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Liebe und Achtsamkeit

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Mediales Heilen

Mediales Heilen

Liebe sich,

wer kann

Liebe, Verständnis und Achtsamkeit sind die Grundlagen glücklicher Beziehungen. Wir können jederzeit anfangen, das zu üben. «natürlich» liefert die Inspiration und das Wissen dazu.

Text: Lioba Schneemann Illustration: Sonja Berger

Wir erwarten heute viel von einer Partnerschaft: Selbständigkeit und gegenseitiges Interesse, Unterstützung in unserem Wachstum sowie eine tiefe und leidenschaftliche

Liebe über Jahre, besser Jahrzehnte, ja bis zum Tod; dazu

Verbundenheit und Freundschaft, gemeinsame Projekte und Freunde. Allein beim Lesen dieser längst noch nicht vollständigen Liste wird es einem fast schwindelig. Das Mammutprojekt, das sich mit «Alles-mit-Einem-fürimmer-und-ewig» zusammenfassen lässt, die lebenslange, allumfassende Liebe zu zweit, klappt jedoch fast nie. Denn

Leidenschaft braucht Gefahr, während Freundschaft und partnerschaftliche Liebe Sicherheit brauchen. Realistisch beurteilt der Paartherapeut Michael Mary deshalb: «Wer eine partnerschaftliche Langzeitbeziehung favorisiert, bei dem wird die Leidenschaft zwangsläufig abnehmen.» Und das halten viele nicht aus. Die Scheidungsraten sprechen eine deutliche Sprache. Es braucht, so scheint es, neue Wege und neue Sichtweisen. Denn das vermeintliche Ideal ist offenbar häufig reines Wunschdenken und entspricht nicht dem, was wir erleben.

Achtsam leben und lieben

Achtsamkeit hilft, eine neue Sicht auf Beziehungen – wie auf das Leben allgemein – zu gewinnen. Eine achtsame Haltung einnehmen, bedeutet, offen sein für alle Erfahrungen, die wir Moment für Moment machen. Man nennt es eine entspannte Wachheit. Sie macht neugierig auf das, was um und in uns geschieht. Diese bewusste und wertfreie Haltung hilft, Ruhe zu bewahren, wenn die Wellen hochschlagen.

Achtsamkeit hilft, sich im Moment, im Hier und Jetzt, zu «erden». Indem wir uns etwa in achtsamem Atmen üben, können wir auch in schwierigen Situationen eher einen klaren Kopf bewahren. Wir sind dann in der Lage, weise Entscheidungen zu treffen und reagieren nicht sofort aus dem Stressmodus heraus. Vielleicht – das ist zumindest meine Vermutung – kann Achtsamkeit so manche Beziehungskrise und deren Ende verhindern; oder zumindest eine Trennung erträglicher machen. Was so einfach tönt, ist allerdings nicht leicht. Wir üben ja jahrelang stets das Gegenteil: Wir bewerten, ohne es wirklich zu bemerken; wir sind kaum im Jetzt gegenwärtig, sondern grübeln über Vergangenes oder Zukünftiges; wir atmen flach. Und wie häufig hangen wir negativen Gedanken nach und vernachlässigen das Wahrnehmen all der kleinen Freuden des Alltags! Wie oft sind wir bewusst dankbar für das, was ist? Auch die Wertschätzung gegenüber anderen drücken wir eher selten aus – wenn überhaupt. Und, Hand aufs Herz, wie reden wir mit uns selbst? Eine gute Übung in solchen Momenten ist, zu ergründen, wie wir mit unserer Mutter reden würden – in welchem Ton, mit welchen Worten und Gesten würden wir mit ihr reden, wenn ihr etwas Dummes widerfahren ist? Und wie sprechen wir mit uns selbst bei einem Missgeschick? Gibt es einen Unterschied? Und wenn ja: Sollten wir nicht auch mit uns selbst liebevoller ins Gericht ziehen?

In unserem Innern ist unser Zuhause. Mit unserem Ein- und Ausatmen beginnen wir, Ordnung zu schaffen. »

Thich Nhat Hanh, Meditationslehrer und Friedensaktivist

Tiefes Zuhören

Authentisch sein und mit gesundem Realismus die Dinge sehen, wie sie sind – das braucht Mut, Gelassenheit und Stabilität. Zunächst: Können wir überhaupt anerkennen, dass Unzufriedenheit und Krisen zum Leben gehören? Um die Ursachen von Unzufriedenheit und Spannung zu ergründen, braucht es erst einmal die Innenschau: Wir müssen auf uns selbst aufmerksam werden. Und gewillt sein, uns zu verändern (statt den oder die andere/n).

Bei der Innenschau untersuchen wir, wie wir mit Leid und Stress umgehen. Was denke ich, wenn der Partner meine Bemühungen gar nicht zu bemerken scheint? Nehme ich Dinge persönlich, auch wenn ich gar nicht gemeint bin? Was empfinde ich im Körper, wo spüre ich vielleicht einen Druck oder Schmerz, wenn meine Partnerin dies oder jenes sagt, tut oder unterlässt? Wie fühle ich mich, wenn ich an die letzte Auseinandersetzung denke? Traurig, verletzt, nicht gesehen? Und wo spüre ich das im Körper? Was will ich und was brauche ich in diesem Moment? Mit diesen Fragen ergründen wir unser inneres Universum. Das hindert uns davor, uns abzumühen, den Partner ändern zu wollen oder an der Beziehung zu «arbeiten», was eh nicht funktioniert.

Der bekannte Mönch und Meditationslehrer Thich Nhat Hanh (95) nennt die Innenschau «tiefes Zuhören». Dieses sei zentral für eine gelingende Kommunikation und für ein gutes Miteinander. Tiefes Zuhören beginne bei sich selbst, so Thich Nhat Hanh, mit dem Innehalten und dem mit sich selbst in Kommunikation treten: «Sie setzen sich hin, und beenden den Zustand des Verlorenseins, des Nicht-Sie-selbst-Seins.» Wir hören einfach mit dem auf, was wir grade tun und verbinden uns mit uns selbst. Achtsames Gewahrsein bedeutet demnach: Einfach da sein, bewusst ein- und ausatmen und sich seiner selbst bewusst sein. Thich Nhat Hahn: «Sie wissen, was in ihrem Körper, ihren Gefühlen und ihrer Wahrnehmung geschieht. In unserem Innern ist unser Zuhause. Mit unserem Ein- und Ausatmen beginnen wir, Ordnung zu schaffen.»

Wir lernen die Geschichten kennen, die wir über uns und andere erzählen. Das ist wichtig, denn sie prägen unsere Sicht auf uns und die Welt. Wir üben damit auch, anderen Menschen zuzuhören und ganz für den anderen und seine Sorgen präsent zu sein. Denn erst wenn wir uns selbst zuhören und uns selbst kennenlernen, dann können wir auch anderen mit Mitgefühl begegnen. Achtsamkeit gibt uns Erkenntnis und eine ausreichende Stabilität. Hilfreich dabei ist eine wohlwollende Haltung uns selbst gegenüber. Wir versuchen anzunehmen, was ist, anstatt zu hadern oder sich vorzustellen, was sein könnte.

Liebevolles sprechen

Genauso zentral ist laut Thich Nhat Hanh das «liebevolle Sprechen». Er hat selbst erfahren können – sei es im Kloster oder als Vermittler in Friedensverhandlungen –, dass es möglich ist, mit mitfühlendem Hören und Sprechen zwischenmenschliche Kontakte herzustellen und zu verbessern, die Kommunikation wieder in Gang zu bringen und Leid und Konflikte zu mindern. Er definiert zu diesem Thema sechs Formeln oder Mantras, die man im Stillen oder laut aussprechen kann (siehe Seite 17).

Sich selbst in einer emotional fordernden Situation wahrzunehmen und den Mann/die Frau bewusst zu sehen, zu hören und zu spüren, ist eine hohe Kunst. Es braucht viel Übung. Thich Nhat Hanh rät, sich geduldig immer wieder daran zu erinnern, achtsam und wertfrei zuzuhören und zu sprechen. So kann es zur Gewohnheit werden, was Akzeptanz, Wertschätzung und Verbundenheit stärkt.

Unsere Liebe und Beziehungen seien wie Blumen, sagt der Mönch in seiner typischen liebevollen Art und Weise: «Blumen müssen regelmässig gegossen werden, damit sie frisch und lebendig bleiben.» Ähnlich ist es mit den Menschen: Mitgefühl und Liebe erwachsen aus unserem Verständnis – Verständnis für uns selbst und für den anderen. Buchtipp

Thich Nhat Hanh: «Achtsam sprechen –

achtsam zuhören. Die Kunst der bewussten Kommunikation»

Knaur MensSana 2019, ca. Fr. 14.–

Mantras zur Stärkung der Beziehung

Diese Mantras von Thich Nhat Hanh können laut oder leise gesprochen, der Situation angepasst oder umformuliert werden, sodass sie zu den eigenen Bedürfnissen passen:

1. Ich bin für dich da

Oft sind wir körperlich zwar da, aber unser Geist ist woanders. Wir nehmen unser Gegenüber nicht wirklich wahr. Das

Mantra erinnert uns an die Gegenwart des anderen, dass wir ihn/sie lieben respektive gernhaben. Der Mensch, der das

Mantra hört, wird sich wertgeschätzt fühlen.

2. Ich weiss, du bist da und ich bin sehr glücklich

Durch diesen Satz vergegenwärtigen wir uns und dem anderen Menschen, wie kostbar seine Präsenz ist, wie wertvoll uns die Beziehung zu ihm/ihr ist.

3. Ich weiss, du leidest, und darum bin ich für dich da

Wenn ein anderer Mensch leidet, können Sie dieses Mantra anwenden. Vielleicht haben Sie auch etwas gesagt oder getan, was den anderen verletzt hat. Sie müssen dann gar nichts weiter tun, als einfach für ihn oder sie da zu sein. Das reicht aus, damit sich der oder die andere besser fühlt.

4. Ich leide. Ich möchte, dass du das weisst, bitte hilf mir

Auch wenn Sie glauben, der andere hat Ihr Leiden verursacht, versuchen Sie dieses Mantra. Sie signalisieren damit, dass Sie sich verletzt fühlen und dass Sie eine Erklärung brauchen. Dieses Mantra ist schwer zu formulieren. Doch auch wenn Sie Angst vor Zurückweisung haben oder sich zu stolz fühlen, kann es helfen. Diese Sätze sind eine Einladung an beide Seiten, tief zu schauen. Das Mantra verdeutlicht:

Wir brauchen einander.

5. Das ist ein glücklicher Moment

Wenn Sie mit jemanden zusammen sind, der ihnen etwas bedeutet, können Sie dieses Mantra aussprechen. Es erinnert uns daran, dass wir uns glücklich schätzen können für unser Leben und unsere Beziehungen. Die Fähigkeit, zu erkennen, dass dies ein glücklicher Moment ist, hängt vom

Grad der Achtsamkeit ab.

6. Du hast teilweise recht.

Dieses Mantra sollte man anwenden, wenn jemand uns lobt oder kritisiert: Wenn andere mich loben, sollte ich mich davon nicht blenden lassen; wenn andere mich kritisieren, sollte ich mich nicht in der Kritik verlieren und darob die positiven Dinge vergessen. Auf ähnliche Weise können wir auch andere betrachten: Wir wissen, dass wir stets nur einen

Teil von ihnen sehen.

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