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«…wir kommen überall vor bei»

Der Schriftsteller

Ulrich Becher

Einleitung

Zugegeben: In den Siebzigerjahren wollte mir – Twen, der ich damals war – Ulrich Becher als der Inbegriff eines Schriftstellers erscheinen. Charaktervoll eigenwillig im Verhalten, unbürgerlich reagierend auf das, was der Augenblick ihm anbot. Ich sah ihn damals als bedeutenden Bohémien. Bei unseren Begegnungen war es, als wolle er diesen Eindruck bestätigen: Ein nach Europa zurückgekehrter Emigrant – der jüngste unter den Autoren, deren Werke auf Hitlers Scheiterhaufen angezündet worden waren –, einer allerdings, dem es offenbar gelungen war, das schicksalshafte Unterwegssein des Emigranten auf der Flucht in den Verzicht des Bohémiens auf die kleinbürgerliche Sesshaftigkeit umzumünzen. Sein in New York geborener Sohn Martin hatte guten Grund, einen Postbeamten, der ihn fragte, wohin die eintreffende Post weiterzuleiten sei, anzuweisen: «Schicken sie die Post irgendwohin. Wir kommen überall vorbei!» Ein einprägsamer Unterschied zur Emigrantentrübsal, die noch bis in die Siebzigerjahre im Zürcher «Odeon» und im «Select» zu spüren war. Bei Becher hiess es damals trotzig: «Wir sind das schlechte Gewissen der deutschen Literatur!»

«Weltfahrt» nannte er die erzwungene Fluchtroute in einer Widmung, Weltfahrt, die uns verbindet, seitdem ich ihm von meinem monatelangen Aufenthalt in Brasilien berichtet hatte.

Von da an mischten sich häufig Brocken von brasilianischem Portugiesisch in unsere Gespräche, denn auch er gestand – wie ich – in diese sinnenhafte Sprache vernarrt zu sein. Auch deshalb scheint es mir wichtig, dass in dieser orte-Ausgabe über Ulrich Becher Jeroen Dewulfs Text zu lesen ist, der verdeutlicht, wie Becher seinem Peiniger Adolf Hitler mithilfe eines brasilianischen Rituals zu Leibe rückt.

Dass Bechers künstlerisches Bemühen nicht auf Sprachkunst allein beschränkt blieb, mag durchaus seine Freundschaft mit George Grosz bewirkt haben. Die Farbillustrationen in diesem Heft lassen erkennen, dass jener wohl den satirischen Unterton in vielen von Bechers Textfolgen mitausgelöst und den Autor zudem zu eigener Bildnerei veranlasst hat, die inhaltlich und stilistisch die anregende Einwirkung von Grosz nicht verheimlichen will.

Auch wenn es wenige Leserinnen und Leser gibt, die bestreiten würden, dass Bechers Murmeljagd der bedeutendste Roman ist, der über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg geschrieben worden ist, scheint es nicht bedeutungslos, dass auch Bechers weiterer Umgang mit Sprache belegt wird, etwa in seiner Korrespondenz oder im Freundschaftsblättchen von Dieter Bachmann, der einen der wenigen Filme gedreht hat, in dem sichtbar – ja, nicht nur hörbar – wird, wie Becher seinen unverwechselbaren Duktus im Sprachbergwerk schmiedet und typisch becherische Formulierungen wie «Knallerbsenknall», «fröschegiftige Abwässer», «Geisterbahngeister» und «Kaltwasserfreitod» eicht. Dieter Bachmann schildert im Postskriptum zu seinem Text, dass Bechers Stimme auf einem frühen Tonband im Lauf der Jahre verstummt ist. Umso zuversichtlicher griff ich zu meinem Tonband, auf dem ein zweistündiges Gespräch gespeichert war, das ich am 11. Mai 1977 mit Ulrich Becher aufgenommen hatte. Als sei Bachmanns Vermutung berechtigt, Becher besitze eine verwunschene «Löschkraft», die zur Wirkung kommt, sobald er vermeintliche «Ewigkeitswerte» zeitlich beschränken wollte, sind auch auf meinem Tonband – aus dem ich Ausschnitte in dieses Becher-Heft einzufügen plante – nur noch die Fragen hörbar und Bechers Antworten lediglich als ein rhythmisch differenziertes, vokalreiches Wechselspiel zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch und nicht mehr als logische Wortfolge verständlich. Man darf sich damit trösten, dass in Bachmanns frühem Film intakt zu hören ist, wie Ulrich Becher sich vorstellt: «Die Deutschen sagen: ‹ein unbequemer Mann›, der muss ein Schweizer sein, die Schweizer sagen: ‹ein unbequemer Mann›, der muss ein Österreicher sein, und die Österreicher wiederum sagen: ‹ein unbequemer Mann›, der muss ein Deutscher sein!»

Peter K. Wehrli