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Als Standort für ein Observatorium auserkoren
ebenfalls um die freigewordene Stelle des Wetterwarts beworben hatte, war mit ihm beinahe ein halbes Jahr lang auf Berge gestiegen. Man darf ihn nicht allein lassen, er müsse einen Kameraden zur Seite haben, der quasi das Rückgrat sei. Leuzinger war von tiefer Religiosität geprägt und überzeugt, dass nur Gott Kreuzpointner helfen und dieser einen Einblick in die göttliche Gnade bekommen könne. Aber sein Herz blieb wie dasjenige des Pharaos (Ex 7 ff.) verstockt.117 Etwas komisch mutet an, dass sich in Kreuzpointners Kittel, den er jeweils bei einem seiner Vermieter, einem Schneider, in Ordnung bringen liess, ihn aber nicht abgeholt hatte, ein Rosenkranz befunden haben soll.118
Albin Leuzinger hinterlässt in seinen bruchstückhaften Schriften auch Eindrücke zu Kreuzpointners Charakter. Speziell aufgefallen ist ihm ein ausgeprägtes ichbezogenes Verhalten – er sah seinen Worten zufolge in eine Hölle von Ichsucht hinein – und eine eisige Gleichgültigkeit. Bergunerfahreren Menschen in grosser Not dürfe seiner Meinung nach nicht geholfen werden, da sie in den Bergen nichts zu suchen haben, weswegen man sie verrecken lassen soll. Vorrang hatte beim ihm stets die Erfüllung seiner Kletterwünsche. Wer nicht mit ihm, dem grossen Könner und Bergführer, einigermassen mithalten konnte, galt als Versager.
Stets zeigte er sich als ein trockener Mensch, nur nicht in ihm angenehmen Unterhaltungen wie beispielsweise bei Kletterthemen. Oft hielt er es auch nicht genau im Umgang mit der Wahrheit, sogar gegenüber seiner Geliebten, was in ihr Misstrauen weckte. Es tauchen auch Begriffe wie geheimnisvoll, rätselhaft und undurchschaubar auf.119 Auch ist die Rede von einem Hochstapler ersten Rangs.120
Der Doppelmord auf dem Säntis
Mögliche Motive des mutmasslichen Täters
Um wie bis anhin seinen Lebensstil weiter zu führen und seine Schulden loszuwerden, beabsichtigte Gregor Kreuzpointner die Übernahme eines Schuhmachergeschäfts von einem arbeitsmüden Mann. Den Akten zufolge dürfte er vor seinem letzten Aufstieg auf den Säntis bereits in Verhandlungen gewesen sein. Erwähnt werden nach der Mordtat als Übernahmebedingungen 200 Franken als Anzahlung und 350 Franken als Restsumme.121 Eine grosse Summe, die ihm niemand leihen wollte. Hinzu kommen in Romanshorn gemachte Schulden, die zu tilgen waren, sonst würde mit Betreibung gedroht. Auch die laufenden Lebenskosten waren zu decken. Ohne diese zu kennen, dürfte sich der Betrag auf 600 Franken belaufen haben. Unklar ist, wie hoch seine bisherigen Schulden waren und wie der Stand des gegen ihn hängigen Konkursverfahrens war. Wohl hatte er keine Kenntnis davon, dass inzwischen das Strafverfahren gegen ihn wegen unerlaubter Selbsthilfe mangels Beweisen eingestellt worden war, er aber die Untersuchungskosten zu bezahlen hatte und bei Nichtbezahlung eine Gefängnisstrafe drohte.122 Kurzum: Kreuzpointner benötigte eine grosse Summe Geld. Nur bestand für ihn das grosse Problem darin, dass ihm praktisch niemand mehr grössere Beträge leihen wollte. Wer war schon bereit, für ihn sein eigenes Geld aus dem Fenster zu werfen?
Eine grosse, vielleicht seine letzte Hoffnung setzte er auf seinem Lieblingsberg in Wetterwart Heinrich Haas. Interessant ist die am 25. Februar 1922 bei der Stadtpolizei St.Gallen gemachte Aussage des Gefangenenwarts Johann Anton Rimensberger, wonach seine zwei Töchter etwas aufgeschnappt hatten und dies seiner Meinung nach in Zusammenhang mit den Ereignissen auf dem Säntis stehen könnte. Der wegen Eigentumsdelikten mehrfach vorbestrafte Emil Langenegger, wie Kreuzpointner von Beruf Schuhmacher und als Säntisbesteiger bekannt, befand sich finanziell in einer ganz schlechten Lage. Er soll sich dahingehend geäussert haben, dass er nächstens auf den Säntis gehe und ganz gut bekannt im Hause vom Wetterwart sei. Dem fügte er noch bei, Haas sei reich. Ferner konnte in Erfahrung gebracht werden, dass er sich kürzlich auf dem Säntis als Feriengast aufgehalten haben soll. 123 Langenegger und Kreuzpointner dürften sich aufgrund ihrer
Säntis-Begeisterung vielleicht gekannt haben. Ob ersterer deswegen und wegen seinen Charaktereigenschaften ein Komplize des Letzteren war? Wohl eher nicht, da er nicht mehr in den Untersuchungsakten erwähnt wird. Jedoch muss Kreuzpointner bekannt gewesen sein, dass die Eheleute Haas-Räss wohlhabend waren, der Posten des Wetterwarts auf dem Säntis eine sehr gut bezahlte Stelle war und der Ehemann, wie schon erwähnt, als grosser Menschenfreund galt. Ein weiterer Hinweis auf den Reichtum des Wetterwart-Ehepaars lässt sich im Sektionsprotokoll der Leiche der Ehefrau finden. Erwähnt wird dort eine Zahnprothese in ihrem Oberkiefer, was sich damals sicher keine armen Leute haben leisten können und wohl viel Geld gekostet haben dürfte.124
Die genauen Motive Kreuzpointners werden, da er nach seinen begangenen Mordtaten Suizid begangen hat, für immer ein Rätsel bleiben. Aufgrund von Hinweisen in den Akten und in überlieferten Schilderungen können nur Mutmassungen angestellt werden. Ob auch Neid auf die ihm entgangene Stelle des Wetterwarts eine Rolle gespielt hat, wie heute immer in Gesprächen zu vernehmen ist, dürfte angesichts seiner schwierigen Situation, für die er doch eine Lösung suchte, eher unwahrscheinlich gewesen sein. Durchaus aber möglich ist, dass Neid zu einer Eskalation vor der ersten Mordtat beigetragen hat. Kreuzpointner könnte vielleicht Haas, weil er ihm wohl nicht zu helfen gewillt war, in der Hitze des Gefechts vorgeworfen haben, dass er, obwohl nichts dafür könnend, wegen der Wahl zum Wetterwart schuld an seiner misslichen Lage sei. Dass er eine Pistole mit deformierter Munition auf sich trug, scheint darauf hinzuweisen, dass er sein Ziel notfalls durch Waffengewalt erreichen wollte und sich der zerstörerischen Wirkung der zu verwendenden Geschosse durchaus bewusst war. Diese hatte er wohl selbst hergestellt.125
Zu seinem Aufenthalt vor dem Aufstieg auf den Säntis
Unklar ist, wo sich Gregor Kreuzpointner nach Verlassen seiner Arbeitsstelle in Romanshorn (10. Februar) und vor seinem letzten Aufstieg auf den Säntis (16. Februar) aufhielt. Die Angaben in den Untersuchungsakten und in Zeitungsartikeln widersprechen sich. Gut möglich ist, dass er, um seine Probleme zu vergessen, in die Berge ging. Einer Zeitungsmeldung zufolge hauste er am 14. Februar am Fusse des Alpsteins, in der Clubhütte Schwizerälpli unterhalb des Öhrlis:
Er war sehr erstaunt, dort zwei Mitglieder des Alpsteinclubs zu treffen. Er war mit
Skiern ausgerüstet und hatte als Proviant nichts bei sich als ein Bürli. Touristen, die ihn zum Mittagessen einluden, fiel das lästige Benehmen des Fremden auf.126
Auch soll er in Schwende den Säntisträger angetroffen und ihm erklärt haben, dass er auf den Säntis zu gehen gedenke. Trifft dies zu, dürfte er damals noch keine Mordabsichten gehegt haben, ansonsten hätte er sein Vorhaben kaum so ohne weiteres preisgegeben.127 Der Vorgänger seines in Konkurs geratenen Geschäfts, Johann Kaspar Feusi, war sich ziemlich sicher, dass er sich im «Weissbad» aufhalte.128 Einer schriftlich fixierten Überlieferung zufolge soll er dort sogar vor seinem Aufstieg auf den Säntis mit Direktor Bardy sowie zwei Personen mit den Initialen B.K. und A.K. gejasst haben.129 Interessant bezüglich Datum und Aufenthalt ist die Aussage von Feusis Ehefrau, die sie am 27. Februar als Zeugin vor der Staatsanwaltschaft gemacht hat:
Donnerstag, den 16. Februar 1922 Abends kam er, wie er sagte, von Romanshorn her, zu uns. Er hatte viele seiner Effekten immer noch bei uns. Er zog an diesem
Abend (16. Februar) mit Ski und Rucksack aus, aber ausnahmsweise mit dem
Ueberzieher. Er sagte, er gehe in die Berge. Vom Säntis sprach er nicht.130
Der Vollständigkeit halber sollen hier noch Kreuzpointners eigene Angaben erwähnt werden: Gegenüber seiner Geliebten hat er am 23. Februar gesagt, er habe den letzten Sonntag (19. Februar) auf Pizol zugebracht, wie auch noch einige weitere Tage. 131 Damals muss zwischen ihnen noch ein gewisses Verhältnis bestanden haben, von einer Auflösung dieser Beziehung kann jedenfalls entgegen anderslautenden Meldungen und Aussagen nicht die Rede sein. Zudem gibt es in den Akten keine Anhaltspunkte für das Gerücht, wonach sie auf dem Säntis beim Wetterwarte-Ehepaar Erkundigungen über ihn eingezogen und sie sich aufgrund dessen Aussagen von ihm getrennt haben soll.
Sein möglicher Aufstieg auf den Säntis
Aufgrund der mutmasslichen Motive muss Kreuzpointner daran gelegen sein, möglichst sicher auf den Säntis zu gelangen. Wahrscheinlich dürfte er, weil pleite und nicht viel im Magen, eine schnelle Route für sein Ziel, wo er sich satt essen und erholen kann, gewählt haben. Als bewährter Säntisbesteiger verfügte er über die geeigneten Kenntnisse bezüglich einer solchen Routenwahl.
Am ehesten in Frage kommen dürfte, auch die damaligen widrigen Schneeverhältnisse und die grimmige Kälte berücksichtigend, eine solche über den Mesmer: Auf Seealp hat man vor dem Aufstieg an der Roten Platte nach links Richtung Felsen zu gehen, entlang und nahe an diesem weiter zu marschieren, dann hinter dem Mesmer zur Fehlalp, links hinauf zum