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Wunder-Welten am oberen Zürichsee
Nicht ohne Grund dürfte der Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung [→194] diesen Ort ausgewählt haben, um sich hier sein Arkadien [→165] aufzubauen. Verborgen hinter viel Tannen gehölz und dunkelrot ausladendem Buchengeäst kann dieses Refugium nur nach genauem Hinsehen lokalisiert und beschrieben werden. Hier wurden während vieler Sommermonate die Erfahrungen verarbeitet, ge ordnet und in unzähligen Schriften festgehalten, die der Pfarrerssohn in seiner Praxis an der Seestrasse 228 in Küsnacht am Zürichsee (heute Mu seum) gesammelt hatte und nun in heilsame Distanz bringen wollte. Denn dort, so klagte er einmal, fressen mich die Patienten auf.
Seine Reisen zu den Tiefen des Geistes und den Geheimnissen der eigenen Seele fielen ihm wohl bei Handarbeit und Musse leichter. Bald entstand mit zwei ortsansässigen Helfern ein mittelalterlich anmutendes Turmhaus als zeitloses Symbol für Veranlagungen und Fähigkeiten: In Bollingen bin ich in meinem eigentlichsten Wesen, in dem, was mir ent spricht. Hier bin ich sozusagen der uralte Sohn der Mutter, so seine spätere Aufzeichnung. Zeitlebens kämpfte der Seelenforscher um eine Verknüp fung zwischen dem, was im Christentum und in den sogenannten heidnischen Wertvorstellungen als eigentlicher Kern erscheint. Vor allem suchte Jung die biblische Gestalt Marias als Jungfrau- und Mutterfigur zu ergründen, die seiner Ansicht nach besonders in der katholischen Kirche des Westens einen hohen Stellenwert einnimmt.
Pater Victor Francis White [→235], Dominikaner aus Oxford und inte ressiert an Jungs Schriften, unterstützte den Psychiater dabei nach Kräften. Übereinstimmung in vielen Ansichten, aber auch unlösbare Widersprüche prägten jahrelang diese Beziehung. Für Jung war klar, dass alle Religionen und das sogenannte Heidentum von Erzählungen, Mythen, Legenden und Sagen leben, indem sie in bestimmten Zeitabständen durch Wiederholung und weitere Ausschmückung im Gedächtnis haften blie ben. In Bollingen erfuhr er lebensnah, was dort während Jahrhunderten
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Albert Sutter.
gewachsen und abgestorben war oder auf neue Weise zur Blüte gebracht wurde.
Persönliche Kontakte mit der Dorfbevölkerung, besonders mit dem theologisch gebildeten, volksnahen Dorfpfarrer Albert Sutter [→229] bo ten dem Seelenforscher praktische Anschauungen. Durch ihn fand Jung Lösungen für manches Rätsel. Als Beispiel diene hier sein Interesse am Weihnachtsspiel der Kinder, das alljährlich im Dorfschulhaus aufgeführt wurde. Unter der Regie des Pfarrers, der zugleich als Präsident der Schul gemeinde amtete, wurde lebendig vor Augen geführt, was allen doch schon längst bekannt war und immer wieder wie neu erzählt wird: Die angstvolle Suche nach einer Unterkunft für die junge Frau Maria und ihren Verlobten Josef. Beide sehen dem freudigen Ereignis in keineswegs freundlicher Umgebung entgegen: kein Platz für das Paar in Bethlehem [→168], dem Herkunftsort der Vorfahren Josefs (Luk 2,4–7). Und dann liegt das neugeborene Kind – eine Puppe in Windeln gewickelt in der Futterkrippe eines Stalls, umgeben von Ochs und Esel. Engelchöre jubi lieren und verkünden den Hirten [→191] der Umgebung die Geburt des Messias, was diese als Staunende an den Ort des Geschehens zieht. Nicht fehlen durften die Weisen aus dem Morgenland in ihren prächtigen Ge wändern samt buntfarbigem Gefolge. Die Flucht nach dem weit entfernten Ägypten wegen des bösen Herodes bildet wie immer den Schlussakkord auf der Bühne. Und als Dank für ihre mit vollem Herzblut gespielten Rollen oder als aufmerksame Zuschauer erhielten alle Kinder ein kleines
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Geschenk, offeriert vom Herrn Professor und angefertigt von der Pfarrhaushälterin Magdalena Brülisauer. Nach den Erzählungen von Frau Marilie Gartmann und von Herrn Bernhard Fürer trugen jene Kinder, die nicht an der Aufführung beschäftigt waren, ein kleines Gedicht vor versammeltem Publikum als Zugabe vor.
Eigentlich eine altbekannte Geschichte, doch immer wiederholt und neu erlebt. Was verbirgt sich da wohl dahinter? Eine entsprechende Ant wort findet seit einiger Zeit auch für mich immer mehr Zustimmung: Die Autoren der Bibel beschreiben Geschehenes und Erfahrenes bildhaft, wo bei in diesen bildhaften Geschichten auch schon immer die Deutung des beschriebenen Geschehens aus der Optik des Glaubens enthalten ist. Mit Genugtuung konnte ich später die beiden Kenner dieses Geschehens mit ihrer Literatur zur Kenntnis nehmen: H. R. Stadelmann: Im Herzen der Materie und Hubertus Halbfas mit seiner Streitschrift Kurskorrektur. Diese Ausgangslage hat C. G. Jung als Archetyp beschrieben, der im Prinzip jeder menschlichen Seele innewohnt und zu allen Zeiten eigen ist. Mythen und Legenden der Bibel wollen also gar nicht wortwörtlich ge glaubt, vielmehr erlebt, das heisst unbewusst erfahren werden. Als Beispiel dafür dient mir die Verkündigung von Maria Himmelfahrt [→204] im Jahr 1950 durch Papst Pius XII. als ein zu glaubendes Dogma der ka tholischen Kirche. Nun, ein Dogma ist keine ewige Wahrheit, vielmehr soll es wie ein Laternenpfahl gesehen werden, der an einer gewissen Stelle hoch aufragt inmitten einer Landschaft und als Wegweiser dient. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist jedem selber überlassen, ob er sich an diesem Pfahl den Kopf zerbeult oder ihn als Ausdruck der jeweiligen Zeit anerkennt. Diese Deutung habe nicht ich erfunden, sondern hörte sie anlässlich einer Vorlesung des von mir geschätzten Theologen Karl Rah ner [→218] SJ an der Universität Innsbruck.
C. G. Jung fand seine Ahnungen im Hinblick auf uralte Vorstellungen bestätigt und scheute sich nicht, zum Beispiel die Dogmatisierung von Maria Himmelfahrt (mit Leib und Seele) öffentlich zu würdigen. Dass da bei der Seelenforscher nicht allen Glaubensgeschwistern seiner Konfession aus dem Herzen gesprochen hatte, kann ich nachvollziehen.
Eine nachträgliche Unterstützung dieser Annahme konnte ich in der bemerkenswerten Schrift Das Tagebuch der Menschheit finden. Dort ist zu lesen: Streng monotheistisch sind im Grunde nur das Judentum und der Islam … und das Christentum wäre ja mit drei übernatürlichen Liebesob -
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jekten ausgestattet, mit Gott, Christus und Maria … Dem christlichen Gott stünden eine grosse Schar übernatürlicher Akteure zur Seite wie Jesus und Maria, Tausende von Heiligen und Engeln, Teufel und Dämonen. Da sei für jede Lebenslage das Passende dabei.
Eine besondere Reverenz an Carl Gustav Jung (1875–1961) stellt auch der Kulturbaukasten [→199] unter der Eisenbahnbrücke in Bollingen dar. Der Leser erfährt hier, dass die Yale University, New Haven, Connecticut, seit 1948 jährlich den bedeutenden Literaturpreis The Bollingen Prize for Poetry vergibt. – Ob sich das kleine Dorf bewusst ist, dass es sogar in den Vereinigten Staaten von Amerika kein Nobody ist?
Wunder-Welten können nicht nur bei Personen beobachtet werden, die in einschlägigen Kreisen beinahe weltbekannt sind, auch einheimi sches Schaffen am Obersee halte ich für wertvoll, festgehalten zu werden. Zu diesem zähle ich das Werk des feinfühlenden Gestalters und Malers Karl Bischof aus Schlins im Vorarlberg. Dort wurde er am 16. August 1942 geboren und wuchs in einer 14-köpfigen Bauernfamilie auf. Seine Vorfahren stammen aus der Gemeinde Sonntag im Grosswalsertal [→189]. Andere Verwandte kamen aus dem Südtirol in diese Gegend und brachten eine gesunde Mischung in die Nachkommenschaft. Dass sich in unmittelbarer Nähe die Probstei Sankt Gerold [→223] befindet, dürfte nicht ohne Einfluss auf die Bevölkerung ihrer Umgebung und auch auf ihn geblieben sein. Der gelernte Maurer liess sich in Feldkirch zum Po lier und Hochbauzeichner weiterbilden, wobei er seine Kenntnisse auch in der eigenen Familie bei den verschiedenen Geschwistern, die bereits eigene Unternehmen führten, nutzbringend einsetzen konnte. Mit 27 Jahren streckte Karl seine Fühler nach St.Gallen aus, worauf er auf An hieb eine Stelle beim Hochbauamt erhielt. Stets darauf bedacht, sich neue Fertigkeiten anzueignen, arbeitete Karl einige Zeit in einem Archi tekturbüro für Wohnbauten in Rapperswil. Sein definitiver Wohnsitz war 1973 in Jona, nachdem Anny Konrad aus Eschenbach seine Ehefrau geworden war und zwei Söhne und eine Tochter die elterliche Wohnung belebten.
Nebst seiner Arbeit im Büro besuchte Karl während zwei Jahren die Kunstgewerbeschule in Zürich und lernte dort unter anderem das Frei handzeichnen und die Kunst der Aquarell-, Holzschnitt- und Acryltechnik. Dank hervorragender Lehrmeister konnte der Künstler immer neue Varianten ausprobieren und seinen eigenen Stil entwickeln. Als Höhe -
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punkte seines künstlerischen Schaffens dürfen die Ausstellungen im St.Josefsheim in Schmerikon gelten, wo ausdrucksstarke Bilder seiner subtilen Wahrnehmung präsentiert wurden. Dabei riefen bei mir beson ders Aquarelle vom Dorf Bollingen, die Kirche Sankt Pankraz [→213] und die Kapelle Sankt Meinrad [→208], Bewunderung hervor. Ebenso fein fühlig zeigen sich Landschaftsbilder der Umgebung sowie im Engadin: Schafherden mit Begleitung in einer kargen Winterlandschaft. Heute lebt das Ehepaar in Eschenbach, und das Kunsthandwerk des ehemaligen Bauernsohns ist noch keineswegs erlahmt. Unterstützt durch seine Gat tin Anny kann der begabte Künstler Karl auf ein Lebenswerk zurückschauen, das nach meiner Ansicht einzigartig ist.
Bollingen, und damit auch Jona und Rapperswil, sind offenes Gelände am Wasser, und ihre Bewohner sind geneigt, sich nach grösseren Zentren auszurichten. Die Stadt Zürich ist ein eindrückliches Beispiel dafür. So führte mich eine zufällig aufgelesene Anzeige an einen Ort, wo ich mich sofort wohl fühlte: Auf einer Anhöhe liegt ein herrschaftliches Gebäude, eingebettet in einer lebendigen Natur mit ausgesuchten Bäumen und Pflanzen, das Museum Rietberg mit der Ausstellung Mystik – Die Sehn sucht nach dem Absoluten.
Ihr Reichtum an Bildern und Texten von Personen westlicher und öst licher Religionen liess mich erstaunen und löste spontan eine Kaskade weiterer Fragen und zögerliche Antworten aus. Woher kommen wir und wohin steuern wir? Und was bedeutet es, wenn plötzlich Wunder-Welten in einen gewöhnlichen Alltag hereinbrechen?
Dankbar, weil begeistert und bereichert durch so viele Neuigkeiten, drängte es mich, diesen Schatz nicht allein für mich zu behalten, ihn viel mehr einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Pfarreizentrum an der Friedhofstrasse in Jona bot sich die Gelegenheit, eine Zusammenfassung meiner Eindrücke in Wort und Bild vorzutragen. Dass davon einiges auf fruchtbaren Boden gefallen ist oder auch das Gegenteil be wirkte, nahm der Vortragende staunend oder verwundert zur Kenntnis. Doch eine Frau mit schneeweissen Haaren, funkelnden Augen und ele ganter Kleidung konnte wegen ihren klugen Fragen nicht übersehen werden: Frau Hildegard Zuppiger-Schlumpf [→237]. Bei privaten Gesprächen in ihrer hübschen Wohnstube, die eine nicht alltägliche Bibliothek auf wies, sass mir eine hochbetagte und weise Frau gegenüber. Die Unterhaltung drehte sich vor allem um die Literatur der schweizweit bekannten
Benediktinerin und Mystikerin Silja Walter [→235] im Kloster Fahr [→197]. Woher hat denn Frau Zuppiger, habe ich mich gefragt, ein solch literari sches Wissen, mir haushoch überlegen? Eine Antwort darauf habe ich erst später bekommen, vor allem durch ihre Notizen zur Vorbereitung des vierten Stadttalks «Freitags in der Fabrik». Aus einfachen Verhältnissen kommend verstand es Hildegard Zuppiger immer wieder, sich neues Wis sen durch Besuche von Kursen und Weiterbildungen anzueignen. Sie notierte zu ihrem ersten Lebensabschnitt: Halbtagesschule in Wagen, nur ein Lehrer, 3 Mädchen und 4 Knaben. Ich wollte eigentlich in einem Büro arbei ten, jedoch die Mutter hatte sich dafür eingesetzt, dass jedes ihrer Kinder einen Beruf erlernen konnte. Mit 15 Lehrbeginn als Damenschneiderin und Besuch der beruflichen Fortbildungsschule und mit wenig Schulbildung ohne Mühe mit den Rapperswilern durchgehalten. Mit dem Velo, bei jedem Wet ter, Dreck spritzte an die Beine, Störarbeit in der ganzen Umgebung. Mappe mit Schere, Winkelmass, Fingerhut, Centimeter, Bleistift, Papier und Mode journal, Massnehmen, Muster zeichnen, zuschneiden und ohne Pause bis Mittag nähen, zum Znüni Brot und etwas drauf; sofort nach dem Mittages sen weiter nähen bis abends sieben Uhr (für 4 Franken Lohn pro Tag). Die Eltern waren auf meinen kleinen Verdienst angewiesen. Daheim kleidete ich meine Schwestern in schöne Kleider. (Büsser, Barbara: Grossmutter und En kelin erzählen in der Fabrik, Südostschweiz, 1.9.2014.) Als erste Frau bestand Frau Zuppiger mit anderen Kolleginnen in Winterthur die Meisterprüfung im Schneiderberuf, denn bis anhin war sie eine Domäne der Männer. Dieser einigermassen friedliche Alltag wur de anfangs September 1939 durch die militärische Mobilmachung unterbrochen. Hildegard notierte dazu: Frauen müssen zum Teil Arbeiten der Männer verrichten. Alles wurde knapper. Man arbeitete Kleider um, weil es nur wenig neuen Stoff gab. Wut über den Maler Hitler und den Maurer Mussolini, Angst von Deutschland überrollt zu werden.
Allgemein ist bekannt, dass sich Adolf Schicklgruber (später Hitler genannt) anfänglich auch als Maler versuchte und der Maurer Benito Mussolini eine Zeitlang bei der Baufirma Froidevaux & Co. im Fischer mätteliquartier arbeitete und an der Cäcilienstrasse 20 wohnte (Wälti, Simon in der Zeitung Der Bund am 25.3.2010).
Es drängte die unternehmungslustige junge Damenschneiderin aus der Ostschweiz in den Westen, in bisher unbekannte Gegenden. Von da an war ihr Arbeitsort ein Haute Couture Atelier in Bern. Hier ent -

Hildegard Zuppiger-Schlumpf.
deckte sie eine neue Welt und begegnete auch sehr anspruchsvollen Kundinnen. Bundesratsfrauen und Künstlerinnen gaben einander die Türklinken in die Hand und erforderten volle Aufmerksamkeit. An den freien Tagen zog es die Land Lady immer wieder nach Hause. Weil die Bahn für sie zu teuer war, fuhr sie mit dem Fahrrad früh morgens um vier Uhr ab, durchs Emmental, und am Abend konnte sie wieder im eige nen Bett schlafen.
Den Wunsch, die französische Sprache zu erlernen, realisierte sie als Au-pair in Carouge, von wo aus sie das Theater in Genf besuchte, natür lich mit dem Velo. Unermüdlich hielt die lernfreudige Bauerntochter Ausschau nach neuen Herausforderungen, wobei auch Enttäuschungen nicht ausblieben: Ich wurde ausgenützt, mit den Kindern musste ich den Tag ver bringen, spazieren am Genfersee, zu Hause alles für die Kinder tun. Die Kinder waren frech, die Meistersleute auch nicht nett. Nein, das wollte ich auch nicht länger.
Zurück in der alten Heimat konnte Hildegard ihre Freude an der Ar beit täglich leben. Hin und wieder nahm sie ihre Geschwister mit nach Zürich und brachte ihnen die Schönheiten dieser Stadt nahe. Bis dann die entscheidende Wende eintrat und der wohl schon lang gehegte Wunsch in Erfüllung ging: Im Jahr 1950 gab ich die Stelle auf und heiratete am 31. Juli meinen geliebten Josef. Wir liessen uns in Jona nieder … ich gab Nähkurse etc. Es war eine harte Zeit für uns beide … krampfen, krampfen, hiess es. Doch wir freuten uns an unseren Kindern und waren glücklich.
Aus dem Gedenkbild dieser weisen Frau spricht ein erfülltes Leben: Hildegard Maria Sophie Zuppiger-Schlumpf, 7. Februar 1919 bis 25. Januar 2016.
Ich bin fest überzeugt – Ja! An dieser Stelle taucht bei mir die Frage auf, wo und wie WunderWelten einzuordnen sind? Sind sie ein Geschenk oder ein Störfaktor? Bei des, denn solche Phänomene erlebt jeder Mensch, wurde mir immer mehr zur Gewissheit.
Es muss ja nicht immer eine landesweit bekannte Ausstellung oder ein journalistisch brisantes Thema sein, damit eine neue Farbe im Mosaik er scheint. Auch jener kleine Fresszettel, der eines Tags auf dem Tisch der Sakristei lag, hat meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Da wurde mir auf einer Zeile bestätigt, dass eine Taufe stattgefunden hat. Punkt! Enttäuscht wegen der fehlenden Daten, die später als amtliches Doku ment für Erstkommunion, Firmung oder kirchliche Eheschliessung dienen sollten, begann die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Zum Glück war der Verursacher bald gefunden und aus dem kleinen Ärger hat sich ein neuer Horizont für den Metropoliten [→209] von Bollingen aufgetan. Denn im Anschluss an diese Lappalie besuchte dieser in seiner reich be messenen Freizeit Vorlesungen an der Theologischen Hochschule in Chur und erfuhr dort eine Menge Neues an Einsichten und Zusammenhänge. Am Schluss durfte der Schreibende aus den Händen von Bischof Amédée Grab [→187], Grosskanzler der Hochschule, das Lizentiatsdiplom in Kir chengeschichte nach Hause mitnehmen. War das vorauszusehen? Sicher nicht, aber umso erfreulicher für ihn.
Im Gegensatz zu meinem ersten Einstieg in die Gotteswissenschaft (Theologie) vor 60 Jahren in Mailand und Innsbruck überraschte mich doch die Art und Weise, wie dieses Studium heute in Chur betrieben wird. Und als Frucht dieses Abstechers ins bündnerische Zentrum habe ich zu sätzlich eine Zusammenschau meines bisherigen Lebens im Doppelband Erinnern [→179] festgehalten und mein Erstaunen darin in Anlehnung an Psalm 18 geschrieben: Du hast mich hinausgeführt ins Weite und deine Wunder mich schauen lassen.
Nun wieder zurück zur Ausstellung im Museum Rietberg. Entspre chend meiner Neigung, gewisse Beobachtungen nicht im stillen Kämmerlein für mich zu behalten, entstand der Vorsatz, meine Erfahrungen von Wunder-Welten in Buchform zusammenzufassen. Damit kann ich eine
breitere Öffentlichkeit Anteil nehmen lassen und sie vielleicht dafür auch begeistern.
In diesem Zusammenhang stiess ich auf einen wohlwollend-kriti schen Artikel der damaligen Rektorin und Professorin an der Theologischen Hochschule in Chur, Dr. Eva-Maria Faber [→180]. Sie stellte fest, dass Menschen der Neuzeit, die unter dem Wort Mystik einzureihen wä ren, in der Ausstellung im Rietbergmuseum vollständig fehlten. Von den Organisatoren wurde diese Lücke damit begründet, dass wegen der Über fülle an Material und der Vielfalt der modernen Lehrmeinungen zur Mystik eine Ausweitung bis in die Gegenwart unterlassen wurde. Frau Faber spornte mich an, auch Personen der jüngsten Vergangenheit in meine Sammlung aufzunehmen. Dankbar für den Hinweis und ihre hilfreichen Beispiele zog ich auch Personen und Phänomene in Betracht, die nicht unter das Stichwort Mystik fallen, auch Lyrik sollte einen breiten Platz be kommen. Auf der anderen Seite fragte ich mich, wo und wann die Menschen anfingen, Phänomene der von mir bezeichneten Wunder-Welten bildlich oder sprachlich auszudrücken. Bei diesen Überlegungen kamen mir spontan jene geheimnisvollen Bilder ins Gedächtnis, die ich als Ju gendlicher beim Buchklub Ex Libris [→180] erwarb und die mich bis zu den Höhlenbewohnern der Steinzeit führten. – Was sollen oder wollen die rätselhaften Zeichnungen an Decken und Wänden aussagen, die im 19. Jahrhundert im südeuropäischen Raum entdeckt wurden? Eine mögliche Antwort darauf im nächsten Kapitel.