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Schlagfertiges Handeln

Faessler erzählt in seinem Buch von einem Arzt, der auf Grund der Beschreibungen von Ebel das Appenzellerland aufsuchte und den Witz der Bevölkerung auf die Probe stellte:

Ein deutscher Arzt war mit einigen Damen in die Appenzeller Alpen gekommen. Er machte sich an ein paar Innerrhoder, um diese aufzuziehen und herauszufordern. «Welcher von euch macht mir das nach?», fragte er höhnisch, indem er mehrmals über einen Tisch sprang, um damit den zuschauenden Frauenzimmern und den einfältigen Bauern Eindruck zu machen. Die Appenzeller schienen verlegen. Endlich sagte einer, wenn der Tisch dort stände, wo jenes Heu liege, so wolle er den Sprung wagen, damit er sich im Fallen nicht wehtue.

Sogleich wurde der Tisch am gewünschten Ort hingestellt. «Macht es uns noch einmal vor, Herr!», wurde nun der Arzt von den Burschen aufgefordert. Er tat’s, und versank Augenblicke später in einer Grube mit Kuhmist, welche die Appenzeller unbemerkt mit Heu zugedeckt hatten.

Der Prahlhans fluchte wie ein Heide und begehrte Genugtuung. Da er aber ganz abscheulich aussah und stank, wollte sich ihm kein Mensch nähern. Zuletzt musste er froh sein, dass ihm das Sonntagswams eines Sennen angeboten wurde. Nachdem der Tisch wieder an seinem vorherigen Platz stand, sprangen alle Burschen mit Leichtigkeit darüber.

Das Appenzellerland als Paradiesgarten. Natürlich ist die Sicht der damaligen Schriftsteller einseitig, schwärmerisch und schönfärberisch. Das Buch von Ebel und viele weitere Werke anderer Reiseliteraten haben dem Tourismus starke Impulse verliehen und liessen viele ins gelobte Ländchen zwischen Säntis und Bodensee aufbrechen. Damals sind Fremdenverkehr (heute Tourismus) und Witz eine wohl einzigartige, bis heute anhaltende Symbiose eingegangen. Witz und Tourismus sind Geschwister, gehen Hand in Hand. Der Appenzeller Witzwanderweg hat dieses enge Miteinander erfolgreich reaktiviert und akzentuiert, was der anhaltende Besucherstrom klar belegt.

Kein Witz: Abfall wird zu Geld gemacht

Die Zeit der Appenzellerland-Begeisterung, ausgelöst von Reiseliteraten und dem Ruf «Zurück zur Natur!»

(das Zitat wird irrtümlich dem Genfer Kulturkritiker

Jean-Jacques Roesseau, 1712 – 1778, zugeschrieben), fällt in die Zeit der Romantik, in der die Molkenkuren ihre grosse Zeit erleben. Molke oder Schotte ist ein beim Käsen entstehendes Abfallprodukt. Die grünlich-gelbe, fast geschmack- und geruchlose Flüssigkeit besteht zu 94 Prozent aus Wasser und einem kleinen Rest Milchzucker. Sie wurde den Schweinen verfüttert. Alpsennen und Bauern haben sie auch getrunken und ihre Wirkung auf den Organismus sehr wohl verspürt: Der Stoffwechsel wird in Schwung gebracht, verbunden mit laxierendem Effekt. Weitere, oft gewünschte Wirkung bei längerer regelmässiger Einnahme ist der Verlust überflüssiger

Pfunde. Schon griechische Ärzte haben vor zweitausend Jahren die Heilkraft der Molken bei allerlei Verschleimungen der Atmungsorgane sowie zur Reinigung der Gedärme und des Blutes gerühmt. Warum also dieses hundertprozentige Naturprodukt nicht kurmässig einsetzen und damit Gäste für längere Aufenthalte in die romantisierte Sehnsuchtslandschaft beider Appenzell bringen? Als eigentlicher Erfinder, Pionier und erfolgreicher Vermarkter der Molkenkuren ist der legendäre und umtriebige Hans Ulrich alias Ueli Heim (1720 –1814), Gais, in die Geschichte eingegangen.

Sensationelle Wunderheilung

Man schrieb das Jahr 1749, als in Gais der schwerkranke Theodor Steinbrüchel aus Zürich eintraf. Die Ärzte hatten unheilbare Lungenschwindsucht (Lungentuberkulose) diagnostiziert. Steinbrüchel pilgerte von Arzt zu Arzt und klammerte sich an jeden Strohhalm. Der ebenfalls aufgesuchte Doktor Meyer in Arbon empfahl als letzte Möglichkeit eine Kur mit dem Gääser Wundertrunk Molke nach dem Motto «Nützt es nichts, so schadet es nicht». Der Patient nahm bei Heim im «Ochsen» Quartier. Mit Molke, Wasser- und Kräuteranwendungen und viel Bewegung an frischer Luft erholte er sich zusehends. Auch Heims Frohnatur war der Gesundheit förderlich, und mehr und mehr genoss der Patient auch das befreiende Lachen als beste Medizin. Jedenfalls bestieg er nach fünfwöchigem Aufenthalt beschwerdefrei den Gaiser Hausberg Gäbris. Der wohlhabende Steinbrü- chel hatte einen grossen Bekanntenkreis, und die sensationelle Wunderheilung verbreitete sich nach seiner Heimkehr wie ein Lauffeuer. Damit hatte Gais den Durchbruch zum anerkannten Kurort geschafft.

1780 wurde das Dorf Opfer einer verheerenden Feuersbrunst. Ueli Heim baute den «Ochsen» neu auf, der sich schon bald als zu klein erwies. 1796 errichtete Heims

Sohn Samuel (1764 – 1869) deshalb den Kurpalast «Neuer Ochsen» (das kuppelbewehrte Prachtsgebäude am Dorfplatz zeugt auch heute von der einstigen touristischen Hochblüte). Der alte «Ochsen» wurde später zum noch bestehenden Gasthaus «Falken». Der den herrschenden Vorstellungen von Modernität weitgehend entsprechende «Neue Ochsen» verzeichnete regen Zuspruch, zumal die französischen Besatzungstruppen in der Zeit der Helvetik (1798 – 1803) eine für damalige Verhältnisse leistungsfähige, von Kutschen bequem befahrbare Strasse von St. Gallen via Gais und Stoss nach Altstätten im Rheintal verwirklichten. Prominenz aus halb Europa gab sich nun bei Familie Heim ein Stelldichein und schlürfte nach einem strengen Kurplan von morgens bis abends Molke, ergänzt mit Wasser, verschiedenen Kräutertees und leichter Kost. Beste Reklame für das Hotel waren kurende Persönlichkeiten wie Louis Bonaparte, Ex-König von Holland, dessen Gattin Hortense de Beauharnais (Stieftochter von Kaiser Napoléon I.) und viele weitere adelige Herrschaften. Innerrhoder Molkenträger brachten die begehrte Kurflüssigkeit von den Alpen rund um den Seealpsee in Eilmärschen frühmorgens nach Gais. Ziegenmolken für innere, Kuhmolken für äussere Anwendungen wie Bäder und Wickel. Dann aber setzte ein unaufhaltsamer Niedergang ein, zumal namhafte Ärzte mehr und mehr Wert und Wirkung einer Molkenkur in Zweifel zogen. Mit dem studierten Arzt Johann Heinrich Heim (1802 – 1876) versuchte ein Enkel von Ueli mit Vorträgen und medizinischen Schriften vergeblich, an die guten alten Zeiten seines Grossvaters anzuknüpfen. Nach der Ära Heim verzeichnete der «Neue Ochsen» von 1864 bis zur Betriebseinstellung als Hotel im Jahr 1901 dreizehn verschiedene Wirte. 1920 wurde auch die Gastwirtschaft «Neuer Ochsen» aufgehoben.

Gais, ein gesundes Dorf

Zurück zur Gaiser Blütezeit, zu Ueli Heim, der in alten Quellen als lebhafter, rundlicher Mann mit roter Weste und Zipfelmütze geschildert wird. Er war ein schlagfer- tiges Original, das jeden verbalen Angriff mit der passenden Antwort quittierte. Diese Erfahrung machten seine Gäste immer wieder, und erneut ist es ein Besucher aus dem nördlichen Nachbarland, der zur Zielscheibe des harmlosen Spotts von Ueli Heim wird.

1977 wurde Gais für sein intaktes Dorfbild mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet.

En Tütsche ischt uf Gääs gko. Uf em schöne Dorfblatz lauft er vor em «Ochse» am legendäre Wirt, am Ueli Heim, über de Weg. De Gascht frooget, öb Gääs wüerkli e so e gsonds Dorf sei, wiemme da bi ene im Tütsche uss all wider gkhööri. «Jo defriili, da schtimmt. Bi üüs hobe isch rondomm alls gsond, da kamme säge.»

Etz seid de Tütsch e kli vo obenabe: «Rundum gesund?

Das kann jeder sagen. Ich will Beweise, Herr Wirt!»

«Joo, do wär emol üseri gsond Luft ond natüürli d Schotte.» De Gascht römpft d Nase ond määnt: «Gesund Luft? Molke? Kein schlagender Beweis!» «Joo,

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