
2 minute read
Jahrtausende gingen dahin
Ulrich Becher
Das Menschengeschlecht war ausgestorben. Es war seine Zeitlang über die Erde gegangen, es hatte seine Zeit beherrscht oder gedient, wie die Fische eine Zeit beherrscht oder gedient hatten, die Ichthyosaurier eine zweite, die Mammute eine dritte, die Büffel eine vierte. Ungezählte –dem aufgeweichten Gehirn längst verschollene – Jahrzehntausende hatte seine Herrschaft gewährt: vor dem Gesicht der Ewigkeit keine Zehntausendstelsekunde. Ein neues Wärmealter war über die Erde gekommen, vorerst unmerklich, schleichend, aber unaufhaltsam. Insekten waren zur Grösse von Dackeln gediehen, dann zu der von Bernhardinern geschwollen. Vergeblich hatten die Menschen sich ihrer in fürchterlichen Kriegen zu erwehren getrachtet: Mammutameisenherden trampelten sie nieder, Goliathhornissengeschwader stiessen zorndröhnend auf sie herab, Heuschreckenschwärme – jedes Tier gross und graus wie ein Vogel Greif – verfinsterten den Himmel, andre bestäubten sie mit einem Gift, das man zur Glanzzeit des Menschengeschlechts ein Insektenpulver genannt haben würde; Hekatomben raffte der tödliche Staub. Die Überlebenden verfielen organischen Veränderungen. Die Haut aller Menschenvölker wurde dick und schwarz und schillernd wie die der Buschmänner. Träg wie Molche wurden sie unter der tropischen Glut. Wissenschaft und Technik verkamen, die Geschichte erlosch. Ihr einziges Trachten: nach Kühle. Kühle suchten sie in den schrumpfenden Wassern, verlungerten ihr Dasein am Strand, zu Amphibien gewandelt: Schwimmhäute wuchsen ihnen zwischen Fingern und Zehen. Andre flohen vor der gnadenlosen Hitze in tiefe Höhlen. Wo es begonnen hatte, dort endete es, das Menschengeschlecht: in der Höhle. Dann starb es aus.
Die beiden letzten Überlebenden der Gattung waren zwei fromme, alte Juden. Ihre Urvorväter, die zur Glanzzeit des Menschengeschlechts endlosen Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren, hatten ihnen ins Blut die Fähigkeit äusserster Anpassung, täuschendsten Mimikrys, hartnäckigstem Lehenswillens vermacht. Darum waren sie verschont geblieben bis zuletzt. Bis zuletzt. Als Mammutameisen verkleidet waren sie umhergetrottet; mit übermenschlicher Ausdauer hatten sie wie Greifsheuschrecken zu hopsen gelernt; des Nachts hatten sie sich, Laternen am Rücken befestigt, als Glühlindwürmer ausgegeben; gleich jenen haarigen Menschenspinnen – Nachkommen der Vogelspinnen – waren sie herumgewatschelt und so zu namenlosen Malen der Ausrot- tung entgangen. Aber nun war es aus mit ihnen. Notdürftig beschirmt von einem Riesenfarn, am Strand nachmittäglichen Meeres hatten sie sich zum Sterben gebettet.
«Dreihunderttausend Jahre», lallte der eine mit einer Zunge, die ein dicker dorrer Klumpen war, und Schweiss und Tränen rannen in seinen versengten aschenen Bart, «dreihunderttausend Jahre haben wir auf den Messias gewartet. Und Er ist nicht gekommen – oih», er seufzte tief auf, warf den Kopf zur Seite und verschied. Und um den Mund des Gestorbenen stand grosser Gram gemeisselt. Der andre lebte noch. Wohl hatte er die Worte gehört, indes war er zu schwach, den Kopf nach dem Gefährten zu drehn. Seine alten umrunzelten Augen starrten ohne Blinzeln in die glutig-blutig ins Meer sinkende Sonne, über die zuweilen der durchsichtige Schatten eines irisierenden Riesenflügels huschte. Mit einem Mal geschah es, dass ihm das Unmögliche gelang. Sein Kopf hob sich wie emporgezogen, er vermochte sich auf die gewaltig zitternden Ellbogen zu stützen. Klaffenden Munds starrte er voraus, gebannt. Denn vor der Sonne war jetzt ein Schatten, der stetig blieb; über die purpurne Brücke, die sie übers Meer schlug, wallte er her, stracks auf den sterbenden alten Juden zu, den letzten der Letzten –grösser und grösser werdend, Gestalt annehmend, Menschengestalt, und jetzt wanderte er schon, wanderte herzu mit freundlichen Schritten, beugte sich über ihn, dass sein Schatten alles siedende Licht verdeckte … «Nathan!», rief der Sterbende heiser, mir jubelnd-röchelnder Stimme, «du irrst, Nathan! Ich sehe – ich sehe Ihn! Nathan, Nathan, der Messias ist zu uns gekommen …»
Und der, der den Messias gesehen hatte, sank zurück und entschlief mit einem Lächeln grosser Freude.