Resiliente
Quartiersentwicklung für die denkmalgeschützte
Fachwerkaltstadt Hann. Münden
Till Boettger und Birgit Franz (Hg.)
Impressum
LÜCKENSCHLUSS: Resiliente Quartiersentwicklung für die denkmalgeschützte Fachwerkaltstadt Hann. Münden
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne die Genehmigung der Rechteinhaber reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Herausgeber und Herausgeberin: © Till Boettger und Birgit Franz. Die Verantwortlichkeit für Bildrechte und Inhalte liegt bei den Autorinnen und Autoren der Einzelbeiträge. Es kann kein Schadensersatz für Fehler und Unrichtigkeiten geleistet werden. Redaktionelle Bearbeitung: Till Boettger und Birgit Franz. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra e; detaillierte bibliogra sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abru ar. Gestaltung: Carmen Wagner und Jens Hartmann. Druck: buch.one O setdruckerei Karl Grammlich GmbH, Pliezhausen. Verlag: Fruehwerk, Hildesheim / Berlin 2022.
ISBN 978-3-941295-24-7 (Druckausgabe) / DOI:10.5165/hawk-hhg/epublication/493 (Open Access)
Mit freundlicher Unterstützung von:
LÜCKENSCHLUSS
Resiliente Quartiersentwicklung
für die denkmalgeschützte
Fachwerkaltstadt Hann. Münden
Till Boettger und Birgit Franz (Hg.)
Grußworte
Arne Butt, VGH Stiftung
Tobias Dannenberg, Stadt Hann. Münden
Weiterbauen
Zukun sräume im Stadtdenkmal am Beispiel Hann. Münden
Till Boettger und Birgit Franz
Ein Ganzes formen
Das Zusammenspiel von Gebäudetypen in einer Stadtstruktur
Till Boettger
Denkmalschutz und Stadtbildpflege
Im Porträt
Till Boettger und Birgit Franz im Gespräch mit Burkhard Klapp und Sabine Momm
Fotogeschichten
Epochen-Kartierung des Stadtkerns
Till Boettger und Daniel Moris
INHALT 08 10
34
18
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Holzbauweisen und Brandschutz
Im Porträt
Till Boettger und Birgit Franz im Gespräch mit Tanja Götzel und Christoph Hall
Regionale Identitäten
Coworking- und Coliving-Spaces in Mittel-, Klein- und Landstädten im Trendradar Birgit Franz
Stadtentwicklung
Im Porträt
Till Boettger und Birgit Franz im Gespräch mit Nicole Prediger und Friedhelm Meyer
Fachwerkerbe
Vermittlungen im Modell
Cornelia Blum, Paul Nicklaus, Greta Singelmann, Dennis H.-J. Szabo, Lennart Wulf, Tianlu Yu
Lückenschluss in Holz
Von Umgebungen, Hüllen und Inhalten
Dennis H.-J. Szabo, Tianlu Yu, Paul Nicklaus, Lennart Wulf
56 64 88
46 74
GRUSSWORTE
Als im November 2020 der Brand in der Rosenstraße in Hann. Münden drei Fachwerkbauten zerstörte und weitere unbewohnbar machte, wurde dies von allen Seiten als fatales Unglück empfunden. Der Verlust historischer Bausubstanz warf jedoch bald nach dem Schock die Frage auf, wie mit der ‚Wunde‘ in der dicht bebauten historischen Innenstadt umgegangen werden soll. Die entstandene Leerstelle im Stadtbild verlangte und verlangt eine Reaktion!
Doch wie kann eine solche Reaktion baulich ausgestaltet und welche Ziele können bzw. sollen dabei in den Blick genommen werden? Die Verantwortung für das denkmalgeschützte Ensemble der Altstadt muss im Stadtraum mit neuen Ideen und Anforderungen in Einklang gebracht werden. Ein Lückenschluss soll in Formensprache, Material und Nutzung mit dem historischen Erbe kommunizieren und sich auf die Stadtgestalt einlassen; zugleich muss er aktuelle Entwicklungen der Wohn- und Arbeitswelt resp. im Klimaschutz aufnehmen und eine zeitgemäße Antwort geben.
Die vorliegende Studie LÜCKENSCHLUSS : Resiliente Quartiersentwicklung für die denkmalgeschützte Fachwerkaltstadt Hann. Münden nimmt diese vielschichtige Aufgabe in den Fokus. Die Studierenden und Lehrenden der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim / Holzminden / Göttingen (HAWK) liefern damit nicht nur einen Beitrag zur konkreten Debatte um den Umgang mit der Baulücke in der Rosenstraße, sondern zeigen Chancen auf für die zukünftige (Weiter-) Entwicklung der Innenstadt.
Die VGH Stiftung , die in ihren Förderbereichen Literatur, Kulturelle Bildung, Denkmalpflege und Wissenschaft Projekte finanziell unterstützt, sieht in der vorliegenden Studie einen denkmalpflegerisch, baukulturell und landesgeschichtlich wichtigen Beitrag der Wissenscha , um den Schutz unseres kulturellen Erbes und die Weiterentwicklung unserer gebauten Umwelt nicht als Gegensatz, sondern miteinander verzahnt zu denken. Die dabei diskutierten Argumente sind nicht nur für Hann. Münden relevant, sondern im Grundsatz auf viele Ortschaften anwendbar, die die Bewahrung ihres gewachsenen Stadtbildes zeitgemäß interpretieren wollen.
VGH Stiftung
Arne Butt
Referent für Denkmalpflege und Wissenschaft
08
Die Projektskizze der HAWK zur Machbarkeitsstudie LÜCKENSCHLUSS: Resiliente Quartiersentwicklung für die denkmalgeschützte Fachwerkaltstadt Hann. Münden unterstütze ich als Bürgermeister der Stadt. Mit dem ‚frischen‘ Blick der jungen Studierenden, betreut von Prof. Dr.-Ing. Birgit Franz und Prof. Dr.-Ing. Till Boettger, leistet sie einen wichtigen Beitrag für die Stadt- und Quartiersentwicklung in Hann. Münden.
Bereits 2013 hat Frau Prof. Dr.-Ing. Birgit Franz auf dem 4. Fachwerktag Südniedersachsen ihren Vortrag Regionale Koordinierungsstelle Fachwerk-Stadt – abgestimmte Entwicklungsstrategien zur Stadterneuerung in Hann. Münden präsentiert. Dabei konnte von den jeweiligen Verwaltungsspitzen der fünf Städte Duderstadt, Einbeck, Northeim, Osterode am Harz und Hann. Münden die Kooperationsvereinbarung für das Regionsprojekt Fachwerk5Eck unterzeichnet werden. Das geplante Vorhaben basiert auf den Erkenntnissen aktueller Debatten, wonach sich das Leben in den Kleinstädten und Mittelzentren in peripheren Räumen dauerha verändern wird. Somit müssen dringlich neue Arbeits-, Wohn-, und Gemeinscha smodelle unter Beachtung der Nachhaltigkeit entwickelt werden. Die Stadt Hann. Münden ist offen für innovative Ideen, was sich besonders durch die am 14. Februar 2013 gegründete Bürgergenossenschaft gezeigt hat, die inzwischen mehrere Fachwerkhäuser in der Altstadt sanieren konnte. Mittlerweile hat die Genossenschaft rund 400 aktive Mitglieder.
Die vorgenannten kurzen Ausführungen verweisen darauf, dass aus Sicht der Stadt Hann. Münden für Lückenschlüsse über gemeinschaftliche Finanzierungsmodelle nachgedacht werden sollte. Zu nennen sind hier neben dem genossenscha lichen Prinzip ebenso Bauherrengemeinscha en, Bürgerfonds oder Sti ungen. Bezogen auf die konkrete Brandlücke in der Rosenstraße 5, 7 und 9 wird mit Blick auf die Abwicklung mit den Brandversicherungen und die Findungsprozesse der Grundstückseigentümerinnen und Grundstückseigentümer für die Wiederbebauung vermutlich noch einige Zeit benötigt. Die Machbarkeitsstudie LÜCKENSCHLUSS: Resiliente Quartiersentwicklung für die denkmalgeschützte Fachwerkaltstadt Hann. Münden kann somit vorab maßgebliche Impulse für eine zukünftige Nutzung geben.
Sehr freut mich, dass es immer wieder zu nachhaltigen Kooperationen zwischen der Stadt Hann. Münden und der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim / Holzminden / Göttingen (HAWK) kommt und bedanke mich für die gute Zusammenarbeit.
09
Tobias Dannenberg Bürgermeister Hann. Münden
WEITERBAUEN
Zukun sräume im Stadtdenkmal am Beispiel Hann. Münden
Till Boettger und Birgit Franz
Fachwerkaltstädte in ihrer Struktur und Substanz zu bewahren und zugleich zukun sorientiert zu transformieren, gleicht in der Komplexität der Lösung des gordischen Knotens. Lückenschlüsse übernehmen in diesem Zusammenspiel eine tragende Rolle, unabhängig von der Ursächlichkeit derselben. Werden diese Verletzungen als Ermöglichungsräume erkannt, bergen sie wegweisende Potentiale für die gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung. In der Ö entlichkeit werden Lücken jedoch zumeist eher schmerzlich als Wunden im Organismus wahrgenommen, die es schnellstmöglich zu heilen gilt.
Vermittlungsarbeit kann hier aufklärend helfen und das Stadtdenkmal gestärkt aus der Krise hervorgehen, sofern beim Lückenschluss ‚frische‘ Erkenntnisse zur Stadt- und Quartiersentwicklung, zum Klimaschutz und zur Baukultur kombiniert gedacht werden. Au auend auf dem Verständnis der schützenswerten Stadtgestalt, der Analyse fehlender Funktions- und Nutzungsangebote und in Kenntnis der Förder- und Trägerlandschaft kann aktive, mindestens jedoch strategische Bodenpolitik erforderliche Projektentwicklungen zielgenau vorantreiben.
Inwiefern in historischen Stadtkernen und Stadtbereichen mit besonderer Denkmalbedeutung nachhaltig mit vergleichbaren Verlusten umgegangen werden könnte, zeigen die hier vorgelegten Studien zur Stadt Hann. Münden und zur Baulücke Rosenstraße 5, 7 und 9. Zum stark von Fachwerkbauten geprägten historischen Erscheinungsbild erfolgt der Brückenschlag, indem das Weiterbauen in zeitgemäßen Holzbauweisen neben den Gründen des Klimaschutzes mit Bedacht als baukulturell folgerichtige Antwort angesehen werden kann.
Die hier vorgelegten Ergebnisse werden in ihren Impulsen als übertragbar erachtet. Vor allem dann, wenn maßgebliche Akteure vor Ort den Mut finden, das Stadtdenkmal behutsam und kreativ zugleich zu denken, auf den Prüfstand zu stellen und zu transformieren, beispielsweise bezüglich seiner künftigen Leistungsfähigkeit für neue Gemeinschaftsformen (Co-Kreationen). Für detektierte Leerstellen können dann stadtmaßstäbliche Angebote entwickelt, realisiert und angeboten werden.
Die gegenständliche Baulücke ist die Folge eines schweren Brandereignisses, bei dem im November 2020 drei Fachwerkbauten in Gänze zerstört wurden, zwei weitere seither nicht mehr nutzbar sind und mehrere Gebäude in der Nachbarscha in Mitleidenscha gezogen wurden. Die Reaktionen der Ö entlichkeit, medial aufbereitet, machten deutlich, wie emotional betroffen eine städtische Gesellschaft ist, wenn infolge von Brandereignissen schützenswertes Kulturgut verlorengeht. Vor diesem Hintergrund wurden die Studien von der anlässlich des 250-jährigen Bestehens der landschaftlichen Brandkasse im Jahr 2000 gegründeten VGH Stiftung gefördert.
10
Die Zusammenarbeit der HAWK und der Stadt Hann. Münden blickt inzwischen auf 15 Jahre gemeinsame Historie zurück. Stets ging es auch um die bauliche Weiterentwicklung und den Weiterbau des Flächendenkmals. Dieses erfolgte im Rahmen von zahlreichen studentischen Projekt- und Masterarbeiten, wie zur Umnutzung der entwidmeten St. AegiedienKirche, zum kontextbezogenen Bauen, zur energieeffizienten Stadtentwicklung, u. a. m. Hinzu kam die wissenschaftliche Begleitung von städtischen Initiativen und Anfragen, wie 2010 bei der Pressefahrt des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz , 2011 und 2013 für das Festival DenkmalKunst –KunstDenkmal (DKKD), 2013 im Rahmen des 4. Fachwerktags Südniedersachsen sowie des Tags des offenen Denkmals und für die Fachwerktriennalen in den Jahren 2012 und 2015.
Zukun sperspektive
Zuletzt wurde von der Stadt Hann. Münden im Jahr 2021 die hier gegenständliche, kooperativ durchgeführte Machbarkeitsstudie, die zunächst mit dem Arbeitstitel Zum beispielgebenden Umgang mit Brandlücken in der denkmalgeschützten Fachwerkaltstadt Hann. Münden überschrieben war, mit einem Letter of Intent als gemeinsames Projekt öffentlich gemacht.
„Denkmalschutz ist unser Dank an die Vergangenheit, die Freude an der Gegenwart und unser Geschenk an die Zukun “ –mit diesen Worten umschrieb Gottfried Kiesow, der Gründer der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, die Bedeutung von gebautem Kulturerbe für unsere Gesellschaft.
Auf dieser gedanklichen Basis wird in einem dokumentierten Gespräch mit den lokalen Akteuren von Denkmalschutz und Stadtbildpflege 1 die bewahrende wie gestaltende Kra als Aufgabe der amtlichen Denkmalpflege ebenso beleuchtet, wie ihre Nützlichkeit für das Gemeinwohl. Jenes mit den Akteuren der Stadtentwicklung 2 knüpft daran an und lotet dabei exemplarisch auch die Möglichkeiten und Grenzen verwaltungstechnischer und bürgerschaftlicher Experimentier felder aus.
Die konkreten Gedankenspiele der HAWK-Studierenden zu einem Lückenschluss in Holz 3 sind eingebettet in eine anschauliche Auseinandersetzung mit der Vielfalt tragender Holzbauweisen einschließlich des zugehörigen baulichen Brandschutzes. Für den Weiterbau der als Flächendenkmale geschützten Fachwerkaltstädte ist es wichtig, dass nicht Altes wie neu und Neues wie alt aussieht. Deshalb folgen die Studien zum Lückenschluss der Vision, dass der Weiterbau von Fachwerkaltstädten die prägende Materialität Holz weiterdenkt, sozusagen als zusätzlicher Anker zu den bereits gesetzten Anforderungen an Maßstäblichkeit und Einordnung in den Bestand. Derart wird das authentische Alte, gemeint sind die historischen Fachwerkbauten, durch authentische Zeitgenossen mit dem Gestaltungsausdruck des 21. Jahrhunderts gestärkt.
WEITERBAUEN / FORMEN / DENKMALSCHUTZ / FOTOGESCHICHTEN / HOLZBAU / IDENTITÄTEN / STADTENTWICKLUNG / FACHWERKERBE / LÜCKENSCHLUSS 24 64 88 11
01. Hann. Münden, Kirchplatz
„ Die verschiedenen Darstellungsformen lassen eine einbettende Wahrnehmung möglich werden.“
Till Boettger
Die Baulücke Rosenstraße 5, 7 und 9, die durch das Brandereignis am 6. November 2020 entstanden ist, wird auf den folgenden Seiten strukturell in den städtischen Kontext gestellt. Den Ausgangspunkt der Betrachtung bilden die Drauf- und Ansicht dieser Brandlücke, die einen analytischen Blick zur Abschätzung der Dimensionen und Erkennen der geometrischen Figuren ermöglichen. Es folgen die Ansichten der Häuser in der Rosenstraße als zusammenhängende Fotomontage und Linienzeichnung, die viele besondere bauliche Details im Straßenzug erkennen lassen. In der Zeichnung sind auch die verlorengegangenen Gebäude dargestellt. Die verschiedenen Darstellungsformen lassen eine einbettende Wahrnehmung möglich werden. In einem weiteren Schritt werden zwei Kartierungen gezeigt, die den neuen Standort in der Rosenstraße mit der unmittelbaren und weiteren Umgebung verknüpfen.
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Brandlücke
Rosentraße
Kirchstraße Durchschuss Rosenstraße Baulücke 21 14 m 11 , 53 m 21,14 m WEITERBAUEN / FORMEN / DENKMALSCHUTZ / FOTOGESCHICHTEN / HOLZBAU / IDENTITÄTEN / STADTENTWICKLUNG / FACHWERKERBE / LÜCKENSCHLUSS 13
02. Ansicht und Grundriss der
in der
(CAD)
EIN GANZES FORMEN
Das Zusammenspiel von Gebäudetypen in einer Stadtstruktur Till Boettger
o1 – 03. Fröbel-Spielgabe 5 links: Würfel und Prismen mittig: Schönheitsform rechts: Lebensform
www.stadtentwicklung. berlin.de/planen/stadtmodelle
Tröger, Eberhard / Eberle, Dietmar: Dichte Atmosphäre, 2015 18
Um die Form und die kompositorischen Regeln eines Stadtbaukörpers zu begreifen, zu verstehen und zu gestalten, bietet sich als Einstieg ein Maßstabswechsel an. Einige Städte pflegen Stadtmodelle 1, um sich der Form ihres Stadtbaukörpers bewusst zu werden, andere fertigen eine Schwarzplan-Analyse 2 oder einen Nolli-Plan 3 an. In diesem Abstraktionsprozess wird die typologische Klarheit herausgeschält, indem unwichtigere Eigenarten geglättet und entscheidende Besonderheiten herausgearbeitet werden. Diese Methode wird in vielen stadtplanerischen und architektonischen Prozessen immer wieder genutzt und hat eine lange Tradition. Bei Neuplanungen können Veränderungen im Kontext bewertet werden. Der Überblick vom Ganzen geht nicht verloren.
Führ, Eduard: Schwarz – Weiß – Denken, 2018
Die genannte Methode kann in ihrer Funktionsweise und Wirkung mit Hilfe eines Exkurses, der diesen Perspektivwechsel unterstützt, anschaulich gemacht werden. Es soll verdeutlicht werden, wie durch eine modellhafte Betrachtung das ‚Ganze‘ formal gebunden und geteilt werden kann, um dann mögliche Strukturen und Spielvarianten aufzuzeigen.
Friedrich Fröbel, Pädagoge im 19. Jahrhundert, gilt nicht nur als ‚Erfinder des Kindergartens‘, sondern er hat als ‚angewandter Gestalter‘ auch eine Spielmethodik für geometrische Grundformen entwickelt. Seine Spielgaben wurden für verschiedene Altersstufen geschaffen und laden mit Anleitungen zum Bilden von Schönheitsformen und Lebensformen ein. Besonders interessant für unsere Betrachtungen sind die Spielgaben 3– 6 , die Systeme schaffen, die immer wieder zwischen dem Ganzen und den einzelnen Teilen pendeln.
Die kubische Form der Kiste stellt den Start und Endpunkt des Spiels dar, fasst als Hülle die Gestalt und lässt sie immer präsent sein. Die einzelnen Steine ergeben sich aus einer eleganten Teilung der ‚Würfelmasse‘. Diese Proportionierung bildet die Matrix der einzelnen Teile. Die Bausteine lassen sich immer wieder zum Ganzen zusammentragen, entfalten aber im Setzen und Legen ihre eigene neue Form und Gestalt. Wichtig ist, dass die Würfelmasse konstant bleibt. Für Friedrich Fröbel war es wichtig, diesen Bezug nicht zu verlieren. Jede Legeanleitung umfasst alle Steine. Das perfekte Spiel!
WEITERBAUEN / FORMEN / DENKMALSCHUTZ / FOTOGESCHICHTEN / HOLZBAU / IDENTITÄTEN / STADTENTWICKLUNG / FACHWERKERBE / LÜCKENSCHLUSS 19
Für die Übertragung auf einen Stadtkörper lassen sich der Würfel und die möglichen Kompositionen aus den einzelnen Spielgaben-Teilen als Formen einer Stadt verstehen, die gewisse äußere Begrenzungen und eine ihr innenwohnende Struktur besitzt. Die festen Ränder bei der Ausdehnung einer Siedlung bzw. einer Stadt entstehen meist durch landschaftliche Besonderheiten wie Flüsse, Meere, Gebirgsketten oder andere natürliche Kanten. In der Drei-Flüsse-Stadt Hann. Münden schmiegt sich der Stadtkörper in Form eines etwas ‚deformierten Wappenschildes‘ an Werra, Fulda und Weser an. Die Begrenzungen durch die Flüsse binden die Form der Stadt und lassen eine gewisse Selbstverständlichkeit und Klarheit in Bezug auf Lage und Geometrie erkennen.
Die durch den Verlauf der Stadtmauer abgerundete, stabile Form wird durch Straßenschnitte wie bei einem Wappen in Felder geteilt. Markant sind die Durchschüsse Lange Straße und Mühlenstraße, die in den Brücken ihre verlängerten Arme finden. Die Lange Straße halbiert das Schild in zwei langgestreckte Teile, die Mühlenstraße definiert im Norden die Viertelteilung der waagerechten Schnitte. Es entstehen überwiegend Füllungen, die als geschlossene Häuserblocks gelesen werden. Aus der dunklen, zusammenhängenden Masse lösen sich die hellen, leeren Figuren des Marktplatzes und des Schlossplatzes heraus. Als letzte Ebene der Stadtformbildung kann man die Einzelformen Kirche, Rathaus und Schloss klar herauslesen.
04. Schwarzplan der Stadt Hann. Münden
Mühlenstraße
Lange Straße
Werra Fulda
20
Rosenstraße
05 – 06. Form-Legungen mit Spielgabe 5 links: Im Schwarzplan der Stadt Hann. Münden
rechts: Als abstrahierter Häuserblock
Taut, Bruno: Architekturüberlegungen. 1935 / 36
Aus dem Blickwinkel des städtebaulichen Maßstabs betrachtet, werden die einzelnen städtischen Blöcke mit ihrer geschlossenen Bauweise zu Bausteinen, die durch eine Teilung des gesamten Stadtbaukörpers entstehen. Diese Sichtweise lässt Marktplatz, Schlossplatz und die Ränder im Süd-Westen und Süd-Osten zu klar definierten Weißräumen werden. Sie sind ö entliche Freiräume, die als eigenständige Figuren Ausnahmen im System bilden. Es entsteht eine geordnete Struktur wie bei den gelegten Spielgaben. Geht man eine Maßstab-Ebene tiefer und analysiert die aneinandergereihten Häuser, die einen Block formen, werden eckige Felder mit geschlossener Außenkante erkennbar, die an die Formen der gegliederten Strukturen bei Fröbels Schönheitsformen erinnern.
Diese Proportionierung 4 des Grund und Bodens ist nicht ‚nur‘ ein Spiel, sondern eine Parzellierung, die eine Balance von Baumasse und Leerraum beabsichtigt. Einige Blöcke bilden fast eine homogene Masse, die nur vereinzelt durchbohrt ist. Andere Blöcke stellen sich eher als dicker Ring dar und besitzen räumlich gesehen einen zusammenhängenden Innenhof. Deutlich werden unterschiedliche Dichten und vereinzelt fehlende Zähne im Perimeter. Dennoch wirkt der Stadtkörper homogen und das liegt im Besonderen an der geschlossenen Erscheinung der einzelnen Häuserblöcke, den Bausteinen im Stadtensemble. Der Stadtkern der Stadt Hann. Münden kann als eine Fachwerkbaumasse gelesen werden.
WEITERBAUEN / FORMEN / DENKMALSCHUTZ / FOTOGESCHICHTEN / HOLZBAU / IDENTITÄTEN / STADTENTWICKLUNG / FACHWERKERBE / LÜCKENSCHLUSS 21
Hann. Münden als Fachwerkstadt bietet uns eine typologische Betrachtung an, da eine durchgängige Konstruktionsmethode der einzelnen Häuser entscheidend den architektonischen Ausdruck sowohl im Einzelnen als auch im Straßenzug bzw. Ensemble bestimmt. Die konstruktiven Elemente sind in ihrer Beschaffenheit und Zusammensetzung so klar und logisch gefügt worden, dass sie über einen Entwicklungszeitraum einen Typus schufen und in der Gruppe zum Muster werden. Die innere Logik der Gestalt lässt sich erkennen, nachvollziehen und auch beschreiben. Wir kennen dieses Phänomen auch aus anderen Kontexten. In den bildenden Künsten zum Beispiel werden durch ‚Typusbildungen‘ Menschen, aber auch Dinge kategorisiert, um Wesensarten darzustellen. Typen bekommen ihren Ausdruck nicht durch das Hervorheben besonderer Eigenarten oder Details; diese stehen nicht im Zentrum der Betrachtung. Es wird in gewisser Weise generalisiert, um den grundlegend bestimmenden Bauplan zu kommunizieren. Bei einer Typenbildung geht es um das Sammeln von Ähnlichkeiten in der Varianz. Es werden Serien gebildet, die ihre Kraft im Besonderen durch das Kollektiv erhalten.
In der Architektur gibt es eine ausdi erenzierte Auseinandersetzung mit dem Begriff Typus bzw. Bautypologie. Diese Betrachtung ist immer abhängig von der Gewichtung, d. h. welcher Architektur bildende Faktor als entscheidend angesehen wird und die Sortierung bestimmen soll. Wenn bei der Betrachtung die drei konstituierenden Faktoren Ort, Programm und Konstruktion genutzt werden, dann lässt sich leicht vorstellen, dass sich bei jedem Blickwinkel Typen herausbilden, je nachdem welcher Aspekt als entscheidend angesehen wird und die Sammlung bestimmt. Besonders interessant ist es, wenn das Zusammenspiel aller Faktoren einen konzeptionell scharfen Typus bildet.
Bestimmte Orte mit besonderen klimatischen Verhältnissen können einen Typus hervorbringen. Deutlich wird dies in der Sprache. Wir sprechen von Land- und Stadthäusern oder in einem nächsten Schritt sogar von Schweizer Berghütten . Bei dem Blick durch den Programm-Filter verhält sich das analog. Wir können die funktionalen Zusammenhänge scharf stellen und Gebäude als einen formalen Ausdruck einer Tätigkeit sehen. Wir sprechen dann zum Beispiel von Schulgebäuden und Geschäftshäusern. Auch wenn die Betrachtung der Konstruktion in den Vordergrund gerät, lassen sich Typen bilden.
Fachwerkhäuser oder Blockhäuser sind Bautypologien, die für eine spezielle Konstruktion und Bauweise mit besonderen Materialien stehen. Für die konzeptionelle Architekturbetrachtung wird es interessant, wenn alle drei Faktoren die Typenbildung unterstützen und sich bedingen. Dies wird zum Beispiel bei den Fachwerkhäusern im Siegener Industriegebiet 5 deutlich. Bernd und Hilla Becher haben diese Häuser kartiert und mit austarierten Aufnahmen Sammlungen gescha en, die zu einer typologischen Sehweise führen. Wir sehen durch die Zusammenstellung der Fotografien die Ähnlichkeiten und Unterschiede gleichzeitig. Es entstehen Erwartungen aus strukturellen Gesetzmäßigkeiten. Bei einer intensiven Betrachtung wird deutlich, wie die typologische Zugehörigkeit zum Thema wird, ohne die individuelle Ausformung zu negieren.
Wichtig sind bei diesen Sammlungen von Fotos die Formatierungen, d. h. die konzeptionellen Gesetzmäßigkeiten in Bildkomposition, Format und Stimmung. Die gleichförmigen, dokumentarischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Bernd und Hilla Becher schälen das Wesentliche der Typologie heraus, indem Besonderheiten nicht inszeniert werden, sondern im Vergleich gelesen werden können. Gemeinsamkeiten werden sichtbar, das Generierende kann entschlüsselt werden. Diese Sichtweise ist für die Bauformenbildung eine wichtige Erkenntnis. Architektonische Bautypen entwickeln sich durch eine lokale Anwendung spezifischer Baumaterialien und lassen erkennbare Formen entstehen. Die fotografische Dokumentation von Bernd und Hilla Becher und deren Ausstellung und Rezension schaffen eine feste Bindung der Typologie. Die Grundform der Fachwerkhäuser im Siegener Industriegebiet bekommt ein Etikett und verankert sich fest im kollektiven Gedächtnis der Baukultur, ist dort abgelegt und abrufbar.
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Becher, Bernd / Becher, Hilla: Fachwerkhäuser des Siegener Industriegebietes, 1977
Für die Stadt Hann. Münden kann die feine Betrachtung von Bernd und Hilla Becher zur Strategie werden, indem die einzelnen Zeitschichten 6 als Ausformungen von typologischen Architekturen gesehen werden. Die Weltkriege im 20. Jahrhundert haben hier keine zusammenhängende Bausubstanz zerstört und so wurden in der Vergangenheit nur einzelne Häuser der Altstadt in den verschiedenen Epochen ‚überformt‘ oder ersetzt. Die Struktur blieb erhalten; die kritische Masse an verschiedenen Fachwerkhäusern konnte weiterentwickelt werden und blieb stabil. Bedingt durch geringe Kriegsschäden und die starken topografischen und landschaftlichen Begrenzungen der Flüsse verändert sich diese geschützte, besondere Kollektion an Häusertypen aus verschiedenen Epochen sehr langsam und nur punktuell, ohne die äußere Form der Stadt Hann. Münden zu berühren. Dieser Prozess ermöglicht eine stetige und sensible Transformation. Diese Denkweise lässt es zu, für Lücken oder offene Ränder der Häuserblöcke in Hann. Münden nach Füllungen zu suchen, die sich wiederum als zeitgenössische Typen verstehen. Entscheidend ist es, den Stadtbaukörper als formale Einheit im Sinne von Fröbel zu denken, der kein Korsett ist, sondern eine spielerische Komposition mit festen Regeln. Es kann also nach einem Zusammenspiel der Bauformen in einer Struktur gesucht werden, die ein Gesamtgefüge schafft und pflegt. Wichtig wäre bei diesem Weiterbauen im Besonderen eine Revitalisierung von Bestandsfachwerkhäusern 7 offensiv anzugehen und neue programmatische Forderungen einzubeziehen. Mit den jüngsten Brandereignissen stellt sich wiederum die Frage, wie weitergebaut werden soll. Hierfür soll diese typologische und formale Betrachtung helfen und eine Strategie aufzeigen. Es sollte unbedingt eine neue zeitgenössische Typus-Bildung angegangen werden, die angemessene Antworten zu Ort, Programm und Konstruktion formuliert. Diese gestalterische Auseinandersetzung kann zu einem neuen ‚Hann. Mündender Typus‘ 8 führen, der den Stadtbaukörper im Sinne eines Palimpsests, einer Weiterbeschreibung, behandelt und dadurch Hann. Münden erhaltend und zukunftsorientiert weiterentwickelt.
Wünschenswert wäre es, wenn mehrere Leerstellen im Stadtgefüge zusammenhängend, im Sinne des Klimaschutzes mit zugehörigen Dekarbonisierungszielsetzungen, als Holzbau entwickelt würden, um auch für die heutige Zeit eine formale Variation in der Logik der Stadt zu verankern.
„
Bei einer Typenbildung geht es um das Sammeln von Ähnlichkeiten in der Varianz.“
Till Boettger
34 88 56 WEITERBAUEN / FORMEN / DENKMALSCHUTZ / FOTOGESCHICHTEN / HOLZBAU / IDENTITÄTEN / STADTENTWICKLUNG / FACHWERKERBE / LÜCKENSCHLUSS 23
Im Porträt
DENKMALSCHUTZ UND STADTBILDPFLEGE
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Meyer, Friedhelm: Der dynamische Dreiklang. Kultur tri Denkmal tri Bürgerscha , 2020
Franz, Birgit / Hemme, Dorothee: Perspektivwechsel, Kühnheit, Beteiligungskultur. Hann. Mündener Fachwerkaktivismus, 2016
Sabine Momm und Burkhard Klapp sind zwei Protagonisten der Unteren Denkmalschutzbehörde in Hann. Münden.
Zusammen mit Birgit Franz und Till Boettger von der Fakultät Bauen und Erhalten der HAWK sprechen sie über ihre Vermittlungsstrategien, Problemlagen und Lösungsansätze.
TB / Für unser heutiges Porträt zum Denkmalschutz und zur Stadtbildpflege haben wir uns Schwerpunkte gesetzt. Fokussieren möchten wir die Einflüsse der Hann. Mündener Beteiligungskultur auf Ihre Kommunikationsansätze und Vermittlungsstrategien. Austauschen wollen wir uns über die Möglichkeiten eines fruchtbringenden Zusammenspiels von bewahrenden sowie transformierenden Krä en und über den Nutzen der Stadtdenkmalpflege für die ganzheitliche Entwicklung der Stadt.
SM \ Wir heißen Sie herzlich willkommen.
BK \ Und wir freuen uns auf den Austausch.
BF / Erfolgreiche Denkmalpflege hat immer viel mit Vermittlungsarbeit zu tun. Seit 2021 heißt Hann. Mündens neue Stadtdenkmalpflegerin Sabine Momm. Für Sie bedeutet das ein neues Aufgabenfeld in vertrautem Umfeld. Sie selber kennen die lokale Bürgerscha aus Ihrer langjährigen Tätigkeit als Architektin vor Ort und als ehrenamtliche Denkmalaktivistin. Bereits im Jahr 2013 zählten Sie im Rahmen des wiederkehrenden Festivals DenkmalKunst – KunstDenkmal 1 zu den pausenlos Handelnden im Projekt 9mal24 2 Einer Performance ähnlich sollte ein ungeliebtes, marodes, zudem brandgeschädigtes Fachwerkhaus inmitten der Altstadt rund um die Uhr in nur neun Tagen saniert werden – so die Idee.
Entsprechend überschlugen sich die medialen Berichterstattungen über die Rettungsaktion. So strahlte beispielsweise der Norddeutsche Rundfunk (NDR) in Kurz- und Langfassungen Berichte über das Ereignis aus und machte die gemeinsame Aktion vieler Menschen der Tat über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Im Jahr darauf nahm die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland (VdL) das Projekt für ihre Ausstellung In letzter Minute gerettet ins Visier. Durch dieses für die denkmal 2014 in Leipzig, die Europäische Leitmesse für Denkmalpflege, Restaurierung und Altbausanierung, entwickelte Format erhielt 9mal24 sogar internationale Aufmerksamkeit.
SM \ Aus der ganzen Bundesrepublik kam seinerzeit die ehrenamtliche Hilfe von Bürgern, Planern, Handwerksbetrieben und Bauhelfern, um das von vielen als abrissreif bewertete Fachwerkhaus Speckstraße 7 zu retten. Auch, wenn es inzwischen in meinem Alltag weniger spektakulär zugeht, sind meine denkmalaktivistischen Einsätze und mein ehrenamtliches Engagement in der Bürgergenossenscha Mündener Altstadt eG derart nachhaltige Berührungspunkte zum Umgang mit historischer Bausubstanz, dass ich mich vor einem Jahr entschied, hier Stadtdenkmalpflegerin zu werden, wenn auch ursprünglich aus dem Neubau kommend. Dieser bestehende intensive Kontakt zu den Menschen, zur Bürgerschaft, motiviert und bestärkt mich, die Aufgaben einer Stadtdenkmalpflegerin auszuüben.
Birgit Franz (BF) und Till Boettger (TB) im Gespräch mit Sabine Momm (SM) und Burkhard Klapp (BK)
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FOTOGESCHICHTEN
Epochen-Kartierung des Stadtkerns Till Boettger und Daniel Moris
Inspiriert durch Bernd und Hilla Bechers Fotogra en von Fachwerkhäusern aus dem Siegener Industriegebiet 1 wurden im Sinne einer objektiven Kartierung die Häuser des Stadtkerns von Hann. Münden nach Epochen sortiert. Ähnlichkeiten im konstruktiven und formalen Ausdruck zu den verschiedenen Zeiten lassen sich auf jeder Epochen-Seite im neuen Nebeneinander suchen und nden. Es entsteht eine Reihe ohne Ende, die Kontinuität und Modi kation möglich macht.
Die zugehörigen Fotografien entstanden am 16. Oktober 2021 im Rahmen einer Exkursion des Kurses Gestaltung Visualisierung des Bachelor-Studiengangs Architektur der HAWK im Wintersemester 2021 /22. Folgende Studierende haben diese Fotografien angefertigt und digital nachbearbeitet:
Clara Adolphi, Laura-Sophie Ahrens, Vanessa Behnsen, Hannes Bindseil, Christoph Bittner, Katharina Böhme, Issam Dagdoug, Moritz Fürmeier, Diana Germann, Linus Gilge, Valeria Gómez, Gerrit Gronau, Jan Gross, Paula Gutzeit, Ibrahim Hamad, Max Hantel, Rowena Hillmann, Niklas Kalsow, Sinan Karak, Sandra Krieten, Kiara-Sophie Lange, Laura Möller, Leonarta Mrlaku, Paul Müller-Zitzke, Noura Mustafa, Elisa Novorita, Alyssa Nüse, Mandy Rackwitz, Stefan Raven, Anna-Sophie Reichstein, Christoph Rohloff, Madlin Schaf, Schamo Schecho, Helen Seifert, Fatmanur Senbecer, Josepha Simon, Justina Simon, Jan Singenstreu, Annika Suhr, Ruqian Sun, Lars Warnecke, Till Winkler.
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01. Bauepochenplan, farblich umgezeichnet (Rebekka Schindehütte, 2015)
Erbauungszeit und Überformung
Gotik (1380 – 1530)
Spätgotik (1530 – 1560)
Frührenaissance (1530 – 1560)
Renaissance (1560 – 1650)
Barock (1650 – 1780)
Klassizismus (1780 – 1850)
Historismus (1850 – 1910)
Bauten ab 1940
nicht datierbar
nicht betrachtete Bauten
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02. Gotik 36
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03. Spätgotik
Im Porträt
HOLZBAUWEISEN UND BRANDSCHUTZ
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Tanja Götzel ist als Brandschutzsachverständige und Architektin erfahren mit Bauaufgaben im Bestand und im Neubau.
Christoph Hall arbeitet als Tragwerksplaner in Praxis und Lehre und ist als Holzbauingenieur ausgebildet. Im Gespräch mit Birgit Franz und Till Boettger von der Fakultät Bauen und Erhalten der HAWK diskutieren sie den historischen sowie heutigen Holzbau im Kontext von Fachwerkstädten und Brandschutz.
TB / Für unser heutiges Porträt zum Thema Holzbauweisen und Brandschutz haben wir uns einen speziellen Fokus gewählt. Ausgangspunkt bildet das Brandereignis in der Altstadt von Hann. Münden am 6. November 2020 – und darüber hinaus auch unsere gemeinsame Verbundenheit zur HAWK: drei Lehrende und eine Brandschutzexpertin, die für unser historisches Fakultätsgebäude im Hohnsen 2 das aktuelle Brandschutzkonzept geplant hat. Hier und jetzt geht es um die Anforderungen und Chancen für den Holzbau in Bezug auf den historischen Werksto und seine heutigen Metamorphosen, unser Impuls ist auch hier Hann. Münden. Erörtern möchten wir die übertragbaren Handhaben zu brandschutztechnischer Ertüchtigung und neue Möglichkeiten für einen Lückenschluss in Holz.
Großbrände führen in der deutschen Fachwerklandscha leider immer wieder zur Zerstörung von baulich wertvollem Kulturerbe. Die Traumatisierung durch solche Ereignisse führt in der Regel zur Ablehnung von Holzbauweisen für den Weiterbau der Fachwerkaltstädte. Deshalb verstehen wir unser Gespräch als programmatischen Ansatz und Impuls für Dritte, um möglichst resilient aus den Geschehnissen hervorzugehen. Wir starten unser Gespräch mit zugehörigen Themen zum Bestand und beschließen es mit Überlegungen zum Weiterbau mit Holz.
TG \ Vielen Dank für Ihre Anfrage zu diesem inter disziplinären Gedankenaustausch.
CH \ Wir freuen uns auf die Verknüpfung unterschiedlicher Anforderungen und Wirklichkeiten.
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Birgit Franz (BF) und Till Boettger (TB) im Gespräch mit Tanja Götzel (TG) und Christoph Hall (CH)
REGIONALE IDENTITÄTEN
Coworking- und Coliving-Spaces in Mittel-, Klein- und Landstädten im Trendradar Birgit Franz
01. Hommage von Charlotte Schütz an die ehemaligen Bewohner dieses Hauses, entstanden 2011 anlässlich des wiederkehrenden Hann. Mündener Festivals DenkmalKunst – KunstDenkmal und zwar im über viele Jahre verlassenen Haus der Firma Kohlen Hesse. Co-Kreationen beginnen im Kopf.
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„ Die heterogenen Arbeitsund Lebensmodelle in unserer pluralistischen Gesellschaft benötigen vielfältige Eigentumsund Nutzungsstrukturen. Das gilt für Groß- und Mittelstädte ebenso wie für Klein- und Landstädte.“
Birgit Franz
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BBSR im BBR (Hg.): Stadt gemeinsam gestalten, 2021
Zukun sinstitut GmbH (Hg.): Trendstudie. Progressive Provinz, 2021
Damit denkmalgeschützte Altstädte nicht nur für Touristinnen und Touristen attraktiv sind, sondern auch für Einheimische als lebendige Lebensräume in Nutzung verbleiben, nimmt eine zukun sgewandte Stadtentwicklung die Bereitstellung von Ermöglichungschancen für unterschiedliche Lebensentwürfe in den Blick. Privat und beruflich nutzbare Räume und Freiräume, die ein aktives Miteinander mit dem zeitgemäßen Bedürfnis nach Freiheit und Selbstbestimmung verknüpfen, und das über verschiedene Altersgruppen, Einkommen und Familienstände hinweg, sind im urbanen Quartier 1 ebenso möglich und nachgefragt wie in der progressiven Provinz 2 .
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Eine vorsorgliche kommunale Liegenschaftspolitik, gezielte Immobilien entwicklung und gemeinschaftliche Investitionsmodelle stärken die Ermög lichungschancen.“
Birgit Franz
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Netzwerk Zukun sorte e.V. (Hg.): Übermorgen, 2022
Den Fokus verstärkt auf die Angebotsvielfalt und die private Bezahlbarkeit gerichtet, sind (jenseits des investorenüblichen Mainstreams) kooperative Alternativarchitekturen und Trägermodelle (Co-Kreationen) ebenso mitzudenken wie Vorhaben des Teilens und Tauschens (Sharing-Modelle). Ob privat, kommerziell oder kommunal betrieben, maßgeblich ist die Gemeinwohlorientierung 3. Grundstücke, Nutzflächen und Räume sowie Betriebskonzepte sind mit Investierenden und Nutzenden zu einem sozialen Organismus experimentell operierender Wir-Kultur zu vernetzen. Flächen und Räume für Begegnung, Mobilität, Fitness, Werken, Tauschen, Spielen, Urban Gardening u. a. m. sollten dabei von Anbeginn mitgeplant werden.
www.bundessti ungbaukultur.de
BBSR im BMUB (Hg.): Mehr Qualität durch Gestaltungsbeiräte, 2017
Baukulturell mit Regional- und Lokalbezug können derartige Projekte gestärkt werden, indem die Instrumente zur Ge staltungsberatung und zur Vermittlung der Vorteile von Planungswettbewerben 4 sowie Mehrfachbeauftragungen und Planungskonkurrenzen 5 wirksam angewendet werden. Sie bieten sowohl für kommunale als auch für privatwirtscha liche Bauherrschaften größtmögliche Planungssicherheit, da anhand sachlicher Kriterien, wie Innovationsgehalt, Nachhaltigkeit und Kostensicherheit, der überzeugendste Lösungsansatz ermittelt werden kann. Unterstützung bei der Vermittlung von Baukultur 6 kann die Stadtentwicklung durch die Einbindung von festen oder mobilen Gestaltungsbeiräten 7 erfahren. Gut in die Ö entlichkeit kommuniziert, sind derart realisierte Vorhaben Multiplikatoren für mutige, zukunftsweisende Lösungen.
Auch für metropolferne Städte darf dabei durchaus auf Antworten aus den Ballungsräumen geschaut werden, um herauszufinden, welche Lebensmodelle dort welchen baulichen Niederschlag nden. Transferiert und angepasst auf den lokalen Maßstab der Mittel-, Klein- und Landstädte, mit ihren kleinteiligen Strukturen und regionalen Baukulturen, geben sie für deren inhaltlichen Umbau wichtige strukturelle Impulse. Neben aus der Nutzung gefallenen großflächigen Bauwerken und Arealen, wie frühindustrielle Anlagen oder großflächiger Einzelhandel, können Baulücken, Bestandsbauten und auch Baudenkmale zu zielgerichteten Co-Projekten entwickelt werden.
Inzwischen sind auch in kleineren Städten und in ländlichen Räumen die Vorteile der flexiblen Arbeitsplatzlösung (Coworking) bekannt. Darunter zu verstehen sind gemeinschaftlich genutzte Büroarbeitsplätze (Coworking-Spaces) und Werkstättenplätze (Maker-Spaces) mit professioneller digitaler und räumlicher Infrastruktur. Bisweilen werden sie kombiniert mit anderweitigen Service- und Nutzungsangeboten, wie Kinderbetreuung, Mobilitätsstation, Selbstbedienungscafé, Paket- oder Reinigungsannahmestelle oder auch Warenautomaten zur Rund-um-die Uhr-Nahversorgung. Werden mittels derartiger Kombinationen neben dem eigenen Heim (dem Ersten Ort) und dem Arbeitsplatz (dem Zweiten Ort) auch halböffentliche Räume für ungezwungene Begegnungen geschaffen, spricht man von Dritten Orten (Third-Places) Grundsätzlich bleibt jedoch anzumerken, dass die Potentiale von Coworking für die Stadt- und Regionalentwicklung vielerorts (noch) nicht vollumfänglich erkannt werden.
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Innenministerium RLP / Entwicklungsagentur RLP:
Projekt Dorf-Büros
Rheinland-Pfalz, Start 2019
midi / Ev. Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. (Hg.): Leitfaden Coworking in der Kirche, 2021
Bertelsmann Sti ung (Hg.): Coworking im ländlichen Raum, 2020
Coworking ist im Ansatz weit mehr als ein reines Geschäftsmodell zur Befüllung leerstehender Räume und Gebäude. Mit im Blick hat die Coworking-Bewegung, neben notwendiger weise auch wirtschaftlichen Aspekten, das seelische Wohlergehen der Menschen. An ausdifferenziert konzipierten, hybriden Orten des digitalen und analogen Arbeitens werden soziale Kontakte belebt, verknüpft und (weit über den Standort hinaus) vernetzt. Gemeinschaft wird ermöglicht und gestärkt, auch wenn mitunter jeder auf eigene Rechnung arbeitet. Den Nachteilen des Homeoffice, wie Vereinsamung oder Reduktion der Kreativität in Ermangelung eines un mittelbaren Erfahrungsaustausches, wird eine konkrete Alternative entgegengestellt. Das zumeist spartenunabhängige voneinander Lernen führt zu unerwarteten Resilienzen und sozialen Kontakten.
Auch Kommunen 8 und Kirchengemeinden 9 sind an außerhäuslich organisierten Coworking- und Maker-Spaces interessiert. Große Unternehmen interpretieren selbige als neue Außenstellen 10 und bezeichnen diese bisweilen auch als Satelliten. Als Dritte Orte bereichern sie durchaus auch deren Organisationsstruktur. Zudem entfällt das regelmäßige Einpendeln an den oftmals entfernt vom Wohnort gelegenen Unternehmensstandort und wird stattdessen durch gelegentliche Anreisen ersetzt. Dieser Wandel führt (mitunter auch gewollt) zur Einsparung von dauerhaft verfügbar gehaltenen Arbeitsflächen am eigentlichen Firmensitz, indem dort Einzelbüros durch Großraumbüros und persönliche Schreibtische durch Gemeinschaftstische mit frei buchbaren Arbeitsplätzen
ersetzt werden. Auch diesen Transformationen im Firmensitz wird ein deutlicher Mehrbedarf an Raum für Begegnung (und Bewegung) bescheinigt. Was nach der aktuellen CoronaPandemie bezogen auf die Neuen Arbeitswelten (New-Work) das ‚Neue Normal‘ werden wird, ist derzeit in der Diskussion. Als unbestritten gilt, dass auch für die Zukunft des Arbeitens vielfältige Angebote, insbesondere hybride Modelle, gefragt bleiben werden – unbeschadet der zugehörigen Herausforderungen, wie die Umsetzung zugehöriger Arbeitszeitmodelle mit entsprechenden Wechseln zwischen Arbeiten im Betrieb, im heimatnahen Coworking-Space oder im Homeoffice. Um auf den Ort, seine Umgebung und die Lokalität zugeschnittene Konzepte zu entwickeln und deren Nachhaltigkeit belastbar auszuloten, bedarf es unbedingt sorgfältig vorbereiteter Studien zu Gesichtspunkten wie der grundsätzlichen Nachfrage, den spezifischen Bedürfnissen und zu den geeigneten Betriebs- und Betreiberkonzepten. Zusätzliche Planungssicherheit ermöglicht auch die temporäre Etablierung eines entsprechen den Pop-up-1:1-Angebots. Inzwischen kann zudem auf einem soliden Fundament breit gefächerter Erfahrungen 11 aufgebaut werden. Die deutschlandweite Vernetzung von Initiativen und Standorten belegt die zugehörigen Chancen für die Strukturentwicklung außerhalb der Metropolregionen. Die Reduktion des Pendlerverkehrs nebst Schadstoffausstoß, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder auch die Entstehung von mehr Start-ups auf dem Lande, u. a. m., gehören zu den gewollten Zielsetzungen.
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BBSR im BBR (Hg.): Clusterwohnungen, 2020 und
Wüstenrot Sti ung (Hg.): Wohnen jenseits des Standards, 2020
Wetzestein, Diana: SchlafEinfachHier, 2020
Bezogen auf Hann. Münden haben spontan geführte, statistisch nicht belastbare Gespräche aufgezeigt, dass es durchaus bereits Auspendelnde zu Coworking-Spaces in die benachbarten Oberzentren Göttingen und Kassel gibt. Eine für gemeinschaliches Arbeiten entwicklungsfähige Immobilie vor Ort wäre möglicherweise das in der Altstadt gelegene, als Rosenhof bekannte und derzeit weitgehend leerstehende Geschä shaus (Rosenstraße 6, 8, 10 und 12). Bei diesem Bauwerk, errichtet in den frühen 1980er Jahren in zeittypisch kleinteiliger Stahlbetonbauweise, wurde erstmals die 1979 beschlossene (und noch bis heute) gültige Gestaltungssatzung angewendet.
Auch der Lückenschluss 12 der gegenüberliegenden Baulücke (Rosenstraße 5, 7 und 9) könnte als Coworking-Space ausgebaut werden. Alternativ wären hier auch verschiedene Formen des gemeinscha lichen Wohnens (Coliving) vorstellbar. Darunter subsummiert wird die Bandbreite an Möglichkeiten, von der altbewährten Wohngemeinschaft (gemeint sind zusammengebundene Einzelzimmer mit Gemeinscha sbädern und -räumen) bis hin zum noch jungen Typus der ClusterWohnungen 13 (in Gemeinschaftsflächen eingebettete abgeschlossenen Wohneinheiten).
Zudem könnten in der Rosenstraße, aber nicht nur dort, leerstehende Fachwerkbauten attraktiv wieder belebt werden, indem sie als dezentrale Gäste- und Hotelzimmer 14 genutzt werden. Und zwar für die Bürgerschaft selbst (z. B. für Familienbesuch) als auch für den Tourismus, so dass über das ganze Jahr hinweg auf eine gute Auslastung zugesteuert werden kann.
Der zugehörige kooperative Zusammenschluss der Haus- und Wohnungseigentümerschaften würde den gesamten Betrieb, wie Rezeptionsdienste, Buchhaltung, Reinigung, Wartung, Übergabe von Frühstücks- und Restaurantgutscheinen, u. a. m., in professionelle Hände übergeben können. Als Besonderheit könnten leerstehende Ladenlokale und Werkstätten in Analogie zum Wiener grätzlhotel 15 als Street-Suiten zusammengebunden werden. Derartig könnten in Hann. Münden zukunftsträchtige Coworking- und Coliving-Spaces sowie andere Co-Kreationen entstehen: räumlich und zeitlich vielfach genutzt, mit Bezug zur lokalen Baukultur, im Bau- und Denkmalbestand die bereits verbaute Graue Energie nutzend, in Lückenschlüssen mit Holz als Baumaterial der Wahl 16 , weil darin CO 2 aus der Atmosphäre gebunden und über lange Zeiträume gespeichert verbleibt.
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Die effiziente, schnelle und kostengünstige Realisierung von konkreten Co-Projekten wird durch eine kommunal unterstützte Implementierung von Co-Finanzierungen aktiviert. Auch mit Hilfe von Crowdfunding lassen sich zukunftsträchtige Projekte baulich realisieren, da hier eine Vielzahl von Menschen finanziell unterstützt und so Manches erst moglich gemacht wird. Zahlreiche Genossenschaftsbanken sehen Crowdfunding als moderne Variante der Genossenscha und bieten Vereinen und gemeinschaftlichen Einrichtungen eigene Plattformen an, um projektbezogene finanzielle Hilfe zu generieren. Dahinter steht die Idee, jene Menschen zusammenzubringen, die spezifische Nutzungen und Funktionen voranbringen wollen, welche ansonsten in der Stadt nicht oder nicht zeitnah genug entstehen würden.
Hilfreiche Informationen und Unterstützung bieten auch Stiftungen, wie die Schader Stiftung 17 rund um das Thema Stadtentwicklung und Wohnen. Die Stiftung Trias 18 fokussiert gemeinscha liches Wohnen und die Montag Sti ung Urbane Räume 19 die gemeinschaftliche Stadtentwicklung, um so den Menschen eine Chance zu geben, ihre Zukunft selbst zu gestalten.
Neben gemeinscha lichen Finanzierungsansätzen bietet das Erbbaurecht (umgangssprachlich auch als Erbpacht bezeichnet) eine Alternative zum Grundstückserwerb.20 Anleihe kann auch bei den weniger bekannten Eigentümerstandortgemeinscha en 21 und den wohlbekannten Eingetragenen Genossenschaften (eG), die je nach Satzungszweck auch als Gemeinnützige eG eingetragen werden kann, genommen werden. Seit 2016 gehört die Genossenscha sidee gar zum Immateriellen Kulturerbe der Menschheit 22 Genossenschaften entstehen mitunter auch dort, wo sich Kommunen zurückziehen, z. B. als Betreiber von Kindergärten oder Schwimmbädern – auch wenn das Genossenschaftsprinzip nicht so gedacht ist, dass es den Sozialstaat ersetzt, sondern vielmehr diesen ergänzt. Die Idee gemeinsam zu wirtschaften, verfolgen tradierte Branchen, wie Handel, Landwirtschaft, Kreditwesen sowie Wohnungsbau, seit Anbeginn, und inzwischen auch jüngere Branchen, wie die Informationstechnologie und die Energiewirtschaft. Und auch das ein oder andere mittelständische Unternehmen, das keinen Nachfolger findet, überprüft die Optionen einer Mitarbeitergenossenschaft. Gemeinsam ist ihnen das Vertrauen in das zugehörige demokratische und solidarische Grundkonzept.
In Hann. Münden erbringt die Genossenscha Gemeinnütziger Bauverein in Münden eG 23 seit über 120 Jahren bürgerschaftlich getragene, bezahlbare Bauaktivitäten. Zudem hat sich die im Jahr 2013 eingetragene Bürgergenossenschaft Mündener Altstadt eG 24 es zur Aufgabe gemacht, die Stadt aktiv mitzugestalten: zwei Projekte wurden bereits abgeschlossen, eines befindet sich im Planungsstadium, und eines wird derzeit beräumt (weitere Projekte werden hoffentlich folgen).
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Im Bereich der zukünftigen Möglichkeiten für neu gedachte Nutzungsinhalte liegen integrierte, angebundene, aber auch neue Kooperativen, um Innovationen gemeinschaftlich anzugehen und zu realisieren.“
Birgit Franz
Welche Potentiale Co-Finanzierungen bergen, veranschaulicht das jüngst viel diskutierte, 2022 vom Deutschen Architekturmuseum mit dem DAM-Preis für Architektur in Deutschland ausgezeichnete Projekt der Baugenossenschaft Kooperative Großstadt 25. Bezugsfertig wurde deren experimentelle Alternativarchitektur San Riemo 26 in München-Riem im Jahr 2020. Neben einem ganz eigenen Konzept des gemeinscha lichen Wohnens, bei dem die Möglichkeit besteht, die Individualräume selber zuzuordnen, ist hier der konsortiale Verbund mit den angrenzenden Projekten der Genossenschaften WOGENO 27 und wagnis 28 ebenso bemerkenswert wie die Ausbildung der Begegnungsräume: Werkstätten, Gemeinschaftsbibliothek, Draußenküche und Hochbeete auf dem Dach, u. a. m., wodurch die Bewohnerschaft auch baulich herausgefordert wird, ihr Zusammenleben aktiv und gemeinsam zu gestalten.
Alles andere als abschließend bleibt zu konstatieren, dass die naturbezogene Lebensqualität und die Maßstäblichkeit der Nachbarschaften in ländlichen Räumen (neben ganz persönlichen Gründen) als wesentliche emotionale Zugänge zu betrachten sind, um zu bleiben, zurückzukehren oder sich erstmals anzusiedeln, wenn zudem die sonstigen – auch die architektonischen – Rahmenbedingungen stimmen, um das individuelle Lebensmodell verwirklichen zu können – mitunter gemeinschaftlich, experimentell und alternativ zu tradierten Arbeits- und Wohnkonzepten.
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Im Porträt 64
www.fachwerk5eck.de
BBSR im BBR (Hg.): Stadt gemeinsam gestalten, 2021
www.fachwerk-triennale.de
Nicole Prediger und Friedhelm Meyer stehen in Hann. Münden für die Stadtentwicklung und -transformation im ö entlichen Fokus. Zusammen mit Birgit Franz und Till Boettger von der Fakultät Bauen und Erhalten der HAWK diskutieren sie ihre lokalen und regionalen Strategien und Anliegen.
TB / In unserem heutigen Porträt zur Stadtentwicklung möchten wir vor allem Ihrerseits ausprobierte sowie avisierte Experimentierfelder für einen zukun sweisenden Weiterbzw. Umbau von Fachwerkstädten thematisieren. Dabei wollen wir einerseits mehr über Ihr interkommunales Netzwerkdenken, das den Erfahrungsaustausch mit anderen Städten sucht, erfahren, andererseits über Ihre Vermittlungsstrategien zur Stärkung der Beteiligungskultur in der Stadtgesellscha 1 sprechen.
NP \ Wir heißen Sie, wie schon so oft, in unserer schönen Stadt willkommen.
FM \ Gerne knüpfen wir dabei an unsere zahlreichen bisherigen Gespräche an.
BF / Für das Mittelzentrum Hann. Münden übernahmen Sie, Frau Prediger, vor acht Jahren die Leitung für den Bereich Stadtentwicklung. Die Städte und Gemeinden sollen gerechter, grüner und produktiver und die integrativen und partizipativen Prozesse maßgeblich gestärkt werden. In Deutschland und Europa gehört die Neue Leipzig-Charta 2020: Die transformative Kra der Städte 2 (die auf der Leipzig-Charta 2007: Zur nachhaltigen europäischen Stadt 3 fußt) zu den gemeinwohlorientierten Leitdokumenten nationaler, regionaler und kommunaler Stadtentwicklungsstrategien. Für den Stadtumbau bedeutet dieses eine Hinwendung zu einer Kultur des Ausprobierens. Folglich werden vermeintlich bewährte Verwaltungsmodelle kün ig nicht länger als richtig oder falsch bewertet, sondern neu gedacht. Politik und Verwaltung sprechen von gewollten Versuchs- bzw. Reallaboren.
NP \ Experimentierfelder und Innovation sehe ich insbesondere in unserem interkommunalen Netzwerk Fachwerk5Eck 4. Gemeint ist hier der formalisierte Zusammenschluss der südniedersächsischen Fachwerkstädte Duderstadt, Einbeck, Hann. Münden, Northeim und Osterode am Harz. In unserem jüngsten Regionalprojekt Wohnen in der Altstadt – Reaktivierung im Bestand des Fachwerk5Ecks geht es um Best Practice zu bezahlbaren Wohnraumstrategien im baukulturellen Erbe. Öffentlich machen wir unsere Ansätze im Rahmen der Fachwerktriennale 2022 5. Dieses Veranstaltungsformat ist ein Forum für Stadtentwicklung in den historischen Fachwerkstädten Deutschlands. Projektbezogen wird unsere Partnerstadt Northeim im Jahr 2022 unser Austragungsort für die zugehörigen Veranstaltungstermine sein, die anderen vier Partnerstädte werden per Video zugeschaltet. Die Idee hinter unserem Konzept ist es, Hauseigentümerinnen und Hauseigentümer mittels Gesprächen sowie persönlichen und individuellen Hilfsangeboten zu motivieren, notwendige Sanierungen und Modernisierungen durchzuführen. Mit im Fokus steht dabei die Umwandlung von leerstehenden Ladengeschä en außerhalb der unmittelbaren Kern-Einkaufsstraßen in Wohnraum. Gefördert werden wir aus dem Programm Zukunftsräume Niedersachsen des Niedersächsischen Ministeriums für Bundes- und Europaangelegenheiten und Regionale Entwicklung , welches (ganz wichtig für dessen Akzeptanz) im Zugang niedrigschwellig konzipiert ist. Das betone ich deshalb, da Fördermittelprogramme, die zu komplex sind, keine wirkliche Hilfestellung für die Städte bedeuten.
Birgit Franz (BF) und Till Boettger (TB) im Gespräch mit Nicole Prediger (NP) und Friedhelm Meyer (FM)
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FACHWERKERBE
Vermittlungen im Modell
Cornelia Blum, Paul Nicklaus, Greta Singelmann, Dennis H.-J. Szabo, Lennart Wulf und Tianlu Yu
Das Ausschnittsmodell Rosenstraße-Kirchstraße im Maßstab 1:100 stellt das städtebauliche Prinzip der Baublöcke in Hann. Münden räumlich dar und thematisiert die gereihten Häuser zur Straße und die dichte Bebauung im Inneren des Blockes. Die Baulücke Rosenstraße 5, 7 und 9 wird als o ene und zu füllende Stelle fokussiert. Die Straßenflucht erwartet eine geschlossene Bauweise, die an die Nachbarhäuser anschließt. Das Innere dieses und der meisten anderen Häuserblocks in Hann. Münden ist mit Hinterhäusern dicht bebaut. Diesen privaten, rückwärtigen Raum galt es neu zu denken und zu erschließen.
Das erste Bild auf der rechten Seite zeigt eine idealisierte, genordete Draufsicht des Modells. Die grauen Flächen betonen links und rechts die Brandwände der Nachbargebäude und in der Mitte die Grundfläche. Durch das Brandereignis ist ein neu zu beplanender Raum entstanden. Auf den folgenden Seiten sind die Entwürfe aus dem Kapitel Lückenschluss in Holz 1 als mögliche Füllungen in die Baulücke eingesetzt worden, um eine Betrachtung im städtebaulichen Kontext vornehmen zu können.
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01. Vogelperspektive WEITERBAUEN / FORMEN / DENKMALSCHUTZ / FOTOGESCHICHTEN / HOLZBAU / IDENTITÄTEN / STADTENTWICKLUNG / FACHWERKERBE / LÜCKENSCHLUSS 75
02. Frontalansicht
links unten: Häuserfront mit Baulücke und Häuserfront gegenüber rechts oben: Konzept Vorsprung rechts unten: Konzept Teilung
Unten links werden in der Ansicht die Baulücke und der gegenüberliegende Rosenhof thematisiert. Erkennbar wird bei den angrenzenden Gebäuden Rosenstraße 3 und 11, dass die Häuser mit Zwerchgiebel die Lücke fassen bzw. aufspannen. Hier wird deutlich, dass es für die Proportion und Begrenzung der neuen Lückenfüllung von Vorteil ist, wenn die Rosenstraße 3 als Bestand gehalten werden kann. Die drei Häuser, die durch das Brandereignis verloren gingen, waren alle traufständig. Der Rosenhof aus den 1980er Jahren suggeriert eine kleinteilige Gebäudeabfolge durch den Wechsel von Giebel- und Flachbaukörperteilen.
Auf der rechten Seite starten die studentischen Entwürfe mit Fotos in der Ansicht. Sie finden vergleichend in der Baulücke ihren Ausdruck. Zuerst kommt das Konzept Vorsprung und darunter das Konzept Teilung . Im Modellfoto des Entwurfs Vorsprung werden die Anleihen an verloren gegangene Häuser erkennbar: durch die Traufständigkeit und die daraus folgende Betonung der Horizontale. Die hintere Begrenzung der sonst versteckten Dachterrasse wird hier sichtbar. In beiden Fotos werden die ausladenden Geschosse durch deren san e Schatten wahrnehmbar, die eine sensible Einpassung unterstützen.
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LÜCKENSCHLUSS IN HOLZ
Von Umgebungen, Hüllen und Inhalten Dennis H.-J. Szabo, Tianlu Yu, Paul Nicklaus und Lennart Wulf
Während der gemeinsam durchgeführten Begehungen in Hann. Münden hinterfragten wir, ob vor Ort neues Denken und neue Wege in Form von resilienter Stadtentwicklung vorzu nden sind oder sich vielmehr auf gegebene Strukturen oder gar Rekonstruktion der Fachwerkbauten besonnen wird. Im Verlauf unserer Recherchen entdeckten wir schnell die vielfältigen Potentiale der Fachwerkaltstadt und stellten für uns fest: Dieser Ort hat echten Charakter! Er kann und will mehr! Er kann sich selbst treu bleiben, ohne auf Innovation und Weiterentwicklung zu verzichten.
Nachfolgend stellen wir unsere vier Ausarbeitungen zu den durch das Brandereignis vom 6. November 2020 gewissermaßen fusionierten Flurstücken Rosenstraße 5, 7 und 9 zur Diskussion. Für uns spielen hybride Nutzungsmöglichkeiten für neue Lebens- und Arbeitsmodelle (Coliving und Coworking), für das Miteinander von anpassungsfähigen Wohn- und Arbeitsräumen eine gewichtige Rolle. Konstruktiv beschäftigen wir uns im Zeitalter der Dekarbonisierung bevorzugt mit dem Baustoff Holz und mit dessen Gestaltungsvarianzen.
So wie dereinst die tradierte Fachwerkbauweise erlauben die heute zum Einsatz kommenden Holzbauweisen einen hohen Vorfertigungsgrad, dadurch werden lange Bauzeiten vermieden. Wir trauen uns, den Lückenschluss von den historischen Parzellengrößen zu entkoppeln, die Lücke als neues Ganzes zu sehen. Dieser Ansatz zeigt unser Verständnis, mit Geschichte umzugehen: Wir möchten das Brandereignis in den künftigen Stadtgrundriss inkludieren.
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01. Brandlücke
04. Fassade
16. Fassade
22. Fassade
33. Fassade