Leseprobe Der Dschungel im Boden

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Atlant Bieri Siriporn Bieri

Der Dschungel im Boden Ein Bilderbuch über eine der wichtigsten Ressourcen der Menschheit


Rädertierchen: Fleischwolf mit ­skandalösem ­Liebesleben

Unendlich viele winzige Hohlräume durchziehen den Boden. Manche von ihnen sind mit Wasser gefüllt und werden dadurch zu Mini-Aquarien, in denen sich diese Rädertierchen tummeln.

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Bis zur Hälfte eines Bodens besteht aus Hohlräumen. Viele von ihnen sind mit Wasser gefüllt, was sie zu Miniatur-Aquarien macht. Die grosse Mehrzahl von ihnen ist so klein, dass kein Regenwurm, keine Milbe und kein Springschwanz in sie hineinpassen würde. Nun, sie haben wohl auch gar kein besonderes Interesse daran, sich in eine Badewanne voller Wasser zu zwängen, denn sie sind ja schliesslich Landtiere. Aber es gibt eine ganze Reihe von Bodenorganismen, die in den wassergefüllten Kavernen gut Platz haben und sich dort sogar richtig wohl fühlen. Zu ihnen zählen die Rädertierchen. Es handelt sich dabei um Wasserlebewesen. Man findet sie häufig in Sümpfen, Tümpeln, Seen, Bächen und sogar im Meer. Einige Arten haben sich auf ein Leben in den feuchten Poren des Bodens spezialisiert. Ihr Körperbau ist mit nichts vergleichbar, was wir bis jetzt gesehen haben. Sie haben schon fast etwas Ausserirdisches an sich. Am ehesten lässt sich ihre Form mit der eines altmodischen Fernrohrs umschreiben. Genau wie dieses besteht auch ein Rädertierchen aus einzelnen konischen Elementen, die sich ineinanderschieben lassen. Dabei ist der schmale Teil ganz unten und der breite oben. Das ist der Kopf. Oder besser gesagt der Mund – wenn auch «Schlund» es besser treffen würde. Dieser ist ein wahrgewordener Alptraum für Bakterien und einzellige Algen. Die Öffnung ist umgeben von einem Kranz aus Wimpern. Sie

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schlagen koordiniert hin und her und erzeugen so einen Strudel, der alles in seiner Umgebung in den Rachen hineinsaugt. Wer hier hineingerät, sieht sich einen Sekundenbruchteil später vor einem fürchterlichen Gebiss wieder. Es besteht aus zwei Teilen, die im Halbsekundentakt zuschnappen; wie ein Nussknacker, der sich nicht stoppen lässt. Jeder der beiden Teile ist mit mehreren scharfen Lamellen versehen. Wie ein Mund voller geschliffener Messer – ein Fleischwolf, wie ihn sich jeder Metzger nur wünschen kann. Durch diesen formidablen Kauapparat werden Algen und Bakterien gründlich geschreddert, bevor sie zur weiteren Verdauung in den dahinterliegenden Magen und Darm befördert werden. So brutal ein solches Ende auch sein mag, uns Menschen erweisen Rädertierchen mit ihrer Fress­ technik einen grossen Dienst. Denn ihr Wimpernkranz saugt neben Mikroben auch j­egliche anderen frei im Wasser schwebenden Partikel ein. Damit wird das Wasser, das durch den Boden sickert, biologisch gefiltert und ge­reinigt. Was ihren Darm passiert hat, scheiden die Rädertierchen als würstchenförmigen Kot aus. Dieser ist so klebrig, dass er auf dem Untergrund haften bleibt. Er ist vollgepumpt mit Nährstoffen, die nun für Gartenpflanzen oder Feldfrüchte bereitstehen. Kurzum besteht die Leistung von Rädertierchen also darin, trübes Wasser in nährstoffreichen Boden zu verwandeln.

Rädertierchen können ihren Kranz aus Wimpern als Aussenbordmotor einsetzen und mit ihm von einer Kammer zur nächsten schwimmen. So gelangen sie zu neuen Futtergründen.

Ihre Nahrung besteht aus feinsten Partikeln, die im Wasser herumschwimmen. Diese können aus ­a bgestorbenem Pflanzenmaterial aber auch aus Bakterien bestehen.


Die Ausscheidungen von Rädertierchen sind klebrig und können dadurch helfen, die Bodenpartikel zusammenzuhalten. Insgesamt führt das zu einem stabileren Bodengefüge.

Rädertierchen legen im Vergleich zu ihrer Körpergrösse riesige Eier. Diese sind unbefruchtet. Das führt dazu, dass die Nachkommen genetisch identisch mit der Mutter sind. Man nennt sie darum auch «Klone».

Falls ihnen in ihrer Pore die Nahrung ausgehen sollte, können sie sich vom Untergrund lösen und zu einer anderen Pore mit mehr Schwebeteilchen schwimmen. Ihr Wimpernkranz wird in diesem Fall zum Aussenbordmotor, mit dem sie ziemlich flott vorankommen. Sobald sie ein neues Revier gefunden haben, halten sie sich mit ihrem krallenbewehrten Fuss fest und scheiden aus einer Drüse eine Art Flüssigbeton aus, mit dem sie sich auf dem Untergrund fest verankern. Wer die meiste Zeit seines Lebens festsitzt wie eine Pflanze, ist eine leichte Beute für Fressfeinde wie beispielsweise Nematoden. Rädertierchen besitzen keine Waffen wie etwa die Springschwänze oder die Pseudoskorpione, aber sie können sich immerhin verstecken. In sich selbst quasi. Sobald sie etwas berühren, das über die Grösse von Mikroben hinausgeht, ziehen sie ihren teleskopartigen Körper innert eines Sekundenbruchteils zusammen. Dabei stülpen sie ihren Kranz nach innen ein und stellen auch ihr ewig kauendes Gebiss für einmal ab. Nunmehr sieht das Rädertierchen wie ein Hühnerschenkel aus. So hofft es nun darauf, dass der Feind vorüberziehen möge, sich wundernd, wo seine Beute bloss geblieben sei. Wenn alles ruhig bleibt, kommt das Rädertierchen bald wieder aus seiner Starre hervor und frisst weiter wie eh und je. Sein grösster Feind ist jedoch keine Nematode, sondern die Trockenheit. Der Boden ist nun mal

kein Teich und kein See, sondern er ist «Land». Das heisst, er kann vor allem im Sommer schon mal austrocknen. Damit leeren sich die Milliarden von unterirdischen Mikro-Kavernen, in denen sich die Rädertierchen tummeln. Kommt es nun zu einem Massensterben? Nein. Die Rädertierchen haben sich über die Jahrmillionen ihrer Evolution an den Lebensraum Boden angepasst und sind zu einer ver­ blüffenden Lösung für das Problem gekommen: Sie lassen sich einfach auch austrocknen. Dabei ziehen sie sich so sehr in sich zusammen, dass sie am Ende wie ein Tönnchen aussehen. Langsam verliert ihr Körper jegliche Flüssigkeit und am Ende sind sie so staubtrocken wie der um­ gebende Boden. Jegliche Lebensaktivität ist eingestellt. In dieser Form halten sie viele Jahre durch. Paradoxerweise können sie gerade in diesem Zustand weite Strecken zurücklegen. Wenn der Wind die trockenen Bodenpartikel in die Luft wirbelt und fortbläst, reisen die Rädertierchen in ihnen mit. Wenn der Regen zurückkehrt und frisches Wasser die Poren erneut füllt, strecken sich die Rädertierchen, entfalten ihren Wimpernkranz und beginnen wieder zu fressen, als sei nichts gewesen. Wie genau sie ihre Trocken­ starre überleben, ist der Forschung immer noch ein Rätsel. Die Vermehrung von vielen Rädertierchen-Arten ist ungeschlechtlich, wie dies auch bei einigen

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Springschwanz-Arten (siehe Seite 38) der Fall ist. Das heisst, es gibt nur Weibchen, die fortwährend unbefruchtete Eier legen. Aus diesen schlüpfen erneut Weibchen, die genetisch vollkommen identisch sind mit ihren Müttern. Man nennt sie darum auch Klone. Es gibt weltweit eine ganze Reihe von Tierarten, die sich so vermehren. Die meisten von ihnen bringen aber zwischendurch auch Männchen auf die Welt, damit sie sich wie alle anderen Arten auch paaren können. Das ist wichtig, denn nur so werden ihre Gene durchmischt, was die Grundlage für die Anpassung an neue Umweltbedingungen und die Entstehung neuer Arten ist. Die Rädertierchen halten sich jedoch nicht an diese Grundregel der Biologie. Sie bleiben stur bei der ungeschlechtlichen Vermehrung und das machen sie seit Jahrmillionen. Trotzdem sind in der Zwischenzeit Tausende von Arten entstanden, die bestens an ihre Umwelt angepasst sind. Manche Forscher nennen das einen «evolutionären Skandal».

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Was ist die Erklärung für diesen Widerspruch? Nun, es gibt Anzeichen dafür, dass die Weibchen in der Lage sind, Gene untereinander auszutauschen. Wie genau sie das machen, ist aber ein Rätsel. Ebenso haben Forscher Hinweise gefunden, dass Rädertierchen die Gene von Bakterien, Algen und Pilzen in ihr eigenes Erbgut einbauen können. Damit stünde ihnen eine unendliche Vielfalt an genetischem Material zur Verfügung. So eigenartig das auch klingt, zu den Rädertierchen würde es passen.


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