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Spätes Freundschaftsblättchen für Uhl Becher
Dieter Bachmann
In dem kurzen Fernsehfilm, den wir 1970 in Basel drehten, dem einzigen Filmdokument meines Wissens, das es von diesem Schriftsteller gibt, aufgenommen in dem kleinen Apartment am Steinengraben 51, das Dana und Ulrich Becher für Jahrzehnte bewohnten, sowie in einer Gartenwirtschaft auf der Chrischona, in der Uhl, ganz im Stil der damaligen Dichter-Features, vorgeben musste, unter den Kastanien des Biergartens ernsthaft zu arbeiten, – in diesem Film sagt Becher ein paar Sätze, Brosamen zu einer nicht geschriebenen Autobiografie, die wiederholenswert sind.
Einen Moby Dick nennt er sich da, einen Wal, der entrinnt. «Ich habe gelernt, nicht ein Walfisch zu sein, der seinem Walfänger zum Opfer fällt.» Auf die Entronnenen warte immer ein Löwe hatte damals Jürg Federspiel, im selben Jahr 1969, als sowohl die Murmeljagd wie Federspiels Museum des Hasses erschienen, geschrieben, Federspiel, einer der wenigen Basler Bekannten – Freunde kann man wohl nicht sagen – Ulrich Bechers. Der Löwe für die Entronnenen aber wachte über allen Texten Bechers, den früheren wie den grandiosen New Yorker Novellen, und all dem, was er noch schreiben sollte nach der Murmeljagd, die der Anlass für den Fernsehfilm gewesen war. Becher hatte gelernt, wie man entrinnt, aber auch was es heisst, mit einem Bein immer auf der Flucht zu sein.
«Wenn ich woanders leben würde», sagte er damals in die Kamera, «würde ich auch gern, solange die Grenzen noch bestehen, die für mich etwas Absurdes sind, in der Nähe der Grenze leben.» Die Murmeljagd beginnt mit einer Flucht über die Grenzen, einer aus dem nazistischen Österreich durch die verschneiten Berge ins Engadin, und Becher, in Berlin, in Wien, in New York zu Hause und nicht zu Hause gewesen, nahm Basel als einen Zufall. «Plötzlich Basel», sagte er mit seiner brüchig bröckligen Stimme, mit rhetorisch präzis gesetzter Synkope, – «ich wusste nicht, dass Basel später eine Art Schicksal für mich sein würde.»
Ich hatte niemals den Eindruck, er sei in jener Stadt viel mehr als geduldet. Er war sicher «keiner von denen», kein Copain, kein Stammtischbruder, wenn er, die schöne Dana im Schlepptau, spät abends, in Anzug, Krawatte – die Nelke im Knopfloch mag meine Fantasie ihm später ans Revers gesteckt haben –, jedenfalls mit Spazierstock, den er gewiss nicht als Stütze brauchte, in der Kunsthalle – baslerisch mit Grund die «Höhle» genannt – erschien, besser: auftrat, mit gezwirbel- tem Schnurrbart und akkurat und offensichtlich mithilfe von Pomade gezogenem Scheitel, ein Monsieur, ein Cavaliere oder Señor, der ohne Weiteres auch als lateinamerikanischer Grande durchgegangen wäre, älter geworden, jedoch mit beweglichstem Augenspiel und vertraulichnäselnder Rede, von ferne noch etwas wienernd, stets mit Sprachwitz und akustischen Ausrufezeichen gespickt – wenn Ulrich Becher so Einzug hielt im Bauch des lokalen Narrenschiffs, oder vielmehr die anwesenden Zecher mit einem Auftritt zu beehren schien, war er so einzeln und fremd geblieben über die Jahrzehnte wie der weisse Wal dem Rudel.
«Die Schweizer sagen, ich sei ein unbequemer Mann», sagt er in jenem Film, und ich wusste, so sei’s gestanden, eigentlich nicht, worauf sich das bezog, es war wohl einfach sein Daseins-Nichtdaseinsgefühl, «sie sagen, vielleicht ist er ein Deutscher; die Deutschen sagen, er ist ein unbequemer Mann, vielleicht ist er ein Schweizer; die Österreicher sagen, er ist ein unbequemer Mann, vielleicht ist er ein Deutscher oder ein Schweizer.» Nun, er hatte ja recht; er war ja, mit seiner schweizerischen Mutter (aus dem Rigigebiet, so glaube ich noch zu wissen) und dem deutschen Vater, der österreichischen Staatsbürgerschaft und seinem ahasverischen
Weg durch eine Welt, von der die anwesenden Dichter wohl keinen Hochschein hatten, gewiss schwer identifizierbar –und genau dies konnte ihm andererseits nur recht sein. «Es gibt Leute, die mich für einen Don Quijote halten – sollen sie’s tun», sagte er und setzte grinsend dazu: «Ich habe nicht das Glück und nicht das Pech gehabt, ein Guevara zu sein.»
Ein Entronnener. Die Löwen hatten Abstand genommen, aber sie waren da. Ein Asylant, würde man heute sagen, also einer, der fremd bleibt. Darüber hat er sich nicht beklagt. Aber gesehen hat er es. «Ich gehöre zu der Generation von Hans Werner Richter, von Frisch, von Hochwälder: wir sind die Kahlschlaggeneration.» Das Wort war damals in Mode. Heinrich Böll hätte er nennen können, auch Paul Celan. Er nannte seine Generation auch gern die «leergeschossene»: Ich habe fast keine Kollegen in meiner Altersklasse – die besten Leute sind wahrscheinlich an diesem Krieg zugrunde gegangen.»
Dieser Krieg, das war sein Bezugspunkt, und der war damals auch erst kurze 25 Jahre her. Die Spitze aber, die man in Bechers Selbsteinschätzung oder -positionierung spüren mag, sie bezog sich ohne Zweifel auf den Platz, den die nachfolgende Generation eingenommen hatte, bündig gesagt die 47er, also die Mitglieder einer Schriftstellergruppe, welche die «Bewältigung», welch entsetzliches Wort!, der nun auf genaue Erkennbarkeit entfernten «jüngsten Vergangenheit» für sich in Anspruch nahmen.
«In Deutschland hat man meine Generation nicht gern», sagte er, stets höflich. «Die Generation, die zehn Jahre älter ist»
– nämlich zehn Jahre älter als die 47er. «Die Generation von Brecht, von Zuckmayer akzeptiert man. Aber unsere Generation, die es überhaupt nicht gibt, diese Generation ist das schlechte Gewissen der deutschen Literatur.»
Grass’ Blechtrommel, Lenz’ Heimatmuseum, Walsers Halbzeit, die Gedichte Bachmanns standen da – und Bechers eigenem Erfolg im Weg. Und nur ein Jahr nach der Murmeljagd erschien der erste Band einer Tetralogie, die alles Vorige in der Tiefe der Durchdringung übertreffen sollte, der erste Band von Uwe Johnsons Jahrestagen. Sich für Ulrich Bechers Werk stark zu machen hiess damals auch, einen Aussenseiter ins Zentrum rücken zu wollen. Er rühmte sich stets, mit seinem 1933 erschienen Erzählband Männer machen Fehler der «jüngstverbrannte deutsche Autor» zu sein. Aber er wanderte nicht mit Pomp aus, wie Thomas Mann, er meldete sich nicht aus dem Exil, wie Peter Weiss, man konnte ihn nicht als den immer schon Scharfsichtigen feiern, der Brecht gewesen war – er hatte zwar Talent, aber auch Pech gehabt, kam ins Mahlwerk seiner Zeit und zwischen die Stühle. Seinen grossen Erfolg hatte er nicht in der Prosa, sondern auf dem Theater gehabt, 1946, mit dem mit Peter Preses zusammen geschriebenen Bockerer, vielfach aufgeführt, verfilmt, jener «Tragischen Posse in drei Akten» in der literarischen Nachbarschaft von Fritz Hochwälder, von Helmut Qualtinger und, ohne Abstrich, von Ödön von Horváth. Ein grosser Bilderbogen, der durch die Zeit des Austrofaschismus, den Krieg und das böse Erwachen führt, heftig, deftig, komisch und grotesk und insofern manchmal an Schweijk erinnernd – immer aber ätzend genau in der Zeichnung der menschlichsten aller Schwächen, der Verlogenheit. «Sie wissen: Dienst war Dienst», sagt Inspektor Guritsch, ein übler Ex-Nazi und Anpasser nach der «Befreiung», «im Dienst bin i a Rayoninspektor. Ausserhalb – ein Mensch.» Darauf der Fleischhauer und Selchermeister Bockerer bloss trocken: «Wieder mal eine kleine Wandlung?»
Ulrich Becher schrieb, über Mademoiselle Löwenzorn bis zu Biene gib mir Honig auch weiter fürs Theater, doch stets mit einer gewissen Einschränkung. «Am Theater