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Interlaken

Wieder zurück in der Schweiz, war alles anders. Ich war durch meine Erfahrungen in den USA «erwachsen» geworden. Für mich schien es wie ein Rückschritt, wieder zu Hause bei meiner Familie zu wohnen. Ich wollte selbstständig sein. Die kulturellen Unterschiede zwischen den USA und der Schweiz wurden mir erst richtig bewusst. Ich habe in den USA die Offenheit und Herzlichkeit der Menschen geliebt. Alles ging mir in den USA so leicht von der Hand. Zu Hause in der Schweiz schien mir alles wieder so strikt und erzwungen. Selbst beim Busfahren fiel es mir auf. Keiner grüsst dich am Morgen, wenn du einsteigst. Alle sind irgendwie nur mit sich selbst beschäftigt.

Ausserdem standen viele Entscheidungen an. Wie sollte es bei mir weitergehen? An eine Uni war für mich damals nicht zu denken. Ich wollte möglichst schnell arbeiten, auf eigenen Beinen stehen, mein eigenes Geld verdienen. Um eine Lehrstelle für eine kaufmännische Ausbildung zu suchen, war ich schon etwas spät dran. Doch dank meinen dazugewonnenen Englischkenntnissen bekam ich einen Ausbildungsplatz in einem der schönsten Hotels der Welt – dem Victoria-Jungfrau Grand Hotel und Spa in Interlaken. Obwohl sie bereits einen Lehrplatz vergeben hatten, schafften sie einen zweiten und nahmen mich auf.

Am Anfang der Ausbildung wohnte ich noch in Merligen im Elternhaus und pendelte täglich nach Interlaken. Das war zu Beginn der Ausbildung auch noch möglich, weil ich im ersten Lehrjahr noch keine unregelmässigen Arbeitszeiten hatte. Doch eigentlich wollte ich ja selbstständig sein. Ich wollte feiern gehen, mich mit anderen treffen und nicht immer zu Hause Rechenschaft ablegen.

Die befreundete Familie Straubhaar bot mir einen perfekten Ausweg. Ich kannte Annelis und Heiner schon viele Jahre, weil ich immer ihre kleine Tochter Bettina gehütet hatte. Die Zeit mit Bettina und ihren Eltern gehört zu meinen schönsten Jugenderinnerungen. Ich war gerne bei ihnen. Sie behandelten mich immer wie eine Erwachsene und ich konnte durch Bettina so viel über Kinder lernen. Sie wurde wie eine weitere kleine Schwester für mich. Bettina hatte aber auch noch eine Tagesmutter in Matten bei Interlaken. Die Tagesmutter «Riedergrosi» wohnte in einem Einfamilienhaus und hatte die Dachwohnung frei. So kam ich zu meiner ersten eigenen Wohnung. Okay, ich war

dem Ganzen gegenüber sehr optimistisch eingestellt. Doch wie ich bald merken musste, ist Selbstständigkeit teuer.

Ich musste mit meinem Lehrlingslohn über die Runden kommen. Da waren plötzlich Miete, Versicherungskosten, Lebensmittel, Handyrechnung usw. zu bezahlen. Ich wusste, dass ich immer zu meinen Eltern zurückgehen konnte, aber wieder mal liess es mein Stolz nicht zu. Einmal mehr ein Sturkopf. Ich wollte alles alleine schaffen. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Zum Glück gab es nach Banketten im Hotel teilweise Essensreste, womit ich mich eindecken konnte. Ausserdem hat «Riedergrosi» ab und zu sogar für mich gekocht. Am meisten bereue ich jedoch, dass ich manchmal heimlich in ihren Keller gegangen bin und aus dem Tiefkühler Schinkengipfeli «geklaut» habe. Ich bin überzeugt davon, dass «Riedergrosi» es wusste, aber sie hat nie etwas gesagt. Sie war eine liebenswerte Vermieterin. Ich hingegen war ein schwieriger Mieter. Da ich in meiner Klasse die Einzige war, die bereits alleine wohnte, hatte ich viel Besuch – oder, genauer gesagt, viele Partys. Im Nachhinein denke ich manchmal, vielleicht hätte ich doch noch etwas länger zu Hause bleiben sollen. Die drei Jahre Wirtschaftsschule waren wilde Zeiten. Ich habe ganz tolle Freunde dazugewonnen. Am meisten Zeit verbrachte ich mit Christoph, Christian, Simon, Daniel, Katja und Mariela. Mit ihnen hatte ich viel Spass. Wir besuchten viele Partys oder hingen einfach nur auf der Höhematte rum. Das war auch die Zeit, in der ich das Kiffen entdeckte. Meine Güte, hab ich in der Zeit viel geraucht. Das war sicherlich ein Grund, weshalb ich meine Familie stark vernachlässigt hatte. Ich wusste ganz genau, dass meine Eltern meinen Lebensstil nicht gutheissen würden. Ich weiss nicht, ob es solche Phasen im Leben braucht. Ich glaube, in allem, was du tust, ist es wichtig, eine Grenze zu bewahren. Für mich war es glücklicherweise nur eine Phase und ich kam davon wieder weg. Ich weiss aber auch, dass die Versuchung gross ist, die Grenze zu überschreiten. Irgendwann reichen die kommerziellen Drogen für viele nicht mehr aus… Ich habe dadurch einen meiner besten Freunde verloren. Er hat mir aufgezeigt, wie heiss das Spiel mit dem Feuer sein kann.

Im Hotel lernte ich viele verschiedene Menschen kennen. Da gab es natürlich die Reichen, die dachten, dass man mit Geld alles kaufen kann. Manchmal kamen aber auch Gäste, die sich einfach mal was Besonderes leisten wollten. Solche Menschen mochte ich sehr gerne. Sie waren schon mit Kleinigkeiten zufrieden und wenn man sie dann mit etwas Aussergewöhnlichem überraschen konnte, strahlten ihre Augen und ich fühlte mich gut. Es ist nicht immer einfach, die eigenen Gefühle hinten anzustellen. Sobald ich die Front betrat,

musste ich die Maske aufsetzen. Einen Gast interessiert es nicht, ob du gute oder schlechte Laune hast. Für ihn zählen nur die schönen Erinnerungen, die er aus dem Hotel mit nach Hause nehmen kann. Dementsprechend lag mir auch viel daran, dass die Gäste zufrieden abreisen konnten.

Durch die Schichtarbeit ist es teilweise schwierig, zu Standardzeiten mit Freunden und Familie etwas zu unternehmen. Im Hotel gibts so was wie Freizeit kaum. Also baute ich mir mein Netzwerk Hotel-intern auf. Da bei den Mitarbeitenden jeweils viele Saisonwechsel stattfanden, waren die Freundschaften leider nicht immer von Dauer. Ich habe aber tolle Menschen kennengelernt. Zu einigen davon habe ich heute noch Kontakt. Zwei aussergewöhnliche Freundschaften, die mir aus dieser Zeit geblieben sind, gehören heute noch zu meinen besten Freundinnen. Ich spreche von Brigitta und Susanne. Brigitta war in der Buchhaltung meine Lehrmeisterin und Susanne war die Friseurin im Hotel. Ich habe jede Minute mit ihnen genossen. Ich konnte lachen, dumme Sprüche machen und abends um die Häuser ziehen. Sie beide sind sicherlich Gründe, weshalb ich später auch sehr schöne Erinnerungen an Interlaken in mein Gedächtnis zurückzaubern konnte.

Manchmal glaube ich, dass ich zwei Gesichter hatte. Einerseits die Vorzeigetochter, die im Nobelhotel arbeitete. Andererseits der Partymensch, der aus allem ausbrechen wollte. Im Hotel konnte ich meine Vorzeigeseite gut präsentieren. Ich war eine fleissige Lehrtochter, die gute Noten schrieb, immer ein Lächeln zeigte und die Gäste wie Königinnen und Könige behandelte.

Ich liebte meine Arbeit an der Front. Das Direktionspaar Berger waren sehr sympathische Menschen. Mir war immer schon wichtig, dass ich niemanden enttäuschte. Ich wollte gut sein in dem, was ich tat. Doch ich wusste nicht, dass das zweite Gesicht mich schon sehr bald in eine üble Situation bringen würde.

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