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Die Wetterwarte
Nr. 2 Besichtigung der Tatorte, Aufnahme des Tatbestandes und Bergung der Leichen auf dem Säntis
1)Bericht von Eugen Moser, Polizeichef von Appenzell Ausserrhoden Herisau, den 28. Februar 1922.
An die Polizeidirektion
APPENZELL I.-RH. In der Nacht vom 25./26. ds. wurde der Unterzeichnete von Herrn Prof. Dr. A. de Quervain namens der Schweiz. Meteorologischen Zentralanstalt Zürich ersucht, bei der Tatbestandes-Aufnahme in dem angenommenen Doppelmord auf dem Säntis mitzuwirken.
Diesem Ersuchen wurde für den Fall, dass kein kompetentes Untersuchungsorgan anwesend sein sollte, entsprochen, wie auch aus dem Grunde, dass bezüglich des Fundesortes der einen Leiche unter Umständen auch der Kanton Appenzell A.-Rh. in Frage kommen könnte.
In Begleitung der Herren Prof. de Quervain und Dr. med. Eggenberger, Spitalarzt in Herisau, welch letzterer sich für die Vornahme der Legalinspektion zur Verfügung gestellt hatte, verfügte sich der Unterzeichnete am Morgen des 26. ds. nach Wasserauen. Dort trafen wir die aus 15 Mann bestehende Hilfskolonne, sowie die Landjäger Koch in Appenzell und Waldburger in St.Gallen zum Abmarsch bereit. Da kein Untersuchungsorgan anwesend war, schloss sich der Unterzeichnete mit den genannten Herren der Hilfskolonne an, welche um 5 Uhr aufbrach. Der Weg führte bei ziemlich guten Schneeverhältnissen über Seealp, Messmer, Wagenlücke nach dem Säntis, welcher von der letzten Partie ewas vor 12 Uhr erreicht wurde.
Beim Aufstieg beobachteten wir eine vom Säntis gegen den Grünbühl führende schmale Skispur, die sich in einer Mulde verlor und die unzweifelhaft vom letzten Besucher des Säntis herrührte.
Im Beisein von Landjäger Koch nahm der Unterzeichnete um 12.30 Uhr den Tatbestand auf, nachdem demselben eine kurze Besichtigung der Tatorte vorausgegangen war. Dabei musste konstatiert werden, dass bei einem Tatorte bereits Veränderungen vorgenommen worden waren, die eine genaue Wiedergabe des wirklichen Tatbestandes zum Teil verunmöglichten. An dieser Verunmöglichung trägt die viertägige Gefangenhaltung des Hundes im Bureau bei der einen Leiche die Hauptschuld, indem dadurch der wirkliche Tatbestand durch die angerichtete Unordnung – Herunterzerren von Gegenständen, Umwerfen der Stühle usw. – eine derartige Verände-
rung erlitt, dass diese anfänglich den Anschein eines schweren Kampfes zwischen Opfer und Täter erwecken musste, während nach meinen Feststellungen ein solcher Kampf nicht stattgefunden haben konnte. Da eine Rekonstruktion des Tatbestandes ausgeschlossen war, konnten sich meine Feststellungen nur auf diejenigen Punkte beschränken, welche einer Veränderung nicht unterworfen waren.
Tatbestand In südlicher Richtung von der Gipfelpyramide, in einem Abstand von 22,70m, vermutlich auf der Grenzscheide der Kantone Appenzell I.-Rh. und St.Gallen, liegt eine Mannsleiche in Bauchlage auf dem Schnee, die rechte Gesichtshälfte zum Teil mit Schnee zugedeckt, beide Oberarme rechtwinklig vom Körper abstehend, die beiden Unterarme spitzwinklig gegen den Kopf abgebogen, beide Hände zu Fäusten geballt links und rechts am Kopfe und die Beine auseinander gespreizt. Auf dem linken Handrücken ist ein zirka 4 cm langer waagrecht verlaufender Blutflecken zu konstatieren. Am linken Ringfinger befindet sich ein gelber Ehering. Eine Kopfbedeckung findet sich bei der Leiche nicht vor. (Die Kopfbedeckung, eine graue Skimütze, wurde in räumlicher Entfernung westwärts vom Tatort auf dem Schnee, wohin sie vermutlich vom Winde getragen worden war, gefunden.) Die Leiche ist bekleidet mit einem dunkeln, blau passepolierten Uniformrock mit Rückengürtel und zwei gelben Metallknöpfen, einer dunkeln Hose, braunen Wadenbinden und schwarzledernen mit Bergnägel versehenen Schuhen. Im Rock auf dem Rücken ist ein kleines Loch zu konstatieren. – Der Schnee oberhalb der Schädelgegend und bei der rechten Gesichtsseite weist eine rötlich-gelbe Färbung verlorenen Blutes auf. – Anderweitige Spuren sind zufolge des Neuschnees keine festzustellen. – Die Leiche wird identifiziert mit Haas, Josef Heinrich, Wetterwart, von Appenzell, geb. 13. Sept. 1886, Ehemann der Maria Magdalena geb. Räss.
In dem im Parterre des Observatoriums gelegenen Bureau, zwischen Telegraphenapparat und Stehpult, liegt auf dem Boden unterhalb des südlichen Kreuzstockes mit der Wand zugekehrtem Rücken, den Kopf westwärts auf einem tellerartigen Absatz des Stickrahmenstockes, den linken Arm über den rechten gekreuzt und dem Bureauinnern zustreckend, die Hand etwas geöffnet und die Beine rechtwinkling angezogen, ein weiblicher Leichnam. Am rechten Ohrläppchen ist ein gelber Ohrring sichtbar; am rechten Ringfinger ein gelber Ehering. Die Leiche ist bekleidet mit einer die Ärmel einer grauen Bluse freilassenden blauen, schwach weiss-getüpfelten Ärmelschürze mit ziemlich grossem Dreiangel unterhalb der rechten Hüfte, einem schwarzen Umlauf, von welchem ein cirka 7 cm breiter Rand
sichtbar ist, braunen Strümpfen und Holzbodenschuhen mit schwarzem Oberleder. Auf dem Boden beim Kopfe der Leiche ist eine grössere Blutlache noch schwach sichtbar. (Diese muss vom Hund aufgeleckt worden sein.) Der Inhalt eines Nähkörbchens – Knöpfe, Näh- und Stricknadeln, Woll- und Garnknäuel, Messer, Scheren usw. – liegt auf dem Boden zerstreut umher; desgleichen liegt eine angefangene Stickarbeit mit am Faden hängender Nadel unter zwei umgestürzten Stühlen, der Stickrahmen, vollständig zerbissen, liegt unter dem Tisch vor dem Sopha des östlichen Kreuzstockes. Vom Sopha selbst ist der Überzug teilweise heruntergrissen. An dem in der südöstlichen Ecke stehenden Telegraphenapparat fehlen die Kontaktstöpsel für den Apparat und das Telephon. Im Apparat ist ein neuer Streifen eingesetzt, der nur wenige telegr. Zeichen enthält. Neben dem Apparat liegt auf leeren Telegrammformularen ein folgendermassen beschriebenes Formular:
NO: 62 AD Wörter 7 Aufgegeben: 21.02.1922 13 Uhr 37 Min. Telegraphist Haas Obs. Zürich 56366 4457 602 000 1626
An der südöstl. Wand hängt ein Regulateur, dessen Zeiger um 4,52 Uhr stillgestanden sind. Unterhalb der rechten Regulateurecke, 1,09 m ab Boden und 17,5 cm in gerader Linie von der senkrechten Fensterkante, befindet sich die Einschlagstelle eines Geschosses in einem Durchmesser von 7,8mm. Ein Projektil findet sich in derselben nicht vor. Dasselbe, ein Kupfermantelgeschoss, vermutlich von einer Browningpistole, mit einem Kaliber von 7,65 mm wird auf dem Boden liegend gefunden und zu amtshanden genommen. Hinter dem Rücken und beim Gesäss der Leiche liegen drei Bücher zerstreut am Boden. An der südwestl. Wand über einem Stehpult hängt ein Abreisskalender mit dem Datum: 21. Februar / Dienstag. Weitere Spuren sind, da, wie bereits erwähnt, der Tatbestand vor unserem Eintreffen durch Aufräumungsarbeiten! teilweise verändert worden ist, keine zu konstatieren.
Der Leichnam wird mit Haas geb. Räss Maria Magdalena, Ehefrau des Heinrich, Wetterwarts, von Appenzell, geb. 13. Juli 1891, identifiziert. … Nach der Aufnahme des Tatbestandes und erfolgter photogr. Aufnahme der Tatorte durch Landjäger Waldburger nahm Herr Dr. Eggenberger die Legalinspektion vor. Diese ergab sowohl bei Haas als auch bei dessen Ehefrau Schussverletzungen, die den sofortigen Tod der beiden zur Folge haben musste.