen Anschluss. Da waren diese Mädchen, die es liebten, Geschichten über mich zu erzählen. Sie stempelten mich als Lesbe ab. Keine Ahnung, aufgrund welcher Tatsachen sie auf diese Annahme kamen. Ich litt stark darunter. Es ist ein unschönes Gefühl, aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Eines Tages kam unser Klassenlehrer ins Klassenzimmer und verteilte Broschüren von AFS. Dabei handelt es sich um eine Organisation, die Austauschprogramme mit dem Ausland anbietet. Für mich war das DIE Lösung, um aus dieser Klasse rauszukommen. Ohne mich überhaupt erst mit jemandem abzusprechen, registrierte ich mich noch am selben Abend für das Austauschprogramm. Zum Glück waren meine Eltern gegenüber solchen Spontanhandlungen immer sehr aufgeschlossen. So ein Austauschjahr kostet eine Menge Geld. Doch meine Eltern ermöglichten mir diese Chance mit der Bedingung, einen Abschluss nach Hause zu bringen und mich sprachlich reinzuhängen.

Im Jahr 2000 war es dann so weit. Im Alter von 17 Jahren flog ich in die USA. Ich kam zu einer Gastfamilie in King City, California. Ich hatte unbeschreibliches Glück mit meiner Gastfamilie. Die Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft und Offenheit, die sie mir entgegenbrachten, war wunderschön. Ich lernte so viele freundliche Menschen und Freunde kennen – man kann sogar sagen, dass ich dort eine zweite Familie dazugewann. Ausserdem bekam ich dort tatsächlich die Chance, meinen Abschluss zu machen. Ich durfte alles miterleben. Abschlussball, Graduation, Disneyland, Las Vegas, San Francisco, Los Angeles, Hollywood, Universal Studios, einfach alles – ein Traum wurde wahr. Obwohl ich meine Familie und Freunde in der Schweiz vermisste, war die Erfahrung in California unbezahlbar. All diese Erinnerungen alleine würden ein ganzes Buch mit Memoiren füllen. Mit 19 Jahren kehrte ich zurück in die Schweiz und war um einen Abschluss, eine Sprache, eine Familie sowie unzählige Freunde und Erinnerungen reicher.

Das Dreimädelhaus. Mit meinen beiden Schwestern Michaela und Carmen in der Toskana.

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