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Mitten im Wimmelbild

von Barbara Persoglio und Ursula Kaufmann

Als es klar wurde, dass der Umbau tatsächlich beginnen würde, gab es auch Enttäuschung: Viele hatten schon ältere Kinder im verträumten Gebäude auf 113 begleitet oder selbst vor über dreißig Jahren dort die Schule begonnen. Wie wird das drüben – schon so richtig Schule, und die hohen Gänge… und der Hort im Park?

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Inzwischen sind wir schon fast am Ende des ersten Schuljahres. Die Kinder huschen in den Gängen an LehrerInnen vorbei, kennen jedes Gesicht, haben ihren Platz in der großen Schule mit Selbstverständlichkeit eingenommen, waren sofort Teil des Ganzen – viele haben ältere Geschwister und waren stolz, gleich nach dem Kindergarten mitmischen zu dürfen. Im Hort haben sie im Park alles für sich vereinnahmt! Das ist „unser“ Park geworden. Und wenn ich die Kinder der ersten Klasse frage, wie es so ist, mit der Oberstufe das Gebäude zu teilen, verstehen sie die Frage nicht. Wie soll es denn anders sein?

Und die Oberstufe? Was denkt die?

Barbara Persoglio ist Mutter in der 1. und 5. Klasse.

Gaaaanz langsam, nur drei, dann fünf Zentimeter die Türe aufgemacht, die Ohren angestrengt nach draußen gespitzt, die Nase aus dem Türspalt hinausgestreckt – wuuuschdongdingdong, ein Tischtennisball saust knapp vor der Stirn vorbei und prallt von der Wand neben der Türe ab, aber kein Kinderkörper rollt, hopst, sprintet oder rutscht gerade zu nah vorbei. Also so weit geöffnet, dass ich durchschlüpfen kann, zur Vorsicht noch „Achtung“ gerufen, und der Weg aus dem Lehrerzimmer ist erkämpft.

Unter dem Flügel eine Erstklass-Katzenfamilie oder sonst ein bunter Kinderspieltraum, obacht, dass keine Kinderfinger versehentlich unter meine Schuhe geraten, in der Türnische versteckt sich ein Bub und zwinkert mir verschwörerisch zu, Finger auf den Mund, nein, ich verrat’ ihn sowieso nicht. Beinahe verliere ich die Mappen, die ich unter dem

Arm trage; die suchenden Burschen waren mit viel Schwung unterwegs und haben sich neben mir auf Socken rutschend eingebremst, kurzer Bodycheck, alles gut. Sirrende Springschnüre der DrittklässlerInnen, ideal wäre ein beherzter Sprung hindurch, allerdings mit den Mappen unterm Arm und der Handybox zu ambitioniert; ein Bogen um gummihüpfende MiniakrobatInnen, die lautstark Anweisungen geben, wie hoch das Gummiband um die Beine zu schieben sei und ob der letzte Sprung gegolten hat. Hoppla! Ein Papierflieger von oben, dank der Brille prallt er ohne weiteren Schaden problemlos von meinem Gesicht ab. „Tschuldigung!“ Lachende Gesichter, rangelnde Kinder, ein Lärmpegel wie im Freibad im August vor dem Kinderbecken. Plötzlich falle ich fast über meine knieende Kollegin, die hinter einer rangelnden Burschentruppe versteckt war. Ein Erstklässler ist gestolpert, es gilt, ein paar Tränen wegzuwischen und das angeschlagene Knie mit Trost zu bedenken, geht schon wieder!

Aus dem Handarbeitsraum quillt Peddigrohr, SiebtklässlerInnen machen lautstark Witze und schauen fast, aber nur fast, schuldbewusst, weil ich das unflätige Wort sehr wohl gehört habe – ein Wunder bei diesem Geräuschpegel. Eine Schar ViertklässlerInnen ergießt sich noch über die Treppe, die Unterhaltung klingt gewichtig wie eine Parlamentsdebatte zum Budget, handelt aber Gott sei Dank nur von einem Kindergeburtstag, zu dem man eingeladen war.

An der Wand im stilleren Gang zu den Werkstätten ein Pärchen aus der Oberstufe, augenscheinlich ist gerade ein wichtiges Thema zu klären – ich bemerke das selbstverständlich überhaupt nicht und bin ganz auf meine Mappen konzentriert; die Klotüre fliegt auf, ein Name gellt mit vermutlich gesundheitsgefährdender Lautstärke in mein Ohr, gut, dass ich schon schlecht höre: Nein, sie ist schon in der Klasse, die Gesuchte. Durch leises Klingeln im rechten Ohr höre ich einen gemurmelten Gruß, baumlange Burschen drücken sich an mir vorbei zu ihrem Unterricht. Wann ist das passiert? Sie sind seit der letzten Fachstunde schon wieder größer geworden, bald werden sie ein Fernglas brauchen, um mich da herunten noch zu sehen. Einem von ihnen fliegt ein halb so langer Wirbelwind gegen die Beine, die kleine Schwester hat ihren großen Bruder entdeckt, ein Kuss auf den Scheitel, dann saust sie weiter. Mir geht das Herz auf, hätt’ ich auch gern gehabt, einen großen Bruder.

Im Werkraum fuchteln MittelstufenschülerInnen mit Feilen herum, mein Kollege hat eine Traube Kinder um sich, ich sehe nur seine Kappe über ein Werkstück und Kinderköpfe gebeugt. Dann öffnet sich die Feuerschutztüre zum hintersten ehemaligen Werkraum, und ich tauche ein in die vertraute, gemäßigte, plätschernde, unaufgeregte Plaudergemütlichkeit meiner Oberstufenklasse.

Wer hätte je gedacht, dass das so entspannend sein kann?

„Frau Kaufmann, also zu unserer Zeit hätte es das nicht gegeben, die rennen ja wie die Wilden, wir mussten immer langsam gehen, wir durften nie …“ Oh ihr heilige Schar!

Ja, unsere Schule gleicht einem bunten, quicklebendigen, quirligen, lauten, lachenden Wimmelbild, seit auch die Klei- nen bei uns wohnen. Kein Winkel bleibt unentdeckt, keine Brüstung unbeklettert. Beim Begrüßen schütteln wir nun Hände von ganz klein bis groß, erinnern an Hausschuhe, holen runtergerutschte Schultaschenriemen an ihren Platz, fangen Kinder, die wie Pfitschipfeile um die Ecke geflogen kommen, in unseren Armen auf. Ermahnen fallweise zu ein bisschen mehr Mäßigung. Erfreuen uns aber meistens an dem wunderbaren Miteinander, dem achtsamen Umgang der Großen mit den Kleinen, erinnern an Vorbildwirkung und bemühen uns, selbst gute Vorbilder zu sein. Lassen manchmal Fünf gerade sein, finden das Auslangen mit viel zu wenigen Räumen und sehen, dass alles geht, wenn man es nur will. Und dennoch freuen wir uns unbändig auf die neuen Möglichkeiten, die uns das neue Haus bieten wird. Dann wird das alte Schlössl aufatmen, aber bestimmt auch ein wenig traurig sein und auf Besuch von drüben hoffen. Und die Großen können dann wieder mit zum Himmel gewandten Augen feststellen, dass sie ja gaaaaanz anders waren, und dass es soooo unfair ist, dass die Kleinen jetzt dieses tolle Haus haben … ¶