"Show!" - Der Audioguide zum Nachlesen

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201 Kateryna Lysovenko, TheBigEnd , 2022

Seit Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine dokumentiert die ukrainische Künstlerin Kateryna Lysovenko Gewalt und Leid. Der Krieg zerstört nicht nur Lebewesen, sondern auch die Landschaft. Und verwundete Landschaft, so

Lysovenko, schafft neue Verletzte. Die Menschen in diesem Bild sind jedoch Teil einer erträumten Wirklichkeit, in der sie untereinander und mit der Natur im Einklang leben. Ein Traum, in dem weder Propaganda noch Unterdrückung oder Zerstörung existieren.

Lysovenko beschäftigt sich schon lange mit dem sogenannten „Landschaftstrauma“.

Die Natur ist enormen Belastungen ausgesetzt und wird nur allzu oft achtlos zerstört. Auch andere Bilder hier zeigen verschiedene Formen menschlicher Inbesitznahme der Natur Lysovenko meint, dass der Krieg dieses bereits vorhandene Landschaftstrauma intensiviert Er verwandelt die Landschaft in eine Grabstätte.

202 Johann Nepomuk Schödlberger, ArkadischeLandschaftimAbendlicht , ca. um 1812

Idyllisch, friedlich, unberührt, so schaut diese Landschaft aus. Die Bezeichnung „arkadische Landschaft“ bezieht sich auf die griechische Provinz Arkadien, die als Hirtenidylle verklärt wurde. Es scheint so, als würden die Arkader als zufriedene und glückliche Hirten zusammenleben, ohne schwere Arbeit oder gesellschaftliche Probleme, in völliger Harmonie mit der Natur. Darstellungen wie diese wurden zum Sinnbild für die Flucht aus der Realität – die Flucht an einen imaginären Ort, an dem die Sorgen der Welt fern sind. Stattdessen bestimmen dort Frieden und Einfachheit das Leben. Hier finden sich noch viele weitere Landschaftsdarstellungen. Heute weiß man, dass es in der Kunst nie eine rein lineare Stilentwicklung gegeben hat. Innerhalb einer tendenziellen Entwicklung gab es immer wieder beides: idealistische und realistische Annäherung an die Landschaft Die eine schließt dabei die andere nicht zwangsläufig aus. Sie wechseln sich ab, überlappen sich häufig und entwickeln verschiedene Ausprägungen und Typen. Diese existierten oft innerhalb desselben Zeitraums oder sogar innerhalb des Schaffens von nur einem Künstler oder einer Künstlerin.

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203 Marie Egner, BlühendesMohnfeldinderSteiermark , ca. um 1896

„… wie anregend doch das Gewöhnlichste sein kann“, schreibt die 18-jährige Marie Egner in ihr Tagebuch. Durch die starke Untersicht des Bildes haben wir als

Betrachter*innen beinahe das Gefühl, gemeinsam mit der Künstlerin am Wegesrand zu sitzen. Hinter den Mohnblumen im Vordergrund, einem ihrer bevorzugten Motive, erheben sich im Hintergrund Dächer und ein Kirchturm. Weiter vorne am Weg spaziert eine Frau mit weißem Sonnenschirm. Marie Egner war eine Vertreterin des sogenannten österreichischen Stimmungsimpressionismus. Die Stimmungsimpressionist*innen lösten sich von einer allzu detaillierten Darstellung der Natur. Stattdessen wollten sie die Lichtwirkung und Atmosphäre eines bestimmten Augenblicks in der Natur festhalten. Dazu malten sie ihre Bilder häufig im Freien. „Ich denke, dass ich es nie über die Mittelmäßigkeit bringen werden, weil die natürliche Veranlagung der Weiber nicht schöpferisch ist“, befürchtet Marie Egner im Alter von 24 Jahren Doch Egner sollte 90 Jahre alt werden und sich selbst und uns beweisen, dass diese Befürchtung unbegründet war! Sie engagierte sich stark für die Emanzipation weiblicher Künstlerinnen in einer seit Jahrhunderten von Männern bestimmten Kunstwelt.

204 Hamish Fulton, Bloodontheroad , 1989

Einen Fuß vor den anderen. Immer und immer wieder. Manchmal nur ein paar Tage, andere Male mehrere Wochen lang wandert Hamish Fulton durch die Welt. Seine Wanderungen führten ihn bislang nicht nur auf alle fünf Kontinente, sondern sogar auf die Spitze des Mount Everest. Fulton sieht sich selbst ganz in der Tradition der (britischen) Landschaftsmalerei – allerdings verwendet er neue Ausdrucksmittel. Er interessiert sich für die körperlichen und emotionalen Erfahrungen, die er in der Landschaft macht. Da diese Erfahrungen vergänglich sind, hält er sie in Form von Schwarz-Weiß-Fotos und schriftlichen Aufzeichnungen fest. Fulton will die Natur nicht benutzen oder respektlos behandeln, sondern mit seinen Bildern die ursprüngliche und unmittelbare Beziehung des Menschen zur Erde zum Ausdruck bringen. Wir

Betrachter*innen sollen durch sie einen Zugang zu Fultons Erinnerungen an die jeweilige Landschaft bekommen

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205 Herbert Boeckl, Erzberg , 1942

Steirer*innen erkennen ihn sofort, den Berg mit den charakteristischen Stufen: Es ist der Erzberg in Eisenerz. Herbert Boeckl hat mit diesem Gemälde eine seiner bekanntesten Darstellungen geschaffen. Wie sein Vorbild Cézanne mit dem Mont

Sainte-Victoire, hat Boeckl am Erzberg in einigen Bildern erprobt, wie Licht und Farbe Form und Raum bestimmen können. Er hat mit seiner Kunst jedoch nicht die Nachahmung der Natur abgestrebt, sondern ihre Verwandlung. Als das Bild 1942 entstand, war der Berg schon lange eine Industrieruine. Noch heute werden dort 2 bis 3 Millionen Tonnen Erz pro Jahr abgebaut. Zusätzlich ist der Berg Austragungsort von Freizeitevents Das Bild entstand zu einer Zeit, als Boeckl sich größtenteils aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, um mit seiner Kunst nicht in das Blickfeld der Nationalsozialisten zu geraten. Auch die Teilnahme an Ausstellungen war ihm kaum mehr möglich. 1942 trat er, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, der NSDAP bei. Die folgenden Jahre konnte er überstehen, indem er sich unauffällig verhielt. In seiner Kunst finden sich jedoch keinerlei Zugeständnisse oder Anklänge an das NS-Regime. Auch das Bild des Erzberges ist frei von jeglicher nationalsozialistischen Ideologie oder Propaganda. Viele Jahre hing es im Büro des steirischen Landeshauptmanns. Wie der Berg selbst, wurde auch Boeckls Bild zum Symbol nationaler Identität und Erinnerung.

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, 1944

„Je älter ich werde, desto mehr spüre ich meine Verbundenheit und Verwachsenheit mit dem Heimatboden.“„(…) meine heimatlichen Landschaften (…) sind keine lieblichen Landschaftsbilder mit allen Zufälligkeiten des Naturvorbildes, sondern herbe Gestaltungen, die groß und einfach gesehene Gleichnisse für ein Stück heimatlicher Natur sein wollen.“ Diese „Heimatverbundenheit“ Karl Maders wurde von den Nationalsozialisten hochgeschätzt. Angeblich hat auch Adolf Hitler besonderen Gefallen an ihm gefunden. Im „Dritten Reich“ war jede Kunst verboten, die nicht dem Ideal der Nationalsozialisten, der sogenannten Deutschen Kunst, entsprach. Jüdische und kommunistische Künstler*innen sowie all jene, die Kunst schufen, welche die Nationalsozialisten als „entartet“ bezeichneten, wurden verfolgt. Zuerst erhielten sie Berufs- und Malverbote, dann wurden sie zur Emigration gezwungen oder ermordet. Ihre Werke wurden aus den Museen und öffentlichen Sammlungen entfernt Vieles wurde auch zerstört. Während das Bild der Riegersburg auf den ersten Blick unverfänglich zu sein scheint, zeigen anderer Werke ganz eindeutig Karl Maders

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nationalsozialistische Gesinnung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beteuerte er in einem Brief an den österreichischen Bundeskanzler Leopold Figl, dass er all das nur getan hätte, um weiterhin malen zu können.

207 Maria Lassnig, StilllebenmitrotemSelbstporträt , 1969

Auf den ersten Blick unterscheidet sich dieses Bild hinsichtlich seines Inhaltes kaum von den anderen Stillleben im Raum. Doch wie der Titel bereits verrät, zeigt es zugleich ein Selbstporträt. Maria Lassnig verbindet hier ihre Lust an der Welt und den Dingen mit ihrem Körper-Bewusstsein. Das Körper-Bewusstsein – oder Body Awareness – war für Maria Lassnig ein zentrales Thema. Es beschreibt die Beziehung zwischen dem Körper und dem Selbst. Der Körper wird dabei zum Ausdrucksträger emotionaler und physischer Zustände und Erfahrungen. Tatsächlich sehen wir jedoch nur einen Teil: den Mund. Immer wieder zerstückelt Lassnig in ihren Bildern den eigenen Körper, macht ihn für uns in Teilen erfahrbar. Doch dieses Zerstückeln ist nie grausam. Es geht ihr nicht um Verletzungen oder Schmerz, sondern darum, dass ihr aktuelles Körperempfinden nicht den gesamten Körper auf einmal umfassen kann. So spürt sie den Mund ganz anders als das Handgelenk. Daher nimmt Lassnig ihren Körper einfach auseinander, lässt große Teile mitunter ganz weg. Wir können ihre Bilder auch als Einladung verstehen, uns mit unserer eigenen Körperlichkeit und den damit verbundenen Empfindungen und Erfahrungen auseinanderzusetzen.

208 Marie Baselli, Blumenstillleben , 1910

Man kann sie förmlich riechen, die weißen Hortensien, denen Marie Baselli auf der Leinwand Untersterblichkeit verliehen hat – für immer festgehalten im Moment ihrer größten Pracht. Das Stillleben, gemeinhin als Darstellung regungsloser Gegenstände verstanden, galt lange Zeit als niedrigste Gattung in der Hierarchie der Künste. Diese wurde von den Kunstakademien festgelegt und reihte die Gattungen unter anderem nach ihrem moralischen Wert. Darstellungen von Gegenständen wurde zudem lange keine oder nur wenig schöpferische Leistung zugesprochen. Und zu schöpferischer Leistung war der akademischen Ansicht nach lange Zeit übrigens nur ein Mann in der Lage, nicht aber eine Frau Dennoch wurde das Stillleben auch als Möglichkeit genutzt, das eigene künstlerische Können zu demonstrieren. So auch Marie Baselli: Mit der Beleuchtung von hinten durch den Vorhang setzt sie einen außergewöhnlichen Akzent und stellt ihre malerischen Fähigkeiten unter Beweis.

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Weibliche Kunstschaffende mussten sich in der von Männern bestimmten Kunstwelt ihren Platz genauso erkämpfen wie Frauen auch überall sonst in der Gesellschaft. Künstlerinnen wie Marie Baselli fristen zum Teil noch heute ein Schattendasein. Dank einer Schenkung aus ihrem Nachlass befinden sich einige ihrer Bilder in der Sammlung der Neuen Galerie Graz. Doch nur ganz wenige wurden bis jetzt restauriert und ausgestellt.

209 Peter Weibel, Stilllebenfürdas20.Jahrhundert , 2011

Die strikte Trennung in die klassischen Gattungen und ihre Hierarchie untereinander sind heute längst Geschichte. Doch wir finden immer wieder Bezüge und Referenzen. Peter Weibel schuf in diesem Werk, so verrät uns der Titel, ein Stillleben für das 20. Jahrhundert. Die Repräsentation der Dinge, die wir in den gemalten Stillleben im Raum sehen, wird hier zugunsten der Realität des Objekts aufgegeben. Damit wird das traditionelle Stillleben nicht nur neu interpretiert, sondern geradezu weiterentwickelt. Aktuelle Themen und Fragen finden in aktuellen Materialien und Techniken ihren Ausdruck. Ein Symbolgehalt, der schon immer im Stillleben enthalten war, ist nun präsenter denn je.

Peter Weibel spielte auch für die Neue Galerie Graz und ihre Sammlung eine bedeutende Rolle. Viele Jahre bestimmte er das Konzept und die Ausrichtung der Institution als langjähriger Chefkurator und kurzzeitiger Leiter entscheidend mit.

210 Rudolf Alt, Graz, Landhaushof , 1890

Das Bild gewährt uns einen Blick in längst vergangene Tage. Man sieht den Hof des Grazer Landhauses gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist eines von mehr als 1.000 Aquarellen, die Rudolf von Alt gemalt hat. Doch das Bild erzählt auch eine andere Geschichte – eine Geschichte des Leids, der Ungerechtigkeit und des Versuchs, Schuld zu begleichen. Einst gehörte das Bild dem jüdischen Kunstsammler Albert Pollak, dessen Sammlung 1938 von der Gestapo beschlagnahmt und auf verschiedene Museen verteilt wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen Museen beschlagnahmte Objekte zu restituieren, das heißt, zurückzugeben. Doch die

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Geschichte dieses Bildes macht deutlich, dass auch vor Betrug nicht zurückgeschreckt wurde, um zahlreiche Objekte behalten zu können. 1951 tat man zuerst so, als kenne man die Herkunft des Bildes nicht, obwohl sie eindeutig den damaligen Inventarbüchern entnommen werden konnte. Dann erpresste man die Erb*innen mit der Freigabe anderer zur Ausfuhr gesperrter Gegenstände, wenn sie unter anderem dieses Bild dem Museum überlassen. Erst im Jahr 2021, nach langer Suche der heute noch lebenden Erbfolger*innen, konnte das Bild zurückgegeben werden. Diese boten es in weiterer

Folge im Auktionshaus zum Verkauf an, wo es das Joanneum ersteigern konnte. Zum ersten Mal wird es hier nun rechtmäßig ausgestellt.

211 Alfred Zoff, StadtanderRiviera , 1897

Ein wunderbarer Blick auf eine Stadt an der Riviera: rauschendes Meer, salzige Luft und Laternenlichter, die sich dezent im Wasser spiegeln Der in Graz geborene Künstler

Alfred Zoff hatte offenbar eine Vorliebe für Landschaften.

Sein besonderes Interesse galt Freilicht- und Wolkenstudien, wozu er sich eigens ein Atelier mit Glas überdachen ließ. So konnte er die Wolken genauestens beobachten und unterschiedliche Stimmungen zu jeder Tageszeit malerisch wiedergeben Einige Fotografien belegen auch, dass Zoff seine Skizzen gerne im Freien gemacht hat. So wahrscheinlich auch für diese Abendstimmung an der italienischen Küste, bei der die lila Wolken langsam mit dem Hintergrund verschwimmen.

Alfred Zoffs Werke erfreuen sich damals wie heute großer Beliebtheit: Sie verbinden Alltägliches mit künstlerischem Können, ohne kitschig zu sein Selbst Kaiser Franz Joseph, der nicht gerade als sachkundiger Kunstliebhaber in die Geschichte eingegangen ist, soll dieses Bildes so gerne gehabt haben, dass er es gekauft hat. Als Leihgabe ist es nun in der Sammlung der Neuen Galerie Graz

212 Egon Schiele, Stadtende , 1918

Egon Schiele befasste sich in vielen Bildern mit der südböhmischen Stadt Český Krumlov/Krumau, der Geburtsstadt seiner Mutter. Ihn scheint vor allem die mittelalterliche Architektur interessiert zu haben. Manche Bilder entstanden vor Ort, andere malte er in Wien aus dem Gedächtnis. Wenn man dieses Bild betrachtet, während man den Kopf auf die rechte Schulter legt, und dabei die Bäume rechts im Bild

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ansieht, erkennt man etwas Überraschendes: Hier versteckt sich tatsächlich ein Gesicht. Schon länger kennt man ein Porträt auf der Rückseite des Bildes, doch erst 2011 hat man in der Restaurierungswerkstatt des Joanneums herausgefunden, dass das Porträt eigentlich auf die Vorderseite gemalt wurde. Auf der Rückseite sieht man nur den Farbdurchschlag. Der Kopf versteckt sich hinter den darüber gemalten Bäumen, die Arme wurden zu Häuserreihen umgestaltet und das Anzugrevers zur Stadtmauer. Noch ein zweites Geheimnis konnte offenbart werden: Heute nicht mehr sichtbar, befindet sich unter den Farbschichten ein weiteres Porträt. Schiele malte hier mit großer Sicherheit eine Vorstudie zum Doppelporträt seines Sammlers Heinrich Benesch und dessen Sohn Otto. Während Otto gänzlich übermalt wurde, diente Heinrich als Grundlage der Architektur der Stadtlandschaft. Wie viele Bilder in der Ausstellung verbergen wohl noch (solche) Geheimnisse?

Start spreadin' the news

I'm leavin' today

I want to be a part of it: New York, New York.

1933 legte ein Schiff im Hafen von New York an. An Bord war der Grazer Künstler Wilhelm Thöny. Die Weite und Großartigkeit der Stadt, die er auf den ersten Blick noch vom Schiff aus sah, beeindruckten ihn tief. Zurück in Paris, wo Thöny zu dieser Zeit gerade lebte, malte er zahlreiche Bilder von New York. Manche nach Skizzen, die er noch in der Stadt angefertigt hatte, andere aus seiner Erinnerung. Immer wieder ging es um den ersten Eindruck dieser Metropole, die so ganz anders ist als alle anderen Städte. Das Malen aus der Erinnerung gibt den Bildern einen distanzierten, staunenden Blick und eine emotionale Note. New York wirkt auf Thönys Bildern visionär und poetisch. Die charakteristische Skyline der Stadt, wie wir sie auch in Thönys Bildern sehen, erfuhr am 11. September 2011 einen erschütternden Verlust, der für immer unser Bild von New York prägen sollte. Der Film von Tony Oursler auf der gegenüberliegenden Wand dokumentiert den Flugzeug-Anschlag auf das World Trade Center und die unmittelbaren Folgen danach. Ourslers Film ermöglicht uns eine sehr unmittelbare und persönliche Perspektive auf die Ereignisse dieses schicksalhaften Tages. Er filmte von seiner Wohnung aus, die nur wenige Blocks entfernt war, sowie vor Ort in Lower Manhattan. In den folgenden Tagen nahm Oursler die Reaktionen der Menschen auf

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213 Wilhelm Thöny, NewYork– Riverside , 1933–36

Zwei Dinge, von denen John Baldessari meint, dass eine Beschreibung deren unmittelbare Erfahrung nicht ersetzen kann: Auf der linken Seite die brennende

Zeremonienhalle des jüdischen Friedhofs in Graz, die im November 1938 in Brand gesteckt wurde; auf der rechten Seite die berühmte gotische Doppelwendeltreppe in der Grazer Burg. Dieses Plakat war eine Auftragsarbeit des Grazer Kunstvereins im Jahr 1988. Baldessari erforscht damit die Diskrepanz zwischen dem, was wir erleben, und dem, was wir beschreiben oder erklären können. Damit verdeutlicht er die Komplexität menschlicher Wahrnehmung und Kommunikation. Wie so oft in seiner Kunst, bringt Baldessari hier zwei Bilder ins Zwiegespräch, denn – so sagte er selbst – sobald man zwei Dinge zusammengibt, entsteht eine Geschichte. „Wenn du zwei Dinge betrachtest, schaue nicht auf sie, sondern zwischen sie (…) Der Raum zwischen zwei Dingen ist sehr wichtig.“

215 Georg Eisler, Belfast(Straßenkampf),1971

Ein erbitterter Straßenkampf: Auf der einen Seite sieht man Demonstrierende, die mit Steinen werfen. Auf der anderen Seite die Polizei – übermächtig und anonym, hinter Visieren und Schutzschildern versteckt. Immer wieder stellt Georg Eisler die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Übermacht des Staates dar. Die einzelnen Figuren werden dabei zur anonymen Masse. Eisler beschäftigte sich intensiv mit der Gesellschaft und den Menschen um ihn herum. Er malte verschiedenste Szenen des Lebens in der Stadt wie den Trubel des Nachtlebens oder Demonstrationen und andere politische Ereignisse. Als Vorlage verwendete er dafür häufig Pressefotos. Einiges erlebte er auch selbst mit, denn als Flüchtling vor dem Austrofaschismus lebte er in den 1930er- und 1940er-Jahren in Moskau, Prag und England. Dieses Bild sollte eine schreckliche Vorahnung sein: Nur wenige Wochen nach seiner Entstehung kam es 1971 im irischen Derry zu einem Massaker des britischen Heeres an unbewaffneten Zivilist*innen. 14

Personen starben und der Tag sollte als „Blutsonntag“ in die Geschichte eingehen

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214 John Baldessari, (Twothings)betterexperienced/difficulttodescribe , 1988

216 Vera Lutter, Kunsthaus , 2003

Vera Lutter interessiert sich für urbane Räume. Ihr Medium ist die Fotografie, im Speziellen die Camera Obscura: In einem abgedunkelten Raum mit einem kleinen Loch belichtet die Künstlerin das Fotopapier direkt mit den Szenen der Außenwelt. Die Bilder werden ohne Negativ hergestellt und sind nicht reproduzierbare Einzelstücke. Dieses Foto zeigt ein besonderes Gebäude auf der rechten Murseite – es ist das Kunsthaus Graz mit seiner biomorphen Architektur. Durch den fotografischen Prozess werden die Farben umgekehrt, der Himmel erscheint schwarz und die charakteristische blaue Haut des sogenannten Friendly Alien wird plötzlich weiß. Durch dieses Verfahren zeigt Vera Lutter ein völlig neues und ungewohntes Erscheinungsbild einer uns mittlerweile sehr vertrauten Architektur. Als das Bild entstand, im Dezember 2003, war das Kunsthaus gerade einmal zwei Monate alt und wurde intensiv diskutiert. Heute ist es einer der wichtigsten Orte für Kunst in Graz.

217 Johann Gualbert Raffalt, ZigneunermädchenmitKrugimArm, ca. um 185561

Hier in der Rotunde begegnen uns viele unterschiedliche Menschen. Doch wer sind sie? Johann Gualbert Raffalt zeigt Darstellungen von Kindern, die stereotype Zuschreibungen der Rom*nja–Gemeinschaft transportieren. Sie stammen aus einer Zeit, in der die sogenannte Orientmode ihren Höhepunkt erreichte Über das Meer in arabische Länder zu reisen, war ein aufwendiges Unterfangen, weshalb es viele österreichische Künstler*innen stattdessen in das nahe gelegene Ungarn zog Von Wien aus war es mit der Eisenbahn gut zu erreichen. So wurden die ungarische Landschaft und ihre Bewohner*innen zu Stellvertreter*innen für alles Ferne und Exotische. Auch Raffalt unternahm einige Studieneisen nach Ungarn und wurde sogar als „Pusztamaler“ bezeichnet Seine Gemälde machen oft einen religiösen Anschein und vermischen romantisierende Abbildungen der Rom*nja mit Vorstellungen vom Heiligen Land.

Auch Gustav Seyfferth zeigt auf seinem eindrucksvollen Gemälde, an der Wand rechts zu sehen, einen verklärten Blick auf die nomadisch lebenden Rom*nja:

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Eine Zirkusfamilie unternimmt eine beschwerliche Reise durch den bitterkalten Winter. Dabei legt der Künstler einen besonderen Fokus auf das Licht, das die individuellen Gesichter der Menschen und deren Attribute wie die orientalischen Tiere oder ihren kostbaren Schmuck besonders hervorhebt.

218 Tina Blau, Szolnok , ca. um 1873/74

Eine erdige Straße, bäuerliche Gebäude, Wolken am Himmel und der Rauch aus dem Schornstein zeichnen ein stimmungsvolles Bild. Auch die Gänse scheinen sich hier wohlzufühlen. Tina Blau zeigt in diesem Bild die ungarische Stadt Szolnok, in der im 19. Jahrhundert eine Künstler*innen-Kolonie ansässig war. Die sogenannte Szolnoker Malschule verwandelte dort die ungarische Landschaft in orientalisch anmutende Szenen Tina Blau reiste erstmals 1872 nach Szolnok Anders als Johann Gualbert Raffalt stellt sie die Landschaft ins Zentrum ihrer Kunst und blickt hier distanziert auf die Stadt

Wie Marie Egner gehört sie zum Kreis der österreichischen Stimmungsimpressionist*innen. Für Frauen war es damals sehr schwierig, in der Kunstwelt Fuß zu fassen. Zu dieser Zeit durften sie noch nicht an Kunstakademien studieren. Tina Blau schrieb sich dennoch in den kunsthistorischen Kanon ein: Sie machte Studienreisen, konnte ihre Kunst in Ausstellungen zeigen und gründete 1897 mit anderen eine eigene Kunstschule für Frauen und Mädchen in Wien, in der sie auch selbst unterrichtete.

219 Shirin Neshat, ohnteTitel , 1995

Wir sind hier konfrontiert mit einer Figur, die völlig von einem dunklen Tuch verhüllt ist – lediglich ihre Hand bleibt sichtbar. Sie hält einen Jungen an der Hand, dessen nackte Haut mit floralen Ornamenten geschmückt ist und der uns unmittelbar anblickt. Sehen wir eine Mutter mit ihrem Kind? Die iranische Künstlerin Shirin Neshat kann uns mit ihrer Fotografie aus der Reserve locken, lässt aber auch einiges offen. Schon lange beschäftigt sie sich mit der westlichen Sicht auf muslimische Frauen, zugleich wirft sie aber auch einen kritischen Blick auf ihr Heimatland. Sie selbst hat den Iran im Alter von

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17 Jahren verlassen, um in den USA Kunst zu studieren. Als sie zurückkehrte, war das Land völlig verändert. Im Zuge der Islamischen Revolution 1979 wurde die Scharia als Gesetzesgrundlage eingeführt: Frauen und andere marginalisierte Gruppen werden seitdem in allen Lebensbereichen unterdrückt In den letzten Jahren spitzte sich die Situation immer weiter zu und erreichte im September 2022 einen Höhepunkt: Die kurdische Iranerin Jina Mahsa Amini ist in Polizeigewahrsam verstorben, nachdem sie wegen eines angeblich falsch sitzenden Kopftuches von der Sittenpolizei festgenommen und misshandelt wurde. Dies führte zu lautstarken Protesten im Iran und zu Solidaritätsbekundungen auf der ganzen Welt.

Neshats Fotografie ist hier ein Kontrastpunkt zu den stereotypen Bildern des 19. Jahrhunderts aus europäischer Perspektive. Wie viel hat sich geändert? Können wir unsere eigenen Vorurteile und Zuschreibungen überwinden?

220 Adel Dauood, TheLastSupper

, 2018

Ein großformatiges, buntes und doch düsteres Acrylbild strahlt uns entgegen. Die fragmentierten Figuren, die sich vor dem dunklen Hintergrund befinden, sind schwer erkennbar. Gesichter verschwimmen, angedeutete Gliedmaßen lassen manche Formen als Menschen erahnen. Das Bild ist so, wie der Künstler seine Erinnerungen beschreibt: voller Farbe, Gewalt und verbrannter Erde.

Adel Dauood ist in Syrien geboren und studierte in Damaskus am Institut für bildende Künste Schon bevor er im Jahr 2013 nach Österreich kam, war er inspiriert von der Kunst der Wiener Moderne, speziell von Egon Schiele Wie bei Schiele tragen auch die Figuren von Adel Dauood ihr Inneres nach außen Für ihn ist die Malerei eine Art innerer Monolog, in dem Erfahrungen zu Themen wie Krieg, Flucht und Einsamkeit zum Vorschein kommen. Dauoods Bilder erzählen auch von seinen eigenen Erfahrungen, doch geht es ihm darum, Kunst zu machen, nicht Politik „Die Malerei ist für mich eine Art rebellische Reaktion auf Schmerz und Grausamkeit“, so der Künstler.

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„Ich mag es, Szenen zu finden, die Teil des Lebens sind, des Alltags von jemandem, und ich wähle Orte, die mich interessieren“, sagt der chinesische Künstler Liu Xiaodong.

Einer dieser Orte ist das steirische Eisenerz Mitten im Ort stellt er seine riesige

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Liu Xiaodong, TreesGrowingoutofSwimmingPool , 2012

Staffelei auf und beginnt zu malen. Es entstehen zwei großformatige Bilder, wovon wir eines hier sehen In Trees Growing out a Swimming Pool zeigt er ein überwuchertes Schwimmbecken, das er tatsächlich so vorgefunden hat. Im Hintergrund schaut vorsichtig der charakteristische Erzberg hervor. Herbert Boeckl hat ihn bereits 70 Jahre zuvor gemalt. Bis heute wird dort Erz abgebaut, die Arbeit übernehmen mittlerweile aber Maschinen. Auch die Krise in der Eisen- und Stahlindustrie trägt dazu bei, dass die Eisenerzer Bevölkerung immer weiter schrumpft. Liu Xiaodong interessiert sich für den Alltag der Menschen um ihn herum. Er hält in seinen Bildern landschaftliche Veränderungen und gesellschaftlichen Wandel fest. Dafür taucht er mitunter tief in das jeweilige Umfeld ein. In Eisenerz war das die österreichische Volkskultur: Xiaodong besuchte unter anderem ein Dorffest und lauschte dort der örtlichen Blasmusikkapelle.

222 Susanne Wenger, Yemojá(DieMutterdesmächtigenOrishaShangoineiner inzestuösenSituation) , um 1958

Hier ist ein großer Batikstoff zu sehen. Die Batik ist in der sogenannten Kasava-Technik gestaltet. Dabei werden auf einen Stoff mit heißem Wachs aufwendig Muster aufgetragen und dieser anschließend mit dem natürlichen Pflanzenfarbstoff Indigo gefärbt. Susanne Wenger erlernte diese Technik in Nigeria, wo sie 60 Jahre lang lebte. Sie wurde 1915 in Graz geboren. In Österreich wurde ihre Kunst missverstanden und zur Zeit des Nationalsozialismus als „entartet“ bezeichnet. Während des Zweiten Weltkrieges war Wenger aktiv im Widerstand, später ging sie nach Paris und anschließend nach Oshogbo. Im stark von seiner Kolonialgeschichte geprägten Nigeria hat man Wengers Kunst hingegen sehr geschätzt. Sie tauchte tief in die Yoruba-Kultur ein, setzte sich für ihre Religion ein und wurde sogar zur Priesterin. Gemeinsam mit lokalen Künstler*innen gestaltete sie den Heiligen Hain der Göttin Osun in Oshogbo, der mittlerweile UNESCO-Weltkulturerbe ist. Auf der hier gezeigten Batik beschäftigt sich Susanne Wenger genauer mit der Yoruba-Mythologie. Zu sehen ist Yemoja, die Mutter des Donnergottes Shango, in einer inzestuösen Situation. Mit dem eigenen Bruder verheiratet, den Sohn in sexueller Begierde verfolgend, verwandelt sich die Göttin in einen Fluss. Bis heute inspiriert Wenger mit ihrem bemerkenswerten Lebensweg viele, unter anderem auch den beninischen Künstler Romuald Hazoumé

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223 Romuald Hazoumé, Chefdevillage , 2013

„Von Afrikanern erwartet man, dass sie Masken machen, also mache ich Masken“, sagt

Romuald Hazoumé. Ganz bewusst nimmt der beninische Künstler stereotype Vorstellungen über den Kontinent Afrika aufs Korn. Afrikanische Masken sind beliebte

Sammelobjekte, die als exotisch und fremd wahrgenommen werden. Viele Sammler*innen ignorieren dabei den ursprünglichen Gebrauch der Maske. An den Wänden von weißen Kunstsammler*innen sind diese Objekte aus ihrem Kontext gerissen. Die Maske wird als Kunstwerk für sich betrachtet, doch als solches ist sie eigentlich nicht gedacht. Sie erfüllt ihren Zweck nur mit den dazugehörigen Elementen Kostüm, Tanz und Musik. Traditionellerweise werden Masken nach ihrem Gebrauch gar nicht weiter aufbewahrt. Diese nach dem westlichen Kunstverständnis zu konservieren, widerspricht jeder ursprünglichen Intention oder dem eigentlichen Umgang mit ihnen. Hazoumé bricht hier mit einer weiteren europäischen Vorstellung. Die hier gezeigte Maske besteht nicht aus Holz, sondern aus alten Kanistern, Gießkannen und anderem Müll. Der Künstler verweist damit auf die Klimakrise, die ebenso stark in Verbindung zu kolonialer Ausbeutung steht.

224 Ferdinand Georg Waldmüller, Mutterglück , 1857

Mutterglück, so heißt diese Szene des wohl bekanntesten österreichischen Biedermeierkünstlers Ferdinand Georg Waldmüller. In der Biedermeierzeit wandte sich die Kunst dem Alltäglichen zu. Im Zentrum standen die Familie und das sprichwörtliche häusliche Glück. Die kleineren Bildformate bezeugen, dass die Werke damals mehr für das Eigenheim und weniger für museale Räume geschaffen wurden. Häufig bezeichnet man Bilder wie dieses als Genremalerei. Wir sehen die intime Momentaufnahme einer Mutter mit ihren drei glücklichen Kindern. Der Stil ist, typisch für Waldmüller, naturgetreu, sodass das Bild fast wie eine Fotografie anmutet In seinen Porträts strebt Waldmüller nie geschönte Darstellungen an, sondern versucht eher den Charakter der Personen hervorzuheben. Doch war diese Szene wirklich so idyllisch, wie sie zu sein scheint? Oft neigen wir dazu, soziale Missstände eher zu verdrängen als aktiv zu kritisieren. So war es auch im Biedermeier: Künstler versuchten, bessere Zeiten zu imaginieren. Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung bleiben eher versteckte

Bildthemen Vielmehr wird hier die scheinbare Idylle des Privaten propagiert.

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225 Mimmo Paladino, OhneTitel(Totentanz) , 1981

Kein Mensch bleibt vor dem Tod verschont. Der italienische Künstler Mimmo Paladino zeigt uns

einen sogenannten Totentanz, ein Motiv, das es schon seit dem Mittelalter gibt.

Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters, Standes und Berufs tanzen mit dem Tod. Der Tod wird dabei oft als Skelett mit Sense und Sanduhr verkörpert. Der Totentanz veranschaulicht die Vergänglichkeit des Lebens und die Tatsache, dass vor dem Tod alle Menschen gleich sind, egal wie arm oder reich, alt oder jung, bekannt und unbekannt, gut oder böse sie sind – niemand kann ihm entkommen. Gleichzeitig ist der Totentanz eine Aufforderung, die Zeit auf der Erde gut zu nützen: Paladinos Bild ist in diesem Raum von Darstellungen des heiteren Lebens umgeben

Paladino wurde erstmals 1992 in der Neuen Galerie Graz im Zuge der Trigon-Biennale gezeigt. Die Trigon-Biennale wurde 1963 in Leben gerufen und präsentierte bis 1995 aktuelles Kunstschaffen aus Österreich, Italien und dem ehemaligen Jugoslawien –später auch aus weiteren Ländern.

226 Katrin Plavcak, FromKainistoKanoisandback

, 2018

Katrin Plavcak erzählt uns hier eine Geschichte aus der griechischen Mythologie. Die Geschichte, wie sich die schöne Kainis in den starken Kainois verwandelte – und wieder zurück. Kainis war ein schönes Mädchen, das beim Spazierengehen am Strand vom Meeresgott Poseidon vergewaltigt wurde. Auf ihren eigenen Wunsch wurde sie daraufhin in einen starken Mann verwandelt, damit ihr so etwas nie wieder passiert Sie wurde zu Kainois. Kainois wollte auf einer Hochzeit eine bedrängte Frau beschützen und geriet dabei in einen Kampf mit Kentauren. Diese stampften ihn zu Boden und Kainos fand sich in der Unterwelt wieder – zurückverwandelt in ein Mädchen Genau diese Szene zeigt uns Plavcak in ihrem Diptychon. Auf der linken Seite sehen wir den bärtigen Kainois, wie er vom Kentauren in den Boden gestampft wird. Rechts sickert von oben die verwandelte Kainis in die Unterwelt, die wiederum – rechts oben – durch den Fährmann Charon dargestellt wird. Wie die Geschichte ausgeht, bleibt offen Plavcak kombiniert in dieser grausamen Szenerie mehrere Erzählstränge miteinander, wie es auch in Mythen der Fall ist. Sie gewann mit diesem Werk 2020 den KlinkanPreis, der einmalig von der Neuen Galerie Graz im Rahmen einer Ausstellung des Künstlers Alfred Klinkan vergeben wurde.

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227 Friedrich von Amerling, JulievonWoyna , 1832

Verträumt schaut Julie, die junge Gräfin von Woyna, in die Ferne. Friedrich von Amerling hat ihre jugendliche Schönheit – sie ist auf dem Bild 21 Jahre alt – festgehalten. Neben Ferdinand Georg Waldmüller war Amerling einer der angesehensten österreichischen

Porträtmaler des Biedermeiers. Ab 1828 malte er primär Angehörige des Kaiserhauses, des Adels und des wohlhabenden Bürgertums. So wie Fotos heute oft digital nachbearbeitet werden, waren auch die Porträtisten des 19. Jahrhunderts darauf bedacht, ihre Modelle möglichst vorteilhaft aussehen zu lassen. Das Gesicht der Gräfin strahlt förmlich, sie hat rote Wangen und zarte Haut. Ihre Haare hat sie zu einer modischen Frisur geflochten und hochgesteckt, sie trägt zarten Schmuck und ein geschmackvolles Kleid aus teuren Stoffen mit enger Taille und weiten Keulenärmeln. Das Porträt lässt keinen Zweifel zu: Die Gräfin war eine modebewusste, wohlhabende Frau. Nicht nur ihr Aussehen deutet darauf hin, sondern auch der rote Stoff im Hintergrund Adelige ließen sich gerne vor einem roten Vorhang porträtieren – ein

Detail, das den Herrscherporträts der Zeit nachempfunden wurde. Übrigens ist Julie von Woyna für die Gemäldesammlung des Universalmuseums Joanneum von großer

Bedeutung: Sie vermachte dem Museum 155 Gemälde, darunter auch dieses hier.

228 Friederike Koch-Langentreu, Rückenakt,NacktesMädchenvorKamin , 1900

Friederike Koch-Langentreu gewährt uns mit ihrem Rückenakt einen äußert intimen Einblick. Es ist eine der wenigen von Frauen gemalten Aktdarstellungen in der Sammlung der Neuen Galerie Graz. Warum? Weil Frauen an den Kunstakademien erst um 1920 zu den Aktzeichenklassen zugelassen wurden. Um 1900 durften sie an der Wiener Akademie zwar als nackte Modelle arbeiten, aber selbst aus

„Sittlichkeitsgründen“ nicht am Unterricht teilnehmen.

So fand das Studium für Frauen oft im privaten Umfeld statt, was sich auch in den Bildern von Friederike Koch-Langentreu widerspiegelt. Oft malt sie Frauen und Mädchen, häufig aus der eigenen Familie, bei häuslichen Arbeiten. Die Porträtierten werden oft in stillen Momenten gezeigt, in denen sie in sich versunken lesen oder träumerisch aus dem Fenster blicken.

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Das nackte Mädchen hier wendet sich von uns ab und stützt sich am Kamin Es loht sich, dieses Bild mit den Aktdarstellungen von Männern (z. B. Gustav Klimt oder Egon Schiele) in diesem Raum zu vergleichen Erkennen Sie den Unterschied?

229 Günter Brus, Aktionszeichnungen, 1966

1992 präsentierte die Neue Galerie Graz erstmals eine große Werkauswahl von Günter Brus und den Wiener Aktionisten Zu dieser Zeit besaß die Neue Galerie gerade einmal 4 Zeichnungen von Brus. Dies sollte sich in den kommenden Jahren ändern: Heute finden wir in der Neue Galerie zu seinen Ehren das BRUSEUM, das 2008 gegründet wurde und sein facettenreiches künstlerisches Schaffen beleuchtet

Günter Brus, bekannt als Mitbegründer des Wiener Aktionismus, hat als Pionier der Body Art international Kunstgeschichte geschrieben. Besonders seine Aktionen, in denen er seinen Körper ins Zentrum der Kunst stellte, sorgten für große Aufregung. Diese Aktionen wurden von ihm zeichnerisch vorbereitet, begleitet oder weiterentwickelt. Hier sieht man einige dieser Aktionszeichnungen, die nicht zufällig ganz in der Nähe der Zeichnungen von Gustav Klimt und Egon Schiele hängen. Brus und auch seine Zeitgenossen des Wiener Aktionismus waren große Bewunderer der Künstler der Wiener Moderne. Die Parallelen zwischen Wiener Moderne und Wiener Aktionismus sind unverkennbar. Schon in der Wiener Moderne setzten Künstler ihren eigenen Körper mit all seinen Aspekten, gerade auch mit seiner Verletzlichkeit, ins Zentrum ihrer Kunst. Der Wiener Aktionismus erweiterte diese Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper um die Selbstverletzung – spürbar und real. Brus trieb die Grenzen des Aushaltbaren für sich und das Publikum mit der Zerreißprobe auf die Spitze und beendete damit 1970 die Zeit seiner Aktionen. Zeichnen sollte er hingegen bis zu seinem Tod im Februar 2024.

230 Robert Zeppel Sperl, Idylle , 1970

Als Idylle wird in der Kunst traditionellerweise eine verklärte Darstellung vom Leben am Land bezeichnet, in der der Mensch im Einklang mit der Tierwelt und der Natur lebt. Der Titel dieses Werks ist also trügerisch: Trotz bunter Farben und üppiger Blumenwiese ziehen düstere Wolken am Himmel auf Wir wissen nicht, was den drei Figuren passiert ist. Auch die Rolle der Bestie im Hintergrund bleibt rätselhaft. Robert Zeppel-Sperl

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zeigt hier leidende und verletzte Körper Anders als seine Zeitgenossen, die Wiener Aktionisten, von denen er hier umgeben ist, bleibt er bei der figurativen Malerei. Seine künstlerische Ausdrucksweise steht im Zusammenhang mit der Hippiebewegung der 1970er-Jahre Hippies haben sich gegen die Gräueltaten im Vietnamkrieg eingesetzt und für Umweltschutz und die sogenannte sexuelle Revolution stark gemacht.

Abstrakte Kunst interessierte Zeppel-Sperl weniger: „Ich erzähle in meinen Bildern zwar auch viel, aber das sind Erzählungen ohne Worte. Ich bin immer noch der Meinung, dass ein Bild ein Bild ist, und die Geschichte, die ein Bild beinhaltet, muss das Bild selbst erzählen.“

231 Sophie Calle, Lalamederasoir , 1988

„Ich stand jeden Tag von 9 Uhr bis 12 Uhr nackt Modell in einer Zeichenklasse. Und jeden Tag saß da ein Mann in der ersten Reihe, zu meiner linken Seite, der mich drei Stunden lang zeichnete. Punkt 12 Uhr würde er ein Rasiermesser aus der Tasche ziehen und die Zeichnung zerschlitzen, die er gemacht hatte. Ich würde ihm dabei zuschauen. Dann würde er den Raum verlassen. Die Zeichnung würde auf dem Tisch als Beleg liegen bleiben. Dies wiederholte sich täglich über zwölf Tage. Am dreizehnten Tag ging ich nicht mehr zur Arbeit.“

Sophie Calle spielt in ihren inszenierten Kunst-Stücken oft selbst die Hauptrolle Der Text erzählt die Geschichte, die vergrößerte Fotografie der zerschnittenen Zeichnung dient als Beweis Doch die Künstlerin lässt gerne die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion verschwimmen. Ob wahre Geschichte oder frei erfunden, dieses Werk geht buchstäblich unter die Haut. Die metaphorische Gewalt des Zerstörungsaktes wird real.

Diese Arbeit erzählt auch von dem Wagnis, das Künstler*innen eingehen, wenn sie sich selbst ins Zentrum ihrer Arbeit rücken. Auch Exhibitionismus und Voyeurismus spielen dabei eine Rolle.

Sophie Calle macht sich hier selbst angreifbar: Sie zeigt sich völlig nackt und ist uns Betrachter*innen schutzlos ausgeliefert.

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232 Alex Katz, FourWomeninPink , 2005

Schon allein durch ihre Größe erinnern die Porträts von Alex Katz an Werbetafeln und Plakatwände. Katz malt in hellen Farben und einfachen Formen. Seine Bilder sollen sofort ins Auge springen. Die porträtierten Frauen sehen flächenhaft, fast schablonenartig aus. Ihr Gesichtsausdruck ist auf das Wesentliche reduziert, ähnlich wie auf Werbeplakaten oder in Modekatalogen. Und doch malt Katz immer wieder konkrete Modelle, wie zum Beispiel seine Frau Ada und seine Tochter Vivian, die er rund 200-mal porträtierte. Es geht ihm nie darum, das Innenleben einer Person wiederzugeben, denn das sei ihm zu sentimental. Daher finden wir auch keine Notlagen, schwierigen Situationen oder andere Missstände in seinen Bildern dargestellt. Stattdessen konzentriert sich Katz auf die unbeschwerten Seiten des Lebens, mit dem Wunsch, pure Lebensenergie in seinen Bildern zu vermitteln.

Auch bei Kiki Kogelnik sehen wir maskenhaft stilisierte Gesichter. Die Figuren erscheinen dadurch anonym und auswechselbar. Kogelnik bediente sich ganz bewusst weiblicher Klischees aus der Medienwelt und kritisierte damit deren propagierte Schönheitsideale.

233 Richard Kriesche, datenwerk:mensch, genetischesporträt7 , 2001

Hier ist das Porträt einer Person zu sehen Um wen es sich dabei handelt, ist nicht einfach zu erkennen: Wir sehen ein Selbstporträt des Künstlers Richard Kriesche. Das verrät die Beschreibung am linken unteren Bildrand: „genspur richard kriesche in realdaten. Fragmente der gene F2 und F5“ Der österreichische Künstler gilt als Pionier der Medienkunst. Er nutzt technische Möglichkeiten, um Fragen über die menschliche Existenz und Identität zu stellen. So auch bei Datenwerk: Mensch aus dem Jahr 2001.

Die Werkserie umfasst mehrere Porträts dieser Art. Kriesche ließ dafür seine eigenen Gene entschlüsseln und mittels Gencode in ein Notationssystem übersetzen, um ihn sichtbar zu machen. Unsere Gene machen uns zu Individuen und erzählen daher, laut Kriesche, weit mehr über einen Menschen, als es ein gemaltes Porträt je könnte Durch diese Technik der Visualisierung von biologischen Daten regt er zum Nachdenken über die Darstellung des Menschen in einer hochtechnologisierten Welt an Neben allen Informationen zur dargestellten Person verrät ein Porträt immer auch etwas über den jeweiligen Zeitgeist. Was sagt uns die Auflösung des Menschen in biologische Daten?

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234 Hans Kupelwieser, ohneTitel , 2017

Betrachten Sie diese Skulptur einmal näher. Gehen Sie um sie herum. Welches Material

könnte das sein? Welche Farben und Muster lassen sich erkennen? Die Skulptur stammt aus einer Werkserie von Hans Kupelwieser, der sich selbst als Materialforscher bezeichnet. Hier beschäftigt er sich mit den Eigenschaften von Plexiglas und erforscht durch gelenkten Zufall, wie sich das Material verändert. Plexiglas wird hauptsächlich in der Industrie verwendet, fand jedoch schon 1930, unmittelbar nach seiner Erfindung, Verwendung in Kunst und Design. Kupelwiesers Skulptur erinnert an organische Formen. Behutsam wird das noch ungeformte Plexiglas in einem längeren Prozess erwärmt. Dann muss es sehr schnell geformt werden, bevor das Material wieder auskühlt. Kupelwieser faltet das warme Material gemeinsam mit anderen in die gewünschte Form, die letzten Endes dem Zufall überlassen bleibt. Dazu sagt er: „Meine Arbeiten sollen selbsterklärend sein, es gibt keine Geheimnisse. Sie sind, was sie sind.“

235 Erwin Wurm, Rotlicht(EW/S668) , 2015-17

Was hat es mit dem weißen Tisch mit Lampe und dem Kunststoff-Kübel auf sich?

Nehmen Sie den weißen Kübel und setzen Sie ihn sich auf! Verharren Sie 60 Sekunden lang in dieser Pose. Schon sind Sie Teil einer One Minute Sculpture. Das Konzept der One Minute Sculptures wurde von Erwin Wurm 1997 entwickelt und wird bis heute umgesetzt. Wurm erweitert damit das Verständnis davon, was eine Skulptur ist, und lässt die Grenzen von Objekt und Subjekt verschwimmen. Wir sind nicht länger passive Betrachtende, sondern werden zum aktiven Teil des Kunstwerks. Unsere Gesten und Handlungen werden zur Skulptur. Wenn wir Wurms Handlungsanweisungen folgen, entstehen mitunter auch skurrile und absurde Situationen, die dem Skulpturenbegriff eine Leichtigkeit verleihen, die sich auch in seinem Material widerspiegelt: Für die One Minutes benötigt man oft nur einen Stuhl, eine Orange, eine Putzmittelflasche, einen Tennisball oder, wie hier, einen einfachen Kübel.

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236 Timm Ulrichs, Ich kann keine Kunst mehr sehen, 1975

Haben Sie auch schon genug Kunst gesehen? Timm Ulrichs hat es wohl, wie sein Schild auf diesem Bild verrät. Doch er trägt auch eine Blindenschleife und hält einen Blindenstock. In diesem Aufzug spazierte Ulrichs 1975 in Köln durch die Art Cologne, die sich selbst als „erste Kunstmesse der Welt“ bezeichnet Ulrichs wird oft „Totalkünstler“ genannt, da er die Grenzen zwischen Kunst und Leben verschwinden lässt. Mit der Performance Ich kann keine Kunst mehr sehen kritisierte er den Kunstmarkt und dessen Kommerzialisierung. Zugleich warf er damit aber auch einen selbstironischen Blick auf sein Dasein als Künstler. Das Foto stammt von Ellen Poerschke. Ulrichs hat es auf die Leinwand gedruckt und von Hand mit Eiweißlasurfarbe koloriert. Dadurch wurden alle 50 Exemplare zu einem Unikat.

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