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18. Juni 2004 – der Tag, an dem sich alles änderte

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Was nun?

Was nun?

Da war ich nun, am Tag im Nobelhotel, in der Nacht am Feiern. Die drei Jahre der Ausbildung gingen schnell vorbei und mit schnellen Schritten näherte ich mich den Lehrabschlussprüfungen. Einige Wochen davor, es war der 17. Juni 2004, bin ich wie gewöhnlich mit meinem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Während der Arbeit fragte mich ein Arbeitskollege, ob ich Lust hätte, am Abend mit paar Kollegen im «Metro» etwas trinken zu gehen. Der Kollege hatte seinen letzten Arbeitstag und wollte seinen Abschied feiern. Ich sagte nicht definitiv zu, weil ich aufgrund der Schichtarbeit ziemlich müde war.

Zu Hause ass ich etwas Kleines und legte mich ein paar Stunden aufs Ohr. So gegen Mitternacht erwachte ich und konnte nicht mehr einschlafen. Die meisten wären wahrscheinlich trotzdem liegen geblieben. Ich leider nicht. Ich beschloss, nun doch noch ins «Metro» zu gehen. Ich duschte, zog mir meine Lieblingsjeans und ein grauweisses Top an. Meine langen Haare steckte ich hoch und ich schminkte mich etwas extravaganter als sonst. Ich fühlte mich gut. Ich erinnere mich, dass ich meinem Spiegelbild zulächelte und sagte: «Heute siehst du gut aus und wirst Spass haben…» Ich ging zu Fuss zum «Metro», weil ich wusste, dass ich wahrscheinlich etwas trinken würde und mir ausserdem ein kleiner Nachtspaziergang guttat.

Ich weiss noch, es war eine herrliche Sommernacht. Nach etwa 15 Minuten kam ich im «Metro» an. Das «Metro» war damals ein Danceclub. Als ich dort ankam, waren alle schon in sehr guter Stimmung. Ich trank zwei Wodka-Redbull und amüsierte mich. Anschliessend zogen wir weiter in einen anderen Club, das «Black & White». Dort trafen wir weitere Mitarbeitende vom Hotel. Es war heiss und stickig, deshalb ging ich zur Bar und bestellte ein Glas Wasser. So gegen 2.30 Uhr am Morgen des 18. Juni 2004 hatte ich genug. Ich wollte einfach nur noch nach Hause. Ohne mich gross zu verabschieden, lief ich los. Ich nahm meinen gewöhnlichen Nachhauseweg über die Höhematte und lief durch die kleine Nebenstrasse, wo sich auch die Wirtschaftsschule, welche ich damals besuchte, befand.

Bereits auf der Höhematte hatte ich das ungute Gefühl, verfolgt zu werden. Ich fing an, so zu tun, als ob ich telefonieren würde. Doch irgendwie kam ich mir

doof und paranoid vor. Also steckte ich mein Handy wieder in die Tasche und lief weiter. Danach ging alles so verdammt schnell. Er kam von links und schlug mich an die Schläfe. Dann packte er mich mit seinem linken Arm und begann mich zu würgen. Ich hatte Angst, konnte nicht denken, hatte kaum Luft. Er sagte irgendwas von Stoff. Ich konnte nicht antworten. Ich versuchte mit meinen Armen seinen Druck um meinen Hals zu lösen… ohne Erfolg. Mir war schwindlig und ich konnte nicht denken. Er zog mich weiter zu den Fahrradständern der Wirtschaftsschule. Dort warf er mich auf den Boden. Vom Aufprall blieb mir für einen kurzen Moment die Luft weg. Ich hatte Schmerzen. Sofort fing er wieder an, mich zu würgen, und legte seinen ekligen, schweren Körper auf mich. Er versuchte mich zu küssen, ich aber biss ihn in seine Unterlippe. Daraufhin schlug er mich ins Gesicht. Er schlug so hart zu, dass ich spürte, wie das Blut aus meiner Nase warm über mein Gesicht lief. Er richtete sich etwas auf. Seine linke Hand war nach wie vor fest um meinen Hals geschlossen. Mit seiner anderen Hand zerriss er mein Shirt und zog meinen BH runter. Er öffnete brutal meine Jeans und zerstörte dabei den Reissverschluss. Nun kniete er sich auf mich und öffnete seine eigenen Hosen. Meine Unterhosen zog er auf Kniehöhe runter. Er legte sich auf mich. Er war so schwer und gross. Sein Atem roch nach einer Mischung aus Zigaretten und Alkohol – einfach widerlich. Mir wurde übel und ich hatte Panik. Ab da war für mich alles wie benebelt. Ich versuchte immer wieder nach Luft zu ringen, mir wurde von Sekunde zu Sekunde schwindliger, ich sah nichts mehr klar – wie ein Filmriss. Ich fühlte heftige Stösse, konnte aber nicht einordnen, ob es sein Penis oder seine Finger waren. Ich spürte Schmerzen und Kälte und meine Gedanken schweiften ab. Ich erinnerte mich an schöne Sachen aus meiner Kindheit. Ich blendete alles aus, vielleicht habe ich geschrien, vielleicht geweint, vielleicht war ich auch einfach nur still. Ich weiss es nicht.

Plötzlich bekam ich wieder Luft, er richtete sich auf. Er schaute umher. Irgendwie schien er durch etwas aufgeschreckt. Da sah ich zwei Männer auf uns zukommen. Mein erster Gedanke war: «Scheisse, die gehören dazu.»

Doch die beiden Männer stellten sich als meine Retter heraus. Sie zogen ihn weg, sie fingen an zu diskutieren und schreien, doch ich hörte nicht zu. Ich wollte nicht herausfinden, wer sie waren. Meine Überlebensinstinkte wurden in dem Moment das erste Mal so richtig wach. Ich wollte leben. Ich wollte weg. Ich wollte einfach nur in Sicherheit. Ich zog mich mit letzter Kraft an den Fahrradständern hoch, zog die zerrissene Jeans hoch und rannte um mein Leben. Mein Herz raste, ich spürte nichts, fühlte mich leer und doch voller Panik. Ich

verschloss die Haustür hinter mir und blieb davor sitzen. Ich weinte ganz leise vor mich hin und zitterte am ganzen Körper. Ich weiss nicht, wie lange ich dort sass. Ich wollte kein Licht anmachen, aus Angst, der Täter würde mir folgen. Ich sass einfach nur dort und weinte.

Irgendwann stand ich auf und lief ins Badezimmer. Die Storen waren zu, der Vorhang war gezogen. Ich machte Licht und sah in den Spiegel. In denselben Spiegel, in dem ich mich vor ein paar Stunden noch bewundert hatte. Was ich nun sah, war nichts. Ich hasste mich selbst. Ich sah Blut, blaue Flecken, rote Augen und doch nichts. Ich wollte mich nur noch reinigen. Ich duschte sehr, sehr lange und weinte weiter. Kurz vor 7 Uhr zog ich mich an. Ich warf alle Kleider und Schuhe in den Müll. Die blauen Flecken versuchte ich zu überschminken, mit der Uniform vom Hotel kam ein Foulard, welches ich um meinen Hals band, um seine Fingerabdrücke zu überdecken. Um 9 Uhr war ich wieder auf der Arbeit. Meinem Chef habe ich gesagt, dass ich die Treppe runtergefallen sei.

Ich wollte alles vertuschen. Mein Chef meinte nur, dass ich besser nach Hause gehe und mich erhole. Ich ging um 12.10 Uhr aus dem Hotel und ging noch schnell zum Coop Pronto, um mir etwas zum Essen zu holen. Der Gedanke, dass ich abends nochmal raus müsste, machte mir höllische Angst. Als ich aus dem Coop kam und meine Fahrradkette aufschloss, hörte ich dieselbe schreckliche Stimme vom Täter. Er sagte in gebrochenem Deutsch: «Diesmal hast du Glück gehabt!» Ich war wie gelähmt und drehte mich nicht um. Ich zitterte und konnte kaum atmen. Als ich mich aufrichtete, war er weg.

Müde schleppte ich mich zur nächsten Apotheke und verlangte nach der Pille danach. Ich wurde in ein Nebenzimmer geführt und man fragte mich, was die Gründe für die Pille seien. Ich erwiderte einfach nur: «Hatte Geschlechtsverkehr ohne Verhütung.» Ich schluckte die Pille und dachte, jetzt ist es vorbei.

Die nächsten Tage blieb ich zu Hause. Ich wollte nicht mehr raus, hab nur noch online Essen bestellt und mich buchstäblich in der Wohnung eingesperrt. Irgendwann in diesen Tagen machte ich einen Aidstest. Doch was mir zu dem Zeitpunkt nicht klar war, ist die Tatsache, dass man nach der möglichen Infizierung drei Monate warten muss, um ein eindeutiges Ergebnis zu erhalten. Jede Nacht plagten mich Albträume. Ich urinierte sogar ins Bett vor Angst. Immer redete ich mir ein, dass die Zeit alle Wunden heilen würde. Die Blutergüsse am Körper fingen an zu verschwinden. Am schlimmsten waren die

Spuren am Hals und an der rechten Brust. Ich fühlte mich leer und machte mir selbst täglich Vorwürfe, dass ich in jener Nacht nicht zu Hause geblieben bin.

Die schlimmste Prüfung kam aber erst noch. Ich musste an den Ort zurück, wo alles geschehen ist. Ich hatte nämlich ausgerechnet dort meine Lehrabschlussprüfungen. Wie ich das geschafft habe, weiss ich bis heute nicht. Mit aller Kraft habe ich mich nur noch auf die Prüfungen konzentriert. Ich wollte nicht, dass er mir auch das noch nehmen konnte.

Etwa zwei Monate später hatte ich alle Prüfungen bestanden und arbeitete wieder im Hotel. Doch nichts war mehr wie zuvor. Ich distanzierte mich von den anderen und machte Fehler beim Arbeiten. Irgendwann kam es zum Gespräch beim Vizedirektor. Man hatte sich über mein Verhalten beklagt. Ich entschuldigte das Ganze mit «Prüfungsstress» und versprach, mich wieder zu bessern. Schlussendlich konnte ich es nicht länger für mich behalten. Ich erzählte meiner jüngeren Schwester Carmen davon. Obwohl sie mir versprechen musste, nichts zu sagen, tat sie das einzig Richtige und informierte meine Eltern darüber. Meine Eltern waren verzweifelt. Ich vergesse nie die Combox-Nachricht meines Vaters, als er sagte: «Wir wissen davon, komm bitte nach Hause …» Erst am 18. September 2004, also genau drei Monate später, habe ich meinen Eltern alles erzählt. Ich habe ein offenes Verhältnis zu meinen Eltern, aber ich hatte zuvor nie mit ihnen über meine sexuellen Erfahrungen gesprochen. Dann plötzlich so ein intimes und schreckliches Erlebnis zu erzählen, war extrem schwer für mich. Am Sonntag, 19. September 2004 etwa um 20 Uhr rief mein Vater die Polizeizentrale 117 an und meldete mit meinem Einverständnis die Vergewaltigung.

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