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EIN GANZES FORMEN

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Das Zusammenspiel von Gebäudetypen in einer Stadtstruktur Till Boettger o1 – 03. Fröbel-Spielgabe 5 links: Würfel und Prismen mittig: Schönheitsform rechts: Lebensform www.stadtentwicklung. berlin.de/planen/stadtmodelle

Tröger, Eberhard / Eberle, Dietmar: Dichte Atmosphäre, 2015 18

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Um die Form und die kompositorischen Regeln eines Stadtbaukörpers zu begreifen, zu verstehen und zu gestalten, bietet sich als Einstieg ein Maßstabswechsel an. Einige Städte pflegen Stadtmodelle 1, um sich der Form ihres Stadtbaukörpers bewusst zu werden, andere fertigen eine Schwarzplan-Analyse 2 oder einen Nolli-Plan 3 an. In diesem Abstraktionsprozess wird die typologische Klarheit herausgeschält, indem unwichtigere Eigenarten geglättet und entscheidende Besonderheiten herausgearbeitet werden. Diese Methode wird in vielen stadtplanerischen und architektonischen Prozessen immer wieder genutzt und hat eine lange Tradition. Bei Neuplanungen können Veränderungen im Kontext bewertet werden. Der Überblick vom Ganzen geht nicht verloren.

Die genannte Methode kann in ihrer Funktionsweise und Wirkung mit Hilfe eines Exkurses, der diesen Perspektivwechsel unterstützt, anschaulich gemacht werden. Es soll verdeutlicht werden, wie durch eine modellhafte Betrachtung das ‚Ganze‘ formal gebunden und geteilt werden kann, um dann mögliche Strukturen und Spielvarianten aufzuzeigen.

Friedrich Fröbel, Pädagoge im 19. Jahrhundert, gilt nicht nur als ‚Erfinder des Kindergartens‘, sondern er hat als ‚angewandter Gestalter‘ auch eine Spielmethodik für geometrische Grundformen entwickelt. Seine Spielgaben wurden für verschiedene Altersstufen geschaffen und laden mit Anleitungen zum Bilden von Schönheitsformen und Lebensformen ein. Besonders interessant für unsere Betrachtungen sind die Spielgaben 3– 6 , die Systeme schaffen, die immer wieder zwischen dem Ganzen und den einzelnen Teilen pendeln.

Die kubische Form der Kiste stellt den Start und Endpunkt des Spiels dar, fasst als Hülle die Gestalt und lässt sie immer präsent sein. Die einzelnen Steine ergeben sich aus einer eleganten Teilung der ‚Würfelmasse‘. Diese Proportionierung bildet die Matrix der einzelnen Teile. Die Bausteine lassen sich immer wieder zum Ganzen zusammentragen, entfalten aber im Setzen und Legen ihre eigene neue Form und Gestalt. Wichtig ist, dass die Würfelmasse konstant bleibt. Für Friedrich Fröbel war es wichtig, diesen Bezug nicht zu verlieren. Jede Legeanleitung umfasst alle Steine. Das perfekte Spiel!

Für die Übertragung auf einen Stadtkörper lassen sich der Würfel und die möglichen Kompositionen aus den einzelnen Spielgaben-Teilen als Formen einer Stadt verstehen, die gewisse äußere Begrenzungen und eine ihr innenwohnende Struktur besitzt. Die festen Ränder bei der Ausdehnung einer Siedlung bzw. einer Stadt entstehen meist durch landschaftliche Besonderheiten wie Flüsse, Meere, Gebirgsketten oder andere natürliche Kanten. In der Drei-Flüsse-Stadt Hann. Münden schmiegt sich der Stadtkörper in Form eines etwas ‚deformierten Wappenschildes‘ an Werra, Fulda und Weser an. Die Begrenzungen durch die Flüsse binden die Form der Stadt und lassen eine gewisse Selbstverständlichkeit und Klarheit in Bezug auf Lage und Geometrie erkennen.

Die durch den Verlauf der Stadtmauer abgerundete, stabile Form wird durch Straßenschnitte wie bei einem Wappen in Felder geteilt. Markant sind die Durchschüsse Lange Straße und Mühlenstraße, die in den Brücken ihre verlängerten Arme finden. Die Lange Straße halbiert das Schild in zwei langgestreckte Teile, die Mühlenstraße definiert im Norden die Viertelteilung der waagerechten Schnitte. Es entstehen überwiegend Füllungen, die als geschlossene Häuserblocks gelesen werden. Aus der dunklen, zusammenhängenden Masse lösen sich die hellen, leeren Figuren des Marktplatzes und des Schlossplatzes heraus. Als letzte Ebene der Stadtformbildung kann man die Einzelformen Kirche, Rathaus und Schloss klar herauslesen.

05 – 06. Form-Legungen mit Spielgabe 5 links: Im Schwarzplan der Stadt Hann. Münden rechts: Als abstrahierter Häuserblock

Taut, Bruno: Architekturüberlegungen. 1935 / 36

Aus dem Blickwinkel des städtebaulichen Maßstabs betrachtet, werden die einzelnen städtischen Blöcke mit ihrer geschlossenen Bauweise zu Bausteinen, die durch eine Teilung des gesamten Stadtbaukörpers entstehen. Diese Sichtweise lässt Marktplatz, Schlossplatz und die Ränder im Süd-Westen und Süd-Osten zu klar definierten Weißräumen werden. Sie sind ö entliche Freiräume, die als eigenständige Figuren Ausnahmen im System bilden. Es entsteht eine geordnete Struktur wie bei den gelegten Spielgaben. Geht man eine Maßstab-Ebene tiefer und analysiert die aneinandergereihten Häuser, die einen Block formen, werden eckige Felder mit geschlossener Außenkante erkennbar, die an die Formen der gegliederten Strukturen bei Fröbels Schönheitsformen erinnern.

Diese Proportionierung 4 des Grund und Bodens ist nicht ‚nur‘ ein Spiel, sondern eine Parzellierung, die eine Balance von Baumasse und Leerraum beabsichtigt. Einige Blöcke bilden fast eine homogene Masse, die nur vereinzelt durchbohrt ist. Andere Blöcke stellen sich eher als dicker Ring dar und besitzen räumlich gesehen einen zusammenhängenden Innenhof. Deutlich werden unterschiedliche Dichten und vereinzelt fehlende Zähne im Perimeter. Dennoch wirkt der Stadtkörper homogen und das liegt im Besonderen an der geschlossenen Erscheinung der einzelnen Häuserblöcke, den Bausteinen im Stadtensemble. Der Stadtkern der Stadt Hann. Münden kann als eine Fachwerkbaumasse gelesen werden.

Hann. Münden als Fachwerkstadt bietet uns eine typologische Betrachtung an, da eine durchgängige Konstruktionsmethode der einzelnen Häuser entscheidend den architektonischen Ausdruck sowohl im Einzelnen als auch im Straßenzug bzw. Ensemble bestimmt. Die konstruktiven Elemente sind in ihrer Beschaffenheit und Zusammensetzung so klar und logisch gefügt worden, dass sie über einen Entwicklungszeitraum einen Typus schufen und in der Gruppe zum Muster werden. Die innere Logik der Gestalt lässt sich erkennen, nachvollziehen und auch beschreiben. Wir kennen dieses Phänomen auch aus anderen Kontexten. In den bildenden Künsten zum Beispiel werden durch ‚Typusbildungen‘ Menschen, aber auch Dinge kategorisiert, um Wesensarten darzustellen. Typen bekommen ihren Ausdruck nicht durch das Hervorheben besonderer Eigenarten oder Details; diese stehen nicht im Zentrum der Betrachtung. Es wird in gewisser Weise generalisiert, um den grundlegend bestimmenden Bauplan zu kommunizieren. Bei einer Typenbildung geht es um das Sammeln von Ähnlichkeiten in der Varianz. Es werden Serien gebildet, die ihre Kraft im Besonderen durch das Kollektiv erhalten.

In der Architektur gibt es eine ausdi erenzierte Auseinandersetzung mit dem Begriff Typus bzw. Bautypologie. Diese Betrachtung ist immer abhängig von der Gewichtung, d. h. welcher Architektur bildende Faktor als entscheidend angesehen wird und die Sortierung bestimmen soll. Wenn bei der Betrachtung die drei konstituierenden Faktoren Ort, Programm und Konstruktion genutzt werden, dann lässt sich leicht vorstellen, dass sich bei jedem Blickwinkel Typen herausbilden, je nachdem welcher Aspekt als entscheidend angesehen wird und die Sammlung bestimmt. Besonders interessant ist es, wenn das Zusammenspiel aller Faktoren einen konzeptionell scharfen Typus bildet.

Bestimmte Orte mit besonderen klimatischen Verhältnissen können einen Typus hervorbringen. Deutlich wird dies in der Sprache. Wir sprechen von Land- und Stadthäusern oder in einem nächsten Schritt sogar von Schweizer Berghütten . Bei dem Blick durch den Programm-Filter verhält sich das analog. Wir können die funktionalen Zusammenhänge scharf stellen und Gebäude als einen formalen Ausdruck einer Tätigkeit sehen. Wir sprechen dann zum Beispiel von Schulgebäuden und Geschäftshäusern. Auch wenn die Betrachtung der Konstruktion in den Vordergrund gerät, lassen sich Typen bilden.

Fachwerkhäuser oder Blockhäuser sind Bautypologien, die für eine spezielle Konstruktion und Bauweise mit besonderen Materialien stehen. Für die konzeptionelle Architekturbetrachtung wird es interessant, wenn alle drei Faktoren die Typenbildung unterstützen und sich bedingen. Dies wird zum Beispiel bei den Fachwerkhäusern im Siegener Industriegebiet 5 deutlich. Bernd und Hilla Becher haben diese Häuser kartiert und mit austarierten Aufnahmen Sammlungen gescha en, die zu einer typologischen Sehweise führen. Wir sehen durch die Zusammenstellung der Fotografien die Ähnlichkeiten und Unterschiede gleichzeitig. Es entstehen Erwartungen aus strukturellen Gesetzmäßigkeiten. Bei einer intensiven Betrachtung wird deutlich, wie die typologische Zugehörigkeit zum Thema wird, ohne die individuelle Ausformung zu negieren.

Wichtig sind bei diesen Sammlungen von Fotos die Formatierungen, d. h. die konzeptionellen Gesetzmäßigkeiten in Bildkomposition, Format und Stimmung. Die gleichförmigen, dokumentarischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Bernd und Hilla Becher schälen das Wesentliche der Typologie heraus, indem Besonderheiten nicht inszeniert werden, sondern im Vergleich gelesen werden können. Gemeinsamkeiten werden sichtbar, das Generierende kann entschlüsselt werden. Diese Sichtweise ist für die Bauformenbildung eine wichtige Erkenntnis. Architektonische Bautypen entwickeln sich durch eine lokale Anwendung spezifischer Baumaterialien und lassen erkennbare Formen entstehen. Die fotografische Dokumentation von Bernd und Hilla Becher und deren Ausstellung und Rezension schaffen eine feste Bindung der Typologie. Die Grundform der Fachwerkhäuser im Siegener Industriegebiet bekommt ein Etikett und verankert sich fest im kollektiven Gedächtnis der Baukultur, ist dort abgelegt und abrufbar.

Für die Stadt Hann. Münden kann die feine Betrachtung von Bernd und Hilla Becher zur Strategie werden, indem die einzelnen Zeitschichten 6 als Ausformungen von typologischen Architekturen gesehen werden. Die Weltkriege im 20. Jahrhundert haben hier keine zusammenhängende Bausubstanz zerstört und so wurden in der Vergangenheit nur einzelne Häuser der Altstadt in den verschiedenen Epochen ‚überformt‘ oder ersetzt. Die Struktur blieb erhalten; die kritische Masse an verschiedenen Fachwerkhäusern konnte weiterentwickelt werden und blieb stabil. Bedingt durch geringe Kriegsschäden und die starken topografischen und landschaftlichen Begrenzungen der Flüsse verändert sich diese geschützte, besondere Kollektion an Häusertypen aus verschiedenen Epochen sehr langsam und nur punktuell, ohne die äußere Form der Stadt Hann. Münden zu berühren. Dieser Prozess ermöglicht eine stetige und sensible Transformation. Diese Denkweise lässt es zu, für Lücken oder offene Ränder der Häuserblöcke in Hann. Münden nach Füllungen zu suchen, die sich wiederum als zeitgenössische Typen verstehen. Entscheidend ist es, den Stadtbaukörper als formale Einheit im Sinne von Fröbel zu denken, der kein Korsett ist, sondern eine spielerische Komposition mit festen Regeln. Es kann also nach einem Zusammenspiel der Bauformen in einer Struktur gesucht werden, die ein Gesamtgefüge schafft und pflegt. Wichtig wäre bei diesem Weiterbauen im Besonderen eine Revitalisierung von Bestandsfachwerkhäusern 7 offensiv anzugehen und neue programmatische Forderungen einzubeziehen. Mit den jüngsten Brandereignissen stellt sich wiederum die Frage, wie weitergebaut werden soll. Hierfür soll diese typologische und formale Betrachtung helfen und eine Strategie aufzeigen. Es sollte unbedingt eine neue zeitgenössische Typus-Bildung angegangen werden, die angemessene Antworten zu Ort, Programm und Konstruktion formuliert. Diese gestalterische Auseinandersetzung kann zu einem neuen ‚Hann. Mündender Typus‘ 8 führen, der den Stadtbaukörper im Sinne eines Palimpsests, einer Weiterbeschreibung, behandelt und dadurch Hann. Münden erhaltend und zukunftsorientiert weiterentwickelt.

Wünschenswert wäre es, wenn mehrere Leerstellen im Stadtgefüge zusammenhängend, im Sinne des Klimaschutzes mit zugehörigen Dekarbonisierungszielsetzungen, als Holzbau entwickelt würden, um auch für die heutige Zeit eine formale Variation in der Logik der Stadt zu verankern.

Bei einer Typenbildung geht es um das Sammeln von Ähnlichkeiten in der Varianz.“

Till Boettger

Im Porträt

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