Theater der Zeit 05/2025 – Willem Dafoe

Theater der Zeit Mit

Theresa Thomasberger Nino Haratischwili Friedrich Dieckmann Frank Castorf Lothar Trolle Anica Happich

Ausbildung und Digitalität

Mai 2025 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Willem Dafoe

Biennale teatro in Venedig

Mülheimer Theatertage Preisverleihung

Woche – Woche

Sa. 10.5.

Mi. 21.5. + Do. 22.5.

Geehrt werden die Preisträger*innen des Vorjahres

6+

Lara Schützsack • GRIPS Theater, Berlin

Doping

Asche

Sa. 10.5.

Mi. 21.5. + Do. 22.5.

Nora Abdel-Maksoud • Münchner Kammerspiele

Elfriede Jelinek • Thalia Theater, Hamburg

Staubfrau

Freddie und die ganze Katastrophe

So. 11.5. + Mo. 12.5.

Fr. 23.5.

Maria Milisavljević • Schauspielhaus Zürich

Erik*a

Theresa Seraphin • Schauburg, München

Ensemble Mummpitz • Theater Mummpitz, Nürnberg 15+

Di. 13.5. + Mi. 14.5. • Festival Plus

Das beispielhafte Leben des Samuel W.

Mi. 14.5.

Sa. 24.5. • Festival Plus

Dea Loher • Schauspiel Stuttgart

Altbau in zentraler Lage

Sa. 17.5. + So. 18.5.

Raphaela Bardutzky • Schauspiel Leipzig 6+

So. 18.5. + Mo. 19.5.

Pembo. Halb und halb macht doppelt glücklich Ayşe Bosse • Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Fayer Koch • Theater der Jungen Welt, Leipzig Mi. 21.5.

Mi. 28.5. + Do. 29.5.

They Them Okocha

Bonn Park • Schauspiel Frankfurt Mi. 28.5. + Do. 29.5.

8+

Die Hundekot-Attacke

Walter Bart und Ensemble • Theaterhaus Jena / Wunderbaum

Di. 20.5.

T-Rex, bist du traurig?

(Steht dein T für Tränen?)

Und oder oder oder oder und und beziehungsweise und oder beziehungsweise oder und beziehungsweise einfach und Nele Stuhler • Residenztheater, München

Frau Yamamoto ist noch da

Tina Müller & Theater Fallalpha, Zürich

Jurydebatte Mülheimer KinderStückePreis 2025 Fr. 23.5.

Lukas Rietzschel • Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau

Aufräumen

6+

Sa. 31.5. • Festival Plus

6+

Jurydebatte Mülheimer Dramatikpreis 2025 Sa. 31.5.

10.–31.5.25 stuecke.de Veranstaltet von

Gefördert von

Kulturpartner

Theater der Zeit Editorial

Foto Ute Müller-Tischler

Der das TdZ-Gen begründete und es über Jahre und Jahr­ zehnte unverwechselbarer Theatergeschichte exemplarisch für sich ausdifferenzierte und an uns übergab.

Der uns lehrte, das Theater zu lieben.

Ich fragte ihn gleich zu Beginn unserer Zusammenarbeit ­Anfang / Mitte der neunziger Jahre, wie das für ihn als Theaterkritiker zusammenpasse: das Theater zu lieben, es gleichwohl aber auch zu kritisieren. Er antwortete: „Sie müssen den Horatier von Heiner Müller lesen, dann wird’s Ihnen helle, lieber Herr Müller.“ Nun, ich wollte mich nicht länger dem Verdacht aussetzen, im Dunklen zu stehen, und ich las Heiner Müller, der Horatier.

Verlagsgründer Harald Müller auf der Leipziger Buchmesse am 28. März

Rede zur Entgegennahme des Kurt-Wolff-Preises 2025 Von Harald Müller

Ermahnt, kurz zu sprechen, maximal fünf Minuten, bleiben drei Gesichtspunkte, die es vor allem wert sind, heute hier vorgebracht zu werden.

Zunächst: Auch ich danke der Kurt Wolff Stiftung, dass sie heute den Kurt-Wolff-Preis an unseren Verlag, an Theater der Zeit, verleiht – und das völlig zu Recht. Vielleicht darf ich, der ich den Verlag 1993 gründete, mit Partnern, einer von Ihnen ist heute unter uns: es ist Friedrich Dieckmann, vielleicht darf ich den Preis auch als wertschätzende Krönung meiner Arbeit über mehr als 30 Jahre werten. Der heutige Tag ist eine große Genugtuung und Ehre für mich. Ich teile sie mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags.

Was auch gerechtfertigt wäre: Hätten wir den Preis bereits eher, vielleicht zehn Jahre eher zugesprochen bekommen, so hätte es ein Mann noch erleben können, dem der Verlag viel verdankt.

Ich hätte es ihm sehr sehr gegönnt.

Ich spreche von Martin Linzer, dem lang gedienten Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit und ersten frei gewählten Chefredakteur nach der Wende. Ich nehme ihn symbolisch mit auf in den Kreis der heute hier Prämierten, dessen Denk- und Arbeitsethos die wesentliche Grundlage des Arbeitens in unserem Verlag bildete und noch immer bildet.

Theater der Zeit 5 / 2025

Und von den Römern einer fragte die andern: Wie soll der ­Horatier genannt werden der Nachwelt?

Und das Volk antwortete mit einer Stimme: Er soll genannt w ­ erden der Sieger über Alba Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.

Und wer seine Schuld nennt und nennt sein Verdienst nicht Der soll mit den Hunden wohnen als ein Hund Und wer sein Verdienst nennt und nennt seine Schuld nicht Der soll auch mit den Hunden wohnen Wer aber seine Schuld nennt zu einer Zeit Und nennt sein Verdienst zu anderer Zeit Redend aus einem Mund zu verschiedner Zeit anders Oder für verschiedene Ohren anders Dem soll die Zunge ausgerissen werden.

Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar Kenntlich machend die Dinge oder u ­ nkenntlich.

Tödlich dem Menschen ist das U ­ nkenntliche.*

So, jetzt stehen wir alle im Licht.

Und deshalb folgt Punkt 3 kurz und in Form eines Fragesatzes: Wo bleibt der Champagner?

(* Ausschnitt, zitiert nach „Der Horatier“ von Heiner Müller, Werke 4, Die Stücke 2, hrsg. von Frank Hörnigk, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001.)

Die Laudatio von Friedrich Dieckmann ist unter Diskurs & Analyse, Seite 70 zu lesen.

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Die Studierenden der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg nutzen eine LED-Wand des Animations­instituts der Filmakademie

Thema Ausbildung und Digitalität 14 Bericht Neue Berufsfelder erfinden Die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund startet einen Masterstudiengang Von Stefan Keim

18 Porträt Berufsbild: Digitaldramaturg Ilja Mirsky realisiert am Residenztheater in München Visionen eines immersiven Theaters und unterrichtet an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg Von Elisabeth Maier

Präsentation der Theaterbiennale im Palazzo Ca’ Giustinian in Venedig. Auf dem Foto: der Direktor der Theaterbiennale, Willem Dafoe

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Weitere Texte zum Thema finden Sie im Dossier unter tdz.de/dossier/digitales-theater

Theater der Zeit 5 / 2025

Fotos links oben Steven M. Schultz - ADK, unten picture alliance / ipa-agency | Matteo Chinellato, rechts G2 Baraniak- Steffen Baraniak

Theater der Zeit

Inhalt 5 / 2025

Akteure 22 Interview Ich arbeite einfach gern Willem Dafoe über die Biennale teatro in Venedig Im Gespräch mit Thomas Irmer

26 Kunstinsert Schwein gehabt Das Theater Naumburg erweitert sich im Alten Schlachthof Von Michael Helbing

32 Porträt Zwischen Finsternis und Lachen Die Regisseurin Theresa Thomasberger ist Feministin – und baut Gruselkabinette Von Sophie-Margarete Schuster

36 Nachruf Lothar Trolle Frank Castorf erinnert sich an Trolle Von Thomas Irmer

38 Nachruf Wolfgang Engel Zum Tod von Wolfgang Engel Von Thomas Irmer

Stück 41 Stückgespräch Die Rache der Königinnen Nino Haratischwili über ihre Antiken-Trilogie, Hoffnung und Verzweiflung Im Gespräch mit Lara Wenzel

43 Stück „Kein Schicksal, Klytämnestra“ Von Nino Haratischwili

Diskurs & Analyse 70 Laudatio Ruhm den Kleinen!

Der Verlag Theater der Zeit erhält den Kurt-Wolff-Preis 2025 Von Friedrich Dieckmann

74 Serie: Dramaturgie der Zeitenwende Thüringer Befund Von Anica Happich

76 Heidelberg Wenn Essen keinen Trost mehr spendet

Magazin 4 Bericht Wenn die Unis Trauer tragen Von Lara Wenzel

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Elisabeth Maier, Stefan Keim, Juliane Voigt, und Lara Wenzel

Neue chinesische Dramatik beim Heidelberger Stückemarkt Von Yinfu Gao

8 Kolumne Mitten im Ausprobieren

78 Bericht Burn-out und Weinkrämpfe

88 Vorabdruck I see You see Me – The Poetics of Mutual Observing

Hannah Helbig und Christian Feras Kaddoura in Performances von der Arbeit als Hospitantin und Regieassistent Von Stefan Keim

Von Céline Karow & Josef Bäcker – Theaterhaus Jena

Von Alexandra Waierstall im Gespräch mit Matthias Quabbe

90 Kolumne Wir gehen rein

Report 82 Polen Ästhetische Selbstreflexion Polnisches Theater beim Showcase in Opole – sakrales Planking inklusive Von Nathalie Eckstein

84 Stuttgart Nichts weniger als die Freiheit steht auf dem Spiel

Von Lina Wölfel

92 Was macht das Theater, Franziska Werner?

Im Gespräch mit Stefan Keim

1 Editorial 91 Autor:innen & Impressum 91 Vorschau

Das Europäische Theaterfestival löst den Dramatiker:innenpreis des Landes Baden-Württemberg ab Von Elisabeth Maier

Bücher Mit

Alexandra Waierstall Challange(d) Bodies Deutsche Oper am Rhein Diversité Suisse Gero Troike Hannah Schünemann: Ultrawelten Improvisationstheater Joscijka Abels Lektionen Neue Dramatik Rheinisches Landestheater Neuss Palucca Hochschule Thalia Theater Hamburg Theater der Stadt Aalen Ute Nyssen XYZ: Schule und Theater Yana Prinsloo: Theaterarbeit

86 Serbien „Sie wollen Institutionen, die sie kontrollieren können“ Nikita Milivojević als Künstlerischer Leiter von Bitef abgesetzt und die Frage nach der Zukunft von Serbiens wichtigstem Festival Von Natasha Tripney

Theater der Zeit 5 / 2025

Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe die Verlagsvorschau von Theater der Zeit.

Vorschau Herbst 2025

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Die Universität der Künste Berlin (UdK Berlin)

Wenn die Unis Trauer tragen Die Folgen der Kürzungspolitik betreffen nicht nur die Lehre an der Berliner UdK Von Lara Wenzel

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Im Protest gegen die Haushaltskürzungen verhüllten Studierende der Universität der Künste das Gebäude in der Hardenbergstraße in Charlottenburg. „Dieser schwarze Balken soll ein Trauergewand für unsere Universität sein und symbolisieren, dass durch die Kürzungen ein wichtiger Teil der Berliner Kultur- und Wissensproduktion verhindert, quasi geschwärzt, wird“, erklären die Aktiven der Initiative Bildung Braucht Budget!. Die studentische Gruppe setzt sich gegen die Kürzungen des Etats durch den Berliner Senat ein. Statt rund 100 Millionen Euro, die die UdK zuvor von der Stadt erhielt, soll die Ausbildungsstätte nun acht Prozent weniger bekommen. Viele Kosten der Universität sind fix, nennenswerte Rücklagen fehlen ebenfalls. Gekürzt werden kann vor allem beim Lehrpersonal, was Einsparungen in Höhe von 30 Prozent in den Fakultäten zur Folge hat. Praktisch heißt das, dass offene Stellen nicht nachbesetzt, festangestellte Mitarbeiter*innen durch Lehraufträge auf Honorarbasis ersetzt werden und sich die Qualität der Lehre verschlechtert. Mit der Aktion Ende Februar mobilisierte die Protestgruppe viel Aufmerksamkeit; jetzt fragen sich die Aktiven, wie sie im Sommersemester Protest und Lehre verbinden können. Ein Arrangement

mit den geschrumpften Ressourcen kommt für sie nicht infrage. Sie arbeiten weiter daran, in Zusammenarbeit mit der Unileitung und den Dozierenden die Lehre experimentell fortzusetzen und so gleichzeitig den Protest nach außen zu tragen.

Damit verfolgt die studentische Initiative dasselbe Ziel wie die Hochschulleitung: „Die Priorität der UdK Berlin liegt in den Verhandlungen auf dem Erhalt des Lehrangebots und der Sicherstellung der exzellenten Qualität der Lehre und Forschung.“ Seit dem 1. April bildet Prof. Dr. Markus Hilgert die neue Spitze der UdK. Es dürfte kein leichter Einstand gewesen sein, den Posten des bisherigen Präsidenten, Prof. Dr. Norbert Palz, in so ungewissen Zeiten zu übernehmen. Der Kulturmanager und Altorientalist Hilgert, der bis 2018 dem Vorderasiatischen Museum im Pergamonmuseum als Direktor vorstand und darauf als Generalsekretär die Geschäfte der Kulturstiftung der Länder leitete, betonte zu seiner Ernennung, vor welcher gesellschaftlichen Verantwortung er sich gestellt sieht: „Die Resilienz, die unsere Gesellschaft dringend entwickeln muss, ist ohne mutige Investitionen in Kunst und Wissenschaft nicht zu haben.“

Weitreichende Folgen Um dies zu gewährleisten, steht die Universitätsleitung im beständigen Kontakt mit den anderen, ebenfalls von Kürzungen ­betroffenen Berliner Universitäten und der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Ge­ sundheit und Pflege, um den Sparkurs abzuwenden. Im Hochschulvertrag, der für den Zeitraum 2024 bis 2028 geschlossen wurde, sicherte der Senat den Institutionen noch einen stetigen Investitionsaufwuchs zu. Die überraschend verkündeten Sparmaßnahmen widersprechen jedoch den im Sommer 2023 getroffenen Vereinbarungen.

Als Reaktion kündigte die Präsidentin der Technischen Universität Berlin Geraldine Rauch an, eine Klage gegen die schwarz-­ rote Landesregierung vorzubereiten, um die Einhaltung der Verträge gerichtlich durchzusetzen. So sollen auch weitere für die nächsten Jahre angekündigten Kürzungen abgewendet werden. Diesen Schritt solle sich auch die UdK offenhalten, fordern die Aktiven der Initiative Bildung Braucht Bud-

Theater der Zeit 5 / 2025

Foto Von Fred Romero from Paris, France - Berlin - Universität der Künste, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=77943850

Magazin Bericht

Magazin Bericht get!, die aktuell einen Einstellungsstopp verhängen musste.

Die durch die Sparmaßnahmen nicht nachbesetzten Professuren gefährden langfristig die Existenz von kleinen Studiengängen. So fallen gesamte Unterrichtsgebiete weg oder werden nur mangelhaft von Lehraufträgen abgedeckt. Bei diesen prekären Honorartätigkeiten erfolgt eine Beschäftigung pro Semester. Vergütet werden nur die unterrichteten Wochenstunden, jedoch nicht die Vorbereitung, Nachbereitung und die Benotung von Arbeiten. Diese Umstellung wird im Studiengang Szenisches Schreiben bereits spürbar: „Bei kleinen Studiengängen wie dem unseren mit anderthalb festen Professuren führt das zur völligen Erosion des Kollegiums und harten Brüchen in der Kontinuität der Lehre und der begleitenden Bezugspersonen“, berichtet eine bei Bildung Braucht Budget! aktive Person. In der Fakultät Darstellende Künste, mit den sieben Studiengängen Gesang/ Musiktheater, Schauspiel, Musical/Show, Bühnenbild, Kostümbild, Szenisches Schreiben und Theaterpädagogik, gibt es derzeit 38 Professuren. Wenn der Einstellungsstopp weiter bestehen bleibt, gäbe es spätestens im Sommersemester elf vakante Stellen, warnt die Initiative.

Während sich durch die Sparmaßnahmen die Qualität der Lehre verschlechtern wird, verschärfen die Kürzungen auch die soziale Zugänglichkeit. Sowohl das Studieren an einer Kunsthochschule als auch das Leben in Berlin ist mit großen finanziellen und habituellen Hürden verbunden. Zwar gibt es

an der staatlichen Hochschule keine ­ Stu­ diengebühren, Studierenden- und Bewerbungsbeiträge werden jedoch mit den Spar­­ maßnahmen steigen. Zugleich schrumpfen die Töpfe der Fachschaften, die über Förderanträge Materialkosten erstatteten. Alice Rugai aus dem 17. Jahrgang Szenisches ­ Schreiben schreibt über Klassismus und kennt die sozialen Selektionsmechanismen an der Hochschule allzu gut. „Klassismus ist eine Form der Diskriminierung, die durch die Kürzungen verstärkt wird“, warnt Rugai im Gespräch, „Kooperationen mit anderen Kunsthochschulen würden zunehmend erschwert und oft könnten nur noch diejenigen teilnehmen, die sich die Reisekosten oder die Übernachtung selbst leisten können, genauso wie den Theaterszene-Lifestyle.“ Während die renovierungsbedürftigen Gebäude der UdK weiter bröckeln, verfes­ tigen sich mit den Sparmaßnahmen subtil soziale Mauern. Bereits bei den verheerenden Kulturkürzungen in Berlin wurde deutlich, dass besonders Programme wegfielen, die die Zugänglichkeit zu Kunst und Kultur förderten. Sowohl der eintrittsfreie Museumssonntag als auch Förderungen für marginalisierte Künstler:innen wurden gestrichen. Währenddessen dominierten in der von der CDU geprägten Debatte um die Kulturkürzungen kunstfeindliche Ressentiments, meinte Klaus Lederer, der ehemalige Kultursenator, im Interview mit dem Tagesspiegel. Während Kunst und Kultur als vermeintliches Elitenprojekt Mittel entzogen wurden, streicht die schwarz-rote Regierung tatsächlich die Programme, die Zu-

Die durch die Sparmaßnahmen nicht nachbesetzten Professuren gefährden langfristig die Existenz von kleinen Studiengängen.

gänglichkeit ermöglichen. So bleibt der Besuch von Theater, Bildender Kunst oder klassischer Musik wieder stärker wohlhabenden Menschen vorbehalten – deren Kinder fühlen sich dann eher inspiriert, auf die UdK zu gehen.

Dieses Problem kennt auch der neue Präsident Hilgert und versichert, er werde sich für bezahlbaren Wohnraum und günstiges Essen einsetzen, soweit ihm das in seiner Rolle möglich ist. Allein wird die UdK das Problem jedoch nicht lösen, denn die Zugänglichkeit zu künstlerischer Bildung und Kultureinrichtungen geht Hand in Hand mit der Bezahlbarkeit universitärer Bildung.

Statt bestehende wissenschaftliche und kulturelle Institutionen zusammenzukürzen, schlägt die Initiative Bildung Braucht Budget! dem Berliner Senat vor, Prestigeprojekte wie den Umbau des Jahn-Sportparks zu überdenken und umverteilende Finanzierungsmethoden durch die Verpackungs-, Vergnügungs- und Grunderwerbssteuer zu prüfen. T

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Magazin Kritiken

Theater der Stadt Aalen

Komödienkunst wie ein Windhauch in den Wipfeln „Eschenliebe“ von Theresia Walser – Regie und Bühne Tina Brüggemann, Kostüme Stephanie Krey

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it zwei Wassereimern läuft ein Mann durch die Stadt. Mitten in der Nacht steigt er in die Linie 5, um an den Stadtrand zu fahren. Da gießt er einen Baum. Er sei „einer, der glaubt, dass er mit zwei Eimern die Welt retten könne“, sagt sein Arbeitskollege Albert. Eine Welt, die nicht nur wegen des Klimawandels aus den Fugen geraten ist. In solch unsicheren Zeiten arbeitet Luc Teichmann als Versicherer. In ihrem Monodrama „Eschenliebe“ erzählt die Dramatikerin Theresia Walser nicht nur die Geschichte eines Menschen, der eins werden will mit der Natur. Mit ihrer Sprachkunst erschafft sie das Porträt eines Mannes, der dem Gefängnis seiner Büros entflieht. Dabei entfaltet sie einen Humor, der ansteckt. Die Regisseurin und Dramaturgin Tina Brüggemann fördert in ihrer Inszenierung am Theater der Stadt Aalen die erotische Komponente des Textes zutage.

Auf diesen Spagat lässt sich der Schauspieler Philipp Dürschmied mit enormer Kraft ein. Dass seine Figur mehr ist als der frustrierte Sachbearbeiter, der gefangen ist auf seinem Bürostuhl, das spürt man schnell.

Mit leiser Stimme flirtet er mit seinem Baum, den er liebevoll „Ash“ nennt. Das ist die englische Übersetzung für Esche – das Wort hat aber eine doppelte Bedeutung und steht

6

„Der große Gatsby“ von Rebekka Kricheldorf nach F. Scott Fitzgerald am Theater Bielefeld in einer I­ nszenierung von Malte Kreutzfeld

Theater Bielefeld

Verloren im Rausch

„Der große Gatsby“ von Rebekka Kricheldorf nach F. Scott Fitzgerald – Inszenierung und Bühne Malte Kreutzfeldt, Kostüme Sandra Maria Paluch, Musikalische Leitung Oliver Siegel, Choreografie Felix Berning

D

ie Party läuft schon, als das Publikum den Saal betritt. Zwei geschwungene Treppen führen zur Band nach oben, eine Sängerin intoniert „Puttin on the Ritz“ und andere Jazzstandards. Ein großes Tanzensemble kombiniert Line Dances mit Paarhüpfen in Glitzerkostümen aus den zwanziger Jahren. Wir sind gleich mittendrin in einer der Partys, die der mysteriöse Jay Gatsby in seiner mondänen Villa schmeißt.

Wer in den ersten Reihen sitzt, hat sogar Chancen auf eine Tüte Popcorn.

Es ist ein toller Einstieg in die stimmungsvolle und knackige Bühnenfassung einer der großen amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts. Rebekka Kricheldorf hat in ihrer Fassung viele stilistische Schönheiten von F. Scott Fitzgeralds umwerfender Sprache in den Erzählertexten bewahrt.

Jan Hille schafft Momente des poetischen Innehaltens und gleichzeitig Teil des ebenso erotischen wie verzweifelten Rausches.

Die Cousine des Erzählers Nick, Daisy, und Gatsby lieben sich seit ihrer Jugend, aber sie hat die dumpfnussige und rassistische Sportkanone Tom (Lukas Graser) geheiratet. Das Wiedersehen mit Gatsby wird zu einer der schönsten Liebesszenen, die ich seit Jahren im Theater gesehen habe. Zwischen Gesa Schermuly als Daisy und Simon Heinle als Gatsby brennt wahrhaftig die Luft, sie spielen miteinander, entwickeln eine herrliche Leichtigkeit und Freiheit, immer begleitet von der Live-Band. Man würde sich kaum wundern, wenn sie nun einfach wegschweben. Bei aller szenischen Kreativität bleibt immer ein grundlegendes Gefühl der Verlorenheit spürbar. Das ist der Kern des Romans, den Regisseur und Bühnenbildner Malte Kreutzfeld ausge­ zeichnet herausarbeitet. Es braucht keine Holzhammer-­ Verweise, um ein heutiges Lebensgefühl kenntlich zu machen. „Der ­ große Gatsby“ steht für ein System der Verlockungen und Verführungen, für die ­ Raserei des Augenblicks, die niemanden auf Dauer glücklich macht. So geht es in dieser rauschhaften, musikalisch wie optisch opulenten Aufführung im Grunde um die Einsamkeit. Die Protzpartys des großen Gatsby bieten zwar keine Lösung. Aber das lustvolle Spiel des Ensembles haut das ­Publikum von den Sitzen. Jubeln verbindet. // Stefan Keim

Theater der Zeit 5 / 2025

Fotos links oben Peter Schlipf, unten Philipp Ottendörfer, rechts oben Bernd Uhlig, unten René Jungnickel

Philipp Dürschmied in „Eschenliebe“ in der Regie von Tina Brüggemann am Theater Aalen

auch für Asche. Frühlingserwachen und Zerstörung, die beiden Gegenpole liegen für Theresia Walser dicht beieinander. Diese Tiefendimension haucht der Schauspieler Dürschmied dem Text mit kraftvollem Körpertheater wunderschön ein. Im Feinripp­ hemd steht er da und sagt „Ash“, dass er lieber das fliederfarbene Hemd angezogen hätte. In diesen Augenblicken ist er ein Liebender, der seiner Angebeteten gefallen will.

Nur, dass die Schöne ein Baum ist. Stephanie Kreys Kostüme sind schlicht und einfach, holen den Liebesträumer auf den Boden der Wirklichkeit zurück.

Doch in seinen Träumen, da fliegt er davon. Auf der kleinen Bühne im Alten Rathaus in Aalen geizt Regisseurin Brüggemann nicht mit großen Bildern. Auf die leere Bühne ist das Bild einer riesigen Esche projiziert.

Aus diesem Wunderwerk der Natur tritt der Schauspieler heraus, wird wieder eins mit der knorrigen Rinde. Die Schönheit von Walsers Sprache bringen Brüggemann und Philipp Dürschmied ebenso zum Klingen wie den bodenständigen Humor, der dem Text innewohnt. Theresia Walser zeichnet das Bild eines Menschen, der von seinem eigenen Leben entfremdet ist. Das gelingt ihr mit einer Komödienkunst, die so leicht ist wie ein Windhauch in den Wipfeln. // Elisabeth Maier

Magazin Kritiken

„Wege übers Land“ in der Regie von Maik Priebe am Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz

Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg / Neustrelitz

Zugvögel in Sepia „Wege übers Land“ nach dem Roman von Helmut Sakowski – Regie Maik Priebe, Bühnenbild Susanne Maier-Staufen, Kostümbild Christine Jacob, Sounddesign Johannes Winde, ­Dramaturgie Annett Hardegen

E

s ist Kriegsende, Millionen Deutsche sind auf der Flucht aus Polen, die Frau zieht einen Leiterwagen auf Wegen übers Land, vollgepackt mit dem lieben Bisschen und drei Kindern, und als sie in das Dorf zurückkommt, in dem sie früher gelebt hat, hilft sie, die DDR aufzubauen. Früher hießen Serien noch Mehrteiler. Jedenfalls haben diesen Mehrteiler „Wege übers Land“ fast 80 Prozent der DDR-Bevölkerung angesehen, ein Straßenfeger an drei Abenden im September 1968. Es gehört schon Chuzpe dazu, diesen bedeutungsgeladenen Stoff auf eine Theaterbühne zu bringen. Es ist seine letzte Inszenierung, bevor Schauspielchef Maik Priebe das Theater Neubrandenburg/ Neustrelitz verlässt. „Wege übers Land“, erstmals auf einer Theaterbühne, unweit des Ortes also, an dem Helmut Sakowski dieses überaus erfolgreiche Nachkriegsepos geschrieben hat. Und wenn’s ginge, wünschte man auch diesem Theaterabend 80 Prozent der Deutschen als Zuschauer:innen.

Gertrud Habersaat wird hier gespielt von Stephanie Schönfeld, von Maik Priebe als Gast für die Inszenierung eingeladen, eine Schauspielerin, die man aus Andreas-

Theater der Zeit 5 / 2025

Dresen-Filmen kennt. Fünf Stunden lang war sie als Gertud Habersaat in dieser Inszenierung fast ununterbrochen auf der Bühne. Sie ist die Figur, an der sich einerseits die Geschichte horizontal durch die Zeit bewegt. Als Gertud Habersaat macht sie andererseits selbst auch noch eine persönliche Entwicklung durch. Neuroplastisch sozusagen. Von einem eiskalten Stück Materie zu einem empathischen, warmen, lebendigen, fühlenden Wesen. Eine bravouröse schauspielerische Leistung. Gertrud Habersaat hat ein neues Gesicht – das von Stephanie Schönfeld.

Die Inszenierung erzählt szenisch, chronologisch. Sozusagen im Vorbeigehen wechseln die Requisiten, die Kostüme, das Bühnenpersonal, der Erzählfluss wird nicht von Umbaupausen gestört, eingerahmt in einem Halbpanorama aus Mecklenburger Weite und Zugvögeln in Sepia. Wer die Filme „Wege übers Land“ nicht gesehen hat, kann sich den Stoff jetzt im Theater ansehen. Die fünf Stunden fliegen vorbei. Die Geschichte darum, wie Menschen Schuld auf sich laden, irgendwelchen Führern folgen, dafür ihre Gewissen verraten, sich vor lauter Angst um ihr persönliches Wohlergehen um die Menschlichkeit drücken, ist nicht vorbei und aus den Menschen nicht herauszukriegen.

Aber dieses Epos ist lang genug, um sich auch die Folgen anzusehen. // Juliane Voigt

„Hinkemann“ von Ernst Toller in der Regie von ­Manuel Schöbel an den Landesbühnen Sachsen

Landesbühne Sachsen

Vom Mann zum Homunkulus „Hinkemann“ von Ernst Toller – Regie Manuel Schöbel, Bühne und Kostüm Barbara Blaschke, Komposition Berthold Brauer

M

it blinkenden Lichtern, grotesken Körpern und zum Himmel schreienden Lügen lockt der Jahrmarkt als Ort der Grenzüberschreitung. Dort treffen sich Arbeiter:innen, um die Zwänge des Tages abzustreifen, zu gaffen und zu träumen. Hinkemann wechselt in Ernst Tollers gleichnamiger Tragödie die Seiten. Vor dem Ersten Weltkrieg stand er noch in der Fabrik, danach findet er traumatisiert und versehrt keine Anstellung mehr.

Einst ein stolzer Arbeiter verdingt sich Eugen Hinkemann nun als Jahrmarktsattraktion. Der abgehalfterte Budenbesitzer, karikaturartig gespielt von Grian Duesberg, bewirbt den „Bärenmenschen“ spöttisch als deutschen Mythos und Helden, den man für ein paar Mark dabei beobachten kann, wie er lebenden Mäusen und Ratten die Kehle durchbeißt.

Die Entmenschlichung Hinkemanns vollzieht sich vor dem expressionistischen Triptychon „Der Krieg“ von Otto Dix, mit dem Bühnenund Kostümbildnerin Barbara Blaschke das bunte Rummeltreiben kontrastiert.

Der deutsche Nationalismus und seine in Schützengräben und Gasangriffen ausgetragenen Folgen bilden den Hintergrund des 1923 uraufgeführten Dramas. Ausgehend vom Schicksal Hinkemanns, dem auf dem Schlachtfeld der Penis und sein männliches Selbstbewusstsein weggeschossen wurden, fragt Toller, welchen Platz die innerlich und äußerlich verwundeten Kriegsheimkehrer in der Weimarer Republik haben können.

Dabei geht der Sozialist Toller auch mit seinen kommunistischen Genossen ins ­ Gericht, die in ihren Revolutionsfantasien ­ eigentlich nur von gesunden, proletarischen Männern träumen. Intendant und Regisseur Manuel Schöbel liefert an den Landesbühnen Sachsen eine textnahe Inszenierung, die von neu komponierter Musik von Berthold Brauer und dem Brecht-Lied „O Falladah, die du hangest“ begleitet wird. Gegenüber der komplexen Textvorlage wirkt die Interpretation des niedergeschlagenen Ehepaars ­Hinkemann, gespielt von Alexander Wulke und Karoline Günst, etwas eindimensional bebildernd. Vielseitiger zeigt sich das ­Bühnenbild, das sich vom drehbaren Würfel in ein Panoramagemälde entfalten kann und stimmig die Architektur der 1920er aufgreift. // Lara Wenzel

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken

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Mitten im Ausprobieren Von Céline Karow & Josef Bäcker – Theaterhaus Jena

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Unsere erste Spielzeit ist etwa 200 Tage alt.

Das Wissen um diese Aufgabe ist nun schon fast zwei Jahre da. Noch ein halbes Jahr länger denken wir daran rum. Wir sind fünf: Azeret Koua, Céline Karow, Daniele Szeredy, Josef Bäcker und Lukas Pergande. Fünf Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven, Meinungen, Bedürfnissen. Aber kein Kollektiv. Wir leiten ein Haus mit knapp über 50 Mitarbeitenden mit unterschiedlichen Perspektiven, Meinungen, Bedürfnissen. Das Theaterhaus Jena ist traditionell ein Haus für Experimente. Hier soll Theater nicht nur geprobt und aufgeführt, sondern auch strukturell erprobt und weiterentwickelt werden. Ein Leitungsteam darf hier maximal sieben Jahre sein, danach wird Platz gemacht für ein neues Leitungsteam und neue Experimente.

Was ist bisher unser größtes Experiment?

Vielleicht die anonymisierte Teilausschreibung des Spielplans? Die öffentliche Suche nach einem neuen Ensemble? Der Theateraustausch, in dem Spieler:innen und Produktionen zwischen Budapest und Jena hin und her wechseln? Das für uns größte Experiment sind wohl wir selber: fünf unterschiedliche Menschen, die die Aufgabe und auch das Vertrauen bekommen haben, ein Haus zu leiten. Und das ohne vorherige Leitungserfahrung. Für uns fünf ist das neu. Neuer Arbeitsbereich, neues Umfeld, neue Stadt, neue Verantwortung und eine Kolumne in der TdZ. Wie eine Kolumne schreiben, zu fünft? Josef und Céline machen den Anfang. Sie schreiben zu zweit aus einer Ich-Perspektive und fragen sich: Wie viele bin ich alleine? Wann treffe ich Entscheidungen alleine? Wenn sich Verantwortung auf fünf Menschen verteilt, wie viel liegt dann bei mir? Das ist vielleicht die größte Herausforderung: Wie viel liegt in meiner Verantwortung und wie viel eben auch nicht? Und: Wenn etwas nicht in meiner Verantwortung liegt, bei wem liegt sie dann?

Josef: Warum stellst du so viele Fragen?

Hast du auch Antworten?

Céline: Experimente brauchen eine präzise Fragestellung. Die Antworten müssen wir durch Ausprobieren finden.

Josef: Und hast du schon Antworten?

Céline: Wir sind ja noch mitten im Ausprobieren. Aber was ich weiß: dass ich nicht alles alleine entscheide, ist gut. Dass es da noch vier andere gibt, die Verantwortung tragen, ist gut. Dass sich Macht auf mehrere Menschen verteilt, ist wichtig.

Josef: Jetzt haben sich unsere Ichs getrennt.

Céline: Ja, wir sind ja auch kein Kollektiv.

Lass uns in dieser Form weitermachen.

Josef: Ja, das war mein Vorschlag.

Céline: Ok. Josef, wie geht es dir? Bist du gut angekommen in Jena?

Josef: Möchtest du die kurze oder die lange Antwort?

Céline: Die kurze. Die Kolumne hat nur 4300 Zeichen.

Josef: Ich kann diese Frage erst am Ende der Spielzeit wirklich beantworten. Am 6. Juli 2025 spielen wir die letzte Vorstellung der Spielzeit. Dann habe ich am Theaterhaus u. a.

Regie geführt, gespielt, war Gastgeber für Publikum und Künstler:innen. Wenn ich mir das vor Augen führe, fühlt sich das so unglaublich an, wie, dass Arminia Bielefeld in das DFBPokalfinale eingezogen ist. Hier lerne ich aktuell unglaublich viel, sammle einzigartige Eindrücke und erfahre eine neue Sichtbarkeit.

Céline: Wir werden ganz anders angeschaut und unser Wort hat ein anderes Gewicht.

Josef: Macht dir das Druck?

Céline: lol. Ja, der Druck ist hoch. Was ich sage, hat ein anderes Gewicht. Mir hören Leute anders (besser?) zu, seit ich in einer Leitungsposition bin. Vielleicht, weil ich Jobs zu vergeben habe?

Josef: Mit den öffentlichen Ausschreibungen haben wir ja versucht, genau das zu vermeiden. Dass Leute nett zu uns sind, weil wir vielleicht einen Job für sie haben.

Céline: Ja, das stimmt. Darauf berufe ich mich auch gern, das nimmt tatsächlich Druck raus. Es ist natürlich ein großes Privileg, dass Menschen einem zuhören. Ich wurde mehrere Male angefragt, auf einer anti­ faschistischen Demonstration zu sprechen, und mache das immer gerne. Ich wurde mal gefragt, ob ich Angst habe, dass meine Rede zum Kulturbegriff der noAfD zu Kürzungen des Theaters führen können. Ja, habe ich.

Andererseits habe ich nur gesagt, was eh in deren Parteiprogramm steht.

Josef: Bist du denn gut angekommen in Jena?

Céline: Ich war ein Thüringer Kloß bei unserer ersten Veranstaltung auf der Bühne.

Josef: Ich weiß.

Céline: Das fühlt sich schon so lange her an.

Josef: Ich habe noch keine dreimal Thüringer Klöße gegessen.

Céline: Das schaffen wir noch diese Spielzeit! T Hier schreiben unsere Kolumnist:innen im monatlichen Wechsel: die Schriftstellerin und Übersetzerin Terézia Mora, die Dramaturgin Anna Bertram und ein Team vom Theaterhaus Jena.

Theater der Zeit 5 / 2025

Fotos Oskar Schlechter

Magazin Kolumne

2.5.

18.5.2025

Gefördert von

Das Theatertreffen wird gefördert durch die

Medienpartner

Design: 3pc

berlinerfestspiele.de

© Studio Plan X, plan-x.de

Gesamtprogramm ab 4.4.25 online auf figurentheaterfestival.de

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präsentiert

Fotos: Sophiensæle Maurycy Stankiewicz, Ballhaus Naunynstraße Zé de Paiva, Theater Marie Valentina Verdesca, Kaserne Basel Archive BAM_DAndonova, RambaZamba Theater Phillip Zwanzig

RambaZamba Theater, Berlin Wie werden Frauen mit Behinderungen in der Gesellschaft wahrgenommen?

Jorinde Dröse stellt in Superwomen gemeinsam mit dem Ensemble Zuschreibungen infrage und feiert die Vielfalt. rambazamba-theater.de 4.5. (Premiere), 6.5., 8. bis 10.5.

Kaserne Basel „Same Love“: Nach dem gefeierten Erfolg von „Raising Karen’s Children“ an der Kaserne 2023 bringt Muhammed Kaltuk mit seiner Company MEK ein neues, kraftvolles Werk nach Basel. Das beeindruckende Ensemble nimmt euch mit auf eine bewegende, ­choreografische Entdeckungstour durch den öffentlichen Raum. kaserne-basel.ch 27.5. (Premiere)

Schweizer Theatertreffen 2025 in Zug und Luzern

Theater Casino Zug An fünf Festivaltagen bringt das Schweizer Theatertreffen die herausragendsten Theaterproduktionen des Vorjahres nach Zug und Luzern. Im Festivalzentrum am Theater Casino Zug treffen sich Publikum, Künstler:innen und Theaterschaffende aus der ganzen Schweiz.

Eröffnet wird das Festival Zug am Mittwoch, den 21. Mai 2025, mit dem Schauspiel des Theater Basel „Die Krume Brot“ von Lukas Bärfuss. theatercasino.ch 21.5. bis 25.5.

Lioba Breitsprecher für Superwomen

Ballhaus Naunynstraße, Berlin Es gab weder Text noch Thema: Rund 40 Theaterschaffende kamen am Ballhaus Naunynstraße zusammen, um aus der Fülle der Begegnungen Theater zu schaffen! Nun zeigen sie ihre Kunst – „Extended Cooperation Vol. I“ bildet den Auftakt!

10. bis 12.5.

Sophiensæle Berlin Das internationale Performance-Festival „Making Life in the Ruins“ versammelt ­künstlerische Positionen von u. a.

Paula Almirón, Ntando Cele, Irmãs Brasil, Enad Marouf, Ania Nowak, Netti Nüganen und Tiran Willemse.

15. bis 31.5.

Manuel Herwig in „zwei herren von real madrid“

„Extended Cooperation Vol. I“ unter der Regie von Aina Kaufmann

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Theater Marie Real Madrid spielt in St. Gallen – Der Dramatiker Leo Meier erschafft eine Welt im Profifußball, die zeigt, dass auch andere Spiel­ regeln des Zusammenlebens gelten könnten.

Ein Stück über Beziehungen, Emotionen und Männlichkeit. 24./25.4. (Kurtheater Baden), 1./2.5. (Bühne Aarau Konzert) und 7. bis 28.5. (Theater St. Gallen)

Ania Nowak

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Thema Ausbildung und Digitalität Im September 2023 eröffnete in Dortmund die Akademie für Theater und Digitalität, dem Status nach die sechste Sparte der Theater Dortmund. Nach zwei Jahren ist es nun so weit: Die Akademie bietet einen ersten Master­ studiengang an mit einem ambitionierten Ausbildungsprogramm als zugleich digitales Forschungsprojekt. NRW-Redakteur Stefan Keim stellt die Arbeit und Perspektiven der Akademie vor. Dazu ein Porträt des Digital­dramaturgen Ilja Mirsky, der wiederum besonders die digitalen Zukunftsfelder des Theaters an der Akademie in Ludwigsburg lehrt, wie Baden-­Württemberg-Redakteurin Elisabeth Maier über das Spektrum neuer Arbeitsbereiche schreibt.

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Theater der Zeit 5 / 2025

Foto Steven M. Schultz - ADK

Die Studierenden der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg nutzen eine LED-Wand des Animations­ instituts der Filmakademie

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Thema Ausbildung und Digitalität

Szene aus „Narratives of Time“ von Maria Paytkova

Neue Berufsfelder erfinden Die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund startet einen Masterstudiengang

Mitte: Theater im Pizzakarton: ­„Invisible Cities“ von Johannes ­Bereiter-Payr und Peter Lorenz Unten „Automating the Audience“ von Katie Hawthorne

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Fotos Birgit Hupfeld

Von Stefan Keim

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Das Gesicht der Sängerin ist mehrere Meter über der Bühne. Ihren Körper sieht man nicht, dafür eine digitale Projektion.

Olympia ist ein Automat, einzig geschaffen, um Männerfantasien zu bedienen. Im zweiten Akt der Oper „Hoffmanns Erzählungen“ in der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf interagiert das Ensemble mit Videobildern. Dafür ist das britische Theaterkollektiv 1927 bekannt, es hat auch die berühmte cineastische „Zauberflöte“ von Barrie Kosky gestaltet. Hoffmann steht auf dem Boden unter Olympia. Beide bekommen in der Projektion weiße Flügel, scheinen wie Engel in den Himmel zu schweben – und stürzen ab. Solche Bilder sind mit konventionellen Bühnenbildern kaum möglich oder extrem aufwendig. Digitale Projektionen geben den Regieteams viele Möglichkeiten. Deshalb setzen sie sich durch, nicht nur in Experimentalformaten der Off-Szene, sondern auch auf den großen Bühnen.

Es entstehen neue Berufsbilder. Sie tragen verschiedene Namen und haben unterschiedliche konkrete Aufgaben.

Aber alle haben mit Digitalität zu tun und verbinden Kunst und Technologie.

Eben das ist die Aufgabe der vor sechs Jahren gegründeten Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund. Neben der künstlerisch-technischen Forschung und der Fort- und Weiterbildung war von Beginn an auch die Ausbildung eine der geplanten Säulen. Seit Dezember 2018 wurde er geplant, nun hat er begonnen, der Masterstudiengang Theatre and Digitality.

Elf „Pionier:innen“ starten in Dortmund ab diesem Sommer. Das kommt einem nicht viel vor in der Stadt mit der zweitgrößten Anzahl an Informatik-­ Studierenden in Deutschland. „Aber das ist eine sensationelle Zahl“, erklärt Marcus Lobbes, der Direktor der Akademie für Theater und Digitalität. „Es weiß ja noch niemand, worauf man sich einlässt.“

In der Pandemie gingen plötzlich fast alle Theater digital. Die Akademie besetzte eine Marktlücke.

20 Bewerbungen hat es gegeben, 16 wurden angenommen, fünf wollen erst etwas später nach Dortmund kommen. Die Studierenden stammen aus Russland, Pakistan, Chile, Iran, Neuseeland, auch eine junge Frau aus Dortmund ist dabei. Der Studiengang wurde international ausgeschrieben, die Veranstaltungen finden auf Englisch statt. Alle Studierenden haben entweder technische oder künstlerische Berufserfahrung oder mindestens einen Bachelor.

Viel mehr ist zu Beginn des ersten Semesters noch nicht bekannt. Klar, es ­ gibt Seminare, die Professor:innen stammen von der Fachhochschule Dortmund aus den Bereichen Design und Informatik.

Die Akademie – die von der Rechtsform eigentlich ein Theater ist, genauer die sechste Sparte der Dortmunder Bühnen – stellt einige Lehrende, die sich z. B. um Robotik kümmern. Am Ende der Ausbildung nach drei bis vier Semestern steht ein künstlerisches Projekt. Auch da ist noch unklar, ob es sich um eine Gemeinschaftsarbeit aller Pionier:innen handelt oder sich die Gruppe noch aufspaltet. „Erst einmal sind wir aufgerufen“, sagt Marcus Lobbes, „die Studierenden kennenzulernen und zu erfahren, was die überhaupt wollen. Es gibt ganz vage Ideen, was wir in den nächsten Jahren machen könnten.“ Z. B. ein gemeinsames Projekt mit Schauspielschüler:innen, aber das darf ich hier eigentlich nicht schreiben, weil die Idee noch ganz am Anfang steht.

Hier ist noch alles möglich

Gianna Molinari Schweizer Erstaufführung

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Über die Region hinaus Klar ist: Der neue Studiengang wird das Flair in der Akademie für Theater und Digitalität weiter verändern. Das passt zur Geschichte dieses jungen Instituts. „Was wir jetzt machen“, erzählt Marcus Lobbes, „hätten wir damals gar nicht wissen können. 2019 waren wir ein Nerd-Club, der für die Spinnereien, die wir vorhatten, außergewöhnlich gut gefördert wurde. Das hat sich 2020 geändert, als wir eine Menge internationaler Anfragen bekommen haben.“ In der Pandemie gingen plötzlich fast alle Theater digital. Die Akademie besetzte eine Marktlücke. Die Nachfrage hat seitdem nicht nachgelassen,

tdz.de/abo Theater der Zeit 5 / 2025

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Thema Ausbildung und Digitalität

Richtiges Theater, kein Webkino und auch keine Medienkunst.

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Hausansicht der Akademie für Theater und Digitalität

Aus drei Mitarbeitenden zu Beginn sind inzwischen 18 Leute geworden. „Intern sind wir zehn Jahre weiter, als wir gedacht hätten“, sagt Marcus Lobbes. Gerade war ein Theater aus Liège in Belgien vor Ort, es gab einen Workshop über Holografie und projection mapping, das an die Oberflächenstruktur einer Fläche angepasste Projizieren. Überall entwickelt sich die Technik rasant weiter, die Akademie ist ein Thinktank, um Verbindungen herzustellen. Oder wie Lobbes sagt: „ein gegenseitiges Verständnis zu wecken zwischen Kunst und Technologie.“ Denn natürlich ist die Arbeit mit extrem komplizierter Technik nicht einfach.

Regieteams müssen z. B. verstehen, dass ein Programmierer auch mal zwei Nächte rendern, also eine Datei aus vorhandenem Material herstellen, muss und dass dieses kein Zauberwerk ist, das sofort auf Anforderung zur Verfügung steht.

Sondern eine anspruchsvolle und langwierige Arbeit. „Wir wollen eine gemeinschaftliche Arbeitshistorie entwickeln“, sagt Marcus Lobbes. „Wir müssen Deutungsmuster und gegenseitige Aufmerksamkeit lernen.“ Dazu passt der neue Studiengang perfekt. Bleibt die Frage, was die Absol-

vent:innen später eigentlich genau machen sollen. Darauf kann es noch keine Antwort geben, nur diese: „Wir bilden ein Großfeld aus, dass dadurch erst erfunden wird.“ Das klingt schwammig, hat aber Parallelen in der Theatergeschichte. „Die Einführung des elektrischen Lichts auf der Bühne war auch nicht einfach“, sagt Lobbes. „Plötzlich sahen Kostüme anders aus, und die Maske musste völlig anders schminken.“ Auf jeden Fall sind immer mehr Theater offen für digitale Technik und haben schon gute Erfahrungen damit gemacht. „Wir haben sogar im Altenheim Aufführungen mit VR-Brillen gemacht“, erzählt Marcus Lobbes. „Die Leute waren begeistert.“ Auch das Projekt „The (Un)answered question“ war ein großer Publikumserfolg. Da wurden ein Gedicht von Ralph Waldo Emerson und das titelgebende Orchesterstück von Charles Ives aufgrund der Körperdaten der Teilnehmenden durch eine KI neu sortiert. Es entstand eine eigene Partitur, die von Musizierenden direkt aufgeführt wurde. Ein Beispiel für die Arbeit der Akademie, deren Grundsatz auch für die neuen Studierenden gilt: „Wir sind nicht dazu da, um Technologie nach vorne zu bringen, sondern Kunst.“ T

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Foto Birgit Hupfeld

im Gegenteil. „Wir nehmen jede Anfrage an und helfen allen. Wenn Studiengänge kuratiert, digitale Sparten gegründet oder Stellen besetzt werden – wir haben eigentlich überall unsere Finger drin.“ Im Ruhrgebiet kann ich das aus eigener Anschauung bestätigen. Bei den Installationen, die das Theater an der Ruhr in Mülheim bei seinen Spielinseln zeigt, sind immer Stipendiat:innen aus Dortmund vertreten.

Auch bei der Gründung des mir:labor des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen hat die Akademie prägend mitgewirkt.

Doch die Arbeit reicht weit über die Region hinaus. Marcus Lobbes reist durch die ganze Welt, um verschiedenste Künstler:innen, Politiker:innen und Institutionen zu beraten. „Die Anfragenflut ist gigantisch“, sagt der Regisseur, der kaum noch dazu kommt, mal wieder eine Inszenierung zu machen. „Meine Arbeitszeit besteht zu 60 Prozent aus Beratung.“ Weniger spannend sind Fragen der Art: „Wie schalte ich einen Beamer ein?“, aber auch da hilft die Akademie. Bedeutender dagegen, wenn es darum geht, Förderprojekte mit Künstlicher Intelligenz sinnvoll zu gestalten. „Im letzten Jahr haben wir gemerkt, dass wir selbst niemanden mehr anfragen müssen, wir werden gefragt.“ Das Streamen von Aufführungen ist wieder bedeutungslos geworden, denn es hat die Pandemie nicht überlebt. Das regt in Marcus Lobbes kein Bedauern, im Gegenteil. „Wir sind nicht dafür da, Bilder an Wände zu werfen oder in Laptops zu bringen“, sagt er. „Wir sind auf den Bühnen, wir wollen Leute treffen, wir sind ein physischer Ko-Präsenzraum.“ Also richtiges Theater, kein Webkino und auch keine Medienkunst. „Es geht darum, mit digitalen Formen Geschichten zu erzählen. Und da entstehen immer mehr Formate, mit Robotern, mit Holografie, mit KI.“ Auf den knapp 2000 Quadratmetern der Akademie ist eine Menge an Forschung und Experimenten möglich.

AUS LIEBE ZUM DRAMA Zum 30. Mal Partner des Theatertreffens: STARKE STÜCKE in 3sat

Berufsbild: Digitaldramaturg Ilja Mirsky realisiert am Residenztheater in München Visionen eines immersiven Theaters und unterrichtet an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg Von Elisabeth Maier

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Unruhig kreisen Vögel im digitalen Raum.

Die Welt der Protagonistin Lise Mundus im Roman „Gesichter“ ist aus den Fugen geraten. Feste Fundamente, auf denen sie sich einst bewegt hat, wanken. Eingesperrt in einer Klinik, nimmt sie ihre Umgebung anders wahr. In dieser wirren Welt bewegt sich die Schauspielerin Sibylle Canonica. Bedrohlich bewegt sich die schwere, düstere Decke auf die leidende Frau herab. Dieses Gefängnis hat die Autorin Tove Ditlevsen in ihrer ausdrucksstarken, emotionsgelähmten Spra-

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Foto links Jonas Alsleben, rechts Ilja Mirsky

„Gesichter“ von Tove Ditlevsen. Eine Lesung mit Sibylle Canonica. Szenische Einrichtung und Textfassung Elsa-Sophie Jach, Digitaldramaturgie Ilja Mirsky, Creative Technologist Moritz Huson, 3D-Animation und Motion Design Maximilian Rueth, Bühne „Die Kopenhagen-Trilogie“ Marlene Lockemann

Thema Ausbildung und Digitalität che brillant beschrieben. Auf der Bühne des Marstall-Theaters im Residenztheater München spielt sie in einem ungewöhnlichen Raum. Denn unsichere Böden und einstürzende Mauern erlebt das Publikum virtuell. Die Zuschauer:innen tragen Augmented-Reality-Brillen. Das Projekt hat Digitaldramaturg Ilja Mirsky gemeinsam mit der jungen Regisseurin Elsa-Sophie Jach realisiert. „Die Grenzen zwischen Realität und Illusion verschwimmen zu lassen“, das reizt den 29-jährigen Experten für digitales Theater. Er hat an der Universität in Hamburg einen Master-Abschluss in Performance Studies gemacht, in Tübingen studierte er Kognitionswissenschaften.

Die Schnittstellen von Schauspielkunst und digitalen Medien auszuloten, findet er spannend.

Stellenprofil selbst entwerfen Am bayerischen Staatstheater kümmert er sich seit der Spielzeit 2022/23 um die neuen technischen Möglichkeiten am Theater.

Auch als Produktionsdramaturg bringt er seine Expertise in die Inszenierungen des „Resi“ ein. Dass sich Ensemblemitglied Sibylle Canonica so offen und neugierig auf das immersive Projekt einließ, freut den jungen Medienkünstler. Vorbehalte, sich auf die virtuelle Welt einzulassen, gab es seitens des Publikums. Ilja Mirsky ist bewusst, „dass es ein langer Weg ist, digitales Theater in den bestehenden Strukturen zu etablieren“.

Allein die Bühnen mit der innovativen Technik auszustatten, ist ein Kraftakt. Das ist nicht nur eine Kostenfrage.

Auch das Know-how zu erarbeiten, ist ein langer Prozess. Da arbeitete der junge Künstler mit dem Kollektiv Nico and the Navigators zusammen, das seit Jahren mit innovativen digitalen Projekten bundesweit aufhorchen lässt (siehe TdZ 09/2022). Die Magic-Leap-Brillen hat das junge Münchner Regieteam von den erfahrenen Kollegen ausgeliehen. Sie vor den Vorstellungen individuell für alle Zuschauer:innen anzupassen, braucht viel Zeit. Dass sich Bühnenbilder von einem Augenblick zum nächsten vor ihren Augen auflösen, versetze viele in Staunen.

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„Es ist eine große Chance, dass ich am Residenztheater den Freiraum für diese Experimente bekomme“, findet Ilja Mirsky. Denn es braucht aus seiner Sicht „eine große Offenheit aller Beteiligten“, digitales Theater im eng getakteten Proben- und Vorstellungsbetrieb auch im größeren Stil zu etablieren. In virtuellen Projekten liegt für den jungen Künstler die Zukunft des Theaters. Dass er ein Stellenprofil als Digitaldramaturg an dem Haus ganz neu denken und mit eigenen Impulsen entwickeln darf, ist für ihn besonders reizvoll.

Zugleich sind ihm die Grenzen bewusst, die der Entwicklung noch gesteckt sind. Denn die Kosten für die technische Ausstattung der Bühnen sind immens.

Und die Sehgewohnheiten des Publikums sind vielfach noch im Analogen verhaftet.

Da war Ilja Mirsky besonders glücklich, dass sich die bekannte Schauspielerin Sibylle Canonica so offen und beherzt auf das virtuelle Experiment einließ. Sie sei für die digitale Technik sehr offen, „um die eigenen künstlerischen Möglichkeiten zu erweitern“. Die Zeit- und Gedankensprünge, die ihre Figur in Tove Ditlevsens „Gesichter“ wagt, sind mit digitalen Mitteln leichter abzubilden. So kreiert die Schauspielerin eine surreale Atmosphäre.

Dass ihr Spiel und die Sprachgewalt der

Dass viele Zuschauer:innen der neuen Technik skeptisch gegenüberstehen, ist dem Digitaldramaturgen bewusst.

Autorin trotz aller technischen Finessen stets im Fokus stehen, macht den Reiz der Produktion aus.

Dass viele Zuschauer:innen der neuen Technik skeptisch gegenüberstehen, ist dem jungen Digitaldramaturgen bewusst.

Das war auch in der Diskussion nach der Premiere der „Gesichter“ in München zu erleben. Einige störten sich daran, dass die Programmierung bisweilen noch unfertig und künstlich wirkte. Andere waren begeistert vom Fluss der Handlungs- und Zeitebenen. Die unterschiedliche Resonanz ist für Ilja Mirsky ein Ansporn, die Programmierung noch perfekter auf die Performance zuzuschneiden. Für die Entwicklung solcher immersiver Theatererlebnisse ist es aus seiner Sicht wichtig, „das Feedback des Publikums zu hören und für die weitere Entwicklung mitzunehmen“. „Neugier wecken und Ängste abbauen“ ist deshalb sein Ziel. Für sein digitales Theater findet Mirsky immer wieder For-

Die Schauspielerin Sibylle Canonica liest „Gesichter“ von Tove Ditlevsen

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Thema Ausbildung und Digitalität mate, die Lust auf den Fortschritt machen.

Deshalb hat er im April 2024 mit dem Szenografen und künstlerischen Projektleiter Christian Ziegler die KI-Installation „ANA“ entwickelt. Die Zuschauer treten in den engen Raum ein, der einer Fotobox ähnelt. Sie werden allerdings nicht mit der Kamera abgelichtet. Mit der Maschine entdecken sie stattdessen eine neue Form, Geschichten zu erzählen. Dieser Dialog macht einfach Spaß, ist ganz unkompliziert zu führen. Das gemeinsam Erzählte wird dann ausgedruckt. „,ANA‘ regt dazu an, über die Beziehung zwischen Menschen und KI sowie über die Natur von Kunst und Kreativität nachzudenken“, bringt Mirsky das Konzept auf den Punkt.

Mit niederschwelligen Angeboten wie diesem, die „relativ leicht zu handhaben sind“, lassen sich aus seiner Sicht Vorbehalte abbauen.

Dass sich digitales Theater in der Freien Szene wie auch in Stadt- und Staatstheatern durchsetzen kann, beginnt für ihn bei der Ausbildung. Ilja Mirsky selbst promoviert an der Züricher Hochschule der Künste und an der Universität Tübingen zu Theater und Künstlicher Intelligenz. In der Theaterpraxis mit Digitalität zu experimentieren, hat ihn schon bei seinem ersten Engagement als Dramaturg am Tübinger Zimmertheater gereizt.

Mit sehr begrenzten finanziellen Mitteln setzte er an dem kleinen Stadttheater digitale Experimente um. Schon bei seiner ersten Station am Institut für Theatrale Zukunftsforschung von Peer Mia und Dieter Ripberger zeigte Mirsky, „dass Digitaltheater nicht nur an großen Bühnen machbar ist“.

Während der Lockdowns in den Corona-Jahren hat der Medienkünstler mit der Autorin Hannah Zufall und Schauspieler:innen des Ensembles Audiowalks

Dass sich digitales Theater in der Freien Szene wie auch in Stadt- und Staatstheatern durchsetzen kann, beginnt bei der Ausbildung.

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entwickelt. Da entdeckten nicht nur die vielen Studierenden in der Universitätsstadt das Theater neu für sich. Mit dem Audiowalk gewann die Bühne 2020 auch ein neues Publikum, das den Bühnen und ihren Angeboten ansonsten eher skeptisch gegenübersteht. Mit einem OR-Code konnten die Teilnehmer:innen „Freund Hein. Ein Audiowalk mit dem Tod“ aufs eigene Smartphone laden. Dann spazierten sie zu den einzelnen Stationen in der Stadt und hörten die Texte über die eigenen Kopfhörer. „Dass wir in Zeiten der Isolation unser Theater kontaktlos verwirklichen konnten, das war für alle Seiten ein großer Gewinn“, sagt Mirsky heute im Rückblick. Das Programm für individuelle Smartphones auszutüfteln, fand er damals spannend. Wichtig ist für den Digitaldramaturgen „das technische Handwerkszeug“. Da bildet er sich selbst seit jungen Jahren fort, knüpft Netzwerke mit anderen Kunstschaffenden, die über digitales Theater forschen.

Perspektiven Um die junge Generation fit zu machen für Digitalität im Theater, lehrt Ilja M ­ irsky an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg. Dort werden junge Schauspieler:innen, Regisseur:innen und Dramaturg:innen ausgebildet. Den Campus teilt sich die Hochschule mit der Filmakademie Ludwigsburg. In der Zusammenarbeit mit den jungen Filmemacher:innen entdeckt Mirsky viele Synergien. Es gehe ihm darum, „mit den Studierenden die Schnittstellen zwischen Darstellender Kunst und moderner Virtual-­RealityProduktion zu untersuchen“, fasst der Medienkünstler sein Konzept in der Lehre zusammen. Dabei nutzten die Studierenden die LED-Wand des Animationsinstituts der Filmakademie.

Welchen Stellenwert hat das digitale Theater an der ADK? „Ich habe gemeinsam mit Ilja und Caspar Weimann, der Mentor im Schauspiel ist und als Künstler Theater in und mit Social Media macht, das Thema Digitalität in der Lehre an der ADK fest in die Ausbildung eingebaut“, sagt Professor Ludger Engels, der die Akademie leitet. Das gilt nach seinen Worten

„für alle Studienfächer“. Die jungen Menschen bekommen im ersten Studienjahr eine Einführung in die Technologien und Ästhetiken. Dann steht ein Workshop gemeinsam mit den Digitalen Medien am Animationsinstitut auf dem Plan. „Da haben sie die Möglichkeit, mit einer LED-Wall zu arbeiten und auch Motion Capture zu nutzen, also das Tracking-Verfahren zur Aufzeichnung und Erfassung von Bewegungen.“ Die Idee dahinter ist nach Engels’ Worten, „dass die Darstellenden Künste ja neben dem Theaterraum in ihrer vielfältigen Nutzung auch im urbanen Raum und der Landschaft, und eben im Digitalen stattfinden“. Das eröffne für die Studierenden später weitere Berufsfelder, etwa in der Gaming-­Industrie, ist der Leiter er ADK überzeugt. Dass er mit Ilja Mirsky einen Dozenten hat, der viele gute und frische Impulse in die Lehre einbringt, freut den Chef der Akademie.

Das Publikum neugierig zu machen auf die digitalen Formate, ihre Sehweisen zu schulen, das ist für Ilja Mirsky die große Herausforderung der kommenden Jahre. Deshalb will er die Studierenden vertraut machen mit digitalen Formaten und mit den Möglichkeiten von Social Media. VR-Brillen gehören seit einem Jahr zur festen Ausstattung der Akademie für Darstellende Kunst. Dass Studierende die Bereiche Film und Theater zunehmend gemeinsam denken, freut den Akademieleiter und Theaterregisseur Engels. Das Projekt „Kostia“ der Regie-Absolventin Alessa Bollack ist für ihn ein gutes Beispiel, „wie der Theaternachwuchs gemeinsam mit Studierenden von Filmakademie und Filmuni Babelsberg ein partizipatives Konzept entwickelt“. Da bestimmen die Zuschauenden die digitale Welt mit. Ein Schauspieler bedient seinen eigenen Avatar. Manches sei da noch nicht ganz ausgereift, gibt Engels zu bedenken, „aber es zeigt spannende Möglichkeiten auf“. Dass er an der ADK diesen Raum zum Experimentieren bekommt, freut Ilja Mirsky. Mit den jungen Künstler:innen, die schon im Alltag mit digitalen Medien aufgewachsen sind, das Theater der Zukunft voranzubringen, ist für den jungen Digitaldramaturgen die schönste Perspektive. T

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Theater der Zeit

Foto picture alliance / Everett Collection | Copyright © Everett Collection / Everett Collection

Akteure

„The Florida Project“, 2017. Regie Sean Baker. Willem Dafoe als Bobby Hicks © A24/Courtesy Everett Collection

Gespräch Willem Dafoe über die Biennale teatro in Venedig Kunstinsert Das Theater Naumburg erweitert sich im Alten Schlachthof Porträt Die Regisseurin Theresa Thomasberger ist Feministin – und baut Gruselkabinette Nachrufe Lothar Trolle, Wolfgang Engel

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Ich arbeite einfach gern

Willem Dafoe, der neue Direktor der Biennale teatro in Venedig, im Gespräch mit Thomas Irmer

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commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47042505

kargaltsev/24457773254/in/dateposted/, CC BY 2.0, https://

Foto By Sasha Kargaltsev - https://www.flickr.com/photos/

Akteure Interview

Akteure Interview Thomas Irmer: Was war Ihr Ansatz für diese neue Herausforderung? Und warum haben Sie diesen kuratorischen Job in solch schwierigen Zeiten angenommen?

WILLEM DAFOE: Oh, es schien für mich eine interessante Herausforderung zu sein. Es ist nicht das, was ich normalerweise mache. Es gab mir die Möglichkeit, ein Programm zu gestalten, das genau den Dingen entspricht, die ich am Theater liebe.

Venedig, die Biennale – das ist eine hervorragend organisierte Institution. Sie verfügen über wunderschöne Räume. Wenn man hierherkommt und sich die Spielstätten anschaut, ist man einfach überwältigt von ihrer Schönheit – hier muss einfach großartiges Theater rein. Ich habe also diese Struktur im Rücken und kann ein gutes Programm entwerfen. Das ist eine Herausforderung, aber genau das hat mich gereizt.

Sind Sie durch alle Theaterhauptstädte der Welt gereist? Ihr Programm sieht eher so aus, als hätten Sie von Anfang an ein klares Konzept gehabt.

WD: Als man mir im Juli letzten Jahres die Berufung bestätigte, dachte ich ehrlich gesagt: Der einzige Weg, wie ich hier wirklich etwas zusammenbringen kann, ist, das zu tun, was ich kenne.

Ich wollte nicht „einkaufen“ gehen, nicht herumreisen, um zu sehen, was gerade „angesagt“ oder „aktuell“ ist.

Also stattdessen …

WD: … habe ich Leute eingeladen, mit denen ich gearbeitet habe, Künstler, die ich immer bewundert habe, und auch Menschen, die mir von anderen vorgestellt wurden. Im Grunde wusste ich ziemlich genau, wen ich im Programm sehen wollte. Die Berufung gilt für zwei Jahre. Im nächsten Jahr werde ich es ein wenig anders machen, weil ich mehr Zeit habe und den Fokus etwas verschieben möchte.

Das Programm trägt deutlich Ihre Handschrift und reflektiert somit auch Ihre künstlerische Herkunft – mit der Wooster Group und all den Jahren in der New Yorker Avantgarde. Und natürlich geht Ihre Verbindung mit Richard Schechner sogar noch weiter zurück. Es wirkt wie ein großes Erbe, das hier ausgestellt wird.

WD: Um fair zu sein: Ein Teil davon ist sicher nostalgisch, aber es gibt auch andere Stimmen – junge Künstler:innen und Arbeiten, die mir bisher unbekannt waren. Und was die ­Wooster Group betrifft: Das ist keine nostalgische Reise in die Vergangenheit, denn sie ist weiterhin aktiv. Sie machen nach wie vor interessante Sachen. Ich war lange Teil davon, aber das, was sie jetzt machen, ist eine Weiterentwicklung dessen, was wir früher gemacht haben. Die Arbeit hat sich ständig weiterentwickelt und verfeinert. Und obwohl sie klein und eher bescheiden ist, hat diese Gruppe einen enormen Einfluss auf das Theater gehabt.

Ich habe einige ihrer neueren Arbeiten gesehen – etwa ihre Forschungen zu Jerzy Grotowski oder kürzlich zu Tadeusz Kantor („A Pink Chair“). Es wirkt wie eine Verbindung von europäischer und amerikanischer Avantgarde, die Sie mit der Wooster Group in Venedig herstellen.

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Der einzige Weg, wie ich hier wirklich etwas zusammenbringen kann, ist, das zu tun, was ich kenne.

WD: Was mich besonders interessiert, ist, wie Liz (Elizabeth LeCompte) und Kate (Valk) sowie das Ensemble mit einer neuen Beziehung zur Technologie arbeiten. Normalerweise wird Theater durch Technik eher kalt. Aber in diesem Fall, gerade weil es um Präzision geht, wird die Präsenz der Schauspieler:innen umso stärker. Sie sind keine Automaten – sie beobachten ganz genau und verkörpern gleichzeitig das Beobachtete. Diese Art von Super-Konzentration und Präsenz ist für mich das Wesentliche am Theater.

Sie sagen in Ihrem Motto-Statement: „Theater ist Körper, Körper ist Poesie“. Ist das eine Rückkehr zur Reinheit der Schauspielkunst, wie sie Grotowski forderte? Ich habe hier ein Bild der Wooster-Group-Inszenierung von Eugene O’Neills „The Hairy Ape“, die war technisch enorm aufwendig – mit Ihnen in der Hauptrolle.

WD: Aus meiner Sicht trifft „Körper als Poesie“ genau auf „The Hairy Ape“ zu. Es mochte technologisch wirken, aber für mich als Performer war es körperlich extrem fordernd. Es hat mich in einen Zustand versetzt, den man fast als übermenschlich beschreiben könnte. Und ich glaube, das wurde auch spürbar. Diese Inszenierung war nicht so sehr eine Interpretation von O’Neills Stück, sondern vielmehr hat sie eine Welt eröffnet, in der wir mit dem Stück leben konnten – und das war etwas Außergewöhnliches.

Also gibt es immer noch den Theaterschauspieler in Ihnen – nicht nur den Filmschauspieler, der Sie die letzten 20 Jahre waren?

WD: Beides ist dasselbe. Der Prozess ist ein wenig anders, aber ich denke immer: Es ist ein bisschen wie bei Musiker:innen.

Mal nehmen sie etwas im Studio auf, mal spielen sie live. Der Schauspieler ist also immer da, egal, ob auf der Bühne oder vor der Kamera. Natürlich sind es unterschiedliche Medien, aber ich glaube nicht daran, dass man die Qualität einer Performance nach ihrer Natürlichkeit beurteilen kann. Es gibt fantastisch künstliches und dabei stimmiges Spiel im Film und ebenso richtige naturalistische Spielweisen auf der Bühne.

Was ist Ihre persönliche Vorliebe in dieser Frage?

WD: Ich versuche, alles zu machen. Bei jedem neuen Projekt muss ich mich neu orientieren. Es ist nicht einfach „die erste Idee ist die beste“, sondern es ist immer ein Prozess des Zurückkehrens, des Abwerfens von festgefahrenen Vorstellungen. Nur so verhindert man, sich zu wiederholen und sich an bestimmte Überzeugungen zu klammern, die einen blockieren könnten. Viele reden von „Handwerk“, und ja, es gibt Instinkte, die man über die Jahre entwickelt. Aber das heißt nicht, dass man sich ihnen immer

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Akteure Interview unterwerfen sollte. Man sollte stets ein bisschen das zerstören, das man schon geworden ist.

Im Vergleich zu früheren Ausgaben der Biennale teatro wirkt Ihr Programm deutlich erweitert. Ist es mehr als in den letzten Jahren?

WD: Ich weiß es nicht genau – sie haben mir keine feste Zahl von Aufführungen vorgegeben. Es gab gewisse Richtlinien, ja, aber ich kenne die früheren Ausgaben nicht gut genug. Ich war schon einmal bei der Biennale, aber nur für einen Workshop und einen Vortrag. Für mich ist das also alles ziemlich neu.

Das heißt also, Sie könnten zum Theater zurückkehren?

WD: Ja, absolut. Über Venedig. Ich bin immer auf der Suche nach einem Weg zurück ins Theater. Und tatsächlich werde ich im Rahmen der Biennale ein kleines Performance-Experiment machen.

Keine komplette Produktion, aber ich stehe wieder auf der Bühne.

Was wird das sein?

WD: Das ist etwas, das ich mit Richard Foreman gespielt habe, bevor er starb. Wir haben nur eine Audioaufnahme davon gemacht. Er schrieb Hunderte von Sätzen auf Karten. Wir mischten sie wie Spielkarten. Er nahm die eine Hälfte, ich die andere.

Dann haben wir sie abwechselnd gelesen – mal rhythmisch, mal stockend, mal aufeinander zu, dann wieder isoliert. Nach einer Weile haben wir die Karten neu gemischt und es wiederholt. Die Sätze haben oft keinen direkten Bezug zueinander, aber durch Rhythmus, Tonfall und das Spiel miteinander entsteht Kommunikation – oder eben auch nicht. In Venedig machen wir das teils auf Englisch, teils auf Italienisch.

Also ein Dialog aus Zufallsprinzip?

WD: Genau. Der Zufall steckt drin, weil es nicht geprobt ist. Die Kombinationen ändern sich ständig. Das Lebendige, das Gegenwärtige daran ist, dass sich etwas direkt vor den Augen des Publikums bildet. Die Regeln sind festgelegt, aber das, was daraus

Ohne Menschen auf der Bühne fehlt der Maßstab, die Referenz. Wenn niemand da ist, ist es wie der Baum, der im Wald fällt und den niemand hört.

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„Poor Things“, 2023. Regie Yorgos Lanthimos.

Willem Dafoe als Dr. Godwin („God“) Baxter

entsteht, ist offen. Es ist wirklich ein Experiment. Es kann auch komplett scheitern.

Wer wird Ihr Partner sein? Man braucht dafür ja zwei.

WD: Die italienische Schauspielerin Simonetta Solder. Ein Freund hat sie mir empfohlen, weil sie sehr gut Englisch spricht.

Sie hat bei der Übersetzung der sehr rätselhaften Sätze geholfen und auch viel Zeit in New York verbracht. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Also machen Simonetta und ich das gemeinsam.

Sie haben erwähnt, dass das Programm im zweiten Jahr ganz anders aussehen könnte.

WD: Ich bin noch am Überlegen. Wenn ich dieses Jahr Dinge programmiert habe, die ich kannte, dann will ich im nächsten Jahr Dinge entdecken, die ich noch nicht kenne. Aber was mich leitet, ist das Interesse daran, wie Theater Gemeinschaften dient. Das Problem dabei: Manche solcher Arbeiten sind sozial extrem relevant, aber ästhetisch oft weniger ausgearbeitet. Es geht darum, ein Gleichgewicht zu finden.

Und sie sind sehr kontextuell – und oft nicht einfach, weit von ihrem Entstehungsort auf einer Biennale zu zeigen.

WD: Aber genau das macht sie spannend, finde ich. Wenn Theater wirklich einer Gemeinschaft dient, bringt es auch deren Kontext mit.

Kommen wir zurück zum Kern dieser Ausgabe: Ihrer Suche nach dem Wesen des Theaters. Und das scheint ganz primär das Schauspiel und der Schauspieler zu sein.

Theater der Zeit 5 / 2025

Foto picture alliance / PictureLux/Atsushi Nishijima/20th Century Studios | Atsushi Nishijima

Sie haben auch einen deutschen Teil im Programm – neben einer Schaubühnen-Ko-Produktion von Yana Eva Thönnes präsentieren Sie Thomas Ostermeier und Milo Rau (der ja eigentlich Schweizer ist). Aber beide stehen für das, was man hierzulande als „Schauspielertheater“ bezeichnet, auch wenn sie sehr konzeptuell arbeiten.

WD: Ja, mit beiden stehe ich in Kontakt. Ich verfolge ihre Arbeiten und wir haben auch schon über mögliche gemeinsame Projekte gesprochen. Es hat noch nicht geklappt, doch wir sind weiterhin im Gespräch.

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Akteure Interview

WD: Theater nutzt alles – aber für mich braucht es Menschen.

Ich will keine Regeln aufstellen, aber ich denke, es beginnt damit, dass das Publikum nicht nur etwas sieht, sondern Menschen beobachtet, die etwas erleben. Darin erkennen sie sich selbst. Ohne Menschen auf der Bühne fehlt der Maßstab, die Referenz. Wenn niemand da ist, ist es wie der Baum, der im Wald fällt, den niemand hört.

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Ihr Output im Film ist gerade enorm – neun Filme allein dieses Jahr. Ist das der Höhepunkt Ihrer Karriere im Film?

WD: Ich arbeite einfach gern. Wenn ich interessante Projekte finde oder angeboten bekomme, mache ich sie.

Wie wählen Sie Ihre Projekte aus – bei all den unterschiedlichen Genres? Yorgos Lanthimos’ „Poor Things“ war klar ein ArthouseFilm, dann „Beetlejuice“, „Nosferatu“…

WD: Ich mag Vielfalt. Es geht mir um Menschen und Situationen. Nur selten um Charaktere. Und zu jedem dieser Filme könnte ich Ihnen den besonderen Grund nennen. Der Regisseur ist für mich sehr wichtig. Wenn jemand eine Vision hat, sehe ich mich als jemand, der diese Vision verkörpert – oder sie vielleicht noch weiterführt. Wenn der Regisseur das nicht mitbringt, muss etwas anderes da sein – aber meistens reicht das nicht. Ich versuche, die Balance zu halten, damit mein Prozess nicht erstarrt. Man muss sich selbst immer wieder austricksen. Wir alle mögen Komfort und Sicherheit durch Vertrautes. Aber wirklich lebendig bleiben wir durch Vielfalt, Geheimnis, Neugier.

Sie sind ein amerikanischer Schauspieler, der früher auch als repräsentativer Vertreter des amerikanischen Theaters angesehen wurde, zumindest des Theaters der New Yorker Szene. Wo steht das amerikanische Theater im Moment?

WD: Ich weiß es nicht. Ich war nie so vertraut mit dem amerikanischen Theater wie mit dem europäischen, asiatischen oder südamerikanischen. Mit der Wooster Group sind wir viel getourt.

Und mit Bob Wilson war ich ebenfalls viel unterwegs. Was ich gesehen habe, war das, was ich auf Festivals oder in vibrierenden Theaterstädten gesehen habe. Und wie Sie sagen – ich arbeite viel.

Ich drehe viel. Ich bin kaum noch in den USA. Ihr Programm 2025 wirkt wie ein Symbol für den Austausch zwischen europäischem und amerikanischem Theater, der in den letzten 20, 30 Jahren eigentlich stark abgenommen hat. Sehen Sie das auch so?

WD: Ja. Dieser Austausch war früher sehr fruchtbar. Kreativ ging er vielleicht lange nur in eine Richtung, wirtschaftlich in eine andere – dann hat es sich verschoben. Ich habe diese Zeit durchlebt. Und dieser Austausch war sehr dynamisch und sich gegenseitig bereichernd. Wenn ich heute europäisches Theater sehe, entdecke ich oft Ursprünge von anderswo. Und natürlich gibt es hier eine ganz andere institutionelle Grundlage. Das amerikanische Theater hat keine oder kaum öffentliche Förderung. Deshalb ist es manchmal ruppiger, aber auch erfinderischer. Auch wenn es an Raffinesse oder tiefem kulturellen Wissen fehlt – diese Rohheit hat doch eine Qualität. T

Theater der Zeit 5 / 2025

Ode an die gewaltbereite Jugend ab 7. Juni 2025

Inszenierung: Sebastian Nübling Mit: Dominic Hartmann Marie Löcker Ann Mayer Julian Anatol Schneider Lukas Stäuble Antoinette Ullrich Julie Ilunga Live-Kamera: Robin Nidecker theater-basel.ch/ ode-festival

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Akteure Kunstinsert

So geht man fortan auf das Theater Naumburg zu. Die Glasfassade zwischen den Gebäudeteilen ist nach außen hin verspiegelt. Am alten Schornstein prangt das Kürzel TN als Leuchtschrift. Rechts neben dem Schornstein, am Kühlturm, fehlt hier noch das Emaille-Schwein des Künstlers Moritz Götze.

Schwein gehabt Naumburg: Deutschlands kleinstes Stadttheater erweitert sich im Alten Schlachthof räumlich und konzeptionell Von Michael Helbing

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Akteure Kunstinsert

Fotos Till Schuster

Die Studiobühne mit 70 Plätzen: Der Raum wurde nicht architektonisch bearbeitet, sondern nur frisch gestrichen und vom Theater technisch eingerichtet.

Das Foyer entstand aus einem Hof zwischen den Gebäudeteilen, der überdacht und mit einer ­Glasfassade im Eingangsbereich versehen worden ist.

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Fotos Till Schuster

Oben: Blick aus dem Foyer in den Nordflügel des Gebäudes, wo die Gastronomie eingerichtet wird. Die Bar dort nimmt das Backsteindesign des gesamten Komplexes auf.

Mitte: In diesem Raum entsteht die Gastronomie. Durch die Bögen blickt man ins Foyer und zur Saaltür.

Unten: Aus dem neu entstandenen Foyer gelangt man jetzt zu zwei Spielorten: in den Theatersaal im Südflügel des Schlachthof­ gebäudes und ins Studio.

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Akteure Kunstinsert

Oben: Blick von der Zuschauertribüne auf die Spielfläche im neuen Theatersaal, hier mit dem Bühnenbild der Eröffnungsinszenierung von „Hamlet“. Die Wand am hinteren Bühnenende bleibt als rohe, abgehauene und ansonsten unbehandelte Backsteinmauer erkennbar.

Unten: Im Hinterland des Gebäudes, das nicht zum Architektenauftrag gehörte, findet u. a. die Theaterwerkstatt ihren Platz.

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Akteure Kunstinsert

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Ackerbauer oder Pferdetreiber wollte Polonius üblicherweise lieber sein als länger Minister, falls der Prinz von Dänemark seine Tochter Ophelia nicht liebte und deshalb wahnsinnig wurde. In Naumburgs „Hamlet“-Fassung, mit der eine Eröffnungsinszenierung für Ende April vorbereitet wurde, fällt stattdessen das Wort: Schweinepriester. Das steht nicht bei Marius von Mayenburg, dessen Shakespeare-Übertragung sie verwenden. Das war ein Angebot von Polonius-Darsteller Markus Fennert. Bei Mayenburg steht indes tatsächlich der „Hamlet“-Satz: „Wir sind allesamt absolute Schweine.“

Peter Zirkel Architekten ist ein auf Kulturbauten spezialisiertes Architekturbüro in Dresden.

Der Umbau des Naumburger Schlachthofs ist sein erstes Theaterprojekt, eröffnet im April 2025.

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Mit Schweinen hat’s Naumburgs Theater fortan gewissermaßen.

Und Schwein gehabt hat’s obendrein. Deutschlands kleinstes Stadttheater bezog endlich den Alten Schlachthof und vergrößerte sich somit deutlich. Räumlich, nicht personell. Es gibt zwar, finanziert von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung, einen „Hamlet“ mit insgesamt neun Schauspielern. Ansonsten bleibt’s aber bei vier festen Stellen fürs Ensemble und acht für alle Mitarbeiter drum herum. Dafür bietet allein schon die Studiobühne mit 70 Plätzen zehn mehr als das alte Stammhaus. Im neuen Theatersaal, in der Grundkonzeption eine flexible Raumbühne, gibt’s derweil 110 Plätze auf der Tribüne. „Das sieht sehr viel mehr nach Theater aus und nicht mehr nach Wohnzimmer“, sagt Markus Fennert. Er meint „diesen piefigen Raum“, von dem Intendant und Regisseur Stefan Neugebauer spricht: das jahrzehntelange Domizil am Salztor in der Innenstadt, im einstigen Gasthaus Goldener Hahn.

Es gab in Naumburg im Saale-Unstrut-Revier mal ein Theater für 400 Zuschauer. Das ist Jahrhunderte her. Die jüngere Geschichte beginnt 1958 am Salztor: mit einer Puppenbühne.

Dabei bleibt es alles in allem 50 Jahre lang. Unter Intendantin Sibylle Tröster öffnet sich im Jahr 2000 die Tür fürs Schauspiel einen Spalt breit, Nachfolgerin Susanne Schulz reißt sie ganz auf und schlägt sie den Puppen vor der Nase zu. Aus der Kleinen Bühne wird das Theater Naumburg. Neugebauer übernimmt 2015.

Und nun: der Quantensprung. Viel mehr Fläche, viel mehr Platz. Für den Intendanten bedeutet das auch konzeptionell, „dass wir Theater deutlich größer und umfassender denken wollen …“, wie er es für eine Umbau-Dokumentation notiert. Er eröffnet darin jetzt auch gleich mal eine kleine Kunstgalerie. „Dass das Haus vielleicht noch mehr sein könnte als ein Theater“, daran hat sich der Architekt und Generalplaner Peter Zirkel aus Dresden ebenso orientiert. Der bekam es in 30 Berufsjahren u. a. mit Museen und Bibliotheken zu tun, aber noch nie mit einem Theater. Viele neue Erkenntnisse hat ihm das beschert. Worauf er aber zurückgreifen konnte: die Idee vom dritten Ort in einer Stadt. In Bibliotheken geht es ja auch nicht mehr nur um Bücher, sondern überhaupt um Medien.

Eine solche Öffnung, gleichsam hin zum soziokulturellen Zentrum, stellt allerdings die Personalfrage, ebenso übrigens wie eine nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich flexible Bespielung

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Foto Peter Zirkel Gesellschaft von Architekten mbH

Lange Theatergeschichte

Akteure Kunstinsert der Raumbühne, wofür Zuschauerplätze zu versetzen wären. Man wird sehen, was da möglich ist.

Dass diese neue Spielstätte mit insgesamt knapp 2000 Quadrat­ metern Nutzfläche überhaupt verwirklicht wurde, verdankt sich einer anonymen Spenderin. Ohne weitere Auflagen hatte eine ältere Frau, so heißt es, der Stadt eine Million Euro für ein Kulturdenkmal vermacht. Nur deshalb ließ sich überhaupt über den 1891 errichteten und ein Jahrhundert lang betriebenen Schlachthof nachdenken. Eineinhalb weitere Millionen machte daraufhin der Bund für statische Maßnahmen locker, den Rest der insgesamt 3,6 Millionen Euro Baukosten das Land Sachsen-­ Anhalt. Neugebauer will die kommende Spielzeit deshalb mit Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ eröffnen. „Das müssen wir einfach machen.“ Und dennoch: „Das ist ein sehr, sehr, sehr, sehr kleines Theater mit einem sehr, sehr kleinen Budget“, sagt Architekt Zirkel, dessen Büro ein konkurrierendes Auswahlverfahren gewann. „Unsere Erfahrungen zeigten, dass man für das Geld vielleicht ein halbes Haus bauen kann.“ Beziehungsweise umbauen. Das Raumprogramm deckte aber ohnehin nur dieses ab: den Theater­saal, einen Gastronomiebereich mit mehreren WCs sowie ein neues Foyer.

Letzteres bedeutete für den Architekten einen minimalen ­Ein-,­für den Intendanten den eigentlichen Kunstgriff: Zirkel sowie Josephine Galiläer, Conrad Lohmann und Emanuel Schmidt im Projektteam schlugen vor, aus einem Außen- einen Innenraum zu machen: Ein kleiner Hof zwischen H-förmig angeordneten Gebäudeteilen wurde überdacht und mit einer Spiegelglasfassade versehen. Aus dem Foyer geht’s nach links in den Saal im Südflügel, nach rechts zur Gastronomie im Nordflügel. Geradeaus gelangt man in Gegenden, welche die Architekten nicht bearbeiten mussten: zur Studiobühne, nur frisch gestrichen und eingerichtet, sowie gen Backstage, mit Werkstätten und Lager.

Das meiste dort war bereits tauglich hergerichtet worden, als man den Schlachthof in vergangenen Jahren temporär mal als Baustoff- oder Bildungs-, als Flüchtlings- oder Impfzentrum nutzte. „Alles ist gut verknüpft, es gibt keine unnötigen Wege“, sagt der Intendant. Es sei fast so, als habe man schon damals, Ende des 19. Jahrhundert, beim Schlachthof auch an ein Theater gedacht. „Na ja, der Neugebauer ist halt begeisterungsfähig“, lacht Architekt Zirkel darüber und freut sich. Was etwa den Saal betrifft, hätten aber schon seine Kollegen im Büro viel gemeistert, nicht die Architekten des Schlachthofs damals. Der Raum hatte zwei verschiedene Bodenniveaus und eine Trennwand dazwischen.

Nach ersten Ideen hätten Schauspieler und Publikum denselben Zugang benutzt. „Größte Herausforderung bei der Planung war die Technik“, sagt Zirkel. Er koordinierte die Ingenieurbüros für Statik, für Haus- und für Bühnentechnik. Und für Akustik. Deckensegel regulieren die Nachhallzeit im Saal, der von Haus aus ein Tageslichtraum ist und in dem man zuvor kaum ein Wort verstanden hätte. Ein schwarzer Vorhang lässt sich bei Bedarf vor alle vier Wände ziehen. Drei davon sind jetzt schwarz, eine aber, am Bühnenende, bleibt als rohe, abgehauene und ansonsten unbehandelte

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„Größte Herausforderung bei der Planung war die Technik“, sagt der Architekt Peter Zirkel.

Backsteinmauer erkennbar. Das betont laut Zirkel den Werkstattcharakter.

Entsprechend wäre sein Büro „gerne noch einen Schritt weitergegangen“: freigelegte Ziegelwände mit rauer Oberfläche ringsum. So ließe sich laut Zirkel der Raum in der Atmosphäre multifunktionaler verstehen. Dem Theater wäre das aber zu unruhig geworden. „Und letztlich ist es jetzt okay so.“ An der Spitze des alten Schornsteins leuchtet des nachts jetzt das Namenskürzel. Am unsanierten und abgesehen von Lüftungstechnik ungenutzt bleibenden Kühlturm wird ein Emaille-Schwein des Künstlers Moritz Götze prangen: fünf Meter breit, drei Meter hoch. Grafisch zerteilt das Schild es nicht nach Fleischerart in Lende, Speck, Schinken oder Rippchen, sondern in Tragödie, Komödie, Drama, Tanz, Musik, Kunst oder Dialog. Dieses große Programm wird einzulösen sein.

Dabei geht es auch um Sichtbarkeit. Vom berühmten Dom in Naumburgs Zentrum braucht man jetzt 15 bis 20 Minuten Fußweg zum Theater. Dafür fällt man aus dem Hauptbahnhof fast schon auf dieses zu. Darauf setzt der Intendant. Die Betriebskosten werden steigen. Wenn das Haus voll ist, hat man aber auch mehr Einnahmen. „Ich muss einfach gucken, dass das Ding brummt. Und allein mit Naumburg wird das nichts.“ Er braucht auswärtiges Publikum in Größenordnungen.

Die Gesamtkosten sind am Ende auf 4,7 Millionen Euro gestiegen. Die Stadt übernimmt die Differenz. Hier schlagen u. a.

Freiflächen zu Buche, die im April in Teilen gepflastert wurden.

Auf dem Gelände entwickelt sich ein Theatergarten mit OpenAir-Bühne: drei Schiffscontainer in Rot, Gelb und Blau. Hier soll nächstens ein Stück über Schweinehaltung beginnen. Titel: „Die Spur der Schweine“. T

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Akteure Porträt

Zwischen Finsternis und Lachen Die Regisseurin Theresa Thomasberger ist Feministin – und baut Gruselkabinette Von Sophie-Margarete Schuster

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Akteure Porträt In der Kammer des Deutschen Theaters winden sich fossile Wesen. Sie sprechen aus einem vernebelten Aquarium, krabbeln über den Boden und treten dicht an uns heran. Ihre Gesichter sind faltig – lange Nasen, schiefe Zähne, zottelige Haare – und ihr Humor: scharfsinnig. Sie kommen von weit unten, aus den tiefsten Schichten dieser Erde, aus der schwarzen Einheit. Sie sind das Erdöl, das Objekt der Begierde, nach dem der freie Markt hemmungslos bohrt. Sie sind der Chor der toten Tiere, den die Regisseurin Theresa Thomasberger für ihre Inszenierung von Amir Gudarzis „Wonderwomb“ zum Leben erweckt. In einer schnellen Szenenabfolge führt er uns mitten in einen Wirbel erschreckender Gleichzeitigkeit: zwischen einem Drohnenangriff in Bagdad und einem durch romantische Zurückweisung aus der Bahn geworfenen New Yorker Börsenspekulanten. Der Chor begleitet uns auf eine Expedition durch die finsteren Abgründe der Petromaskulinität – der patriarchalen Struktur unserer globalen Klimapolitik.

Fast wie ein Gruselkabinett. Eine Horrorshow? Ein bisschen von beidem, aber mit einem wesentlichen Unterschied: Es wird nicht vor Angst geschrien. Es wird gelacht. Und in dieser Setzung liegt bereits eine der Kernkompetenzen Thomasbergers. Da, wo Macht verhärtet, greift die Regisseurin beherzt zu und lädt zum Lachen ein. Denn solange wir lachen können, sind wir dem Horror nicht machtlos ausgeliefert.

Der Chor begleitet uns auf eine Expedition durch die finsteren Abgründe der Petromaskulinität – der patriarchalen Struktur unserer globalen Klimapolitik.

In diesem Mechanismus steckt eine feministische Prämisse, auf die bereits ihre erste Inszenierung am Deutschen Theater, eine 2023 entstandene Adaption von Klaus Theweleits „Männerphantasien“, baute. Entschieden unapologetisch stieg Thomasberger hier in die schockierenden Tiefen der Incel-Community, dem Phänomen der Tradwives sowie der sich um den frauenfeindlichen Kickboxer und Influencer Andrew Tate scharenden Alpha-Males hinab. Die Inszenierung, mit der Thomasberger 2024 zum Radikal-jung-­Festival in München eingeladen wurde, aktualisiert Theweleits Analyse: Es ist die Performance patriarchaler Geschlechterbilder, die unaufhörlich als klicksgenerierende Videoformate durch die düsteren Kammern unserer digitalen Welt strömt. Wieder ein Gruselkabinett? Nicht ganz: Wir finden uns in einer Komödie wieder. Thomasberger möchte, dass wir lachen. Möglicherweise ist es der Versuch, über eine unerschrockene Persiflage – die Aneignung der Finsternis – Raum für Utopie zu schaffen. Ihre 2022 am Schauspiel Münster erarbeitete Inszenierung von Svenja Viola Bungartens „Maria Magda“ bewegt sich in einem ähnlichen gedanklichen Gerüst. Die Geschichte spielt in einem Kloster für schwer erziehbare Mädchen, in dem eines der Mädchen auf rätselhafte Weise verschwunden ist. „Löschen wir dir Sterne. Löschen wir die Lichter. Löschen wir die Sonne für einen Moment. […]

Lassen wir uns blenden von der Dunkelheit. Lasst uns bedenken, die Geschichte ist immer eine Geschichte der Gewalt“, heißt es im Prolog. Mirjam, die Tochter der Toten – zwei blinde Augen und ein sehendes mitten auf der rötlichen Stirn –, steht mit ausgebreiteten Armen da und spricht diese Wörter. Sie appel-

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Foto links Iven Yorick Fenker, rechts Eike Walkenhorst

Die Aneignung der Finsternis

„Wonderwomb“ von Amir Gudarzi. Regie Theresa Thomasberger am Deutschen Theater Berlin

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Akteure Porträt liert an unseren Zweifel. An unseren Willen, nach dem zu fragen, was uns nicht erzählt wurde. Durch den Abstieg in die Finsternis möchte diese Inszenierung nach den Lücken in den Geschichten der Mächtigen fragen. Im Zentrum kreist eine nicht unbekannte Ungewissheit: War die unbefleckte Empfängnis Marias in Wirklichkeit eine Vergewaltigung? Die Frage verweist auf ein wiederkehrendes Motiv der Regisseurin: Thomasbergers Arbeiten streben danach, die Abgründe unserer Welt auf eine Bühne zu zerren – manchmal, um sie zu befragen, sie zu prüfen und ins Wanken zu bringen; und manchmal, um über sie zu lachen.

Links: „Männerphantasien“ auf Grundlage von Klaus Theweleits gleichnamigem Buch mit neuen Texten von Svenja Viola Bungarten, Ivana Sokola und Gerhild Steinbuch. Regie Theresa Thomasberger am Deutschen Theater Berlin Rechts: „Wonderwomb“ von Amir Gudarzi. Regie Theresa Thomasberger am Deutschen Theater Berlin

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Als ich Theresa Thomasberger am 8. März, dem internationalen feministischen Kampftag, im Hof des Deutschen Theaters treffe, steckt sie mitten in den Proben für „Wonderwomb“. „Aus der Perspektive von urzeitlichem Plankton auf die Dummheit und die Irrationalität der Menschen zu schauen, hat mich neugierig gemacht“, erzählt die Regisseurin, als wir auf den Holzbänken vor dem Theater sitzen. Es ist ein sonniger Tag; das Wetter ist so schön, dass sich beinahe kurz vergessen ließe, weshalb dieser Tag bei Weitem kein sorgloser ist.

Doch Dingen zu begegnen, die unbequem sind, gehört zur Arbeitspraxis der Regisseurin: „Theater muss nicht unbedingt diplomatisch sein. Wir können schärfer formulieren, als es die Politik tut“, unterstreicht Thomasberger. Es geht um eine unerschrockene Auseinandersetzung mit dem Unbequemen. „Wonderwomb“ ist ein Text, der uns mit Dingen konfrontiert, die eine:n durchaus in erdrückende Panik versetzen könnten – die Zerstörungskraft kapitalistischer Wirtschaft und männlicher Egos.

Doch Thomasberger erscheint keineswegs gelähmt. Vorfreudig erzählt sie mir, dass es sich bei ihrem Chor der toten Tiere um eine humorvolle Gruppe revolutionärer urzeitlicher Feminist:innen handeln wird. Auf die Frage, wie es überhaupt zu der feministischen Ausrichtung ihrer bisherigen Arbeit gekommen sei, reagiert sie gelassen: „Ich denke, dass ich immer aus einer feministischen Perspektive arbeiten werde. Ich kann gar nicht anders.“ Und von diesem Umstand legen nicht nur ihre Arbeiten Zeugnis ab, sondern auch ihr Studienweg: Theresa Thomasberger hat an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Regie studiert. Ihr Studium hat 2017 begonnen – parallel zu dem Aufschwung der #MeToo-Bewegung, die auch in den deutschsprachigen Stadttheatern institutionelle Veränderungen vorangetrieben hat.

Die Klasse, in die Thomasberger 2017 aufgenommen­ wurde, bestand aus sechs Frauen, die im Laufe ihres Studiums zu einem Kollektiv zusammengewachsen sind – die HfS Ultras: Lena Katzer, Carolina de Araújo Cesconetto, Eunsoon Jung, Josephine Witt, Sarah Claire Wray und Theresa Thomasberger. „Wir wollten uns solidarisch miteinander verhalten und als Gruppe durch das Studium gehen, weil es ja doch ein ziemlich vereinzelnder und von Konkurrenz geprägter Beruf ist“, berichtet Thomasberger.

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Fotos Jasmin Schuller, rechts Eike Walkenhorst

Im Angesicht des Unbequemen

Akteure Porträt

Vorfreudig erzählt Thomasberger, dass es sich bei ihrem Chor der toten Tiere um eine humorvolle Gruppe revolutionärer urzeitlicher Feminist:innen handeln wird.

Theater passiert im Miteinander Die Begegnung im Kollektiv ist für sie ein zentraler Angelpunkt: „Dieser Jahrgang war mein großes Glück. Wir haben uns geliebt und gestritten. Wir haben unglaublich viel voneinander gelernt – z. B., dass man nicht immer recht hat: eine wichtige Erfahrung für Menschen, die Regie machen wollen.“ Sie erzählt mir von ihrer ehemaligen Kommilitonin Lena Katzer, die derzeit als Mitarbeiterin für das produktionsbezogene Rahmenprogramm am Deutschen Theater arbeitet – und davon, wie sehr sie es wertschätzt, Lena Katzer regelmäßig in ihrem Büro zu besuchen, um sich mit ihr über alles auszutauschen. Hinter der kleinen Anekdote, die vor allem von einer Freude am dialogischen Miteinander erzählt, verbirgt sich eine der Sehnsüchte, die Thomasberger in den Beruf der Regisseurin geführt haben: Vor ihrem Abschluss an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studierte Thomasberger Sprachkunst und Szenisches Schreiben an der Universität für Angewandte Kunst Wien und der Universität der Künste Berlin.

Sind in zukünftigen Arbeiten also auch eigene Texte zu erwarten?

Gibt es den Wunsch, die Regie-Arbeit mit dem eigenen Schreiben zu verbinden? „Ich habe eine große Liebe für Texte. Ich wollte immer schreiben“, erzählt sie. „Aber erst durch das Inszenieren habe ich ein Gefühl der Freiheit im Arbeiten gefunden. Ich habe gemerkt, dass, wenn es nur mich und das Papier gibt, etwas fehlt.

Ich habe das Theater als Raum gebraucht – die Zeug:innenschaft und das Gemeinsame.“ Es geht ihr nicht um die eigene Autor:innenschaft. Eine schöne Perspektive: Theresa Thomasbergers Weg ins Theater ist ein Weg, der sich im Miteinander findet. Ein Weg, auf dem sich die Freiheit erst im Kollektiven einlöst. T

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11.–15.6. 2025

dramatikerinnenfestival.at

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Akteure Nachruf

LOTHAR TROLLE

Dramatiker der Sprachexplosionen Frank Castorf erinnert sich an Trolle Im Gespräch mit Thomas Irmer

THOMAS IRMER: Wenn Sie jetzt an den gerade verstorbenen Trolle denken, was fällt Ihnen als Erstes ein?

FRANK CASTORF: Er hat immer so leise, gleichmäßig gesprochen, immer freundlich mit seinem blauen Pullover, einem Seemannspullover.

Trolle war an einigen Punkten eng mit Ihrer eigenen Geschichte im Theater verbunden, Ihre Uraufführung von „Hermes in der Stadt“ 1992 gilt für den damals

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schon fast 50-jährigen Autor als später Durchbruch.

FC: Es war noch kurz vor der Volksbühne, da war ich an einem Theater, was noch ein Deutsches, also ein ostdeutsches Theater war. Die hatten einen Intendanten, Dieter Mann, einen Künstler, der sich sehr eingesetzt hat für alles, was man so als Aufbruch bezeichnet hat. Davon ist nichts übrig geblieben.

Aber hier schließt sich für mich ein Kreis, weil ich ja jetzt gerade in Dresden

Theater der Zeit 5 / 2025

Foto Ute Schendel

Lothar Trolle, deutscher Dramatiker, Erzähler, Lyriker, Hörspielautor und Übersetzer

Akteure Nachruf

1944 – 2025

mit Büchners „Dantons Tod“ beschäftigt bin. Ich sollte schon 1987 am DT anfangen. Da haben sie mir damals „Die Sache Danton“ von Stanislawa Przybyszewska angeboten, die die Französische Revolution in zwei Stücken bearbeitet hat nach den gleichen Quellen, die Büchner auch zur Verfügung hatte. Ende der 1920er Jahre hatte sie „Die Sache Danton“ geschrieben und auch „Thermidor“ über das Ende der Jakobiner. Ein gewaltiges Stück, es war ihre Abrechnung mit dem Stalinismus, mit der Revolution und der Revolutionsarmee, die nicht mehr die ist, die sie einmal war.

Das war natürlich 1988 interessant, so eine Interpretation am Deutschen Theater über die Französische Revolution, über unsere Jetzt-Zeit damals. Und dann habe ich es mir durchgelesen, ich kannte den Stoff nicht, fand ihn interessant, habe in der deutschen Übersetzung endlos viele Schreibmaschinen-Tippfehler gefunden und wusste nicht, ob das Absicht ist oder Schreibfehler sind.

Und so ging es mir später bei Trolle auch einmal mit seiner Bearbeitung von Döblins „Berlin Alexanderplatz“, die er 2001 für Zürich geschrieben hat.

Die war gegen jede finale Erzählstruktur gerichtet. Wie bei klassisch avantgardistischer Literatur fragt man sich, ist es Absicht oder ist es Zufall, ist es Schludrigkeit, ist es die Sehnsucht nach dem Schweizer Franken, was passiert denn da?

Wir haben uns immer gut verstanden, weil er diese leise Art hatte, die sehr freundlich war, zuhörend, engagiert, also der Körper arbeitete viel mehr als die Stimme, das war so ein schöner, natürlicher Kontrast, der seine Freundlichkeit nicht suggeriert, sondern einem mitgeteilt hat. Schließlich habe ich mich doch entschlossen, das selbst zu bearbeiten. Aber er war da benannt, er war mit dabei, wie später dann an der Volksbühne mit seinen Texten für „Kean“ und anderen Arbeiten.

Was war das Besondere an Trolles ­Sprache?

FC: Lange vorher, kurz vor der Uraufführung von „Hermes in der Stadt“ hatte

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ich im Berliner Gropius Bau eine Lesung mit diesem Stück von ihm eingerichtet.

Mit Bärbel Bolle, mit Dieter Mann, Uwe Dag Berlin, also ein paar von denen, die dann bei „Hermes“ mitgespielt haben. Die Lesung war ein bisschen inszeniert, an Tischen nur, mit Ablesen, und aber da hat man eine andere Geschwindigkeit, und dieser Text, der hämmert. Das war eine sehr berührende Lesung, anderthalb Stunden, die mir gefallen hat. Wie ein Hörspiel – er hat ja selbst viele gemacht. Es war genau auf den Punkt durch das Unambitionierte. Wenn einem der Schauspieler so war, wurde es eben laut. Und er springt auf den Tisch, setzt sich wieder hin und liest.

Die Aufführung auf der großen Bühne war dagegen barock, ausufernd. Das glatte Gegenteil, die Vielheit. Trolles Sprachexplosionen sind in der Lesung im Gropius Bau besser rübergekommen als in der Inszenierung. Es hat ihm Spaß gemacht, da zuzugucken, wie wir mit schneller Hand seine Zeilen gemacht haben, die Sinfonie einer Großstadt, alles, was zeitgleich brüllt, ist Musik, ist Schreien, ist Mord, ist Totschreien, ist Liebe, ist Gebärde, und das alles hat man in einem kleinen Raum mit drin, in der Gleichzeitigkeit. Das hat Trolle versucht einzufangen, daraus eine Musik zu machen, und nicht nur narrative Systeme aufzuarbeiten. Manchmal so, dass ich durch seine Schreibfehler nicht wusste, was ist Kunst, Notwendigkeit und was Zufall, und das hat mir auch gefallen, dass es mich verunsichert hat.

Wann haben Sie sich eigentlich kennengelernt, noch in der Zeit von Trolles Undergroundpublikation „Mikado“ oder doch erst später?

FC: Kennengelernt haben wir uns durch Vermittlung von Heiner Müller bei einer dieser der untergehenden DDR gewidmeten Veranstaltungen im Pariser ­Centre Pompidou.

Heiner hatte sich damals Mühe gegeben, mich mit Einar Schleef und B. K. Tragelehn zusammenzubringen. Seine Idee war, dass wir zusammen die Volksbühne

In der Gleichzeitigkeit von allem hat Trolle versucht, daraus eine Musik zu machen und nicht nur narrative Systeme aufzuarbeiten.

übernehmen. Trolle war immer dabei, wie ein angenehmer, wärmender Schatten, der ab und zu kicherte. Trolle und Schleef kannten sich aus anhaltinischer Schulzeit.

Dann gingen wir alle zusammen in den Jardin du Luxembourg. Tragelehn setzte sich in seinem blauen Brecht-Anzug auf eine Parkbank, Zigarre rauchend, und genoss den Park. Schleef ging im Sturmschritt mit einer Stullentasche, wie sie Kinder haben, um die Schulter. Er raste durch den Luxembourg wie ein deutscher Landser. Ich war dafür auserkoren, die beiden zusammenzubringen. Ich versuchte es also hin und her zwischen dem vorausseilenden Landser und Brecht, der auf der Bank saß.

Das habe ich zweimal gemacht und dann aufgegeben: „Heiner, sei mir nicht böse, bei mir ist hier Schluss.“ Als Trolle murmelte: Mach es doch selbst! Da dachte ich, das ist ein guter Gedanke. T Lothar Trolle starb am 31. März 2025 in Berlin.

Gespräche und Texte von und zu Lothar Trolle finden Sie unter tdz.de/person/lothar-trolle

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Wolfgang Engel, Theaterregisseur, Schauspieler und Intendant

Spiele des kritischen Aufbruchs Zum Tod des Regisseurs und Schauspielers Wolfgang Engel Von Thomas Irmer

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WOLFGANG ENGEL

Er brauchte einen längeren Anlauf, aber dann gelangte er an den Ort, wo er sich richtig entfalten und seine Inszenierungen in ein inniges Bündnis mit dem Publikum bringen konnte, Theatergeschichte im letzten Jahrzehnt der DDR in Dresden.

Wolfgang Engel, geboren am 13.

August 1943, fing als Bühnenarbeiter in seiner Geburtsstadt Schwerin an. Später kam ein Elevenvertrag dazu, bis ihm 1965 die Bühnenreife bescheinigt wurde – ein Überspringen der Schauspielschule. Auch die spätere Regiearbeit erlernte er direkt aus der Praxis auf dem Wege von Assistenzen. Als er dann 1980 über Stationen am Theater der Freundschaft (heute Theater an der Parkaue) und dem Dresden schon nahen Radebeul am Staatsschauspiel ankam, versuchte er es als Einstieg mit einem „Volksliederabend“. Ein Teil des konservativ gestimmten Publikums aus dem Dresdner Restbürgertum zerriss in der Kassenhalle demonstrativ die Abo­ scheine – so etwas könne auf keinen Fall Theater sein.

Doch schon mit der nächsten Inszenierung wendete sich das Blatt. In „Maria Stuart“ mit der blutjungen Dagmar Manzel war bereits alles angelegt, was Engel zu seiner Spezialität machen würde. Einen Klassiker für die Gegenwart durchsichtig werden zu lassen, dabei auch recht frech mit Symbolen und Gesten der Macht umzugehen: Die Königin winkte in erstarrter Haltung mit ihren Staatsbeamten von einer Tribüne herunter – die Leute wussten sofort Bescheid. Dazu den „hohen Ton“ in der Sprechweise der Schauspieler:innen von der musealen Anbetung der Tradition in eine Selbstverständlichkeit eben auch im Sinne von Verständlichkeit zu senken.

Engel blickte auf diese Bemühungen später zurück: „Es galt eine Sprache zu suchen, um mit dem Zuschauer in einem polemischen, nicht in einem didaktischen Sinne kommunizieren zu können, ihm Vorgänge zu zeigen.“ Von hier aus ging Engel einen Weg mit den großen Dichtungen des 19. Jahrhunderts: Hebbels „Die Nibelungen“

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Foto picture-alliance / dpa | Martina Hellmann

Akteure Nachruf

Akteure Nachruf

1943 – 2025

(1984 – vor dem Hintergrund der Raketenhochrüstung), Kleists „Penthesilea“ (1986) und schließlich aus der Zeit der in Dresden besonderen Wende „Faust“, 1990 an drei Abenden mit Engel selbst als Schauspieler.

Parallel dazu entwickelte Engel etwas, das man mit dem heutigen Begriff des selbst zusammengestellten „Abends“ bezeichnen könnte, damals aber eher „Projekt“ genannt wurde. „Schiller – ein Programm“ (1980), „Büchner-Projekt“ (1982), schließlich „Sonette“ von Shakespeare (1985) – mit Engel, Arila Siegert und Cornelia Schmaus, die längst eine seiner Protagonistinnen geworden war. Das waren keine Rezitationsabende, sondern ausgefeilte Inszenierungen als Textperformances, mit denen – auch hier – erstarrte Auffassungen von diesen Klassikern aufgebrochen wurden.

Beckett in Dresden Ein ganz besonderer Fall wurde die DDRErstaufführung von „Warten auf Godot“, einem Stück, das schon über 30 Jahre im Giftschrank der Literaturbeaufsichtigung gelegen hatte. Kurios die Umstände: Engel bekam die Genehmigung nach einem erfolgreichen Gastspiel in der Bundesrepublik, von dem wider Erwarten alle zurückgekehrt waren – gleichsam als Belohnung. Gern erzählte er, dass sich auch das Politbüro mit „Godot“ als Dammbruch des Fortschritts befasst habe. Groß war aber auch der Druck, was Becketts Stück den Dresdnern erzählen sollte. Die Stim-

Es wurden 13 Leipziger Jahre, in denen der Intendant als Großspezialität mit Klassikerspektakeln durch die Stadt zog, wie etwa bei „Fausts“ Grablegung auf einem Friedhof.

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mung 1987 stand schließlich eher auf Aufbruch und Veränderung, Perestrojka. Da nutzte Engel seine Symbolsprache sogar außerhalb des Theaters, wenn er in seinen legendären, mit kyrillischen Buchstaben bedruckten roten Hosenträgern auftrat, mit denen er ganz klar das Interesse am neuen Ostwind signalisierte. „Godot“ versetzte er mit seinem Bühnenbildner Frank Hänig in eine Zirkusarena, wo Didi und Gogo als Clowns vielleicht nur im Kreis vorankamen, dem Stück aber auch nichts aufgebürdet werden musste, womit es nichts zu tun hat. Eine künstlerisch kluge Entscheidung.

Ästhetischer Höhepunkt Höhepunkt der Dresdner Jahre, was Experimente mit szenischer Abstraktion anging, war ohne Zweifel Engels DDR-Erstaufführung von Heiner Müllers „Anatomie Titus. Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar“, ein auch für Müller-Verhältnisse schwerer Brocken der freien Shakespeare-Bearbeitung mit einem Thema, das damals als Postkolonialismus zumindest in hiesigen Breiten noch nicht angekommen war. Engel ließ es, in einem Bühnenbild von Jens Büttner, in einer Art Schulkabinett spielen, wo die Fächer Geschichte, Biologie und Chemie zusammenkamen und die Römer sich von Schultischen zu einem zeichenhaft artifiziellen Spiel erhoben.

Dennoch wird man den „Faust“ als Dresdner Finale bezeichnen, mit dem irgendwann aus dem Fundus dann gestohlenen riesigen 1000-DM-Schein aus der Szene von der Erfindung des Papiergelds als Signatur der Zeit. Ende eines Jahrzehnts, das, nicht nur wegen Engel, aber hauptsächlich wegen seiner Arbeiten, als ein „goldenes“ erinnert wurde und wird.

Es folgte ein weniger geglücktes Zwischenspiel in Frankfurt am Main und schließlich ab 1995 die Intendanz des Schauspiel Leipzig, das nach unruhigen Nachwendejahren von Engel erst mal wieder stabilisiert wurde. Seine Autoren

in der ersten Phase waren wieder Beckett („Glückliche Tage“ mit Christa Gottschalk) und Handke: Eröffnung mit dem großen Pantomimenspiel „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ als opulente Inszenierung für das ganze Ensemble.

Es wurden 13 Leipziger Jahre, in denen der regieführende Intendant als Großspezialität mit Klassikerspektakeln durch die Stadt zog, wie etwa bei „Fausts“ Grablegung auf einem Friedhof oder mit „Wallenstein“ als Feldzug durch Leipzig. Eine „Orestie“ inszenierte Engel als eine der letzten Arbeiten seiner Intendanz höchst originell unter Einbeziehung von Papierfiguren auf dem Dachboden des Theaters – noch einmal etwas, das man nicht für möglich gehalten hat.

Nach 2008 kehrte Engel mehrfach nach Dresden zurück, markant etwa mit der ersten Adaption von Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“, der ja selbst wieder in Engels Dresdner Zeit zurückführt und wo er sich im Herbst 1989 mit seinem Ensemble und dem Protest „Wir treten aus unseren Rollen“ auch politisch engagiert gezeigt hatte. Auch das gehört zur Theater­geschichte jener Engel-Jahre.

Wolfgang Engel starb am 7. März 2025 in Leipzig. T

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organisiert vom Societaetstheater Dresden in Zusammenarbeit mit der OFF-Bühne Komplex in Chemnitz flausen+ ist ein Bundesnetzwerk und Bündnis für kleine und mittlere Theaterhäuser sowohl im ländlichen Raum als auch in größeren Städten Der flausen+bundeskongress#4 wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien über das Programm “Verbindungen fördern” des Bundesverbands Freie Darstellende Künste e.V. // https://flausen.plus/veranstaltungen/kongress/

6. – 8. Juni

2025

KÖLN circus-dance-festival.de

Stück Kein Schicksal, Stück Klytämnestra Gespräch

Foto By John Collier - [1], Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6314941

Lara Wenzel: Die Antike ist voll von ambivalenten Frauenfiguren.

In deinen Königinnen-Dramen erzählst du die Mythen um Phädra, Penthesilea und Klytämnestra neu. Wieso hast du dich gerade für diese drei Figuren entschieden?

NINO HARATISCHWILI: Eigentlich kann man endlos so weitermachen. Ich habe mich bei den Figuren danach gesehnt, dass man nicht klar sagen kann, das ist eine ‚gute‘ Figur. Es sollten keine klassischen Opfer, liebenden Mütter, ergebenen Ehefrauen sein. Ich wollte mich schon länger mit Phädra beschäftigen. So ist 2023 „Phädra, in Flammen“ entstanden. Als ich begann, daran zu schreiben, war ich gerade in Georgien, wo es politisch auf und ab ging. Das hat das Drama in eine ganz andere Richtung gezogen.

Diese Auseinandersetzung wühlte mich weiter auf und so kam ich auf Penthesilea (siehe TdZ 04/2024) und Klytämnestra. Was die drei eint, ist der Machtstatus. Es sind privilegierte und streitbare Frauen.

Die Frauen sind zwar mächtig, aber diese Macht bringt ihnen nicht viel. Sie enden tot auf der Bühne – wie es in Tragödien oft der Fall ist.

NH: Ganz kann ich nicht zustimmen, denn es geht bei Penthesilea und Klytämnestra um selbstbestimmte Tode. Das entspricht nicht dem Ophelia-Prinzip, denn das Geschlechterverhältnis ist hier nicht so eindeutig. In meiner Version dient der Tod Klytämnestras einer politischen Utopie. Abgesehen davon, wie realistisch das ist, wird ein Ideal angestrebt, dem sie sich opfert. Das ist nicht das fremdbestimmte Opfer, wie man es von Iphigenie kennt, die von ihrem Vater getötet wird.

Die Rache der Königinnen Nino Haratischwili über ihre Antiken-Trilogie, Hoffnung und Verzweiflung in Georgien im Gespräch mit Lara Wenzel

In deiner Neuerzählung sucht Iphigenie die Emanzipation vom Eltern- und Königshaus, aber sie begibt sich dafür in männlich dominierte Revolutionsfantasien.

NH: Das ist die Falle, die mir viel Spaß beim Schreiben bereitet hat. Sie ist ein verzogener Teenie, der in etwas reinrutscht, das eine Nummer zu groß ist. Daran wächst sie und wird unfreiwillig zur Anführerin. Ich glaube nicht, dass ich diesen Konflikt endgültig durch die Literatur beantworten kann. Aber ich kann die Komplexität einzelner Fragen darstellen und sie wie ein Wollknäuel auseinandernehmen. Es ist ein patriarchales System und den Frauen werden bestimmte Rollen zugeteilt. Was sind die Alternativen, wenn das System sich nicht verändert? Dann kehre ich unweigerlich in die Rollen zurück, gegen die ich ankämpfe.

Dafür existiert keine Lösung. Es gibt aktuell eine große Sehnsucht nach einfachen Antworten, nach Entweder-oder. Das Leben und die Demokratie ist aber eine ständige Aushandlung, ein ständiges Und. Wie kann ich sowohl im Politischen als auch im Privaten diese Widersprüche aushalten?

Diese Probleme stecken schon in der Orestie und sind zeitlos.

Gleichzeitig fühlt sich die Verhandlung von Krieg und Männlichkeit in „Kein Schicksal, Klytämnestra“ sehr aktuell an. Wie hat dich die Weltlage beim Schreiben beeinflusst?

NH: Auch wenn ich über das Mittelalter oder über einen 4000 Jahre alten Stoff schreibe, ist der stets auf die Gegenwart bezo-

Theater der Zeit 5 / 2025

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Stück Gespräch Nino Haratischwili Stück gen. Ich finde es sehr kleinkariert, wenn man in Inszenierungen immer tagesaktuelles Geschehen reindrückt. Bei einer Penthesilea-Aufführung gab es mal die Kritik, dass zu wenig Bezug zur Ukraine hergestellt wurde. Das ganze Stück handelt von Krieg.

Ich will bei so einer Inszenierung keine Bilder von Butscha oder dem Gaza-­Streifen sehen. Theater ist nicht die Tagesschau. Den Transfer kriege ich selber hin. Gerade diese Allgemeingültigkeit ist das, was das Theater am Laufen hält. Wir stellen uns immer wieder die gleichen Sinnfragen, nur in anderer Form. Gerade deshalb liebe ich antike Stoffe. Sie verjähren nicht.

len Zeiten aufgewachsen bin und selbst Kriege erlebt habe. Mein Roman „Die Katze und der General“ spielt im TschetschenienKrieg und erzählt von einer Massenvergewaltigung eines jungen Mädchens, das am Ende auch getötet wird. Am Ende geht es im Krieg darum zu dominieren und es bleibt eine Waffe, die immer Gültigkeit hat. Im Roman habe ich die Beschreibung bis zur Unerträglichkeit ausgereizt, weil es genauso unerträglich ist. In „Kein Schicksal, Klytämnestra“ ist es besonders für Kassandra wichtig, um ihre Ermächtigung und Rache zu erklären. Die Entscheidung, wie das gezeigt wird, liegt dann bei der Inszenierung.

Dass bereits Aischylos über die Konflikte geschrieben hat, die du wieder aufgreifst, hat bei mir beim Lesen auch Frust ausgelöst. Es gibt zwar eine Utopie am Horizont, die bleibt aber nur ein Hoffnungsschimmer. Am Ende drehen wir uns heute immer noch um die gleichen Probleme wie in der Antike.

NH: Ich glaube, es ist die Hoffnung, dass sich Dinge verändern, die uns weitertreibt. Natürlich haben wir uns weiterentwickelt, aber die ganz grundsätzlichen Themen – Lebenssinn, Gewalt, zwischenmenschliche Strukturen, Liebe, Familie – bleiben.

In manchen Bereichen sind wir offenbar lernresistent und führen im 21. Jahrhundert immer noch Kriege. Gleichzeitig liegt dem immer Hoffnung zugrunde. Deswegen schreibt man, erschafft man und stellt immer wieder diese Fragen, weil man denkt: vielleicht heute nicht, aber morgen oder übermorgen.

Du hast dich in den letzten Jahren auch immer wieder zum Angriffskrieg auf die Ukraine und den Einfluss Russlands auf Georgien geäußert. Wie blickst du gerade auf die Situation in Tiflis?

NH: Ich habe in den letzten Monaten Artikel geschrieben, Soli-­Abende organisiert und bald werde ich nach Georgien fliegen und wieder auf Demos gehen. Es ist erschreckend und desillusionierend. Als würde die Vergangenheit zurückkommen. Aber die Rückkehr des Imperialismus und der Großmachtansprüche sind nicht nur ein Problem in Georgien, sondern ein globales. Auch hier bleibt einem nichts anderes übrig, als dagegen zu kämpfen und nicht die letzten Reste demokratischer Strukturen aufzugeben und wieder alles in die Hände dieser größenwahnsinnigen Männer zu geben. Es ist wie beim Schreiben. Da muss ich mich manchmal ermahnen, um dann aufs Schlachtfeld zurückzukehren. T

In deinen Königinnen-Dramen sind alle Figuren Mütter, aber sie entsprechen nicht dem fürsorglichen, kümmernden Bild. War es dir wichtig, dich beim Schreiben an diesen Klischees abzuarbeiten?

NH: Es ist nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu, wenn Weiblichkeit mit Hunger zusammenkommt. Sei es der Hunger nach Essen, Sexualität, Macht oder Erfüllung. Dieser Hunger wird sehr schwer verziehen. Dafür zahlen die Königinnen einen Preis, z. B. das gute Verhältnis zu ihren Kindern.

Diese ambivalenten Frauen erleben verschiedene Formen der Gewalt. Am eindringlichsten ist wohl die Schilderung Kassandras über sexualisierte Gewalt im trojanischen Krieg. Wie hast du dich dem Schreiben über diese Gewalt genähert?

NH: Mit Krieg und sexueller Gewalt als Waffe habe ich mich schon sehr viel beschäftigt. Das liegt daran, dass ich in gewaltvol-

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Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tiflis, ist eine georgisch-deutsche Theaterregisseurin, Dramatikerin und Romanautorin. Für ihr Werk wurde sie u. a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Bertolt-Brecht-Literaturpreis und der CarlZuckmayer-Medaille ausgezeichnet. „Phädra, in Flammen“, „Penthesilea. Ein Requiem“ und „Kein Schicksal, Klytämnestra“ bilden die Königinnen-Trilogie, deren letzter Teil im April 2025 am Schauspiel Leipzig urauf­geführt wurde.

Foto G2 Baraniak- Steffen Baraniak

Treibt dich dieser Impuls beim Schreiben an? Dass beim Durcharbeiten dieser Konflikte und der Gewalt Hoffnung bleibt?

NH: Ich bin nicht mehr so naiv zu glauben, dass Kunst oder Literatur etwas verhindern kann. Früher habe ich immer gedacht, dass Bildung eine Prävention für Gewalt ist. Das ist leider nicht so.

Für mich ist immer die Frage: Was ist die Alternative? Manchmal umgibt mich so ein Nihilismus. Ich frage mich nach dem Sinn, aber dann stelle ich mir die Alternative vor. Wenn ich die Wand anstarre und destruktive Gedanken denke, ist auch niemandem geholfen. Irgendwo habe ich mal den schönen Satz aufgeschnappt: „Wir sind zur Hoffnung verpflichtet.“

Theater Theaterder derZeit Zeit 55 / 2025

Theater der Zeit

Stück

PERSONEN KLYTÄMNESTRA, einst berühmt für ihre Klugheit, mit der sie jeden, der es wagte, sich darauf einzulassen, in einer Weise betörte, wie es ihre physische Schönheit allein niemals vermocht hätte. Doch hat die zehnjährige Abwesenheit ihres Mannes sie verwandelt, was weder das Schicksal noch die männergeschriebenen Gesetze vorgesehen hatten. Und dieser Triumph bereitet ihr eine Freude, die sie mit niemandem teilt, Götter bewahret …

Ihr Schmerz, der ihren Gesichtszügen eingeschrieben ist, wirkt majestätisch, und so auch ihre Macht, die die gefährlichste auf Erden ist: eine, die durch Leid erlangt worden ist. Das Begehren, das sie nun in anderen weckt, tanzt einen erotischen Tanz mit dem Tod. Das Seil, auf dem sie in ihrer Lebensmitte gekonnt balanciert, ist in einer fatalen Höhe gespannt, weshalb es nur wenige wagen sich dort aufzuhalten: mit ihr auf Augenhöhe.

Kein Schicksal, Klytämnestra

AGAMEMNON, zum Herrschen geboren und doch immer im Schatten stehend: im Schatten seines dauererfolgreichen Bruders, im Schatten seiner Fehler, im Schatten seines verfluchten Geschlechts, im Schatten der Götter.

Ein Mann, der einst liebte und die Liebe nun als Narkotikum braucht: maßlos und uneingeschränkt, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ein Abhängiger und Getriebener, geformt durch seinen Trieb zu siegen, geformt durch den Willen, dem Fluch zu entrinnen. Ein Krieger mit zahlreichen Wunden, allen voran den unsichtbaren, und einst ein verdammt guter Liebhaber, ein wah-

Nino Haratischwili

rer Kenner seines Fachs, eine Begabung, die ihm zur Schlinge geworden ist, aus der er den Kopf nicht mehr herausziehen kann. Einer, der das Gewissen genauso schnell und effizient zu reinigen gelernt hat, wie seine Waffen.

IPHIGENIE, einst sanft und liebreizend anzusehen, mit besten Manieren, stets wohlfrisiert und -gekleidet, nach Rosenwasser duftend. Nun aber, in der vollen Blüte ihres jungen Lebens, hat sie sich in ein dorniges, teerschwarzes, borstiges, widerspenstiges Wesen verwandelt und pflegt ihre dunklen Augenringe als ihr schönstes Gut. Im unermüdlichen Kampf mit ihren Eltern, allen voran ihrer Mutter, und mit der Welt. Eine, die glauben will, unbedingt. An etwas, an jemanden. Leider sind es nicht die Götter. An den Klassenkampf, vielleicht.

Mit einem gewissen Hang zum Fanatismus. Eine, die unter ihren Privilegien verschüttet zu werden droht und dennoch fürchtet, es keinen Tag ohne sie aushalten zu können. Aber das wird sie … bis zu einem gewissen Punkt.

AIGISTHOS, der ewig Benachteiligte, Beschämte, Zukurzgekommene, seiner entwürdigenden Familiengeschichte niemals Entronnene, gekränkt bis auf die Knochen und schmollend aus jeder Pore, dem Schicksal derart zürnend, dass es geneigt scheint, sich ihm ausnahmsweise wohlwollend zu zeigen, so als kleine Entschädigung zwischendurch, als Atempause auf seinem von Enttäuschungen und Missachtung gezeichneten Weg. Der ewig falsch Liebende, dabei durchaus mit Talenten ausgestattet, nur halt immer am falschen Ort und zur falschen Zeit. Stets in der Hoffnung auf seinen großen Auftritt, und sei es zwischen den Schenkeln einer mächtigen Frau.

KASSANDRA, die Sehende und zugleich ewig Ungesehene. Die Schmerzbefleckte und doch nie Glanzerloschene. Ihre unerschütterliche Ruhe, durch den Zirkel des ewigen Verlustes gestärkt, ist der Felsen, an dem alle zerschellen. Das Tragische ihres unausweichlichen Schicksals hat sie mit der Muttermilch aufgesogen und sich damit vermählt. Ihre ersten Schritte

© Verlag der Autoren Frankfurt am Main, 2025

Theater der Zeit 5 / 2025

waren bereits dem Ende entgegen … klarsichtig und stoisch, wie es den

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Stück Nino Haratischwili Auserwählten eigen ist, deren Herz nie auf die Jagd gegangen ist.

KLYTÄMNESTRA Ich habe mich daran gewöhnt, allein zu sein.

ANTINOOS, ein falscher Revoluzzer und Prediger, dem Geld verfallen mit

AGAMEMNON Du klingst, als seiest du über meine Rückkehr betrübt.

Haut und Haar, aber einer von erstaunlich schönem Antlitz, was ihm

KLYTÄMNESTRA Betrübt gewiss nicht, eher verwirrt, und der Nähe entwöhnt.

schnelle und unerwartete Erfolge einbringt. Von Geburt in einer Hülle der

AGAMEMNON So entwöhnt kannst du ihrer nicht sein.

Unmöglichkeiten gefangen, hat er mit der Zeit gelernt, seine Ohnmacht in

KLYTÄMNESTRA Wie meinst du das?

effiziente Möglichkeiten zu verwandeln. Die Überheblichkeit des Unbe-

AGAMEMNON Während ich im Krieg war, hast du Aigisthos in den Rang eines

siegbaren, die er als Schutzschild vor sich herträgt, wird ihm eines Tages

Archonten erhoben, und er, so heißt es, hat deine Nähe ausgiebig genossen.

das Genick brechen. Doch bis dahin ist er gewillt, dem Leben und den

KLYTÄMNESTRA Ich habe deinen Cousin mit ein paar nichtigen Aufga-

Begünstigten dieser Welt das Maximum abzutrotzen: an Geschenken und

ben betraut, weiter nichts. Doch was ist mit dir? Troja wird auch nicht arm

Genüssen, an Rubinen und Diamanten, an Brüsten und an Wein.

gewesen sein an schönen Geschöpfen, um dir die Einsamkeit zu versüßen.

So wie dein geheimnisvolles Mitbringsel.

ERLÄUTERUNGEN:

AGAMEMNON Ein unglückseliges Geschöpf ist sie, aus dem trojanischen

Archonten, führende Amtsträger im antiken Griechenland

Königsgeschlecht, Kassandra mit Namen. Sei gnädig mit ihr und lass sie

Xiphos, Schwert

gut versorgen. Von ihrer Familie sind nichts als Knochen und Heldensagen

Megaron, der sogenannte „Männersaal“, ein Bestandteil damaliger Paläs-

übrig. Eine Seherin soll sie sein. Eine Rednerin eher nicht. Immerzu

te, zu dem nur Männer Zutritt hatten

schweigt sie mich an.

1 Nach dem Krieg

KLYTÄMNESTRA Wie ich sehe, hat der Krieg deiner Vorliebe für Weissagungen und Orakel nichts anhaben können.

AGAMEMNON Und der Schärfe deiner Zunge ebenso wenig.

Die Welt erhebt sich zu einem Schrei. Schwermut liegt wie Moos auf dem

Agamemnon küsst sie, will sie ins Wasser ziehen, in die Vergangenheit,

Palast. Die Liebe ist nur noch ein verzerrtes Echo und die Sehnsucht zu

aber die ist undurchdringlich geworden.

Gift geworden. Das Ungeheure ist mit dem König aus Troja zurückgekehrt

AGAMEMNON Endlich! Unverändert ist die Süße deiner Lippen. Unver-

und will gefüttert werden.

ändert die Weichheit deiner Hüften. Unverändert die Tiefe deiner Augen,

Agamemnon im Bad, der Schaum umspült seinen wunden und doch noch

die Dichte deiner Wimpern, das Dunkel deiner Haare, ein lockender Wald,

immer stählernen Körper, jaja, sehen lassen konnte er sich schon immer,

in dem ich mich schon immer gerne verloren habe. Und trotzdem erkenne

und er will, dass seine Frau diesem Körper endlich den langersehnten Tri-

ich dich nicht wieder, meine Sonne. Schweigsam scheinst du mir, trüb.

but zollt. Klytämnestra tritt ein und bleibt in der Ecke stehen, reglos. Ihr

Willst du mir nicht beichten, was dir auf dem Herzen liegt?

Kleid ist rot bespritzt. Sie setzt sich langsam an den Wannenrand, an das

KLYTÄMNESTRA Es tut mir leid, dass dich kein blühendes Leben in

äußerste Ende seiner Welt.

Empfang nimmt, keine vor Liebe berstende Frau. Seit du fort bist, habe ich

AGAMEMNON Meine Frau. Meine Frau. So fremd sind diese Worte mei-

mich neu zusammensetzen müssen. Tausend Scherben, die du zurückge-

ner Zunge geworden, und doch will ich sie so oft wiederholen, bis ich mich

lassen hast und die doch einst meinen Namen trugen. Nun bin ich krumm

wieder darauf betten kann. Das werde ich doch, Klytämnestra? Meinen

wieder zusammengewachsen, zu stark waren die Risse, zu heftig der Bruch

zerschundenen, ermatteten Leib? Was ist los?

… aber so ist es nun mal. So haben es die Götter gewollt.

KLYTÄMNESTRA Nichts.

AGAMEMNON Ich bin froh, dass du dich mit dem Schicksal versöhnt hast.

AGAMEMNON Ist das Blut?

KLYTÄMNESTRA Versöhnt? Nein, ich habe mich nicht damit versöhnt,

KLYTÄMNESTRA Bloß Granatäpfel, die ich geschält habe.

im Gegenteil, ich bin dagegen in den Krieg gezogen.

AGAMEMNON Ich habe mein Versprechen gehalten, Klytämnestra, ich

AGAMEMNON Seit Wochen frage ich dich: Warum empfangen die Kin-

habe gesiegt. Weißt du, wieviel Gold ich mitgebracht habe? Weißt du,

der ihren Vater nicht?

welches Ansehen Mykene nun in ganz Attica genießt? Weißt du, wie viele

KLYTÄMNESTRA Ja, Kinder, die längst keine mehr sind. Ich habe dir ge-

Könige zu mir aufschauen?

sagt, wo sie sind. Aber die Antwort befriedigt dich offenbar nicht.

KLYTÄMNESTRA Ich weiß es.

AGAMEMNON Weil sie nicht meine Frage beantwortet. Die Rückkehr

AGAMEMNON Ohne mich und meine Achaier hätten die Griechen diesen

ihres Vaters scheint mir wichtig genug, um sie nach Mykene zurückzuru-

Sieg niemals erwirkt! Und nun will ich dich sehen und berühren. Jede neue

fen. Daher frage ich dich noch einmal: Warum?

Linie, jedes neue Mal will ich auf deiner Haut studieren, deine Geschichten

KLYTÄMNESTRA Ich will sie nicht aus ihren gewohnten Abläufen her-

will ich lesen, die sich in meiner Abwesenheit dort eingeschrieben haben.

ausreißen, auch das sagte ich dir bereits. Chrysothemis, die Sanftmütige,

KLYTÄMNESTRA Ich bezweifele, dass sie dir gefallen werden.

muss sich in Pylos auf Prüfungen vorbereiten, schließlich ist es eine höhere

AGAMEMNON So lange habe ich mich in Verzicht üben müssen. Doch

Schule, auf die sie geht. Orest aus der Militärakademie in Phokis zu holen,

den Göttern sei Dank bin ich nun wieder bei dir, endlich zuhause. Steig zu

würde seine Karriere behindern, und …

mir ins Wasser!

AGAMEMNON Herausreißen. Behindern. Ihr Vater, ihr eigener Vater

KLYTÄMNESTRA Gib mir etwas Zeit. Es ist nicht einfach. Du. So un-

und König. Der nebenbei einen der längsten Kriege, den die Götter je ge-

erwartet. So unvorbereitet.

sehen, gewonnen hat …

AGAMEMNON Habe ich sie dir nicht gegeben, die Zeit? Wenn seit mei-

KLYTÄMNESTRA Ich dachte, es wäre in deinem Sinne, dass er eine Militär-

ner Rückkehr der Mond Zeit genug hatte, sich zu füllen, warum dann nicht

akademie besucht. Er macht von sich reden. Er wird ein guter Krieger sein.

meine Frau, ihren Mann angemessen zu ehren?

AGAMEMNON Und ich dachte, du wolltest ihn vom Krieg fernhalten?

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Theater der Zeit 5 / 2025

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© SHF, Foto: Frank Sperling | vierviertel

KLYTÄMNESTRA Aber der Krieg wird sich nicht von ihm fernhalten.

Darum muss er gewappnet sein. Und Elektra … Sie hat für die Blütezeit ohnehin ihren Besuch aus Theben angekündigt. Sie hat sich kein bisschen verändert. Unbelehrbar ist sie. Grüblerisch wie eh und je, widerborstig und engstirnig. Aber darum auch neugierig und wissbegierig.

AGAMEMNON Was hat meine Tochter in Theben zu suchen? Erkläre mir das! Woran fehlt es Mykene, dass meine Kinder in alle Himmelsrichtungen geschickt werden mussten, als sei ihr eigenes Land verpestet?

KLYTÄMNESTRA Wenn du es unbedingt wissen willst: an Schulen der Philosophie.

AGAMEMNON Philosophie?

KLYTÄMNESTRA Vor deiner Abreise hast du darauf keinen allzu großen Wert gelegt. Und da deine Tochter sich nun mal dafür interessiert, musste ich für sie einen Ort finden, wo sie ihren Interessen nachgehen kann.

AGAMEMNON Seit wann ist es in meinem Land Frauen erlaubt zu studieren?

KLYTÄMNESTRA Seit ich regiere.

Pause. Eine, die einer Schlange gleicht: Leise gleitet sie dahin, und doch spürt man die Gefahr, die von ihr ausgeht.

AGAMEMNON Regiere. Regiere. Hm. Und eine Philosophieschule auch noch. In Theben. Und das erfahre ich nur zufällig?

KLYTÄMNESTRA Ich wollte dich nicht von Wichtigem abhalten mit meinen Belanglosigkeiten.

Agamemnon zieht sie näher an sich heran.

AGAMEMNON Hier, fühlst du das? Das war eine trojanische Kopis, so tief in meinen Schenkel eingedrungen, dass ich drei Tage und drei Nächte mit dem Tod rang. Und das hier, Klytämnestra, ein feindlicher Giftpfeil, abgeschossen im 16. Mond nach unserer Ankunft. Ich stürzte zu Boden, und nur ein Aderlass rettete mir das Leben. Das, was du zwischen meinen Schulterblättern ertasten kannst, hier, keine Scheu, meine Edle, verdanke ich dem scharfen Xiphos in der Hand eines feigen Trojaners, der sich von hinten anschlich und glaubte mich auf diese Weise in den Hades schicken zu können. Am Ende aber fiel er selbst auf die staubige Erde – sein Körper links, sein Kopf rechts von mir. Das alles geschah, Klytämnestra, während du Ernten gezählt und Tempel eingeweiht hast, im weißen Gewand, mit der smaragdgrünen Krone, die ich dir zu unserer Hochzeit geschenkt habe. Das Sterben meiner besten Männer, das Verbrennen ihrer Leichen – all das, während in meiner Polis Hochzeiten gefeiert und Freudenschreie zu Ehren von Neugeborenen ausgestoßen wurden, all das, während du die Ergebnisse der ermüdenden Sitzungen des Archontenrats hast verlesen lassen, Waisenheime hast eröffnen und Spitäler errichten lassen. In Troja indes: Scheiterhaufen, so groß, dass ihr Feuer bis dorthin reicht, wo Meer und Sonne einander umschlingen. Leichenberge, so hoch wie ganze Paläste. Schutt und Asche anstelle von Dörfern und Städten.

So viele Augen, die ich habe für immer schließen müssen, Augen, die doch einst mit mir gelacht und gebangt haben, so viele, dass ich aufgehört habe sie zu zählen. Abgetrennte Gliedmaßen, so reich an der Zahl wie Sterne am Himmel. Eine ganze Karte davon ist auf meinem Körper eingezeichnet, alles, was du wissen musst, findest du dort, denn nichts habe ich vor meiner Frau zu verbergen. Aber was ist mit deiner Karte, Götter, wo kann ich sie lesen?

Agamemnon packt das Gesicht seiner Frau. Die Zeit rinnt rückwärts, bis sie sich staut. Bald werden die Dämme brechen.

AGAMEMNON Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche, verdammt! Wo erfahre ich von den neuen Handelswegen, die du ohne meinen Segen beschritten hast? Von den aufgelösten Verträgen, von den Archonten, die du hast einsperren lassen ohne meine Einwilligung? Oder davon, dass du diese Missgeburt Aigisthos befördert hast und ihn in meinen Kammern hast herumstolzieren lassen? Von all deinen törichten Reformen, die du in mei-

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Stück Nino Haratischwili ner Abwesenheit durchgesetzt hast? Studierende Frauen! Philosophieschulen in Theben! Willst du mich zu einer Witzfigur verkümmern lassen?

Deine Aufgabe war es, meinen Namen in Ehren zu halten!

KLYTÄMNESTRA Meine Aufgabe war es, zu regieren, was ich auch getan habe.

AGAMEMNON Ein Weib kann nicht regieren! Das ist götterwidrig! Und gerade, weil ich deine Klugheit schon immer geschätzt habe, habe ich dir arglos meinen Platz überlassen, in der Überzeugung, dass du das Regieren dem Rat überlässt, den ich dir zur Seite gestellt habe.

KLYTÄMNESTRA Einen Rat nennst du dieses Pack? Dass ich nicht lache!

Deine versoffenen, korrupten, gierigen Freunde. Nach allem, was war, und dem Zustand, in dem du mich und das Land zurückgelassen hast, was hast du da erwartet? Dass ich Mykene mit liebreizendem Lächeln und kokettem Getue führen soll? Ich habe deinen Dreck aufgeräumt, Agamemnon!

Und es tut mir leid, dass ich dabei keine Samthandschuhe habe tragen und mir keine kirschroten Lippen habe aufmalen können.

AGAMEMNON Du schädigst meinen guten Ruf, den ich während zehn Jahren Krieg gefestigt habe, um unserem Geschlecht alle Ehre zu machen und unseren Kindern einst einen Vater zu hinterlassen, der in Heldensagen besungen wird.

KLYTÄMNESTRA Ich habe deine Schulden getilgt. Die geplünderte Staatskasse wieder aufgefüllt. War sie es nicht, derentwegen du in den Krieg gezogen bist? Nach Troja? In der Hoffnung, dass du sieg- und an Pfründen reich zurückkehren würdest, dank deines mächtigen Bruders, der dir ja auch sonst immer aus der Klemme helfen musste?

AGAMEMNON Es gibt nun mal Dinge, von denen du nicht die leiseste Vorstellung hast.

KLYTÄMNESTRA Da irrst du. Und wie du dich irrst. Du warst lange fort, mein Gemahl: Zehn Jahre inmitten dieses Misthaufens sind eine sehr lange Zeit. Und so konnte ich in Dinge Einblick bekommen, die mir zuvor verschlossen waren, und von denen ich doch längst ahnte, dass sie geschehen und zum Himmel stinken. Aber keine Bange: Ich habe alles für mich behalten, um dein Andenken, um deinen Ruf zu wahren. Alle deine himmelschreienden Verträge habe ich unter Verschluss gehalten. Das ist mehr als du von mir verlangen kannst …

AGAMEMNON Abgefallen bist du von mir wie ein vertrockneter Ast, dabei glaubte ich, du würdest ewig Blüten tragen. Muss ich dich erinnern an dein Gelübde, das du abgelegt hast, als ich dich zu meiner Frau nahm?

KLYTÄMNESTRA Du kannst nicht einfach zurückkommen, Sieg hin oder her, und erwarten, dass ich wieder rote Bänder vor Armenhäusern durchschneide, als wäre nichts gewesen.

AGAMEMNON All deine Reformen werden rückgängig gemacht, gleich morgen, so habe ich es angeordnet. Und in aller Frühe wirst du Boten aus-

senden, um unsere Kinder dorthin zurückzubringen, wo sie hingehören: in diesen Palast, an meine Seite. Hast du mich verstanden, Klytämnestra?

KLYTÄMNESTRA Je weiter weg von Mykene sie sind, je weiter weg von uns, je weiter weg von dir, desto besser. Dann müssen sie vielleicht nicht das Schicksal ihrer Schwester teilen.

AGAMEMNON Ich will dir nicht noch mehr Schmerz zufügen müssen, es ist genug, was du hast ertragen müssen, also zwing mich nicht.

KLYTÄMNESTRA Du kannst mir nicht mehr wehtun. Es ist nämlich so, Agamemnon: Uns ist nur ein bestimmtes Maß an Leidensfähigkeit vergönnt, das überspannt unser Leben wie ein Spinnfaden. Manchmal reißt er, manchmal, an dunklen Tagen, verknotet er sich und schnürt uns die Kehle zu, aber er ist für ein ganzes Leben bestimmt. Doch es gibt Ausnahmen, und das sind Mütter, die ihre Kinder zu Grabe tragen. Denn dann wickelt sich dieser Faden auf einen Schlag um dich herum, und er hält dich für alle Zeit gefangen, verstehst du?

AGAMEMNON Ich weiß, dass du mir die Schuld gibst, noch immer, daher dein ganzes Getue, daher deine Vorwürfe, deine Unnahbarkeit.

KLYTÄMNESTRA Aber wenn der Schmerz allgegenwärtig ist, wenn er die einzige Verbindung mit dem Leben ist, die bleibt, dann kann nichts mehr kommen, was dich verletzt. Dann tut nichts mehr weh. Dann kannst du kein anderes Leid mehr empfinden als das, dein totes Kind zu betrauern, tagein, tagaus.

AGAMEMNON Du hörst einfach nicht auf damit!

KLYTÄMNESTRA Ich weiß jetzt, sie hatte recht. Sie hatte mit so vielem recht. Und wäre ich deinem Unrecht früher in die Quere gekommen, hätte sie nicht diesem Wahnsinnigen nachlaufen müssen, auf der Suche nach Wiedergutmachung, fort von ihrem schlechten Gewissen … dann wäre sie noch am Leben.

AGAMEMNON Vier Kinder hast du mir geboren, geliebt und geehrt habe ich dich. Gekämpft habe ich für dich, habe Siege errungen. Und so werde ich nicht zulassen, dass du mir abtrünnig wirst. Zurückprügeln ins Damals, in die glückliche Zeit unseres Seins werde ich dich, wenn es sein muss, zurückficken werde ich dich, Klytämnestra, dich töten und aus Lethes Gewässern wieder neu aufsteigen lassen, rein und geläutert. Ich werde alles tun, was nötig ist, damit du wieder zu der wirst, die ich liebe.

KLYTÄMNESTRA Dann gib mir mein Kind zurück.

Er hält sein Versprechen: Er fickt sie, eine biegsame, weiche Puppe, die bald ihren Betonkern entblößen wird. Aber zurückbringen kann er sie nicht, die, die er sucht. Je inniger er glaubt sich erinnern zu müssen, je fester er sie umschließt, desto mehr zerfällt sie in winzige Partikel, in 1000 ungeweinte Tränen, in 1000 Versuche des Loslassens, 1000 verschleuderte Hoffnungen, 1000 zertrampelte Erwartungen, 1000 verwaiste Küsse, 1000 ausgesetzte Atemzüge und 1000 zerronnene Erinnerungen: an ein totes Kind.

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TANZ

von Panzetti / Ticconi

Stück Kein Schicksal, Klytämnestra KLYTÄMNESTRA Aber das kannst du nicht. Du kannst sie nicht wieder lebendig machen. Dafür musst du mich schon härter schlagen, härter ficken, härter töten … Du redest von Leichenbergen, Verwundungen, von abgetrennten Gliedmaßen und Scheiterhaufen? Und willst meine Landkarte sehen? Hier, sieh her, fühle meine fahle Haut, betrachte meine Karte und glaub mir, sie sind dort alle eingezeichnet: alle Scheiterhaufen, Verwundungen und Leichenberge, denn auch ich sah sie. Doch im Gegensatz zu dir sah ich sie alle zugleich – im Gesicht meiner toten Tochter.

AGAMEMNON Aber sie war auch mein Kind, meine Iph… KLYTÄMNESTRA Erwähne ihren Namen nicht! Du hast dafür gesorgt, dass sie verehrt wird wie eine Gottheit. Noch immer. Menschen zitieren ihre Reden und feiern sie, die Heilige, die sich für ihr Volk geopfert hat.

AGAMEMNON Ja, und nun, da ich wieder zurück bin, da wir beim nächsten Vollmond das große Siegesfest feiern, da will ich es auch ihr zu Ehren ausrufen. Wir werden glücklich sein, wir werden wieder glücklich sein, hörst du?

KLYTÄMNESTRA Ich sehe euch, deinen Bruder und dich, wie ihr das erste Mal nach Sparta kamt, wie Vater euch empfing, du warst vom grellen Licht wie durchlöchert, als wärst du ein Sieb und die Sonne schiene durch dich hindurch. Zwei enterbte Brüder, zwei verlorene Seelen, edel und stolz, so hatte Vater euch uns angekündigt, Helena und mir ...

AGAMEMNON Deine Schwester wäre sicher froh, dich nach langer Zeit einmal wiederzusehen. Du solltest zu ihr nach Sparta reisen, eine Kur machen, wir sagen einfach, dass dir alles zu viel wurde, dass du emotional überfordert bist, dass du eine Auszeit brauchst. Du wirst dort bleiben bis zur Großen Ernte, bis sich die Aufregung gelegt hat, bis ich wieder die Zügel in die Hand genommen habe.

KLYTÄMNESTRA Dann sah ich dich, und zum ersten Mal beneidete ich meine schöne Schwester um ihr Strahlen, denn natürlich galt ihr deine ganze Aufmerksamkeit. So war es immer, nur hatte es mir davor nie etwas ausgemacht. Doch dieses Mal verfluchte ich Helenas Schönheit. Zum ersten Mal wünschte ich mir: Dieser Blick, den du ihr schenktest, gälte mir. Und da, genau in diesem sonnendurchfluteten Augenblick, schwor ich mir, dass ich dich zwingen würde mich zu lieben! Ich wusste: Ich würde dich so sehr lieben, dass du gar keine andere Wahl hättest als diese Liebe zu erwidern.

AGAMEMNON Du wirst dich erholen, und dann wirst du zu mir zurückkehren als die, die ich vor 20 Jahren geheiratet habe!

KLYTÄMNESTRA Ich war es nicht, die uns verraten hat, Agamemnon.

AGAMEMNON In der Zwischenzeit hole ich die Kinder heim, und wir werden auch Iphigenie …

KLYTÄMNESTRA Ich. Habe. Dir. Gesagt. Du. Sollst. Ihren. Namen.

Nicht. Erwähnen!

AGAMEMNON Ich werde den Namen meiner Tochter aussprechen, wann und sooft ich will!

KLYTÄMNESTRA Weißt du, woran ich oft gedacht habe – und das ist das Einzige, was mir in all den Jahren, die du fort gewesen bist, so etwas wie Genugtuung verschafft hat: Jeden Abend stellte ich mir vor, wie du in deinem prachtvollen Zelt, bewacht von deinen Soldaten, ermattet, kriegsmüde und voller Schmerzen, wie du deinen Kopf auf die fremde trockene Erde legst, und wie ihr Schatten sich vor dir aufbaut, wie er dir den Schlaf raubt, wie er dich nicht zur Ruhe kommen lässt, wie dieser Schatten deine Legende, deine falsche, verlogene, ekelhafte Version ihres Todes ins Wanken bringt. Wie er dir an die Gurgel springt, wie er dich lehrt, dich selbst zu hassen, wie er deine armselige Existenz unter ein kolossales Fragezeichen stellt. Wie du dich schämst, wie du dich verachtest, wie du in Schluchzen ausbrichst, sodass die Wachen sich Nacht für Nacht dein Gejaule anhören müssen, und keine Nutte, keine Sklavin, die du – daran zweifele ich nicht – um dich geschart hattest, könnte diese Schmach lindern.

Egal wie selbstvergessen sie dich küssen – den Kriegshelden, den König, nach der hitzigen Schlacht –, egal wie gekonnt sie dir ihre Leidenschaft vorgaukeln, egal wie vorauseilend sie ihre Beine für dich spreizen, egal wie tief du dich in sie hineinbohren würdest – niemand könnte es ungeschehen machen, dass du ein Mörder bist. Der Mörder deines eigenen Kindes!

Sie holt aus ihrem Gewand ein Messer und schneidet ihrem Mann die Kehle durch. Tränen fallen in die Badewanne, die ohnehin übervoll ist von Wasser, Blut und Kummer.

2 Vor dem Krieg Das stolze Mykene ist auch nicht mehr, was es einmal war: Zu wenig Hoffnung und zu viele Schulden hat es angehäuft. Zu weit klafft der Abgrund zwischen oben und unten, in den alle kopfüber stürzen. Es herrscht eine brütende Hitze. Die Stadt schwitzt, mitsamt ihren erschöpften, aufgebrachten Bewohnern. Einige von ihnen sind in den Wald geflohen. Zu ihnen spricht der neue Prophet und leiht ihrer Verzweiflung eine Stimme.

Unter ihnen Iphigenie, die ihr Gesicht verbirgt.

ANTINOOS Brüder und Schwestern, meinen Segen möchte ich euch aussprechen und meine Freude kundtun! Die Hexenjagd auf uns durch die Garde des Königs scheint endlich vorbei. Aber nicht, weil sie uns plötzlich Gehör schenken würden, nein, sondern weil wir ihnen unseren Willen aufgezwungen haben! Wir haben es geschafft! Denn reißt man uns an einer Stelle aus, so wachsen wir an tausend anderen nach, wuchtiger nur und größer. Und so werden wir uns die Stadt zurückerobern, wir, ihre Kinder!

go plastic company & Kolleg*innen Tanz in den Mai 01.05.

Highlights Mai

Tanzklassen & Dresdner Jugendsinfonieorchester des Heinrich-SchützKonservatoriums MASSE

09. – 11.05.

Dresden Frankfurt Dance Company Forsythe/Hauert 23. – 31.05.

Stück Nino Haratischwili Gestern erst trat der König in der Agora auf. Unzählige Menschen standen in der brütenden Hitze und zollten ihm Beifall. Eine Minute, zwei, drei, vier, fünf endlos lange Minuten beklatschten sie ihre eigene Ohnmacht.

Und warum? Wer in dieser Stadt glaubt noch, dass sie es aus Respekt und Bewunderung täten? Der einst mutige Krieger und Herrscher hat sich in ein Raubtier verwandelt, das uns allen den Schrecken lehrt. Der Mann, der einst die Demokratie predigte und lobpreiste, der Erbauer jener Agora, die jedem das Recht zu sprechen einräumen sollte, hat uns just dieses Recht genommen! Die Menschen klatschen ihm bis zur Besinnungslosigkeit nicht aus Begeisterung, sondern aus Angst. Denn die, Brüder und Schwestern, ist das Zepter in der Hand der Herrschenden!

Und wir alle, ja, ich gebe es zu, wir haben es zugelassen! Wir alle haben geglaubt, dass wir Mäuse sind, die das Recht der Schlange, sie zu verschlingen, klaglos hinnehmen müssen. Aber wir sind keine Mäuse. Wir sind Menschen. Söhne und Töchter dieses gesegneten Landes! Dieses paradiesischen Fleckens Erde, der genug für alle bereithält, wo niemand hungern müsste, niemand betteln, niemand stehlen. Ist es nicht verrückt, wie dieses Paradies sich binnen weniger Jahre in eine Kleptokratie verwandelt hat? Die Steuergesetze reformieren, hieß es – am Ende aber stand nichts anderes als eine Knechtschaftssteuer, als Enteignung, nur mit dem Unterschied, dass sich die Prozedur Jahr für Jahr wiederholen lässt – zumindest bei jenen, die daran noch nicht zugrunde gegangen sind.

Wir alle sind zu Mäusen geworden! Und haben offenen Auges zugesehen, wie die Archonten und Gaunerfreunde seiner Majestät sich an unserem Eigentum bereichert haben. Aber dieser Staat gehört uns allen, und nicht nur denen, die in den Palästen hausen!

Erinnert euch: Im Fliedermonat starb Thea, gerade einmal sechs Sommer alt, an Unterernährung, weil ihre Eltern alles Erwirtschaftete abgeben mussten. Im Erntemonat erhängte sich der beste Schmied der Stadt, weil er seine kranke Mutter nicht mehr zu pflegen imstande war. Und letzte Woche erst starb Demetros, ein Schusterssohn, an Erschöpfung. Wir haben es zugelassen, und warum? Weil wir die herrschende Ordnung nicht in Frage gestellt haben. Wir haben unseren Untergang selbst besiegelt, noch dazu mit unserem eigenen Blut!

Aber wir sind nicht machtlos! Seht euch um: Zu wie vielen stehen wir hier, stolze Söhne und Töchter dieses Landes! Wir sind hier, weil wir das herrschende Unrecht in Frage stellen, wir sind hier, weil wir keine Mäuse mehr sein wollen, wir sind hier, weil wir keine Feiglinge sind, wir sind hier, bereit unser Leben zu riskieren, weil wir an die Gerechtigkeit glauben!

Mag der König auch Waffen besitzen, mag er seine Soldaten auf uns hetzen – und doch haben sich heute einige der stärksten und mutigsten Krieger der

sagenhaften Achaierarmee hier versammelt. Zeigt eure Gesichter, Brüder, zeigt euren beneidenswerten Mut, ich sehe euch, ich knie vor euch nieder, denn die Tatsache, dass ihr hier seid, mit uns, heißt, dass die Stunden der Willkür, dass die Tage von Agamemnons Gewaltherrschaft gezählt sind.

Die Revolution kommt, und niemand kann sie aufhalten! Wir wollen unsere Würde zurück! Euer Mut wird belohnt werden und euer Leid ein Ende finden! Denn wir haben unsere Angst besiegt! Wir wollen ein neues Leben! Ein neues würdevolles Leben, in dem unsere Arbeit geschätzt, in dem die Schuldknechtschaft abgeschafft wird, in dem wir frei sind!

Jawohl, wir zeigen uns, wir wollen uns nicht mehr verstecken! Wir wollen uns nicht länger in den Wäldern verbergen! Bald wollen wir hinaus auf die Agora treten, wir wollen sprechen! Spürt die Freiheit, ertastet sie mit euren Händen, Brüder und Schwestern – denn wer sie einmal spürt, wird sie nie wieder loslassen!

Gewiss, ich will euch keine falschen Hoffnungen machen: Der Weg in die Freiheit ist lang und wir werden einen hohen Preis zahlen müssen. Aber wir sind zu weit gekommen, um noch an Umkehr zu denken! Wir werden unsere Stimmen nicht mehr verstummen lassen, im Gegenteil: Sie werden sich laut und immer lauter erheben. Seid ihr bereit für die Revolution, Brüder? Jawohl! Seid ihr bereit für die Revolution, Schwestern? Jawohl!

Seid ihr bereit für ein besseres Leben? Jawohl! Besiegt eure Angst, Brüder und Schwestern! Besiegt die Mäuse in euch, lasst uns wieder Menschen sein! Also seid bereit zu Schmerz und Leid! Denn nur so werden wir den Weg finden zu Freiheit und Gleichheit, den Weg aus dem Mäuseloch hinaus auf die Agora! Die Schlacht hat erst begonnen!

Schreie. Jubel. Hoffnung. Schweiß. Tränen. Furcht. Freude. Alles dabei.

Antinoos hat seine Rede beendet und möchte fort. Iphigenie tritt an ihn heran.

IPHIGENIE Ich kann euch Zugang verschaffen.

ANTINOOS Zugang zu was?

IPHIGENIE Zur Agora.

ANTINOOS Du? IPHIGENIE Nehmt mich bei euch auf, in die Bewegung, und ich werde euch helfen.

ANTINOOS Das kleine Mädchen möchte also der Revolution dienen?

Und warum verbirgst du dann dein Gesicht?

IPHIGENIE Ich möchte lieber unerkannt bleiben.

ANTINOOS Hast du nicht gehört, was ich eben gesagt habe? Wir wollen uns nicht mehr verstecken.

IPHIGENIE Ich habe Sie gehört. Und ich glaube Ihnen, ich glaube Ihren Worten, von ganzem Herzen tue ich das!

ANTINOOS Doch woher weiß ich, dass auch auf dein Wort Verlass ist? Es

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Stück Kein Schicksal, Klytämnestra wimmelt hier nur so von Agamemnons Vasallen. Vielleicht bist du eine von ihnen.

IPHIGENIE Können wir irgendwo ungestört sprechen? Ich würde Ihnen gerne von meinem Plan …

ANTINOOS Von deinem Plan. Tja, also, bevor ich unbekannten Schönheiten irgendwohin folge, muss ich erst wissen, wer sie sind.

IPHIGENIE Ich bin eine Verdammte aus dem falschen Hause, aus dem falschen Geschlecht.

ANTINOOS Hör zu: Das ist kein Ort für wohlduftende Mädchen wie dich.

Wir leben seit Jahren wie Wilde, eine Kolonie der Verzweifelten, fähig zu Dingen, für die du dir, deiner Kleidung nach zu urteilen, nicht die Finger schmutzig machen würdest.

IPHIGENIE Sie irren sich, Meister. Urteilen Sie nicht voreilig. Ich bin zu so viel mehr bereit als zu dem, wonach ich aussehe. Geben Sie mir eine Chance.

ANTINOOS Nein, Mädchen, so läuft das nicht. Hier gibt es keine Extrawürste, nicht mal für so wohlfrisierte, schöne, kleine Damen wie dich, keine Privilegien für niemand. Wenn du das nicht verstanden hast, dann hast du gar nichts verstanden, dann geh nach Hause.

IPHIGENIE Ich will keine Privilegien, denn davon habe ich mehr als genug. Ich will sie mit anderen teilen.

Sie zeigt ihm einen Ring.

ANTINOOS Die königliche Gravur ... Du bist aus dem Palast?

IPHIGENIE Ja, aber ich möchte es wieder gutmachen, ich biete mich an, ich möchte auf der richtigen Seite stehen, wenn es so weit ist … Ich kenne einen unterirdischen Tunnel.

ANTINOOS Was für einen Tunnel?

IPHIGENIE Er führt vom Stadttor direkt zur Agora. Ich kann Sie über den Tunnel dorthin lotsen.

ANTINOOS Lotsen. Soso. Ein Mädchen der gewählten Worte. Gut. Das klingt alles wunderbar, aber ich vertraue dir trotzdem nicht. Nimm deine Kapuze ab. Zeig mir dein Gesicht.

Sie tut es.

ANTINOOS Warte, warte … Ich kenne dich doch?! Verdammt, du bist die Prinzessin, die er bei den Festen immer neben sich hat? Ja, genau, Iphigenie, Agamemnons Erstgeborene? Das ist zu gut, um wahr zu sein ...

Schickt er dich, dein Vater?

IPHIGENIE Ich bin aus freien Stücken hier. Ohne sein Wissen oder Zutun.

Nein, Sie sind es, der mich hergeführt hat. Mit Ihren Reden. Seit bald zwei Wintern höre ich Ihnen zu … Ich meine, ich bin Ihnen treu, seit ich Sie das erste Mal habe sprechen hören, Meister.

ANTINOOS Meister. So hat mich noch niemand genannt. Gefällt mir.

Aber ebenso sehr lässt auch niemand die Königstochter einfach so aus dem Palast spazieren, für wie blöd hältst du mich?

IPHIGENIE Ich war schon immer erfindungsreich, wenn es, nun ja, um gewisse Freiheiten geht.

ANTINOOS Und dein Vater? Du willst also helfen, ihn zu stürzen? Und das soll ich dir glauben?

IPHIGENIE Mein Vater ist mein Vater, und Sie müssen mir versprechen, dass ihm nichts geschieht. Aber ich will ihn nicht in all seinem ekelerregenden Treiben unterstützen, wie meine Mutter es tut. Ich will endlich das Gefühl haben, etwas Richtiges zu tun. Bitte lachen Sie nicht …

ANTINOOS Ich fasse es nicht.

IPHIGENIE Bitte, ich vertraue Ihnen. Also vertrauen Sie auch mir. Und verraten Sie mich nicht.

ANTINOOS Keine Angst. Ich lasse dich nicht auffliegen. Dieses kostbare Juwel, das werde ich nicht mit anderen teilen, Solidarität hin oder her ...

Gut, ich gebe dir eine Chance. Du willst uns beitreten, du willst für die Revolution kämpfen, du willst uns auf die Agora führen?

IPHIGENIE So ist es.

ANTINOOS Und was bist du dafür bereit zu opfern? Wenn du mir schon so lange zuhörst, dann wirst du auch wissen, dass es keine Siege gibt ohne Opfer, kein Vertrauen ohne Beweis, keine Loyalität ohne Blut, keine Hingabe ohne Aufgabe.

IPHIGENIE Ich kenne das übliche Aufnahmeprozedere. Und es würde mir nichts ausmachen, drei Nächte im Verlies zu verbringen, all die Befragungen über mich ergehen zu lassen, Hunger und Durst zu erleiden, mein Zelt im Wald aufzuschlagen, den heiligen Schwur der Gerechtigkeit zu leisten, das und noch viel mehr, aber es geht nicht. Bin ich zum Abendessen nicht im Palast, schickt meine Mutter eine Hundertschaft Soldaten, um nach mir zu suchen, und meine Unbedachtheit brächte uns alle in Gefahr. Also ja, auch wenn ich es hasse, das sagen und darum bitten zu müssen: Machen Sie bei mir eine Ausnahme, sagen Sie mir, wie ich meine Loyalität anders unter Beweis stellen kann.

ANTINOOS Also doch Privilegien?

IPHIGENIE Ein letztes Mal, ich verspreche es.

ANTINOOS Tja, da ließe sich was machen. Aber ich sage dir, da ich grundsätzlich etwas gegen Privilegien habe, und du dennoch welche haben willst, wird dein Opfer ein größeres sein …

IPHIGENIE Verlangen Sie, was Sie meinen von mir verlangen zu müssen.

ANTINOOS Dann wirst du auf ein Privileg verzichten müssen, das auch niemand von uns mehr besitzt.

IPHIGENIE Was auch immer es sei.

ANTINOOS Deine Unschuld.

CORPS EXTRÊMES RACHIDOH OURAMDANE #TANZ 5 EUROPA! DANGEROUS GAMES 2 0 2 I TÒ SU #PERFORMANCE #DIGITAL #FILM LOTUS FIGHT CLUB A M AMBURG H L E G A N RAYMOND LIEW JIN PIN #TANZ #PERFORMANCE KAMP DAS WUNDER VON HAMBURG LIGNA #PERFORMANCE MEHR INFOS AUF EXPERIMENTELLE OPER, EVA REITER UND MICHIEL VANDEVELDE: KAMPNAGEL.DE THE RISE / ICTUS ENSEMBLE INTERNATIONALES MUSIKFEST HAMBURG #MUSIK #GESPRÄCH DIE PERFORMATIVE BUCHMESSE #INSTALLATION #DISKUSSION #WORKSHOP SCHWERPUNKT

MIT NATALI BHALCHANDRA ABHYANKAR, AMA JOSEPHINE BUDGE, CHRISTIANE FROHMANN U.V.M.

Stück Nino Haratischwili IPHIGENIE Sie meinen …

ANTINOOS Das bist du doch, oder, unschuldig und rein, wie es sich für ein ehrbares Mädchen von königlichem Blut gebührt?

Pause. Eine fassungslose.

ANTINOOS Wusste ich’s doch. Verschwinde. Geh zurück in deinen goldenen Palast und lass dich hier nicht mehr blicken.

IPHIGENIE Nein, warten Sie, warten Sie, Meister!

ANTINOOS Du vergeudest bloß meine Zeit!

IPHIGENIE Mit wem? Mit wem soll ich … sie … verlieren?

ANTINOOS Such dir einen der Männer aus, hier sind mehr als genug.

IPHIGENIE Aber … Was nutzt Ihnen denn meine …

ANTINOOS Dein Wert wird danach rapide sinken. Verzeih meine Ehrlichkeit. Im Gegensatz zu dir kann ich mir auch den Luxus der Schmeichelei nicht leisten.

IPHIGENIE Mein Wert? Als was?

ANTINOOS Als Ware in den Händen deines Vaters. Denn das bist du, selbst wenn du es noch nicht weißt. Außerdem ist es nun mal das höchste Gut, das du besitzt, allem Prunk, in dem du lebst, zum Trotz.

IPHIGENIE Sie. ANTINOOS Was? IPHIGENIE Sie sollen es tun.

ANTINOOS Ich soll dich entjungfern?

IPHIGENIE Wenn es das ist, was Sie wollen.

ANTINOOS Ich will gar nichts. Du willst etwas von mir.

3 Im Krieg Klytämnestra und Aigisthos an einer langen Tafel. Dazwischen Kerzenlicht. Dazwischen ein Tod. Dazwischen ein Krieg. Dazwischen endloses Warten. Dazwischen keine Erlösung. Klytämnestra überfliegt eine Liste.

KLYTÄMNESTRA Weiße Blumen nahmen ein Bad im See. Ich mitten unter ihnen. Sie wuschen mich rein. Die Wut dampfte über dem Wasser.

Schwarze Vögel sangen in der Ferne. Ich ließ mich von ihnen in kleine Stücke singen, ja, ihr Gesang schnitt mich entzwei, klein, immer kleiner wurden meine Gedanken, bis sie sich verflüchtigt, sich im Nebel aufgelöst hatten. In meinem Traum war ich allein. Meine schwarzen Vögel, meine weißen Blumen, und dazwischen ich, getragen und gewogen vom Nebel.

Mein Körper leicht, ein kinderloser Körper, ein Körper, der nicht viermal explodiert war, der keine winzigen Leiber aus sich herausgepresst hatte, einer, der überlebensgroß war, größer als der Schmerz, ein Körper, den ich hatte, bevor ich ihn mit Männern teilte und ihnen zur Genesung anbot.

Pause. Als er sich mit dem Krieg vermählte, sagte mein Mann, ich solle Gnade walten lassen, denn zu viel Grausamkeit verzeihe man einer Frau nicht. Zum Glück habe ich nicht auf ihn gehört. Deshalb: Ja. Lasst sie alle köpfen. Alle! Und vielleicht auch dich, Aigisthos?

AIGISTHOS Wie …?

KLYTÄMNESTRA Du hast richtig gehört. Denn du hast mich angelogen.

All die Zeit hast du mich mit Lügen gefüttert. Und das ziemt sich nicht, du falscher Prinz, das ziemt sich einfach nicht …

AIGISTHOS Von welchen Lügen sprichst du? Was ist nur in dich gefahren?

KLYTÄMNESTRA Ich gebe zu, du hast mir Trost gespendet, und für deine Ergebenheit auf meinem dornigen Weg gebührt dir Dank. Ist es nicht das, was uns stets verbunden hat? Das teerschwarze Los, das Zukurzgekommensein im Leben? Es war befreiend, nicht nach den Sternen greifen zu müssen, sondern auch mal tief im Dreck stecken zu dürfen. Ich musste mir keine Mühe geben dir zu gefallen. Du schienst mich gerade meiner Schwächen wegen zu mögen.

50

Du warst nicht Agamemnon. Du musstest mir nicht beweisen, dass du aus Stahl bist, du musstest deine Schwäche nicht im Keim ersticken. Warst du, als ich dich kennenlernte, doch selber ein gebrochener Mann. Du, die inzestuöse Missgeburt, von der eigenen Mutter verstoßen, vom Vater nicht anerkannt, vom Thron gestoßen durch deinen Cousin, meinen Mann, wieder und wieder des Platzes beraubt, den das Schicksal dir doch zugewiesen zu haben schien, immer dazu verdammt, ins zweite Glied zu rücken …

AIGISTHOS Genug! Aus alldem habe ich nie ein Geheimnis gemacht.

Habe nichts vor dir verheimlicht. Habe dich eben nicht belogen.

KLYTÄMNESTRA Nicht? Pause. Ich habe ihn ausgraben lassen.

AIGISTHOS Ausgraben lassen? Wen? KLYTÄMNESTRA Du hast mir einen falschen Toten untergejubelt.

AIGISTHOS Du hast … Ich verstehe nicht.

KLYTÄMNESTRA Du verstehst schon ganz richtig. Und? AIGISTHOS Aber …

KLYTÄMNESTRA Was sagst du jetzt? Du habest von alldem nichts gewusst?

Komm schon, du bist schlau, lass dir was einfallen, überrasche mich …

AIGISTHOS Ich flehe dich an, du musst mir glauben. Über Jahre habe ich nach ihm gesucht, bin jahrein, jahraus durch Attica gereist, habe – die Götter wissen, wieviel – Zeit und Geld geopfert, bin unentwegt auf der Suche nach deinem Phantom gewesen, bis es auch zu meinem geworden ist. Genau wie du war ich getrieben davon. Und dann, so dachte ich, habe ich ihn endlich gefunden, alle Anzeichen sprachen dafür. Gewiss, die Leiche, sie war zerschunden und nicht zweifelsfrei zu identifizieren, auch das habe ich dir nicht verheimlicht, er muss sich gewehrt haben … Aber ich weiß ja nicht einmal, was dich veranlasst zu glauben, es sei der Falsche, was dich veranlasst hat, ihn auszugraben.

KLYTÄMNESTRA Ich wollte ihn sehen. Seine verweste, zerschundene Leiche. Das wollte ich.

AIGISTHOS Es ist dein Misstrauen, nicht wahr? Dein Misstrauen, das dich in diese Paranoia flüchten lässt, wieder und wieder. Aber wie soll ich dich überzeugen, wenn du von vornherein ausschließt, dass ich es kann?

Aus welchem Stoff soll meine Liebe sein, um deiner ewigen Ablehnung standzuhalten? Wie soll ich dich glücklich machen?

KLYTÄMNESTRA Glück. Dieses Wort, allein den Gedanken daran, habe ich abgelegt wie ein Kleid, in das ich meinen Körper nicht länger hineinzwängen will. Es passt mir nicht mehr. Ich bin vom Glück geheilt, Aigisthos! An dem Tag, an dem meine Tochter von der Klippe fiel, wurde ich dagegen immun. Ich interessiere mich einen Scheiß fürs Glücklichsein.

Das, was du dafür hältst, in den späten Stunden unserer verschwitzten Gefechte, ist in Wahrheit das Vergessen. Das ist es, was ich suche, nicht Freude, nicht Erleichterung und schon gar nicht das Glück. Du sollst mir das Vergessen schenken, nur das will ich von dir.

AIGISTHOS Mir aber reicht das nicht. Ich kenne deinen größten Schmerz, ja, und ich trage ihn mit. Jeden Tag inhaliere ich deinen Kummer. Ich will nichts vergessen. Nicht mal den Tag deiner Hochzeit …

KLYTÄMNESTRA Fang nicht wieder damit an! Warum musst du immer wieder davon sprechen. Es spielt keine Rolle mehr.

AIGISTHOS Und wie es eine Rolle spielt! Der Himmel war sternenübersät, voller Verheißungen! Und auch du warst hell und zuversichtlich. Ich saß da, neben dir, sah dich an und dachte: Scheiß auf alles, wovon du je gedacht hast, dass es dir gebührt oder dir etwas bedeutet. Dieses Mädchen, diese Frau, sie ist es wert, dass du dich neu erfindest. Für sie. Mit ihr. Auch wenn sie an diesem Tag deinen machtgeilen, schwanzgesteuerten Cousin zum Mann nimmt, auch wenn sie dich niemals mit dieser Glut in den Augen ansehen wird wie ihn, aber sie ist es wert. Und ich bin geblieben. Für dich bin ich geblieben, in

Theater der Zeit 5 / 2025

Stück Kein Schicksal, Klytämnestra diesem Land, in dem niemals Platz für mich war. Doch an deiner Seite, da schien es ihn zu geben. Deswegen komme ich immer wieder darauf zurück …

KLYTÄMNESTRA Ich muss ihn finden.

AIGISTHOS Wir werden ihn finden. Wir werden ihn finden, das verspreche ich dir!

KLYTÄMNESTRA Enttäusch mich nicht.

Aigisthos umschließt ihre königlichen Schultern.

KLYTÄMNESTRA Ich habe das alles verlernt. Das Frausein.

AIGISTHOS Lass mich dir helfen, dich zu erinnern.

KLYTÄMNESTRA Belüg mich nicht noch einmal. Tue das nicht.

Und die Königin fällt in sich zusammen, stürzt ins Bodenlose.

4 Vor dem Krieg Iphigenie, die einst nach Veilchen duftete und sich nun Augenringe und zerzauste Haare zugelegt hat, tritt auf die Balustrade. Sie entblößt ihre Brüste und lacht, so laut, dass es einer Explosion gleicht. Klytämnestra tritt hinzu und beobachtet ihre Tochter eine Weile stumm, dann explodiert auch sie.

KLYTÄMNESTRA Hör auf. Hör sofort auf damit! Ich ertrage das nicht länger. Du machst deinen Schwestern Angst. Nicht einmal die Bediensteten trauen sich mehr in diesen Teil des Palasts. Du beschämst uns. Also hör auf. Ich flehe dich an!

IPHIGENIE Sollen sie halt wegschauen. Niemand zwingt sie mich anzusehen.

KLYTÄMNESTRA Du wirst ihn nicht mehr treffen.

IPHIGENIE Dann verschwinde ich mit ihm. Er will ohnehin nicht bleiben.

So viele Städte, Länder, Geknechtete warten auf ihn, auf die Revolution!

KLYTÄMNESTRA Was habe ich nur falsch gemacht? Sag es mir, sag mir, was ich versäumt habe? Was habe ich dir nicht gegeben?

IPHIGENIE Du hast mir zu viel gegeben, das ist es ja. Während alle anderen, die nicht das Glück hatten, dass königliches Blut durch ihre Adern fließt, hungern mussten, nur damit wir weiter in Prunk und Pracht unsere Ärsche fett werden lassen konnten!

KLYTÄMNESTRA Du bist dürr wie ein Birkenast!

IPHIGENIE Das war metaphorisch gemeint, Klytämnestra.

KLYTÄMNESTRA Kommt das auch von ihm? Dass du mich nicht länger Mutter nennst?

IPHIGENIE Wenn wir die Revolution wirklich leben wollen, dann müssen wir endlich lernen, uns aus den Fesseln auch der Familie befreien, und dass wir …

KLYTÄMNESTRA O Götter.

IPHIGENIE Siehst du? Es interessiert dich nicht einmal, und dann wunderst du dich. Ich werde so lange weitermachen, bis ihr diesen albernen Hausarrest aufhebt. So lange werde ich euch beschämen und ganz Mykene meine königlichen Titten zeigen. Jeder Stalljunge, jeder dahergelaufene Sklave soll sie bestaunen und sich dabei einen runterholen. Vielleicht kann ich mich wenigstens auf die Art nützlich machen.

KLYTÄMNESTRA Schämst du dich nicht? Noch dazu, wo Krieg droht?

IPHIGENIE Das ist nicht unser Krieg. Denn der findet hier, bei uns, statt.

Vor unseren Augen. Was interessiert mich dein Troja? Antinoos hat, wie immer, Recht. Vater weiß, dass er die Revolution nicht aufhalten kann, dass das Volk nicht länger alles erdulden wird. Und was tut er, der König, um den Kopf aus dieser Schlinge zu ziehen? Abhauen und andere Länder erobern. Andere ficken, denn uns hat er ja lang genug gefickt, so lange, dass er unserer überdrüssig geworden ist.

KLYTÄMNESTRA Untersteh dich …

Theater der Zeit 5 / 2025

IPHIGENIE Oder was? Enterbt ihr mich? Nur zu. Endlich wäre ich frei.

KLYTÄMNESTRA Und dieser ungewaschene Betrüger, dieser zerzauste Waldmensch, der gibt dir einen Sinn, was? Einen, den weder wir, deine Familie, noch die Götter dir geben können?

IPHIGENIE Solange wir nicht selber Götter sind, bleiben wir Sklaven.

Also komm mir nicht mit deinem Olymp, ich bitte dich. Als hättest du jemals aufrichtig gebetet.

KLYTÄMNESTRA Das habe ich, Iphigenie, das habe ich. Und weißt du auch, wann? Als du mit vier Röteln hattest und im Delirium warst und ich nicht wusste, ob Hypnos seinen Klammergriff um deinen zarten Körper je wieder lösen würde. Oder als du dir mit zehn das Bein gebrochen hast, weil du auf einen Birnbaum geklettert und runtergefallen bist, als du geweint hast, so herzzerreißend, dass ich die Götter bat, dein Schmerz möge zu meinem werden, wenn er dich nur in Ruhe ließe. Oder als du dich mit deinem Bruder gestritten hattest und deinem Vater vorwarfst, er würde ihn bevorzugen, da habe ich gebetet, die Götter mögen dich meine Liebe spüren lassen, meine allumfassende, bedingungslose Liebe zu dir. Oder als du dich das erste Mal verguckt hast, in diesen hirnamputierten Lyraspieler, als du blass und fahl geworden bist vor lauter Liebeskummer … da habe ich gefleht, dieser Kerl möge dir seine Gefühle zu Füßen legen, auch wenn ich wusste, dass er nichts war für dich … Ich habe gebetet, Iphigenie, oft sogar.

IPHIGENIE Tja, dann tut es mir leid, dass deine Gebete nicht erhört wurden. Denn das gebrochene Bein, es tat höllisch weh, und Vater hat Orest immer mehr geliebt als mich, und der Lyraspieler, ja, der war tatsächlich so dumm, mich nicht zu wollen.

KLYTÄMNESTRA Oh doch, sie wurden erhört, und wie sie erhört wurden. Denn hier steht die Antwort auf all meine Gebete: dieses wunderschöne Mädchen, die so wütend ist, so verletzt, und auch wenn ich sie nicht verstehe, ist sie trotzdem das größte Glück, das mir zuteilwurde, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um sie zu schützen! Und wenn ich es mit Thanatos selbst aufnehmen muss, ich tue alles, um dich vor der Macht dieses falschen Predigers zu bewahren. Und wenn dein Vater ihn nicht einsperrt, werde ich ihn aufspüren und eigenhändig aufknüpfen, am Schwarzen Weinhügel, neben Diebe und Mörder, damit er in ihrer Gesellschaft seine letzten Atemzüge tut.

IPHIGENIE Dann würde dort auch dein Mann ihm Gesellschaft leisten?

KLYTÄMNESTRA Wie kannst du nur …

IPHIGENIE Als wüsstest du es nicht. Du hast Vater immer gedeckt. Hast ihm über Jahre bei seiner Verschwendung zugesehen, bei seiner Hurerei, seiner Unersättlichkeit. Du hast zugesehen, wie er das Land in den Ruin treibt, und hast nichts gesagt. Und die Antwort auf all das war: deine Liebe zu ihm.

KLYTÄMNESTRA Mag sein, dass ich das eine oder andere nicht hätte hinnehmen dürfen, aber wir beide, du und ich, wir sind anders, wir sind aus zarterem Stoff gewebt.

IPHIGENIE Und dieses Gerede vom Frausein, mir wird schlecht davon!

Vor allem bist du doch Mensch, und neben deinem Uterus haben die Götter dir auch ein Hirn gegeben, und in deinem Fall ein gar nicht mal so kleines. Wieso nutzt du es dann nicht? Und warum willst du nicht, dass ich, dein Kind, es tue?

KLYTÄMNESTRA Du denkst, dass dein großer Revoluzzer dich liebt.

Aber das ist nicht so. Er verachtet dich. Warum verstehst du das nicht?

IPHIGENIE Er ist nicht mein Besitz, und ich bin nicht seiner. Unsere Liebe ist keine Zwangsjacke. Ich bin seine Schwester, er ist mein Bruder.

KLYTÄMNESTRA Orest ist dein Bruder, und Elektra und Chrysothemis sind deine Schwestern.

51

Stück Nino Haratischwili IPHIGENIE Nein, alle in diesem Land sind Brüder und Schwestern, alle, mit denen ich dieselbe Luft und dieselbe Sonne teile, das Meer und die Straßen, die Bäume und das Wasser. Du kannst eben nicht die Sonne besitzen, oder die Luft, die du atmest, denn sie gehören allen. So sollte es auch mit der Liebe sein. Und mit der Revolution. Sie gehört uns allen.

Sogar euch. Auch wenn ihr das nicht seht.

KLYTÄMNESTRA Du weißt, dein Vater wird niemals zulassen, dass du diesem Wilden folgst.

IPHIGENIE Versucht es. Macht doch. Haltet mich davon ab. Aber auch wenn ihr mich weiter einsperrt, den Kampf für die Freiheit könnt ihr nicht aufhalten.

KLYTÄMNESTRA Du täuschst dich, wenn du auch nur eine Sekunde lang glaubst, er täte nicht das Gleiche, wäre er an deines Vaters Stelle …

IPHIGENIE Doch, denn wir werden aus den alten Fehlern lernen. Das ist es ja gerade: Es braucht auch die Revolution in uns, wir müssen unser altes, verkrustetes Ich ablegen und …

KLYTÄMNESTRA Und dein neues Ich, wird es dir nicht auch zur Zwangsjacke werden, weil es genäht ist aus Worten und Versprechen, Ansichten und Vorstellungen eines Mannes? Hast du dich das schon mal gefragt?

IPHIGENIE Nicht einmal so viel Eigenständigkeit traust du mir also zu?

KLYTÄMNESTRA Weißt du noch? Wie du in mein Bett gekommen bist, sogar mit zehn noch? Du hast dich vor der Dunkelheit gefürchtet. Du hast mich jeden deiner Mückenstiche, jede deiner Wunden gesund küssen lassen. Du hast aus meiner Hand Millionen von Trauben gegessen. Du hast mich Nacht für Nacht Ahnengeschichten erzählen lassen. Du bist mit mir in den Tempel, zu allen großen Festen. Du hast mit deinen Geschwistern gespielt, als sie noch in der Wiege lagen, und hast mit ihnen stundenlang das Laufen geübt, das Spielen, das Leben, das Glück. Du hast mir jedes Geheimnis anvertraut und hast mich dir die Haare flechten lassen. Von welchem Abgrund also sprichst du, mein Kind?

IPHIGENIE Deine Kopie soll ich sein, deine schlechte Nachahmung, nur dann kannst du mich lieben, Klytämnestra, ist es nicht so? Antinoos dagegen hat mich erkannt, wirklich erkannt, als die, die ich bin.

KLYTÄMNESTRA Und wer soll das sein – dieses Ich? IPHIGENIE Eine, die zu Höherem bestimmt ist als zum Wegsehen, zum Mundhalten, zum nett Gucken, zum abgedroschene Phrasen von sich Geben, sinnentleerte Rituale Abhalten, im Rosenwasser Baden und nächsten Sommer den erstbesten Idioten Heiraten, den ihr Vater für sie ausgesucht hat.

KLYTÄMNESTRA Zu Höherem! Zu Höherem fühlt sie sich berufen, o Götter, hört diesen Frevel, der aus ihrem Mund kommt, und seid ihrer gnädig. Ihr Verstand ist getrübt, verpestet, gefüllt hat er sie mit seinen Worten. Und ich bete, dass es nur Worte waren …

IPHIGENIE schreit Genau! Das ist das Einzige, was dich interessiert! Ob ich noch Jungfrau bin. Oder ob mein Wert für euch schon gesunken ist!

KLYTÄMNESTRA Ich warne dich: Schweig! Kein Wort mehr aus deinem Mund! Du wirst ihn nicht wiedersehen. Du wirst nie wieder in den Wald gehen. Du wirst diesen Verrückten nie mehr in deine Nähe lassen, und sollte er sich erdreisten und sich dem Palast nähern, dann wird die Wache ihn aufspießen, noch bevor er die Mauern erreicht hat. Und zieh dir endlich etwas an.

5 Vor dem Krieg Im königlichen Schlafgemach. Oder auf dem Schlachtfeld. Oder ist das einerlei?

KLYTÄMNESTRA Sie muss eine der Wachen bestochen haben.

52

AGAMEMNON Dieses Kind kostet mich zu viele Haare. Wir sollten sie endlich verheiraten. Aber du immer mit deinem „Sie ist noch nicht so weit“. Für diesen ganzen Schwachsinn scheint sie reif genug, nur für die Ehe nicht?

KLYTÄMNESTRA Du musst sie finden. Du musst sie zurückholen!

AGAMEMNON Götter, ich habe einen verdammten Kriegseintritt vorzubereiten, ich muss die Flotte herrichten, ich muss noch elend viel Überzeugungsarbeit leisten, Athene weiß, wieviel auf meinen Schultern lastet.

Und was tue ich stattdessen? Meine verrückte, verzogene Tochter im Wald aufsammeln wie Pilze!

KLYTÄMNESTRA Was willst du mit diesem verdammten Krieg?! Musst du nicht erst dein Land retten, deine eigene Tochter, bevor du anderen zu Hilfe eilst? Was juckt es dich, für welchen Mann Helena die Beine breitmacht?

AGAMEMNON Wie kannst du nur so kaltherzig sein? Sie ist deine Schwester. Ihre Ehre steht auf dem Spiel, und du denkst, wir sollen tatenlos zusehen, wie dieses würdelose trojanische Pack mit ihr auch unsere Zukunft als Geisel nimmt?

KLYTÄMNESTRA Ist es wirklich das, was dich in den Krieg treibt, Agamemnon? Sieh mir in die Augen! Aber das kannst du nicht, deine Augen würden dich verraten. Zu gut kann ich deine Blicke lesen. Deswegen weichen sie mir aus.

AGAMEMNON Ob du willst oder nicht, wir werden in diesen Krieg ziehen. Er ist längst im Gange, und wir, die edlen Geschlechter Atticas, haben Menelaos einen Schwur geleistet.

KLYTÄMNESTRA Geht es wirklich darum, um den Eid? AGAMEMNON Auch ohne ihn würde ich gegen Troja ziehen, denn ich lasse meinen einzigen Bruder nicht im Stich. Nur weil du die Stürme fürchtest, denen Mykene in meiner Abwesenheit ausgesetzt sein könnte.

KLYTÄMNESTRA Denkst du im Ernst, du stündest dort, wo du heute stehst, hättest du nicht all die Jahre mich als deinen Fahrtwind gehabt?

Fürchte eher, dass du ihn verlierst, als dass er dir zum Sturm wird.

AGAMEMNON Ich fürchte mich vor der Strafe der Götter dafür, dass mein Weib ihre Bestimmung vergisst.

KLYTÄMNESTRA Ich scheiße auf jede Bestimmung, wenn sie das Elend meiner Kinder zum Preis hat!

AGAMEMNON Götter, für wen hältst du mich? Auch meine Kinder sind es, mein Fleisch und Blut, wie kannst du annehmen, ich würde ihr Wohlergehen aufs Spiel setzen? Lass mich meine Arbeit machen, und mach du die deine. Ich muss morgen vor den Achaiern sprechen! Das Heer ist noch nicht mobilisiert, während ganz Attica darauf wartet, dass wir endlich nach Troja aufbrechen. Sie verlassen sich auf mich, und du … du machst mich mürbe mit deinen Belanglosigkeiten.

KLYTÄMNESTRA Findest du es belanglos, dass Chrysothemis sich nicht einmal mehr an dein Gesicht erinnern wird, wenn du zurückkommst?

Wenn du zurückkommst …

AGAMEMNON Aber dafür wird sie keinen Feigling zum Vater haben!

KLYTÄMNESTRA Auch mir hast du einen Eid geschworen, hast du das vergessen? Mir und deinen Kindern! Schützen solltest du uns, für unser Wohlergehen sorgen!

AGAMEMNON Und? Hab ich das nicht getan? Hat es euch je an etwas gefehlt? Habe ich dir nicht diesen Palast errichtet? Hatten die Kinder nicht die besten Ammen und Lehrmeister? Was willst du noch?

KLYTÄMNESTRA Einen Mann an meiner Seite. Und Sicherheit für meine Kinder!

AGAMEMNON Die hätten sie. Auch Iphigenie, hättest du mich sie verheiraten lassen. Was meinst du, wie viele Bewerber es gab?! Aber nein, du musstest sie ja verziehen und sie mit ihrem ganzen Schwachsinn von

Theater der Zeit 5 / 2025

Stück Kein Schicksal, Klytämnestra Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung kokettieren lassen. Bitte sehr!

Jetzt hast du den Schlamassel, und ich soll ihn ausbaden!

KLYTÄMNESTRA Sie ist ihm hörig, weil sie dir etwas beweisen will!

Auch sie will etwas Großes bewirken, wie ihr Vater. Nichts ist ihr genug, nichts gut genug, immer mehr, immer höher, genau wie du! Und statt sie daran zu hindern, stößt du sie noch hinab in diesen Abgrund. Während ich unten stehe, das stärkste Netz aufspanne, das ich besitze, so wie ich es damals hätte tun sollen, unter dem Birnbaum, um sie wenigstens dieses Mal aufzufangen. Aber ich kann es nicht ewig halten, das Netz.

AGAMEMNON Ich habe nicht voraussehen können, dass ausgerechnet sie auf das Gerede dieses Bürschchens hereinfällt und ihre Minderwertigkeitskomplexe mit seiner Hilfe zu kurieren versucht. Aber du musst mir vertrauen, Klytämnestra, ich habe alles unter Kontrolle. Bald schon wird Antinoos das Land verlassen und nie wieder einen Fuß auf mykenischen Boden setzen.

KLYTÄMNESTRA Was macht dich so sicher? Zwei Winter lang hast du ihn durch halb Peloponnes gejagt, hast viel Geld auf seinen Kopf ausgesetzt, hast jeden seiner Anhänger töten lassen, dessen du habhaft werden konntest, und dann, auf einmal, als er in deine Stadt kommt, vor deinen Palast, direkt vor deine Nase, da änderst du deine Taktik, lässt Milde walten und ihn sein krankes Gerede in der ganzen Stadt verbreiten? Ich versteh das nicht. Erklär mir das.

AGAMEMNON Glaub mir, er wird mir noch gute Dienste leisten.

KLYTÄMNESTRA Während du weg bist, meinst du? Und mich hier zurücklässt? Allein in diesem Scherbenhaufen?

AGAMEMNON Wann hätte ich dich je allein gelassen? Wann?! Ich lasse dich in den Händen der besten Männer, und sie werden dir mit Rat und Tat zur Seite stehen.

KLYTÄMNESTRA Ich will deine Männer nicht. All die Jahre schien dir wichtiger, mit ihnen die Schwänze zu messen, als zu regieren. Wenn du fort bist, brauche ich auch sie nicht, denn ich habe nun mal keinen Schwanz.

AGAMEMNON Reiß dich gefälligst zusammen. Dass du das Amt übernimmst, ist bloße Formalität, das weißt du, das wissen alle. Du musst nur dafür sorgen, dass das Volk meine Abwesenheit nicht allzu sehr spürt.

Daher befrage in allem den Rat. Entscheidungen, die deine Kräfte übersteigen, die schiebe auf, sag einfach: „Wenn mein Mann zurück ist …“ Und vor allem lass Gnade walten. Die Härte überlasse meinen Gefolgsmännern, wo nötig, dir aber soll nichts als die Liebe deines Volkes entgegenschlagen. Denn einer Frau verzeiht man keine Grausamkeit.

6 Nach dem Krieg Die Wellen schlagen gegen die Stadtmauern, als wollten sie in die Stadt aufgenommen werden, aber niemand kann es mit ihnen aufnehmen, deswegen bleiben sie außen vor.

Im Palastgarten, der voller Geheimnisse und Versprechen ist. Kassandra, die Fremde, geht hier spazieren. Neben ihr Klytämnestra, deren Herz ebenso eingehegt ist wie der Garten.

KASSANDRA Fürchten Sie sich nicht vor mir.

KLYTÄMNESTRA Warum sollte ich?

KASSANDRA Weil Sie nichts mit mir anzufangen wissen, und mich doch in Ihrer Nähe wissen wollen. Schließlich soll ich Ihnen als Übersetzerin dienen.

KLYTÄMNESTRA Übersetzerin für was?

KASSANDRA Für das, was Ihr Mann sagt. Oder auch nicht sagt.

KLYTÄMNESTRA Du sprichst in Rätseln. Und viel, wenn man bedenkt,

Theater der Zeit 5 / 2025

dass man dich mir als schweigsam beschrieben hat. Und offenherzig dafür, dass du eine Sklavin bist.

KASSANDRA Ich vertraue auf Ihre Gastfreundschaft.

KLYTÄMNESTRA Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Du bist kein Gast, denn ich habe dich nicht eingeladen.

KASSANDRA Was ich bin, bestimmen von nun an Sie, Königin. Sie müssen entscheiden, ob Sie in mir eine Freundin oder eine Feindin sehen.

KLYTÄMNESTRA Was ich zu tun und zu lassen habe, das überlasse mir.

KASSANDRA Sie verachten mich, ich sehe es Ihnen an, Königin. Aber Sie glauben, Ihr Mann hätte sich an mir vergangen, und das verpflichtet Sie zu einem gewissen Entgegenkommen.

KLYTÄMNESTRA Und? Hat er?

KASSANDRA Sie haben Glück. Andere sind ihm zuvorgekommen.

KLYTÄMNESTRA Das tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.

KASSANDRA Und mein Glück war, dass ich Ihrem Mann erst im letzten Kriegsjahr in die Hände fiel, da war er schon zu erschöpft, zu sehr von Heimweh geplagt, sonst … wer weiß. Aber gemangelt hat es ihm dennoch nicht an trojanischem Fleisch ... Es tut mir leid, auch ich wollte Sie nicht verletzen.

KLYTÄMNESTRA Ich bin nicht davon ausgegangen, dass er sich während zehn Jahren Krieg an irgendetwas gehalten hätte. Trotzdem bin ich froh, dass er sich dir gegenüber nichts hat zuschulden kommen lassen.

KASSANDRA Spricht Erleichterung aus Ihnen, oder Mitleid? Sind Sie froh, dass es nicht Ihr Mann war, der mich geschändet hat, oder ist es die Schande als solche, die Sie milde stimmt? So oder so, es ist unnötig. Denn ja, einige Jahre habe ich gehofft davonzukommen, gehöre ich doch nicht zu der Sorte Frau, die in Männern gleich Begehrlichkeiten weckt. Aber im Krieg, wissen Sie, da sind sie nicht wählerisch.

KLYTÄMNESTRA Warum willst du unbedingt leiden?

KASSANDRA Leiden? Sie irren. Meine Eltern und meine Geschwister liegen unter der Erde, die meisten ihrer Gräber habe ich eigenhändig ausgehoben, denn es gab niemanden sonst, der es hätte tun können. Ich leide nicht. Nicht mehr. Ich suche nur nach dem richtigen Ende.

KLYTÄMNESTRA Du willst sterben?

KASSANDRA Ich frage mich vielmehr, warum ich noch lebe. Warum ich?

Meine Geschwister, allesamt klüger und gescheiter, kämpferischer, heiterer und hilfsbereiter als ich. Doch überlebt habe ich. All ihre sinnlosen Tode gegen mein sinnloses Leben. Damit ich am Leben bleibe. Aber es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen leben und am Leben bleiben.

KLYTÄMNESTRA Es tut mir leid.

KASSANDRA Das muss es nicht. Ihr Mann, und damit Ihr ganzes Volk, steht auf der Siegerseite. Feiern und frohlocken Sie … Aber ich sehe auch Zweifel wie dunkle, kleine Wolken über Ihr helles Gesicht huschen.

KLYTÄMNESTRA Lass das.

KASSANDRA Was? KLYTÄMNESTRA So zu tun, als wüsstest du mehr.

KASSANDRA Sie irren wieder. Das tue ich nicht. Denn was weiß ich schon? Ich weiß, dass wir am Ende alle Thanatos gehören. Ja, das schon.

Und dass ich mehr Tote gesehen habe als Lebende. Dass der Krieg, wenn er einmal kommt, alles Liebenswerte in etwas Ungeheuerliches verwandelt. Dass Kinderlachen etwas Heilsames ist. Dass Honig, aufgelöst in heißer Milch, Milderung bringt. Dass die kühlen Hände meiner Mutter, wenn ich als Kind Fieber hatte, das größte Glück waren, das es auf Erden gab. Dass Ihre Blumen prächtig sind und Ihr Land nicht minder blüht, was mich darauf schließen lässt, dass Sie eine beneidenswerte Regentin sind. Das ist so ungefähr alles, was ich weiß. Aber sehen, Königin, tue ich weitaus mehr.

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Stück Nino Haratischwili KLYTÄMNESTRA Wenn du meine Gunst gewinnen willst, was dir hiermit dringend geraten sei, dann solltest du ab sofort jeden Anflug von Hellseherei in meiner Anwesenheit unterlassen!

KASSANDRA Ich verstehe. Ihre Verachtung. Ihr Schmerz. Er zeichnet Beulen auf Ihre Haut, so groß und mächtig ist er, dass man ihn förmlich herauswachsen sieht aus Ihrem majestätischen Körper.

KLYTÄMNESTRA Ich warne dich. Denn in einem hast du Recht: Ich habe noch nicht entschieden, was ich in dir sehen soll.

KASSANDRA Und diesen Schmerz, den hat Ihnen ein falscher Seher vermacht. Einer, der die Schlangensprache spricht, eine süße, eine betörende Sprache, die alle ins Verderben stürzt.

KLYTÄMNESTRA Und das soll mich beeindrucken? Seit zehn Jahren lasse ich ganz Attica nach ihm absuchen. Es wundert mich nicht, dass sogar du davon Wind bekommen hast.

KASSANDRA Sie werden es nie tun.

KLYTÄMNESTRA Was? KASSANDRA Mir glauben. So sind die Weichen zwischen uns gestellt, in dieser unglücklichen Fügung hat der Olymp unsere Begegnung vorherbestimmt. Und deshalb, Königin, werde ich auch nie versuchen Sie zu überzeugen. Aber zu sehen, das können Sie mir nicht verbieten, auch wenn Sie mir beide Augen ausstechen ließen. Ich bin keine Hexe. Ich bin eine Frau, die mehr weiß, als ihr zugestanden wird. Wir sind vom gleichen Schlag.

KLYTÄMNESTRA Mach dich nicht lächerlich.

KASSANDRA Also was bin ich jetzt für Sie? Eine Feindin?

KLYTÄMNESTRA Jedenfalls bin ich nicht auf der Suche nach einer neuen Freundin.

KASSANDRA Aber nach einer Verbündeten.

KLYTÄMNESTRA In Gestalt einer trojanischen Sklavin, die mir mein Mann ins Haus geschleppt hat? Eine Fremde, eine Wahrsagerin noch obendrein? Ich verabscheue Menschen, die anderen die Gedanken trüben mit ihrem Gift.

Und es ist mir einerlei, wie sie es nennen: ob Hexerei, Gaukler- oder Sehertum.

Doch du scheinst mir zu gescheit zu sein, um das außer Acht zu lassen.

KASSANDRA Das ehrt mich. Eine Prüfung weniger, die ich in Ihren Augen zu bestehen habe.

KLYTÄMNESTRA Vergiss nicht: Auch wenn du meinst, dein Leid mache dich unantastbar, es gibt Formen davon, die nicht einmal du dir ausmalen kannst.

KASSANDRA Ich bezweifele nicht, dass Sie sich mit Schmerz auskennen.

Deswegen können wir beide auch so gut plaudern, nicht wahr?

KLYTÄMNESTRA Ach? Tun wir das?

KASSANDRA Sie haben Ihre Ziele und Wünsche. Und Sie glauben, dass ich Ihnen dabei behilflich sein kann, sie zu erfüllen.

KLYTÄMNESTRA Was weißt du schon davon?

KASSANDRA Ihr Mann ist aus dem Krieg zurückgekehrt als großer Held, und den Helden werden ihre Fehler schnell verziehen. Denn die Vergangenheit verlischt, sobald die Gegenwart den Siegern eine Zukunft verspricht. Doch heißt das nicht, dass Ihre Wünsche unerfüllbar sind.

KLYTÄMNESTRA Das also glaubst du zu wissen?

KASSANDRA Das sehe ich.

KLYTÄMNESTRA Was willst du?

KASSANDRA Im Gegenzug für die dreckige Wäsche, die ich Ihnen aus Troja mitgebracht habe?

KLYTÄMNESTRA Im Gegenzug für dein Leben in Frieden und Sicherheit.

KASSANDRA Ich sagte es bereits: Es ist das Ende, das ich will. Sie müssen mir schon genauer zuhören, Königin, wenn wir miteinander auskommen wollen.

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KLYTÄMNESTRA Es ist nicht an dir, einer Sklavin, Bedingungen zu stellen.

KASSANDRA Hätten Sie mir zugehört, dann wüssten Sie, dass die Vergangenheit ausgelöscht ist nur für die, die sich auf der Seite der Gewinner wähnen. Für mich und meinesgleichen ist sie es nicht. Für unsereins überlagern sich die Zeiten. Und darum bin ich Sklavin und Königstochter zugleich.

KLYTÄMNESTRA Und welches Ende suchst du dann?

KASSANDRa Dasselbe wie Sie. Denn aus irgendeinem Grund haben die Götter unsere Geschichten verwoben wie Fäden auf einem Webstuhl. Sie laufen beide auf denselben Knoten zu.

Kassandra bückt sich, Klytämnestra versucht die Hand wegzuziehen, aber es ist zu spät, die Gefangene hat mit ihren Lippen die Hand der Königin berührt.

KLYTÄMNESTRA Was soll das?

KASSANDRA Wann haben Sie das letzte Mal geweint, Königin?

KLYTÄMNESTRA Untersteh dich …

KASSANDRA Es wird Ihnen Erleichterung verschaffen.

KLYTÄMNESTRA weint Der Krieg muss dir den Verstand geraubt haben!

Oder warst du schon immer so? Was stimmt mit dir nicht? O Götter, warum um alles in der Welt musste er ausgerechnet dich nach Mykene bringen?

KASSANDRA Damit Sie weinen. Damit Sie nie wieder gütig und gnädig sein müssen. Damit Ihr Kummer wie ein Peitschenhieb auf meine Schultern niedergeht. Damit ich in Ihren Augen das wilde, raue Meer sehe, das Sie zu bändigen versuchen. Damit mein Geschlecht – durch das Ihre – ausgelöscht werden kann. Endgültig.

7 Vor dem Krieg Iphigenie, in Schwarz, steht vor dem Spiegel und übt sich in Trauer. Zu ihren Füßen ein Meer aus Blumen.

IPHIGENIE mit der Stimme ihrer Mutter O Götter, zu ewiger Trauer habt ihr mich verdammt! Nichts, was meine Wunden salben, nichts, was mein Leid mildern könnte. Dazu bestimmt, in ewiger Finsternis zu leben! Wer könnte dieses Gewicht stemmen, diese Tonnen stummer Sinnlosigkeit und geköpfter Liebe?! Warum ich? Vier Kinder habe ich meinem Mann geboren, vier Mal hätte ich mein Leben für sie hingegeben, zu holden Söhnen und Töchtern Mykenes zog ich sie auf, Nacht für Nacht an ihren Betten wachend und ihre düsteren Träume verscheuchend. Jede Krankheit habe ich von ihren zarten Körpern gebannt, ihnen jede Sorge von der Stirn getupft. In die Obhut der besten Lehrer habe ich sie gegeben, an Liebe und Fürsorge nicht gespart. Treu ergeben war ich meinem Mann, jede seiner Entscheidungen habe ich mitgetragen. Gedient habe ich Mykene, nach bestem Wissen und Gewissen. Also sagt mir doch, ihr Götter, womit habe ich dieses Los verdient? Was habe ich getan, was verbrochen, dass ich dieses Schicksal mein Eigen nennen muss?

Meine Erstgeborene, mein hellster Stern, liegt unter der Erde, und ich soll über ihr Grab hinwegschreiten? O Götter, warum habt ihr mir nicht lieber das Augenlicht geraubt, meine Ohren zur Taubheit verdammt, mein Herz zum Stillstand gebracht? Weiterleben soll ich mit diesem Unheil? Die Sonne erblicken, das Meer meine Knöchel lecken lassen? Klage, Mykene, du schönes, fruchtbares Land, klage, du Wiege unser aller Leben!

Als Chor, mit verstellter Stimme Mykene, du schönes, du fruchtbares Land, du Wiege unser aller Leben, zur unmenschlichen Trauer bist du verdammt.

Du Heimat unserer Ahnen, versinken musst du im ewigen Leid. Der Schmerz hat in dir tiefe Wurzeln geschlagen. Das Unerträgliche zu ertragen ist dir zum Los geworden. Deine würdigste Tochter hast du verloren.

Theater der Zeit 5 / 2025

Stück Kein Schicksal, Klytämnestra Deine Aussicht auf eine bessere Zukunft. Die Anführerin deiner hellen

Zelt schnarcht. Oder einem Trojaner die Halsschlagader durchtrennt. Eines

Tage! O Mykene, du Land der stolzen Krieger und weisen Könige, alle Lich-

muss man ihr lassen: Sie hat ein Händchen für Männer, aus deren Mitte steile

ter scheinen erloschen. Die Götter haben sich deiner nicht erbarmt, nie wie-

Felsen aufragen, von denen aus man sich in die Tiefe stürzen kann.

der wird dein Himmel ungetrübt und hell erstrahlen. Und so tragen die

KLYTÄMNESTRA Mache ich dich nervös, Aigisthos? Komm näher. Der

Wellen des stürmischen Meeres deinen Kummer bis ans Ende der Welt.

Palast schläft. Und die Nacht ist das Gewand, das mir am besten steht.

Wieder als Mutter Mein Augenlicht ist erloschen. Vor Kummer blind wer-

Zwei Akrobaten sind wir auf dem Seil des Unglücks, meisterhaft balancie-

de ich fortan auf der Erde herumirren. Und mir jeden Tag 100 Peitschen-

ren wir darauf. Du, der verstoßene Sohn, und ich, die verwaiste Mutter,

hiebe verordnen, um dem Schmerz ein Gesicht zu geben.

die zurückgelassene Ehefrau, eine Herrscherin auf Raten? Sind wir einan-

Mit eigener Stimme So ein Schwachsinn. Das würde sie nie tun. Sie doch

der nicht ebenbürtig? Was also hast du zu befürchten?

nicht, die unerschütterliche Königin. Sich wegen mir auspeitschen, na

AIGISTHOS Warum habt Ihr mich rufen lassen?

klar, wovon träumst du?

KLYTÄMNESTRA Warum? Diese Frage stellst du dir schon dein Leben

Wieder als Mutter Mit brennenden Nadeln will ich mir ihren Namen in die

lang, was? Seit du auf der Welt bist, dürstest du nach Legitimation, suchst

Haut stechen, denn einzig der Schmerz sei mir fortan noch gestattet. In der

nach Gründen: dafür, der richtige Sohn zu sein, der richtige Cousin, der

Erinnerung an sie will ich leben, die mir verbleibenden Tage ihrem Andenken

richtige Anwärter auf Mykenes Thron. Wieviel Kummer hättest du deinem

widmen und der Reue. Reue für jedes falsche Wort, das ich an sie gerichtet,

verkrüppelten Herzen erspart, hättest du dich einfach mit deinem Schick-

jeden strafenden Blick, den ich ihr zugeworfen, jeden Wunsch, den ich ihr

sal abgefunden. Aber ich verstehe dich, Aigisthos, besser als jeder andere,

verweigert, jedes Nein, das ich vor ihr Ja gestellt, jedes Verbot, das ich ihr

denn das Schicksal ist eine Bestie. Eine, die uns bei lebendigem Leib die

auferlegt, jede Kränkung, die ich ihr zugefügt habe. Und für die Ohrfeige, die

Eingeweide rausreißt und die Nägel abzieht, auf dass wir mit den Händen

ich ihr verpasst habe, als sie elf war und mich eine »arrogante Kuh« genannt

nicht mal mehr in der schwarzen Erde graben können.

hat. Und für den schlimmen Streit an ihrem 15. Geburtstag, als sie mir sagte,

AIGISTHOS All die Jahre habt Ihr nichts wissen wollen. Kein offenes Wort

dass sie mich hasste und sich nichts sehnlicher wünsche als von hier zu ver-

durfte ich an Euch richten, und jetzt, auf einmal, lasst Ihr mich rufen?

schwinden. Und dafür, dass ich ihr mein grünes Kleid nicht vererben wollte,

KLYTÄMNESTRA Das Schicksal, das gilt es zu lynchen, Aigisthos. Aus-

das mit den Pailletten, das sie so geliebt hat und das ich aber meiner Zweit-

zulöschen. Zu massakrieren. Für ein Leben ohne Vorbestimmung, ohne

geborenen versprochen hatte, obwohl der das Kleid überhaupt nicht steht,

die vorgefertigte Landkarte des eigenen Seins.

null. Und dafür, dass ich sie so bitter habe weinen lassen, weil sie schlecht in

AIGISTHOS Was wollt Ihr von mir?

Rhetorik war und miese Noten bekam, dafür, dass ich sie zum Lyraspiel ge-

KLYTÄMNESTRA Dass du sie aussprichst.

nötigt habe, obwohl sie es gehasst hat wie die Pest. Dafür, dass ich ihre Ideen

AIGISTHOS Wen?

immer belächelt und jede Eigeninitiative von ihr im Keim erstickt habe, bis

KLYTÄMNESTRA Deine offenen Worte.

sie sich immer mehr in ihr Schweigen zurückgezogen hat. Dafür, dass ich ihr

AIGISTHOS Genügt es nicht, dass Ihr auch so schon auf meine bodenlose

stets ihre arrogante Schwester vorgezogen habe, die kaltherzige Elektra, das

Schwäche blickt?

schlaue Kind, jaja, so schlau, so schlau! Und meinen depressiven Sohn, der

KLYTÄMNESTRA Schwäche. Schwäche. Was für ein liebliches Wort für

schon aus Prinzip der Beste war, weil er ja das einzige königliche Kind mit

die Unterwelt, finsterer als der Hades, in die uns die Begierde hinabstößt,

einem Penis ist! Dafür, dass ich ihre politischen Ansichten belächelt und sie

sobald sie uns befällt. O wie gut ich ihre Anzeichen kenne, Aigisthos. Wie

vor meinem omnipotenten Mann ständig schlecht gemacht habe, so dass

gut ich ihre Sprache spreche: diese Glut in den Augen, die purpurne Röte

auch er keine Sekunde lang an sie geglaubt hat.

im Gesicht, die Besessenheit, die sich zwischen den Augenbrauen einnis-

Für all diese unverzeihlichen Fehler reichen weder 100 Peitschenhiebe

tet, der geraubte Schlaf, den man an der Zerstreutheit und Unruhe er-

noch glühende Nadeln. Nein, dafür verdiene ich eine weit schlimmere

kennt. Ein meisterlicher Puppenspieler ist sie, diese Begierde, die uns

Strafe. Häuten sollte man mich, mir den Kopf kahlscheren, mich in der

lenkt, bis sie uns alle Knochen bricht, nicht wahr?

prallen Sonne an den Pranger stellen, auf dass jeder Bettler, jeder Sklave

AIGISTHOS Ich zweifele nicht, dass Ihr diese Sprache fließend be-

mir nach Belieben ins Gesicht spucken, jede Hure mich beleidigen, jeder

herrscht, Königin. Und Gefallen daran findet, mich damit zu demütigen.

Dieb mir zwischen die Beine fassen kann. Und nicht einmal das wäre ge-

KLYTÄMNESTRA Doch nur, weil euer Geschlecht mir die süße Sprache

nug, um zu sühnen, dass ich meine Erstgeborene, mein eigen Fleisch und

der Gnade und Güte ausgetrieben hat. Diese Quelle habt ihr in meinem

Blut nicht habe vor sich selbst schützen können.

Mund versiegen lassen. Eine Fremdsprache blieb sie in euren Ohren. Ent-

Iphigenie bricht zusammen und mimt die große Wehklage.

zückt habt ihr euch daran, berauscht, und sie als Salbe benutzt, um eure

8 Im Krieg

Wunden zu heilen. Jetzt aber spreche ich in eurer Sprache. Und es scheint, du hast sie verstanden? Nach Jahren des ermüdenden Herumschleichens wirst du von mir in mein Gemach gerufen und ich fordere dich auf, so

Es regnet. Doch der Regen kann nichts und niemanden reinwaschen. Klytäm-

nackt zu sein, so unverfälscht, wie du es zuletzt im Mutterleib gewesen

nestra steht in der Dunkelheit. Den Blick in die Schwärze der Nacht gerichtet,

bist. Im Körper derjenigen, die dich verstoßen hat … Ups. Tat das weh?

die ihr Schutz bietet. Schön ist sie, die Königin aus dem verfluchten Geschlecht.

Das, mein lieber Aigisthos, sollte es. Denn auch das habt ihr mich gelehrt:

Vielleicht raucht sie eine Zigarette, mondän mit Spitze, vielleicht auch nicht.

Schmerzen, die man als Waffe einsetzt.

Vielleicht macht es ihr nichts aus, dass sie nass wird. Vielleicht auch doch.

AIGISTHOS Aber warum jetzt? Warum auf einmal, nachdem Euch meine

Aigisthos nähert sich ihr. Und mit ihm der Schatten ihres Mannes, blutig,

aufrichtige Liebe all die Zeit nichts wert gewesen ist?

staubig, Agamemnon, der in einem anderen Leben vielleicht gerade in seinem

KLYTÄMNESTRA Die aufrichtige Liebe. Und wem soll die gelten, deine

Theater der Zeit 5 / 2025

55

Stück Nino Haratischwili aufrichtige Liebe? Für wen soll die da sein? Für mein zerpflücktes, ge-

AGAMEMNON Weißt du, was das Merkwürdige ist? So viele Jahre in der

schundenes, leergeweintes Herz? Mein Herz, euch verabreicht wie Medi-

Fremde, so viele Tote, so viele Frauen später, und doch denke ich jede

zin, ein Heilmittel gegen Sehnsucht und Enttäuschung, gegen missratene

Nacht an dich, in diesem verdammten Zelt, an deine Hüften, wie ich sie mit

Zukunft und verpfuschte Vergangenheit, gegen Angst und Unsicherheit?

meinen Armen umschließe, wie ich mein Gesicht in deinen Schoß bette.

Mein Herz, ein Trostpreis, eine wärmende Decke in finsterer Einsamkeit?

AIGISTHOS Warum antwortet Ihr nicht? War ich zu offen?

Mein Herz, das noch keinen hat sättigen dürfen, niemanden, niemals?

AGAMEMNON Dabei spüre ich Wut, blanke, animalische Wut, wenn ich

Mein Herz, das nur aus Höflichkeit noch schlägt, aus Gewohnheit, aus

an dich denke. An unseren Abschied, als ich nach Troja aufbrach, an deine

Vergesslichkeit, aus Gleichgültigkeit – das soll deines also höherschlagen

nicht enden wollenden Klagen, an deine Unfähigkeit mich zu verstehen,

lassen? Ist es das, was du mir sagen willst?

deine elenden Schuldzuweisungen, deine Unterstellungen, deine Paranoia.

AIGISTHOS Hört auf.

Sag mir nur eines: Warum jetzt? Vier Ernten lang hast du es ausgehalten.

KLYTÄMNESTRA Wieso? Ist es nicht das, was du wolltest?

Vier Ernten lang hast du mir die Treue gehalten … Warum also jetzt?

AIGISTHOS Die Frage ist, welchen Preis Ihr mich dafür zahlen lasst.

KLYTÄMNESTRA Weißt du eigentlich, dass es Mykene verdammt gut

KLYTÄMNESTRA Tja, welchen Preis zahlt man für die Liebe? Gleich-

geht, seit du fort bist?

gültigkeit? Verachtung? Und wenn die Götter es wirklich nicht gut mit

AIGISTHOS Darf ich Euch …

einem meinen: Hass? Aber der ist ein viel beständigeres Gefühl, mein Gu-

KLYTÄMNESTRA Nein. Nicht, ehe ich weiß, warum du mein verrußtes

ter, nicht so zart und zerbrechlich wie die Schmetterlingsflügel deiner auf-

Herz haben willst.

richtigen Liebe. Und gerade, weil ich deinen Hass riechen kann, Aigisthos,

AIGISTHOS Weil ich kaputt genug bin für Euch. Weil ich all Euren

bist du der einzige Schatten in diesem Gespensterreich, den ich ertrage.

Schmerz kenne, ihn genauso durchgestanden habe wie Ihr. Weil mein Weg

Die Zeiten schieben sich ineinander wie Schiebetüren aus Papier. Agamem-

untrennbar ist von Eurem.

non, blutig und erschöpft, erscheint. Nur Klytämnestra sieht ihn.

AGAMEMNON Oje. Schick ihn fort. Du verdienst wirklich Besseres.

AGAMEMNON flüstert seiner Frau ins Ohr Doch. Nicht. Er. Du wirst

KLYTÄMNESTRA zu Agamemnon Dich etwa? Verschwinde!

enttäuscht sein. Du wirst es bereuen! Du wirst mich nur umso schmerz­

AGAMEMNON Ich bin da, weil du mich dahaben willst. Weil ich dir

licher vermissen.

fehle. Gib es endlich zu. Dir fehlen meine dreckigen Witze genauso wie

KLYTÄMNESTRA Mein Mann und ich, musst du wissen, wir haben nie

unsere nächtlichen Spielereien.

zur gleichen Zeit stattgefunden. Wenn er der Liebe Beifall zollte, zerrieb

AIGISTHOS Habe ich meine Treue nicht längst unter Beweis gestellt, in

ich meinen Hass zwischen den Händen; und liebte ich so sehr, dass ich zu

diesen elenden Jahren, seit Euer Gemahl Euch im Stich gelassen hat? In

atmen vergaß, dann entfachte er das große Feuer des Hasses. Unser Fluch:

Eurem erbitterten Kampf mit seinen Gaunerfreunden? Bei all Euren Re-

die ewige Verfehlung.

formen? Habe ich Euch nicht bestärkt, Euch Zuversicht gegeben? Wäh-

AGAMEMNON Musst du ausgerechnet mit ihm unsere Eheprobleme dis-

rend Euer Mann Euch dem Schicksal überlassen hat, war ich hier. In die-

kutieren?

sem verhassten Land. Und wäre doch längst über alle Berge, wärt Ihr nicht

KLYTÄMNESTRA Immerhin gibst du zu, dass wir welche haben. Welch

hier und hätte ich nicht das Gefühl, dass Ihr mich braucht.

ein Fortschritt.

AGAMEMNON Du weißt, dass er mich nicht ersetzen kann. Das habe ich

AGAMEMNON Er ist ein falscher Clown, eine Witzfigur. Komm schon,

an dir immer geliebt, dass du mir in allem ebenbürtig bist. Im Guten wie

so einen lässt doch meine Sonne nicht zwischen ihre Schenkel … nicht

im Schlechten, darin vor allem.

nach mir? Nicht im Ernst, oder? Wenn du schon die Beine für einen ande-

AIGISTHOS Ich habe gelernt, die feinen Linien in Eurem Gesicht zu lesen,

ren breit machen willst, dann sei zumindest ein wenig anspruchsvoller, ich

den Tanz Eurer Augenbrauen, die Zuckungen Eurer Nase, die unmerkli-

bitte dich …

chen Bewegungen Eurer Lippen, habe gelernt, Eure Wünsche zu erraten,

KLYTÄMNESTRA Das geht dich einen Scheißdreck an. Und nun ver-

noch bevor Ihr sie hegt. Ich habe die Drecksarbeit übernommen und alle

schwinde. Du hast hier nichts verloren. Schon gar nicht jetzt.

schlechten Nachrichten überbracht, damit kein Schatten auf Euch fällt.

AIGISTHOS Vier Ernten lang warte ich auf diesen Augenblick, da Ihr

KLYTÄMNESTRA Ich weiß deine Mühe zu schätzen, Aigisthos. Und

endlich redet, frei redet. Sagt, was Ihr denkt. Nicht, was Ihr als Königin

doch: Dass du in all den Jahren an meiner Seite geblieben bist, gut und

sagen müsst, und als Hüterin von Agamemnons Andenken.

schön, aber das war ja wohl das Mindeste. Ich brauche Beweise von dir.

AGAMEMNON Ich lebe noch, du Arschloch! Sag ihm das! Und bald

AIGISTHOS Dass es mir nicht um den Thron geht, meint Ihr? Dieser

komme ich zurück und werde ihm seinen degenerierten Schädel zertrüm-

Wunsch ist gealtert, ich habe ihn überdauert, Königin. Seht mich an.

mern. Das hätte ich längst tun sollen, schon damals nach seinem lächerli-

AGAMEMNON Natürlich geht es ihm nur um den Thron. Du bist ihm

chen Putschversuch. Ich hätte nicht auf dich hören sollen.

egal. Alle sind ihm egal, sogar seine eigene Familie, alle, dieser Mistkerl

KLYTÄMNESTRA Halt den Mund!

hat nichts, was ihm heilig ist.

AIGISTHOS Habt Ihr etwas gesagt?

KLYTÄMNESTRA Nein, Beweise anderer Art.

KLYTÄMNESTRA Nein. Fahre fort. Ich höre.

AGAMEMNON Er holt sich bloß einen runter bei dem Gedanken, wie er

AIGISTHOS Seit dem ersten Tag, an dem ich Euch sah, Klytämnestra,

dich besteigen und meinen Platz einnehmen kann. Ich bitte dich. Bei einer

begehre ich Euch.

fremden Hochzeit die Braut begaffen, wer macht denn sowas? Und aus-

AGAMEMNON O Gott, ich kotze gleich.

gerechnet mit ihm willst du dein Ehegelübde brechen?

AIGISTHOS Nicht Eure Schwester, wegen der alle Königreiche den Verstand

KLYTÄMNESTRA Du bist gar nicht hier. Schon so lange nicht mehr.

verloren haben. Nein, für Euch hätten sie in den Krieg ziehen sollen.

Was denkst du denn? Wie hast du dir das vorgestellt, verdammt? Mich

56

Theater der Zeit 5 / 2025

Stück Kein Schicksal, Klytämnestra hier zurückzulassen, mit diesem unerträglichen Schmerz, hübsch einge-

IPHIGENIE Das bin ich auch! Das bin ich! Liebster, gib mir noch etwas Zeit.

rahmt an jeder Wand, damit ich ihn mir unentwegt anschauen kann, dazu

Ich will dich nicht nochmal enttäuschen, das werde ich ganz gewiss nicht.

verdammt, hier zu bleiben, wo nur Schatten überleben können und wo

ANTINOOS Ich hatte Geduld mit dir. Wir alle hatten das. Doch wir brauchen

mich jeder Stein, jeder Winkel an sie erinnert … Zu Aigisthos Beweise.

endlich Baupläne vom Palast. Und ich muss genau wissen, wieviel Geld dein

AIGISTHOS Alles, was Ihr wollt.

Vater für seine Gaunerfreunde ausgibt, und für wen. Wir brauchen Zahlen,

KLYTÄMNESTRA Finde ihn für mich. Finde Antinoos. Den Mörder mei-

wir brauchen Namen. Damit am Ende alle bekommen, was ihnen zusteht.

ner Tochter.

IPHIGENIE Wie gesagt: Es ging einfach nicht. Ich kam nicht an Vaters

9 Vor dem Krieg

Schreibtisch. Aber …

ANTINOOS Aber was?

IPHIGENIE Ich habe gesehen, wie jemand in die Schatzkammer ging.

Im Wald. In der Dunkelheit. Im Keller der Herzen. In den Eigenweiden

Außer Vater und dem Schatzmeister darf eigentlich niemand hinein, so ist

einer scheinbar besseren Welt, die längst nach allen Regeln der Taxider-

das Gesetz, also ja, du hattest recht, du hast recht, mein Liebster: Sie be-

mie ausgenommen worden ist.

dienen sich alle ganz ungeniert. Gehen rein und spazieren, die Taschen

Iphigenie, ein wildes, hungriges Tier, irrt umher und sucht nach einer

voller Geld, wieder raus!

brauchbaren Zukunft. Antinoos bei ihr.

ANTINOOS Wer? Wer war dort? Wen hast du gesehen?

IPHIGENIE Mutter hat die Wachen vor meiner Kammer verdoppelt, ich

IPHIGENIE Den Cousin meines Vaters. Aigisthos heißt er, und er hat bestimmt

musste mir etwas einfallen lassen. Ich kann das nicht länger, ich will bei

keine Erlaubnis, dort zu sein. Denn Vater hasst ihn eigentlich, seit er …

dir sein, dir nicht mehr von der Seite weichen!

Plötzlich packt Antinoos sie, drückt sie an sich.

ANTINOOS Du weißt, du bist von unermesslichem Wert, Kleines. Für

ANTINOOS Weißt du eigentlich, wie schön du bist.

mich. Für uns.

IPHIGENIE Ich dachte, das sei wichtig, das mit der Schatzkammer, und

IPHIGENIE Ich kann deine Hände und Lippen nicht aus meinen Nächten

du wolltest doch Namen …

verbannen, all das, was du mit mir anstellst, wenn wir allein sind, das ist

ANTINOOS Komm her. Zieh dein Kleid hoch.

meine Ration für die Stunden, in denen ich ohne dich auskommen muss.

IPHIGENIE Wie? Hier? Erst verbietest du mir den Mund, wenn ich über

Ich zehre davon und kann es doch kaum erwarten, dass die Revolution

unsere Liebe sprechen will, und jetzt … außerdem, jeden Moment könnte

endlich siegt und ich dich mit niemandem mehr teilen muss.

jemand …

ANTINOOS Was redest du da? Denkst du, wenn wir deinen Vater stürzen,

ANTINOOS Die Tiere tun es überall und jederzeit. Warum also nicht wir?

ist unsere Arbeit getan, wir gehen in Rente und ficken wie die Karnickel?

Bei unserem ersten Mal warst du nicht so zimperlich …

IPHIGENIE Sei nicht ordinär.

IPHIGENIE Das war etwas anderes. Das war ein Beweis.

ANTINOOS Was? Habe ich deine majestätischen Öhrchen beleidigt, ja?

ANTINOOS Und das jetzt?

Pause. Eine, die viel aushalten und viel runterwürgen muss.

Stille. Antinoos beginnt sie zu entkleiden.

IPHIGENIE Ich wollte nichts Falsches sagen. Natürlich weiß ich, dass der

IPHIGENIE Liebst du mich?

Kampf weitergehen muss, dass wir weitergehen müssen, die ewig währen-

ANTINOOS Du weißt doch, wir sagen das Wort nicht mehr. Lass uns ein

de Revolution … Ich meine ja nur, dass dann das Versteckspiel aufhört,

neues finden. Komm schon, zieh dein Kleid hoch.

dass ich mich endlich die Deine nennen darf. Du würdest mir süße Früch-

IPHIGENIE Ich will dich aber lieben dürfen. Und ich will mich nicht dafür

te in den Mund schieben und ich dir in den Hintern kneifen, wann und wo

entschuldigen müssen. Ich will dir in die Augen sehen und …

ich will. Der Tag der Revolution wird zugleich der unserer Hochzeit sein,

ANTINOOS Dieser ganze romantische Quatsch hat deine Mutter zu einer

das hast du doch selbst gesagt?!

Mittäterin gemacht.

ANTINOOS Hast du getan, was ich dir aufgetragen habe?

IPHIGENIE Würde es dir denn nichts ausmachen, mich mit anderen teilen

IPHIGENIE Es ging nicht. Vater hat die ganze Zeit Leute empfangen.

zu müssen?

Außerdem ist er neuerdings regelrecht paranoid. Der Krieg wird ihn noch

ANTINOOS Wenn du noch lange weiter quatschst, vergeht mir eh die Lust.

in den Wahnsinn treiben. Immer hat er damit angegeben, vor Trojas Toren

IPHIGENIE Verzeih.

würde seine Armee die größte sein. Und nun kriegt er nicht mal genug

ANTINOOS Komm, der Baum bietet ausreichend Schutz, so ist gut. Oh,

Männer zusammen, um in See zu stechen. Aber wie denn auch? Die Hälf-

wie ich deine weichen Lippen liebe! Gut so, Kleines, gut so.

te der Achaier ist ja bereits zu uns übergelaufen.

IPHIGENIE Ich glaube, da kommt wer …

ANTINOOS Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, Königstochter.

ANTINOOS Pst.

IPHIGENIE Du hast versprochen, mich nie mehr so zu nennen.

IPHIGENIE Ich habe Angst.

ANTINOOS Dann wirf auch endlich alles ab, was dieser Name mit sich

ANTINOOS Wovor?

bringt! Ich hatte mich auf dich verlassen. Aber jetzt, wo wir so weit ge-

IPHIGENIE Ich will nicht, dass meinen Eltern etwas passiert.

kommen sind, wo wir so viele Mykener an unserer Seite wissen, wo wir die

ANTINOOS Das wird es auch nicht. Das lasse ich nicht zu.

Gunst der Stunde nutzen könnten, da versagst du. Das ist enttäuschend,

IPHIGENIE Ich weiß so wenig über dich. Über deine Familie.

Kleines, sehr enttäuschend.

ANTINOOS Schön weitermachen. Nicht aufhören.

IPHIGENIE Ich versuche es ja, ich versuche es weiter, bitte sei nicht zornig.

IPHIGENIE Ich habe Alpträume, Antinoos! Dieser ganze Hass … Meine

ANTINOOS Ich dachte, du weißt, worauf du dich eingelassen hast. Ich

Geschwister, sie tragen keine Schuld! Ich will keine Verräterin sein, weißt

dachte, du seiest anders.

du? Ich war so wütend, ich war so verdammt wütend. Mutter hat mich im-

Theater der Zeit 5 / 2025

57

Stück Nino Haratischwili mer kleingehalten, sie hielt es nicht aus, dass ich mehr wollte als sie. Als ich

tippen. Auf Ihr Wohl, Königin, warum auch immer Sie mich kommen ließen!

klein war, habe ich sie angehimmelt. Aber sie hat sich verändert. Sie hat so

KLYTÄMNESTRA Was hast du mir zu bieten?

lange Dinge nur vorgetäuscht, bis sie selbst zu einer Täuschung geworden

KASSANDRA Soll ich Ihnen helfen, die Wände zum Einsturz zu bringen?

ist. Mit den Jahren wurde sie immer verbitterter. Sie ist vor Sehnsucht ein-

KLYTÄMNESTRA Du hast mich richtig verstanden. Von welcher schmutzi-

gegangen. Er hat sie einfach für eine Selbstverständlichkeit genommen, und

gen Wäsche hattest du gesprochen? Was hast du mir aus Troja mitgebracht?

das hat sie wahnsinnig gemacht. Er hat den Draht verloren, zu ihr, zu sei-

KASSANDRA Sachte, sachte. Auch trinken sollten Sie behutsamer, werte

nem Land, sogar zu uns, den Kindern. Ein Halbgott schien er mir, als ich

Königin. Sie werden Ihre scharfen Sinne noch brauchen.

klein war, mutig und unbesiegbar. Er war so stark, so unbeirrbar, und dann

KLYTÄMNESTRA Hör auf, in Hieroglyphen zu mir zu sprechen. O Göt-

… Was ist passiert? Ist das bei allen so? Ich will so nicht sein, so nicht wer-

ter, es war ein Fehler! So weit habt ihr mich gebracht, dass ich mir von

den. Ich will dich nicht aus Gewohnheit lieben. Nicht aus Gewohnheit le-

einer Scharlatanin Erlösung erhoffe. Geh! Es hat keinen Sinn.

ben. Ich war so wütend, und dann kam ich hierher …

KASSANDRA Sie wissen, dass Sie besser sind als er. Dass Sie das Land

Trotzdem sind sie meine Familie. Auch wenn sie Fehler machen. Schick sie

aus der Misere geholt haben, in die er es gestürzt hat. Und doch mündet

einfach fort, aber bitte tue ihnen nichts. Ich habe Angst. Ich habe Alpträu-

jede Möglichkeit in die immer gleiche Sackgasse: Der Mann kommt, die

me, so schwarz und klebrig, dass mir übel wird, wenn ich nur daran denke.

Frau macht ihm Platz.

Von abgetrennten Gliedmaßen, von ausgestochenen Augen. Frauen, aus

KLYTÄMNESTRA Sei still.

deren Schößen Speere ragen. Ich will, dass es aufhört. Ich wollte so sehr

KASSANDRA Nein. Sie wollen nicht, dass ich still bin. Sie wollen, dass

etwas richtig machen. Wenigstens einmal im Leben. Aber jetzt weiß ich

ich spreche, dass ich für Sie spreche. Dass ich die Wünsche, die Sie inner-

nicht mehr, was richtig ist und was falsch. Ich weiß es nicht mehr, Liebster.

lich verätzen, von Ihren stolzen Lippen ablese. Sie fürchten, Sie könnten

Bitte tue mir nicht weh. Ich habe Angst vor Schmerzen. Vielleicht bin ich

sich die Zunge daran verbrennen, aber meine Zunge, die ist weitaus

grundsätzlich falsch, missraten. Vielleicht bin ich nicht gut, zu gar nichts.

Schlimmeres gewöhnt. Sie haben nichts zu befürchten.

Vielleicht ist das meine Bestimmung. Mein Bruder, der wusste stets, was er

KLYTÄMNESTRA Was willst du?

will und was nicht, er wollte immerzu allein sein und über das Leben nach-

KASSANDRA Ist nicht viel wichtiger, was Sie wollen?

grübeln, und meine Schwester, Elektra, sie war immer so gescheit, alles flog

KLYTÄMNESTRA Auch das solltest du wissen, als Seherin.

ihr zu, und sogar die Kleine scheint mir entschiedener, als ich es je sein

KASSANDRA Was ich will, ist die Kehrseite dessen, was Sie wollen. Die

werde. Ich habe einfach nach einem Ort gesucht, wo ich richtig bin. Ich

Kehrseite Ihrer Medaille, denn ich besitze keine mehr. Uns eint das Schick-

wollte, dass sie zufrieden sind mit mir. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Ich

sal …

weiß es nicht. Es geht mir nicht gut. Wenn du fort bist, wenn du mir nicht

KLYTÄMNESTRA Nein. Kein Schicksal. Nie wieder Schicksal. Das ist,

sagst, dass ich richtig bin, dass du mich brauchst – dann verliere ich mich.

was ich will.

Die Düsternis senkt sich auf mich herab und droht mich zu verschlucken,

KASSANDRA Das Schicksal ist unumkehrbar. Auch für Sie.

und manchmal, da würde ich ihr gerne folgen. Aber deine Liebe, deine Lie-

KLYTÄMNESTRA Hier stehe ich vor dir: Ich, die ich alles bin, was ich nie

be, die hält mich hier. Wenn du mich ansiehst, dann weiß ich, dass ich etwas

hätte sein sollen, alles, was mir das Schicksal, was mir die Vorsehung und

kann und zu etwas nutze bin. Bitte vergiss das nicht, jag mich nicht fort, hör

deine Götter nicht vergönnt hatten. Und doch stehe ich hier. Also scheiß

nicht auf mich zu lieben, so sehr, dass mir schwindlig wird. Ja?

auf das Schicksal! Denn ich habe es bewiesen, zehn verdammte Jahre lang

ANTINOOS Ja. Gut so.

habe ich es bewiesen. Und wenn du nicht bereit bist das anzuerkennen,

10 Nach dem Krieg

dann geh. Doch wenn du gehst, tust du es als meine Sklavin!

KASSANDRA Ich dachte, das wäre ich ohnehin.

KLYTÄMNESTRA Und ich dachte, du willst es nicht länger sein.

Im Gemach der Königin, zu dem nur Auserwählte Zutritt haben. Kassan-

KASSANDRA Ich begehre nichts, Königin, also kann man mir nichts neh-

dra und Klytämnestra, eingehüllt in eine warme Nacht. Zwischen ihnen:

men. Nichts mehr. Das ist meine Freiheit. Selbst, wenn Sie mich in Ketten

der Krieg, die Toten. Zwischen ihnen: die Hoffnung. Zwischen ihnen: das

legen. Wann hören Sie mir endlich richtig zu?!

Frausein. Zwischen ihnen: die Silbe ‚Schmerz‘. Zwischen ihnen: Gebete

Klytämnestra schlägt ihr ins Gesicht, zuckt dann zusammen. Die Wucht

für eine bessere Welt. Zwischen ihnen: Galgenbäume. In der Ferne: Aga-

hat sie selbst überrascht, die Wucht der ungeborenen Gedanken, der nicht

memnons Fest, ein Männerfest.

gereiften Handlungen. Kassandra sieht sie an. Ihre Wange brennt, tau-

KASSANDRA Feiern Sie nicht mit Ihrem Mann? Drüben im Megaron?

send Feuer lodern darauf. Aber das Feuer kann ihr nichts mehr anhaben.

Die Freudengesänge sind nicht zu überhören. Aber natürlich, der Zutritt

KLYTÄMNESTRA Es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum ich …

ist Ihnen verwehrt. Zu dem Ort, von dem aus Sie die letzten zehn Jahre

KASSANDRA Meine jüngste Schwester, die sonnengleiche Polyxena, sie

regiert haben, und der nun wieder den Männern vorbehalten ist.

war den Griechen zum Opfer gebracht worden. Einem Toten, einem

Klytämnestra reicht ihrem Gast, der keiner ist, ein Glas.

Schatten, Achill. Wie ein Lamm wurde sie zur Schlachtbank geführt.

KLYTÄMNESTRA Trinkst du Wein? Trinkt so eine wie du Wein?

Stumm und würdevoll ließ sie es geschehen. Der Tod schlief schon so

KASSANDRA So eine wie ich?

lange mit uns in einem Raum, wir hatten in diesen zehn Jahren alle Furcht

KLYTÄMNESTRA Eine Heilige mit übernatürlichen Kräften.

vor ihm verloren. Und so auch sie, meine helle, meine sanftmütige Schwes-

KASSANDRA Das Megaron wieder ein Männersaal. Es muss sich eigenartig

ter mit der himmlischen Stimme. Sie, die lieber den Tod wählte, als für die

anfühlen. Als würde man eines Tages herausfinden, dass die Wände, die man

Griechen die Beine zu spreizen.

aus Stein wähnte, nur aus Pappe sind. Und nun gelüstet es einen, sie anzu-

Ich begrub sie. Zwei Tage und zwei Nächte saß ich an ihrem Grab und

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Theater der Zeit 5 / 2025

Stück Kein Schicksal, Klytämnestra weinte stellvertretend für meine Mutter, meinen Vater, meine toten Ge-

­erhoben hatte, in diesem Augenblick wusste ich, dass das Schicksal sich

schwister, alle sieben, die Polyxenas Tod niemals anerkannt, die sich damit

erfüllen würde, und dass es ein Galgenstrick war, der mir schon von Ge-

niemals abgefunden hätten. Ich aber fand mich ab, ich warf mich in die

burt an um den Hals baumelte.

Arme der Endgültigkeit. Zehn Jahre, Klytämnestra, zehn Jahre sind ver-

Er streckte die Hand nach mir aus, ich wich zurück, dann erhob er sich

dammt lang, wenn es um einen herum brennt, wenn alles ausgeweidet,

und war im nächsten Augenblick bei mir, ja, schnell war er wirklich, die

geköpft und zerstört wird, wenn es nur noch Asche regnet.

Götter sind meine Zeugen. Schnell auch lag ich auf dem Steinboden, und

Ich ging in den zerstörten Tempel. Vor dem Krieg schon war ich den Göt-

schnell war mein Leib ein Ozean aus Schmerz und Blut. Er riss mein Ge-

tern versprochen, der Hohepriester sollte bloß noch entscheiden, welchem.

wand hoch und ritzte mit einem spitzen Dolch seinen Namen in meine

Mein Vater sagte stets, Apollo habe mich mit meiner Gabe gesegnet, also

Schenkel. Er ritzte sich in meine Haut ein, aber viel tiefer noch schlug er

solle ich ihm dienen. Aber mein Herz gehörte Athene, schon von Kindes-

Wurzeln in mir, als er sich meinen Körper aneignete, mein Fleisch durch-

beinen an. Ihr einst so prachtvoller Tempel, den mein Vater erbauen ließ,

bohrte, das Fleisch, das ich den edelsten unserer Männer verwehrt hatte.

der Stolz von ganz Troja, nach dem Krieg war er nur noch eine Ruine.

Damit ich ihn ja nie vergessen solle, sagte er und lachte. Und mit ihm

Schlangen und Skorpione hausten darin. Ich blieb trotzdem. Baute Stein für

lachte mir das Schicksal ins Gesicht …

Stein alles wieder auf. Den Altar und die Gebetsstätte. Andere Frauen

KLYTÄMNESTRA Hör auf.

schlossen sich mir an, allesamt Witwen und Waisen. Mit bloßen Händen

KASSANDRA Verstehen Sie jetzt? Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Er

errichteten wir den Tempel neu. Und ich hielt jeden Tag die Rituale ab, be-

zerfledderte mich, er zerfleischte mich wie ein Raubtier seine Beute, und da-

tete und brachte Opfergaben dar, die wir mit viel Mühe auftrieben. Ein

bei ging es ihm nicht einmal um meinen Körper, es war nicht seine Fleisches-

dumpfer Frieden stellte sich ein, sogar einen Garten legten wir an, gingen

lust, die ihn antrieb, nein, es ging ihm um meinen Namen, um meine Her-

abends zum Strand und sahen Helios beim Verschwinden zu. Das war das

kunft. Er hasste mich, weil ich die war, die ich war. Auch wenn er mir als einer

Beste, was der Krieg für uns bereithielt, und wir waren dankbar. Bis …

zerlumpten Tempeldienerin begegnete, einer heimatlosen, vertriebenen, be-

Bis zu jenem Tag, an dem sie kamen, sie und ihr Anführer. Dieser Fehler

siegten, verwaisten Frau. Doch war es mein Stand, den er mir nicht verzieh.

der Natur, den man irrtümlicherweise einen Menschen genannt hat. Man

Nach dem Tod meiner sonnengleichen Polyxena hatte ich angenommen,

sah es ihnen von weitem an, dass sie Deserteure waren, auf Beute aus und

mein Los sei es, den Rest meines Lebens ihrer zu gedenken, zu beten, sie

aufs Überleben. Ermattet, hungrig und wild. Sie wollten wüten und zer-

in Erinnerung zu behalten … Doch als er mich gegen den kalten Boden

stören. Alles mitnehmen, was sie kriegen konnten. Dieser Wahn, der die

presste, mein Haar um seine Faust gewickelt, seinen stinkenden Atem

Männer befällt, wenn sie zu viel Blut gesehen, zu viel Blut geschmeckt ha-

über mir, seinen Speichel, der mein Gesicht benetzte, das Blut, das mir die

ben, wenn sie im Blut geschwommen sind, diesen Wahn kenne ich, ich er-

Schenkel hinunter rann, der Schmerz, der mich durchfuhr, als würden sich

kannte ihn sofort in ihren Augen. Fort aus Troja, nur das trieb sie noch an.

tausend Speerspitzen in mich bohren, als er mir immer und immer wieder

Aber um zu entkommen, brauchten sie Nahrung und Waffen. Das friedli-

ins Ohr flüsterte: „Ihr denkt immer, ihr kommt davon, egal was ihr tut, es

che Leben, Königin, so viel habe ich gelernt, ist bloß die Ausnahme, die

gebe keine Strafe für euch, ihr glaubt, das Entkommen sei euer Privileg.

Zivilisation nur ein Gewand, das sich die Menschheit vorübergehend leiht.

Aber hier, hier, hier, das hast du nun davon!“, als er mich wie Vieh auf alle

Vielleicht hätte meine Familie das wissen müssen, vielleicht wären sie dann

Viere stellte, meinen Kopf fest umklammernd, als er wieder das Messer

nicht wie Lämmer, eines nach dem anderen, abgeschlachtet worden.

nahm und es auf meinem Rücken ansetzte, immer tiefer wandernd …

Aber, nun ja, er kam. Er war schnell, im Handeln und im Wollen und, wie

KLYTÄMNESTRA Hör auf, sagte ich!

sich zeigte, auch im Massakrieren und Vernichten. Und noch weitere Ta-

KASSANDRA Da. Da erkannte ich meine Blindheit, meinen fatalen Irr-

lente kann ich ihm bescheinigen. Das der Gnadenlosigkeit, zum Beispiel.

tum. Ich erkannte, dass ich das Schicksal falsch gedeutet hatte. Dass ich

Die Drecksarbeit ließ er andere verrichten. Und hatte doch etwas Lieb-

Güte suchte und Gnade dort, wo es beides nicht gab, nie gegeben hat. Dass

reizendes an sich, wenn es darum ging, seine Ziele zu erreichen.

ich Frieden suchte in einem ewig währenden Krieg. Dass ich einen Neuan-

Ich schaffte es, die übrigen Frauen in Sicherheit zu bringen, ich versteckte sie

fang ersehnte, wo es nur Enden gab. Aber nicht einmal da, an diesem Tief-

im Keller, zu dem nur eine Wendeltreppe hinabführte, verborgen im Garten.

punkt meines Lebens, war es mir vergönnt, das Ganze zu erfassen, die Zu-

Den fremden Männern gab ich alles, was wir besaßen, selbst die als Opfer-

sammenhänge. Dazu musste ich erst die Beute ausgerechnet Ihres Mannes

gaben vorgesehenen Hühner schlachtete ich und briet sie ihnen. Ich bot

werden. Dazu musste ich nach Mykene kommen. Dazu musste ich Ihnen

ihnen Unterkunft. Ich fragte nichts. Ich gehorchte. Sie hatten Schnaps

begegnen. Sie sind es, Königin, wegen der ich hier bin. Pause

dabei, den sie erbeutet hatten und von dem sie gierig tranken.

KLYTÄMNESTRA Was hast du mit ihm gemacht?

Als sie satt waren und besoffen genug, bat er mich, ihm etwas abseits eine

KASSANDRA Endlich stellen Sie die richtigen Fragen.

Schlafstätte zu errichten, er wolle seine Ruhe haben. Die Männer schliefen alle im Garten, er aber legte sich hinter dem Altar auf eine Decke, die ich für ihn ausgebreitet hatte. Ich bangte um meine Frauen. Sie hatten schon genug

11 Vor dem Krieg

Leid erfahren, ich hätte es nicht ertragen, wäre ihnen etwas zugestoßen. Da

Im Wald. Im Versteck. In den Eingeweiden des angestauten Hasses. Der

rief er auf einmal meinen Namen, so als würde er sich dabei die Lippen

Abscheu steckt in jeder Wurzel, in jedem Grashalm. Antinoos und Aigist-

­lecken: „Kassandra!“ Und fügte noch hinzu: „Die aus dem königlichen

hos. Sie wähnen sich allein in ihrer unverhohlenen und skrupellosen

­Geschlecht!“ Wie viel Hass, wie viel Verachtung aus diesen Worten sprach.

Nacktheit, ja, manchmal ist es befreiend, jemandem gegenüberzustehen,

Da wusste ich, dass ich verloren war. Ich, die alle Männer abgewiesen, die

der die finsteren Labyrinthe der eigenen Wünsche kennt.

meine Freiheit und den Dienst an den Göttern zu ihrem Lebenszweck

ANTINOOS Wann es Zeit ist, entscheide immer noch ich.

Theater der Zeit 5 / 2025

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Stück Nino Haratischwili AIGISTHOS Ich bezahle dich, so viel dazu. Und wir müssen handeln.

Und was noch schwerer wiegt: Man sieht dir die Scheiße auch an. Und das

Jetzt. Der Augenblick ist günstig.

will niemand, denn sie haben selbst genug davon. Über sich dulden sie nicht

ANTINOOS Du hast schon einmal versucht, ihn zu stürzen, und wir wis-

ihresgleichen. Wenn schon, wollen sie dort jemanden, der besser ist als sie,

sen alle nur zu gut, was dabei herausgekommen ist. Ich arbeite noch an

oder wenigstens schlimmer, und du bist weder das eine noch das andere.

dem Plan für die Erstürmung. Lange musst du nicht mehr warten, aber

Dein Gesicht ist nur das eines traurigen Clowns.

diesmal muss es sicher sein. Absolut sicher.

Aber ein Talent hast du, Aigisthos, das hast du wirklich: Auch, wenn du

AIGISTHOS Seit zwei Jahren finanziere ich dich und deine Bewegung.

selber kein Ungeheuer bist, so hast du doch ein Händchen für solche, die

Und mir missfällt, wohin sie sich entwickelt. Wir wollen einen Aufstand,

es sind. Du suchst ihre Nähe. Du züchtest sie heran. Und du hast schnell

keine Dionysien.

erkannt: Ich, Aigisthos, ich kann dieses Ungeheuer für dich sein. Deswe-

ANTINOOS Überlass das mir.

gen hast du mich geholt. Und nun stehe ich hier, in meiner ganzen Pracht.

AIGISTHOS Dass du dich feiern lässt wie eine Gottheit, war nicht Teil der

Und wir werden den Palast stürmen, wenn ich es sage. So wird es laufen,

Abmachung. Und das Mädchen, die Königstochter – halt sie da raus. Sie

Aigisthos, so und nicht anders. Haben wir uns verstanden?

ist unschuldig.

AIGISTHOS Das Volk wird sich von dir abwenden, wenn ich ihm die

ANTINOOS Glaub mir, im Gegenteil. Lacht. Ist ihre Mutter auch so ver-

Wahrheit über seinen falschen Revoluzzer erzähle.

dorben? Aber die lässt dich ja nicht ran, was? Schade, schade. Ich ver-

ANTINOOS Doch wem, denkst du, wird es eher glauben? Dir oder mir?

mute mal, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Deshalb hat Agamemnon

Dein Wort gegen das ihres Anführers?

sie wohl auch der holden Helena vorgezogen. …

AIGISTHOS Du vergisst all das Geld, das du einkassiert hast. Du. Nicht

AIGISTHOS Halt’s Maul! Du bist nicht mal den Dreck unter ihrem Fin-

die Bewegung. Von wegen: „Keine Privilegien, für niemand.“

gernagel wert!

ANTINOOS Wir sitzen im selben Boot. Lieferst du mich aus, droht auch

ANTINOOS Du stehst wirklich auf sie, was? Und? Wird sie dich zum

dir der Strick. Das Geld, das du uns netterweise zur Verfügung gestellt

Mann nehmen, wenn Agamemnon erstmal unter der Erde liegt?

hast …

AIGISTHOS Ich will dich nicht so über sie reden hören.

AIGISTHOS Uns? Du meinst: dir.

ANTINOOS Dann geh einfach. Ich lasse dir einen Boten schicken, wenn es

ANTINOOS … das stammt wohl kaum aus deinem Ersparten? Und um

so weit ist. Bis dahin habe ich zu tun. Nicht alle haben das Glück, sich im

dein Erbe bist du ja gebracht worden, armer, armer Aigisthos, von dort

schattigen Palasthof die Zeit vertreiben zu können und Feigen zu fressen.

kann es also auch nicht sein!

AIGISTHOS Drei Tage, und keinen mehr. Das ist meine Bedingung. Die Waf-

AIGISTHOS Also doch.

fen habt ihr. Die Achaier stehen bereit. Und lass das Mädchen aus dem Spiel!

ANTINOOS Doch was?

ANTINOOS Sie ist freiwillig hier. Sie glaubt an mich. An unsere Prinzipien.

AIGISTHOS Du wagst es, dich gegen mich zu stellen.

Im Unterschied zu dir geht es ihr um mehr als um den eigenen Arsch.

ANTINOOS Du magst ein Händchen für Ungeheuer haben, Bruder, aber

AIGISTHOS Ohne mich würdest du noch immer in der Gosse sitzen, ver-

du solltest auch wissen: Sie sind nie für dich. Drei Tage. Das ist die Frist,

giss das nicht. Als ich dich kennenlernte, konntest du kaum lesen und

die ich dir gebe.

schreiben. Erst ich habe einen Menschen aus dir gemacht, aus dem Tier, das

Aigisthos geht.

du warst. Du und deine ganze Sippschaft. Ich habe dir die Worte in den

Antinoos wähnt sich allein. Und als Sieger obendrein. Aber da hört er etwas.

Mund gelegt, damit du sie als deine ausgeben, damit du den großen Prophe-

Etwas, das er nicht hören sollte. Vertraute, tippelnde, unsichere Schritte.

ten spielen konntest! Und nun stellst du dich vor mich hin und sprichst von

ANTINOOS Kleines?

Prinzipien? Halt dich an die Abmachung, verdammt nochmal!

IPHIGENIE Ich wollte dich einfach nur sehen, und dann habe ich Aigist-

ANTINOOS Oh ja, ich erinnere mich. Ich erinnere mich, wie du mir auf

hos …

dem Marktplatz in Theben dabei zusahst, wie ich das Volk unterhielt, und

ANTINOOS Wie lange bist du schon hier?

auch du hast dich prächtig amüsiert. Dann haben wir Wein getrunken und

IPHIGENIE Zu lange. Ich muss zurück.

du hast mir von dem schönen Leben in Mykene erzählt, einem Leben, das

ANTINOOS Hat man dir in deinem schönen Palast nicht beigebracht,

wir führen könnten, gäbe es da nicht diesen falschen König, der dich dei-

dass man anderleuts Gespräche nicht belauschen soll?

nes Thrones beraubt hat. Ja, ich erinnere mich gut, Aigisthos, aber wenn

IPHIGENIE Ich sollte längst wieder dort sein. Sonst schicken sie die Wa-

ich dich auch an etwas erinnern darf: Ohne mich und meine „Sippschaft“,

chen nach mir.

wie du sie so schön nennst, hättest du dich deinem Traum nicht einen Fuß-

ANTINOOS Warum so eilig? Komm, lass uns einen kleinen Spaziergang

breit nähern können. Nun aber ist er zum Greifen nah. Du kannst ihn

machen. Ich will dir meinen Lieblingsplatz zeigen. Du wirst staunen, die tolle

riechen, schmecken, spüren.

Aussicht, der Mond hoch oben am Himmel, das Meer, das in seinem Licht

Es stimmt, ich habe mir deine Worte zu eigen gemacht. Doch hast du von

ertrinkt, die Klippen, die in seinem Glanz erstrahlen. Du wirst es lieben, es ist

Anfang an gewusst: Wären sie aus deinem missratenen Mund gekommen –

so richtig poetisch und romantisch, das ganze Zeug, worauf du so stehst.

dir wäre niemand gefolgt. Dein Charme nämlich, mein lieber Freund, gleicht

IPHIGENIE Ich sollte lieber … ich bin spät dran.

dem eines Kartoffelsacks, und Agamemnon hätte immer die Oberhand be-

Er tritt an sie heran. Streichelt ihr Gesicht. Küsst sie, lange, innig. Nimmt

halten, egal wie edel deine Taten und wie beschissen und brutal die seinen

ihre Hand, entzündet eine Fackel und führt sie beiseite.

gewesen wären. Wahr ist auch, ich habe keine hohe Schule und keine Aka-

ANTINOOS Du brichst mir das Herz. So zerbrechlich ist deine Liebe zu

demie besucht. Aber wenn ich etwas erkennen kann, dann ist es Scheiße,

mir, ja? Dass sie im erstbesten Moment zerspringt?

Bruder, und deine trostlose Seele, das lass dir gesagt sein, ist voll davon.

IPHIGENIE Du warst … so anders … vorhin.

60

Theater der Zeit 5 / 2025

Stück Kein Schicksal, Klytämnestra ANTINOOS Wie denn?

bin! Beleidige unsere Liebe nicht, indem du sie anzweifelst. Pause. Gut,

IPHIGENIE Als hättest du dir Wörter geliehen … so wie du dir das Geld

du willst mich kennen? Willst wissen, wie das ist, ich zu sein? Immerzu

geliehen hast.

ausgelacht, verhöhnt, angespuckt, getreten zu werden, und das dein Leben

ANTINOOS Du hast also alles gehört? Ja, ich habe Geld von ihm ange-

lang? Und warum? Wofür? Nur, weil du am falschen Ort geboren wur-

nommen. Das habe ich, zu Beginn. Die Bewegung brauchte Geld, das wir

dest! Dein einziges Verschulden: dass deine Eltern niemanden haben be-

nicht hatten. Für Waffen, Verstecke, Bestechungsgelder …

stehlen, dass sie sich keine Sklaven haben nehmen können! Und so wirst

IPHIGENIE Aber er sagte, du hättest es für dich selbst …

du zu einem gemacht!

ANTINOOS Komm, ich zeige dir das Meer, meine Klippen, den Mond,

Diese Narben auf meinem Rücken, die alle für einen Beweis von Kampfes-

den Ort meiner Träume, es ist gleich da drüben. Und danach werde ich

und Manneskraft halten, weißt du, woher sie stammen? Heiße Zangen,

dich zum Palast begleiten. Wenn du das willst.

die ein Archont sich hat schmieden lassen, eigens für mich, eine Sonder-

Er führt sie weiter. Sie beginnt zu weinen. Auch die Tränen haben sich

anfertigung für seinen damals 14-jährigen Laufburschen. Ich habe für ihn

verändert. Sie haben ihre reinigende Kraft verloren, sie sind trüb wie ein

die Drecksarbeit erledigt. Dieses fette, versoffene, degenerierte Schwein.

Teich voller Algen.

Ich musste immer schön lächeln und seine Scheiße wegputzen. Aber ir-

ANTINOOS Pst. Pst, meine Kleine. Du hast mich nach meiner Kindheit

gendwann reichte ihm das nicht mehr, sein hohles, dekadentes Leben wur-

gefragt. Weißt du noch? Die Wahrheit ist: Ich hatte nie eine. Meine Kind-

de ihm zu langweilig, die Nutten waren ihm nicht mehr genug, also muss-

heit war keine. Meine Mutter immerzu auf dem Feld, um uns neun Kinder

te ich herhalten. Ich war so niedrig, so schmutzig, dass es ihm wohl eine

durchzufüttern. Ich musste arbeiten, seit ich laufen kann, musste auf dem

besondere Art von Erregung verschafft hat. Er musste sich für mich über-

Feld aushelfen, später dann für die Archonten schuften, diese Schweine.

winden, verstehst du? So aufregend, so verdammt aufregend! Doch ir-

Und dein Onkel, ich meine, darf man ihn so nennen, nennst du ihn so?

gendwann reichte ihm auch das nicht mehr, diese Überwindung. Es bot

Dass er ein verlogener Bastard ist, das war mir von Anfang an klar, aber

ihm zu wenig Abwechslung. Da fiel ihm ein, dass er mich ja auch noch

ich musste mir seine kranken Phantasien zunutze machen, für die Bewe-

quälen könnte. Das würde doch Spaß bringen?! Denn ich war ja nichts

gung. Das verstehst du doch?

wert, weniger als seine Schildkröten oder Eidechsen, die mehr zu fressen

IPHIGENIE Ihr wollt die Bewegung dazu nutzen, euch zu rächen. Nur

bekamen als ich. Dinge in mich hineinzuschieben, war noch die mildeste

darum geht es, stimmt’s?

Form von Zeitvertreib für ihn, aber heiße Zangen, ja, das war schon ganz

ANTINOOS Ich habe ihm gesagt, was er hören wollte. Ich muss das Spiel

was anderes. Und zusehen, wie lange ich es aushielte, bis ich ohnmächtig

der Mächtigen mitspielen, um es zu zerstören. Ich muss ihre Sprache be-

würde. Solche Archonten lässt dein Vater in Fülle und Pracht leben. Siehst

herrschen, ihre Gebärden. Ihre kranken Phantasien kennen, um sie für uns

du die Nahrungskette, an deren Ende deine Familie thront?

nutzen zu können. Tief in die Scheiße hinabsteigen, um aus ihr rauszu-

IPHIGENIE Und nun willst du zu diesem Ende gelangen und willst um-

kommen, verstehst du? Ich hatte keine andere Wahl. Komm, hier entlang.

gekehrt sie mit heißen Zangen malträtieren.

IPHIGENIE Er sagte, dass du an nichts von alldem glaubst, was du er-

ANTINOOS Ich will Gerechtigkeit, Iphigenie.

zählst, dass du die Menschen belügst …

IPHIGENIE Du willst Rache. Das ist nicht dasselbe ... Pause. Sieh nur: Da

ANTINOOS Sieh mich an, Iphigenie. Ich lebe für die Sache, ich lebe für

unten, wer ist das?

die Bewegung, wie kannst du daran zweifeln, dass ich … Aber wenn du

ANTINOOS Meine Leute.

mir nicht mehr glaubst … wenn du nicht bereit bist, diesen Weg weiter mit

IPHIGENIE Sie haben uns gesehen, haben dich erkannt. Sie winken uns

mir zu gehen … Doch erst schau her, dreh dich um, wir sind da! Das hier,

zu. Rufen weitere herbei.

das ist, was ich will: diese Freiheit, diese endlose Weite. Hörst du unten

Sie entfernt sich von ihm. Geht zum Rand der Klippe. Zum Rand ihrer

das Meer rauschen? Wie mächtig die Wellen gegen die Felsen schlagen?

Welt. Zum Rand des Möglichen. Zum Rand ihrer Angst.

Riechst du es? Riechst du die Freiheit? Das ist, wofür ich kämpfe.

IPHIGENIE Es tut mir leid, alles, was dir widerfahren ist, und ich wünsch-

IPHIGENIE Du hast mich benutzt. Und du hast widerliche Sachen über

te, es wäre dir erspart geblieben. Aber du darfst nicht diese Menschen mit

mich gesagt.

in deinen Abgrund reißen, sie glauben dir, sie folgen dir, du darfst sie nicht

ANTINOOS So geht das Spiel. Ich musste ein genauso missratenes Ekel

verraten! Du darfst nicht weitere Zangen anfertigen und neue Narben hin-

sein wie er. Politik, verstehst du, nichts anderes tut dein Vater auch.

terlassen. Ich weiß, dass du so nicht bist. Du bist kein Ungeheuer. Du hast

IPHIGENIE Ich dachte, du wärst anders als er, besser …

nur zu lange unter ihnen gelebt. Du bist nicht dieser würdelose Mann, der

ANTINOOS Darauf kannst du deinen süßen Arsch verwetten. Aber um

vor Abscheu schäumt. Du musst deine Zweifel köpfen, das hast du mich

das beweisen zu können, muss ich mit ihm auf Augenhöhe sein, Kleines.

gelehrt. Sieh mich an. Warum fürchtest du dich davor, mich anzusehen?

Ich muss über die gleichen Möglichkeiten verfügen wie er. Sieh mal: Noch

Antinoos, ich werde dich nicht verraten, falls es das ist, wovor du dich

bin ich dort unten. Und nicht hier oben, wie wir jetzt. Noch nicht. Gib mir

fürchtest, ich werde dein Geheimnis wahren, ich werde nichts von dem

deine Hand.

Geld erzählen, aber dafür musst du lernen mich zu lieben, mich und diese

Sie stehen am Rand. Unter ihnen das endlose Wasser, vom Mond beschie-

Menschen da unten. Du musst dich neu erfinden, du weißt doch, die Re-

nen, unwirklich, wie ein Gemälde. Er küsst sie, bis ihr schwindelt, ganz

volution in uns … Und du kannst dich mir nicht mehr wegnehmen, ich

wie sie es wollte. Und doch fühlt es sich nicht so an.

habe die Lider längst geschlossen, ich bewahre dich in mir auf: deine Un-

IPHIGENIE Was habe ich getan … Was habe ich meiner Familie nur an-

geheuerlichkeit und deine Sanftmut. Hier und jetzt, an dieser Klippe, ent-

getan?

scheide ich mich dafür, dir den Glauben zu injizieren. Ich entscheide mich

ANTINOOS Du musst mir vertrauen. Du kennst mich, du weißt, wer ich

dafür, dich freizusprechen. Ich entscheide mich dafür, dir eine Kindheit zu

Theater der Zeit 5 / 2025

61

Stück Nino Haratischwili schenken und mit dir das Lachen zu tauschen. Dir deinen Hass zu neh-

Augen der heiligen Nyx und Selene, dass wir nie mehr einen Herrscher

men, ihn zu heilen mit meinen Händen, und wenn sie sich dabei auch

über unser Leben bestimmen lassen!

schwarz färben. Sieh mich an, ja, sieh mich an. Ich weiß jetzt, wer ich bin.

IPHIGENIE Hörst du? Hörst du sie skandieren?

Zum ersten Mal begreife ich, dass ich etwas kann. Dass ich nicht dieser

In den Abgrund Nicht die Obrigkeit entscheidet für euch, sondern ihr

majestätische Nichtsnutz bin, den ihr aus mir machen wolltet. Welch eine

selbst entscheidet. Kein Verrat, keine falschen Versprechen dürfen euch in

schöne Nacht zum Sterben, Antinoos. Welch eine schöne Nacht, um wie-

die Irre führen. Niemand, nicht einmal Antinoos selbst! Und wer euch im

dergeboren zu werden. Das hier ist die Überwindung eines sagenhaften

Stich lässt, den erwarte der Tod. Denn eure Rache wird süß sein.

Abgrunds, und dafür danke ich dir!

Zu Antinoos Du wirst das alles zu Ende bringen! Hast du mich verstanden?

ANTINOOS Iphigenie, du solltest jetzt lieber …

ANTINOOS Alles, was dieser traurige Clown über mich gesagt hat, ist

IPHIGENIE Schau, es kommen immer mehr. In den Abgrund Ihr da unten,

wahr. Ich bin nichts und niemand. Ich kann nichts. Ich kann nur gut spie-

hört ihr mich? Ich bin es, die Erstgeborene aus Agamemnons Geschlecht, die

len, so tun, als ob. Ich leihe mir Worte. Ich leihe mir Geld. Ich leihe mir

zu euch spricht, Iphigenie, die Tochter der Revolution und Antinoos’ Braut.

Waffen. Ich leihe mir das ganze Leben, weil ich keines habe. Weil ich,

ANTINOOS Was machst du da?

verdammt nochmal, nie eines gehabt habe.

IPHIGENIE Sie haben Fackeln entzündet, wie eine Schar Glühwürmchen

IPHIGENIE Reiß dich zusammen! Steh auf! Ich leihe dir neue Worte,

stehen sie da und leuchten. Wie schön es ist, sieh nur!

wenn dir die alten ausgehen. Richte dich auf und wink ihnen zu! Ich habe

ANTINOOS Verdammt, Iphigenie, geh weg da, das ist gefährlich!

dich erträumt, meinen Propheten der geliehenen Worte, und diesem

IPHIGENIE ruft in den Abgrund Ich liebe euch, Mykener! Ihr seid das

Traum will ich folgen.

wahre Gesicht dieses Landes, eure Gesichter – voller Würde und Ent-

In den Abgrund Lasst das Feuer eurer Fackeln in euch weiter brennen,

schlossenheit! Hier stehe ich vor euch, ich, die Königstochter, und schwö-

dort kann es niemand löschen, kappt die Seile, an denen ihr hängt, gebt

re dem Thron ab. Ich durchtrenne die Nabelschnur meiner Abstammung.

den Puppenspielern euren Hohn, folgt mir in die stürmischen Träume, und

Ich schenke mich der Revolution! Zu lange habe ich geschwiegen, so wie

vergesst nicht: Alle Minotauren und Geryone dieser Welt sind durch die

man auch euch zum Schweigen gebracht hat. Aber wir sind nicht stumm!

Hand von Sterblichen gefallen. Lasst mich die Galionsfigur auf eurem

ANTINOOS Was soll das werden?

Schiff sein und fahrt mit mir, tauscht Gold gegen Eisen und zieht in den

IPHIGENIE Hörst du? Hörst du, wie sie uns zujubeln?

Krieg – bis wir den ewigen Frieden gefunden haben!

ANTINOOS Hör auf damit. Du hast keine Ahnung. Für dich ist das bloß

Zu Antinoos Hörst du, wie sie jubeln? Wie sie mir zujubeln? Hörst du!?

ein aufregendes Spiel, in das du zufällig hineingeraten bist, aber das ist es

12 Nach dem Krieg / Vor dem Krieg

nicht, Iphigenie, das ist kein Spiel …

IPHIGENIE Ich mache dich zu ihm, ich mache dich zu dem Mann, der du niemals warst. Ich tue es für dich. Und für sie. Ich tue es für all diese

Am Strand. Nachts. Ein Lagerfeuer. Am Anfang der Welt, die in dieser

leuchtenden Menschen da unten.

Nacht von Frauen gesponnen wird.

In den Abgrund Brüder und Schwestern! Spendet Beifall diesem Helden!

KASSANDRA Der Mond ist voll, das Meer friedlich. Genau wie in jener Nacht.

Spendet Beifall eurem furchtlosen Anführer, der uns die verlorene Würde

KLYTÄMNESTRA Welcher Nacht? Du hörst wohl nie auf in Rätseln zu

zurückgegeben hat! Wir haben einen langen Kampf vor uns. Aber wir

sprechen.

werden siegen! Und er wird uns führen!

KASSANDRA Rätsel, deren Lösung Sie längst in sich tragen, Königin.

Sie sieht Antinoos an. Wirst du das? Wirst du genug Mumm haben, der zu

Aber es braucht noch winzige Schlitze, um hinter den Vorhang blicken zu

werden, der du vorgibst zu sein?

können.

ANTINOOS Ich verstehe nicht, was du willst.

KLYTÄMNESTRA Früher war ich oft hier. Nun ist mir der Strand ver-

IPHIGENIE Du musst ihnen zuwinken! So wink doch! Sie sind das Ge-

hasst. Hier fand man ihre Leiche.

wissen, das dich quält. Und das ist gut, Antinoos, das ist gut so. Denn sie

KASSANDRA Das Herz, einmal verwundet, ist finster und unberechen-

sind deine zweite Chance, du musst nur meine Hand nehmen und mir

bar. Aber der Verstand lässt sich schärfen wie die Klinge eines Messers.

nachsprechen! Und niemand wird etwas erfahren …

Durchschneiden Sie damit den Vorhang.

ANTINOOS Ich flehe dich an, hör auf, du machst alles nur schlimmer.

KLYTÄMNESTRA Weißt du, wie das ist? Jede Nacht ihr Gesicht vor Au-

IPHIGENIE in den Abgrund Er wird euch zum Frieden führen, und ihr

gen zu haben, und die Gewissheit, dass ich sie nicht habe schützen kön-

werdet nie mehr zulassen, dass ein König in diesem Land regiert! Niemals!

nen. Ist das nicht die wichtigste Aufgabe einer Mutter?

Hörst du, wie sie jubeln? Hörst du sie?

KASSANDRA Sie werden Ihr Schicksal nicht abwenden können, genauso

In den Abgrund Ich erhebe die Faust mit euch und ziehe in den Krieg gegen

wenig wie ich meines, nur aufschieben.

alles Gewesene! Keine Könige mehr! Keine Anführer! Nieder mit der Ob-

KLYTÄMNESTRA Soll das heißen, dass sich nichts ändert?

rigkeit! Wir dulden keine Tyrannen mehr auf diesem göttergesegneten Bo-

KASSANDRA Doch, alles ändert sich.

den! Tritt vor uns hin, Antinoos, und erneuere deinen Schwur! Sprich mir

KLYTÄMNESTRA Aber?

nach: Nie mehr wollen wir auf unserem Boden einen König dulden! Wir

Pause.

schwören vor euch, den Göttern, vor den Augen der heiligen Nyx und Sele-

KASSANDRA Sie werden töten. Nur nicht den, den Sie glauben töten zu

ne, dass wir nie mehr einen Herrscher über unser Leben bestimmen lassen!

müssen.

ANTINOOS zögernd in den Abgrund Nie mehr wollen wir auf diesem

KLYTÄMNESTRA Sondern? Wen?

Boden einen König dulden! Wir schwören vor euch, den Göttern, vor den

KASSANDRA Ihren Mann.

62

Theater der Zeit 5 / 2025

Stück Kein Schicksal, Klytämnestra Klytämnestra lacht. Ihr Lachen ist ein Donner, der nichts trifft. Keinen

AGAMEMNON Weißt du, was der eigentliche Unterschied ist zwischen

Baum. Keinen Menschen.

uns? Zwischen mir und den meisten Menschen? Zwischen einem König

KLYTÄMNESTRA Du bist von Sinnen.

und dem Rest? Ich bin nicht befugt, immer das zu tun, wonach mir zu-

KASSANDRA Und sein Tod wird auch der Geschichte meines Ge-

mute ist. Denn wäre ich es, so würde ich dich jetzt zusehen lassen, wie ich

schlechts einen Punkt setzen. Einen ehrbaren Punkt.

mich seiner annehme. Ich würde das stumpfste Messer nehmen, das ich

KASSANDRA Warum sollte ich das tun, ihn umbringen?

finden kann, und deinen Verlobten damit ... Ich meine, das ist er doch?

KASSANDRA Ihn, und noch jemand anderen.

Mit dir verlobt? Ladet ihr uns denn zu eurer Hochzeit ein? Deine Familie?

KLYTÄMNESTRA Ah, noch mehr Morde? Das wird ja immer schöner!

Oder ist euch unser Segen egal? Schade. Ich habe es mir immer so schön

KASSANDRA Auch den Mann, der Ihnen die Abwesenheit Ihres Ge-

vorgestellt: die Hochzeiten meiner Töchter auszurichten ...

mahls erleichtert hat, der Ihnen seine Liebe geschworen hat, seit dem Tag,

IPHIGENIE Er ist bewusstlos, wovon redest du?

an dem Sie nach Mykene gekommen sind, auch ihn werden Sie töten.

AGAMEMNON Ich rede davon, was ich machen würde, könnte ich tun,

KLYTÄMNESTRA Aigisthos?

wonach mir ist. Denn ich würde ihm die Haut abziehen, und keine Sorge,

KASSANDRA Zumindest haben mir die Götter das zugeflüstert. Aber es

ich würde sicherstellen, dass er bei Bewusstsein ist, während ich es tue,

sei Ihnen überlassen. Mir bedeutet er nichts.

damit er mir in die Augen sehen und die Freude spüren kann, die ich dabei

KLYTÄMNESTRA Dann halte dich auch gefälligst raus!

empfinde, meinen Triumph über sein armseliges, mickriges Leben. Ich

KASSANDRA Gesehen aber habe ich, dass Sie es tun werden.

würde dich zusehen lassen, während ich anfange ihn zu skalpieren. Und

KLYTÄMNESTRA Ich soll einen nach dem anderen niedermetzeln, wie

wie er, um sein armseliges Leben zu retten, bereit ist, alles zu verraten,

eine Psychopathin? Das erzählen dir deine Götter?

woran du so blind glaubst: dich, die Revolution, das Volk.

KASSANDRA Mein Schicksal ist es, den Tod zu sehen. Und Ihres, ihn

Hast du schon mal gesehen, wie jemand skalpiert wird? Nein? Dann wüss-

herbeizuführen.

test du, wie widerspenstig die Haut am Kopf ist, wie sehr sie am Schädel

KLYTÄMNESTRA Und du glaubst, das Volk wird das einfach so hinneh-

hängt, wie unnachgiebig sie ist, wieviel Kraft man aufwenden muss. Nun,

men? Dass ich, mir nichts, dir nichts, seinen siegreichen König erschlage?

ich war schon das eine oder andere Mal dabei, mein Kind, und nicht nur

KASSANDRA Nein.

als Zuschauer, ich hatte keine andere Wahl, musste ich doch für alles, was

KLYTÄMNESTRA Gut.

dir stets selbstverständlich schien, Opfer bringen.

KASSANDRA Sie werden ihn nicht erschlagen. Ich sah Wasser. Blutge-

Und dann, während er verblutet, würde ich mich zu dir setzen und dir

tränkes Wasser.

erzählen, wie wunderbar meine Tochter war, wie wunderschön, und wie

KLYTÄMNESTRA Und warum, um der Götter willen? Den Vater meiner Kin-

sehr ich sie liebte. Die Tochter, die ich besaß, bevor sie mir entsagt hat.

der, den König dieses Landes? Aus seinem Tod erwächst mir kein Erbarmen.

Bevor sie ihren eigenen Vater hintergangen hat.

Kassandra berührt Klytämnestras Hand. Die Zeiten schieben sich wieder in-

Pause. Aber all das werde ich nicht tun, denn ich stehe hier nicht als dein

einander. Der Krieg wird zurückgespult, die Sanduhren auf den Kopf gestellt.

Vater, sondern als dein König, und als der habe ich nun mal keine Wahl.

In einer dunklen Kammer. Im Palast. Das Meeresrauschen in der Ferne ist

Er sieht seine Frau an. Seine Frau sieht ihren Mann an. Die Zeiten zerbröseln

die einzige Brücke in die Gegenwart. Wenige Tage vor dem Krieg. Aga-

zu Brotkrumen. Winzige Partikel sind sie nur noch, überall und nirgends.

memnons Fuß steht auf Antinoos, der bewusstlos daliegt. Iphigenie tritt

IPHIGENIE Was hast du vor?

ein. Sie rennt sofort zu Antinoos.

AGAMEMNON Ihr werdet nicht heiraten.

IPHIGENIE Antinoos, Antinoos?! Was hast du mit ihm gemacht, du Un-

IPHIGENIE Und wer sollte uns daran hindern? Du etwa?

mensch? Was hast du … Hörst du mich, Liebster? Ich bin es!

AGAMEMNON Der Krieg, vorerst. Denn dorthin wird er mich begleiten.

AGAMEMNON Er lebt. Noch. Ob es so bleibt, hängt ganz allein von dir

Nach Troja. Sollte er überleben, kann er dann ja offiziell um deine Hand

ab, mein Kind.

anhalten. Aber ich vermute, in der Zwischenzeit wirst du jemand Neues

IPHIGENIE Ich lasse den Palast stürmen, wenn du ihn nicht freilässt.

kennengelernt und ihn vergessen haben.

AGAMEMNON Stimmt schon, du hast dich wirklich verändert. Diese

IPHIGENIE So, genau so war es schon immer: Du hast nie eine andere

Willensstärke. Die Glut in deinen Augen. Hätte ich dir nicht zugetraut.

Wahrheit, eine andere Wirklichkeit, einen anderen Wunsch akzeptieren

Von all meinen Kindern warst du immer die größte Träumerin. Ich bin

können! Warst immer so verblendet in deinem Größenwahn, dass du alles

stolz auf dich. Ja, als Vater bin ich das. Auch wenn das, unter den gegebe-

andere verkannt hast. Ich liebe ihn. Ich kenne ihn. Für seine Fehler kann

nen Umständen, nun ja, etwas merkwürdig klingen mag.

er nichts, daran seid ihr schuld, du und deinesgleichen. Lass ihn frei! Ich

IPHIGENIE Lass einen Heiler rufen. Schnell! Es geht ihm nicht gut.

gebe dir Zeit bis morgen früh …

AGAMEMNON Sag, wie lebt es sich so? Im Untergrund? In diesem Dreck?

AGAMEMNON Du gibst mir Zeit? Wie rührend. Wirklich. Was, denkst

Wie ich höre, bist du nun die Anführerin. Hast diese Missgeburt hier in den

du, stellst du dar? Eine Kriegerin? Ich gebe dir einen väterlichen Rat: Du

Schatten gestellt. Ich würde dir glattweg gratulieren, aber du musst zuge-

bist zu ungestüm. Du musst selbstsicherer werden im Auftreten. Und dei-

ben: Das war auch nicht schwer, ich meine, er ist eine derartige Witzfigur …

nem Gegenüber mehr Respekt entgegenbringen.

IPHIGENIE Und trotzdem ist er dir zur Bedrohung geworden!

IPHIGENIE Den muss sich mein Gegenüber erst verdienen.

AGAMEMNON Er nicht. Du schon. Bist eine richtige Agitatorin gewor-

AGAMEMNON Dann lass es mich so sagen: Du hast zwei Möglichkeiten.

den. Ich hätte nie gedacht, dass du doch noch nach mir kommst.

Entweder ich lasse euer Schmierentheater auffliegen und er wird hinge-

IPHIGENIE Das Talent zu stehlen und zu lügen jedenfalls habe ich nicht

richtet, ohne Prozess, gleich morgen früh, und wahrscheinlich müsste ich

von dir geerbt!

es nicht mal veranlassen, denn deine Leute würden ihn auch so in Stücke

Theater der Zeit 5 / 2025

63

Stück Nino Haratischwili reißen, wenn sie erfahren, dass er sich jahrelang bereichert hat an dem

Er tritt hinaus. Das schwere Zuschlagen der Tür. Das schwere Ausradieren

Geld, das mein Cousin für eure „Bewegung“ geklaut hat …

der Erlösung. Iphigenie bricht zusammen.

IPHIGENIE Du weißt davon?

Eine andere Zeit. Zwei Frauengestalten, zwei Schatten am Strand.

AGAMEMNON Aigisthos, dieser armselige Bastard, kriegt es nicht mal

KLYTÄMNESTRA Nein. Das ist nicht wahr.

hin, gescheit zu stehlen. Er dachte, ich bekomme nichts mit. Aber im

KASSANDRA Ich habe dich gewarnt. Du hast es gewollt. Du hast mich

Grunde hat er mir einen Gefallen getan: Erst wollte ich ihn hängen lassen,

gerufen.

als meine Leute ihn erwischt haben. Ich wollte meinen Fehler von damals

KLYTÄMNESTRA Niemals hat er einen fremden Krieg über das eigene Kind

nicht wiederholen, als deine Mutter mich anflehte, ihn zu begnadigen.

gestellt! Niemals ihre Ehre gegen Soldaten eingetauscht! Niemals ihren Mör-

Aber dann, nach einer schlaflosen Nacht, sagte ich mir: Siehst du denn

der laufen lassen, damit der Mykenes Truppen gegen Troja führt …

nicht, Agamemnon, wie gut es die Götter mit dir meinen? Sie servieren dir

KASSANDRA Du musst begreifen, dass es keine fremden Kriege gibt.

gleich zwei Schweinehunde auf einem Silbertablett! Denn ich wusste, mit

Fremden Frieden, ja, aber die Kriege, die gehören uns allen. Es ist das

ein wenig Nachhilfe würde Aigisthos nicht zögern, deinen Geliebten zu

Gute, Klytämnestra, das uns trennt. Im Monströsen sind wir verbunden.

verraten. Er war schon immer ein Feigling! Ihr aber denkt, ihr wärt etwas

KLYTÄMNESTRA Das ist Irrsinn! Was glaubst du, dass ich tun werde?

Besseres. Revolution! Hier hast du sie, deine Revolution! Eine endlose

Ihn töten? Meinen Mann? Den Vater meiner Kinder? Und dann weiter-

Kette menschlicher Gier und menschlichen Versagens!

machen, als wäre nichts gewesen?

IPHIGENIE Was sind deine Bedingungen? Was verlangst du von mir?

KASSANDRA Weitermachen, obwohl es gewesen ist.

AGAMEMNON Bedingungen? Warum der schroffe Ton? Ich schlage dir

KLYTÄMNESTRA Sie werden mich hängen, mich, die Königsmörderin!

einen Handel vor, Iphigenie. Also hör mir gut zu, so aufmerksam, wie

KASSANDRA Du beschuldigst mich.

noch nie in deinem verwöhnten Leben! Willst du seinen beschämenden

KLYTÄMNESTRA Wie?

Tod, dann lass es mich wissen. Aber willst du sein armseliges Drecksleben

KASSANDRA Liefere ich nicht ausreichend Motive? Ich nehme die

retten und weiter daran glauben, an deine Revolution, daran, dass sie viel-

Schuld auf mich, gestehe, dass ich alles minutiös geplant habe. Sogar die

leicht irgendwann mal kommt, angeführt von ihm – nun, dann lass dir mit

Waffe werde ich noch bei mir tragen …

deinem großen agitatorischen Talent eine schöne, neue Rede einfallen,

KLYTÄMNESTRA Und willst also gehängt werden?

eine Weiterentwicklung deiner politischen Gesinnung, eine Umkehr zu

KASSANDRA Ich will das Ende. Wann lernen Sie das endlich? Für ihn,

alten Werten. Dann tritt vor deine Leute hin und erzähl ihnen, wie wichtig

den Mörder und Peiniger meiner Familie, und für mich.

es sei, eure Revolution zu vertagen, auf friedlichere Zeiten. Weil wir nun

KLYTÄMNESTRA Das sind alles nur deine Alpträume, mit denen du mir

in der Bedrohung vereint sind – durch den gemeinsamen Feind, die Troja-

die Kehle aufschlitzen willst! Ich dachte, du wüsstest etwas über den Ver-

ner.

bleib des Mörders meiner Tochter. Stattdessen zeigst du mit dem Finger

IPHIGENIE Das werde ich nicht tun, Vater. Und so oder so: Niemand

auf die Männer, denen ich mein ganzes Leben …

würde mir glauben.

KASSANDRA Ihr habt beide den falschen Mann geliebt. Das ist das

AGAMEMNON Doch. Das werden sie. Dir schon. Ich habe mir alle Re-

Schicksal, das euch, Mutter und Tochter, eint. Sie trat auf die Klippe und

den geben lassen, die du in den letzten Monaten an dein Volk gerichtet

hielt die Rede, du kennst sie, jeder in Mykene kennt sie. Daraufhin zogen

hast, und ich muss sagen, ich bin beeindruckt. Deine leicht pathetische

die Achaier in den Krieg. Antinoos führte sie auf die Schiffe. Auf Aga-

Klippenrede scheint mir besonders gelungen, ich war richtig stolz auf

memnons Schiffe. Und wenig später trat sie erneut auf die Klippe, diesmal

dich. Wirklich wahr. „Tauscht Gold gegen Eisen und zieht in den Krieg –

aber, um zu springen.

bis wir den ewigen Frieden gefunden haben!“

KLYTÄMNESTRA Ich hätte mich niemals auf dich einlassen dürfen. Ver-

IPHIGENIE Sie werden nicht mit dir in einen fremden Krieg ziehen!

flucht seist du, Kassandra! Eine Sehende sollst du sein? Blind bist du!

AGAMEMNON Aber mit ihm, ihrem Anführer. Er wird die Männer auf

Blind! Gar nichts siehst du, weil deine Wut auf mein Volk dich blendet,

die Schiffe führen. Er wird sie anführen, bis sie sich willens zeigen, für ihr

weil die Rachsucht durch deine Venen fließt! Eine Falschpredigerin, das

Land und ihren König zu kämpfen, wie es sich gehört. Ihr beweist eure

ist es, was du bist, keinen Deut besser als der, der mein Kind auf dem Ge-

Heimatliebe! Und dann, wenn der Sieg errungen ist, werdet ihr verschwin-

wissen hat! Verschwinde und tue, wozu du hergebracht wurdest: Sei mei-

den, aus Troja und aus Mykene. Von mir aus könnt ihr sonst wohin und

ne Sklavin. Schrubbe die Böden, wasche meine Kleider, doch nie wieder

euch ein schönes Leben machen. Ich werde euch nicht weiter behelligen.

will ich, dass du auch nur ein Wort an mich richtest. Denn nichts ist wahr

Ich gebe dir mein Ehrenwort.

von dem, was du sagst. Lügen über Lügen! Auf die Knie mit dir, und flehe

IPHIGENIE Dein „Ehrenwort“?

um Gnade. Nicht ihn, dich sollte ich töten!

Antinoos stöhnt.

Kassandra hebt ihr Kleid ein Stück an. Klytämnestra starrt sie fassungslos an.

IPHIGENIE Hilf mir, ich flehe dich an. Siehst du nicht, wie er leidet?

KLYTÄMNESTRA Was tust du da?

AGAMEMNON Das Leid, Iphigenie, ist das Los derer, die eitel genug

KASSANDRA Ich habe dir gesagt: Du suchst den Falschen. Denn der,

sind zu glauben, die Welt umgestalten zu müssen, und doch zum Scheitern

den du suchst, ist längst tot.

verurteilt sind. Und weißt du, warum? Nicht, weil ich besonders grausam

KLYTÄMNESTRA Was ist das, an deinem Bein?

wäre. Im Gegenteil. Weil alle so sind wie ich. Auch dein Freund, auch du.

KASSANDRA Siehst du die Narben?

Ihr wisst es bloß nicht, weil ihr nie die Gelegenheit hattet, wahrhaft etwas

KLYTÄMNESTRA Ein Name …

zu bewirken. Hier und jetzt aber kannst du es. Und spätestens in einer

KASSANDRA Kannst du ihn entziffern? Erkennst du die Handschrift?

Stunde sagst du mir, wie du dich entschieden hast.

Siehst du nun die Linien, die uns zusammenführen?

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Theater der Zeit 5 / 2025

Stück Kein Schicksal, Klytämnestra KLYTÄMNESTRA Der Schänder im Tempel, das war er?

KLYTÄMNESTRA Nicht schuld? Sie hat ihm geglaubt. Sein Wahn wurde

KASSANDRA Er ließ sich von allen immer nur „Meister“ nennen, darauf

ihr zu dieser verdammten Klippe. Nun liegt sie unter der Erde. Und du

legte er Wert. Im Suff aber erzählte er viel. Vieles, was nicht für meine

lässt ihren Mörder frei herumlaufen, mehr noch: Du lässt ihn sogar deine

Ohren bestimmt war, und doch hörte ich es. Damals hat es mich nur nicht

Flotte anführen?!

interessiert. Das Einzige, was ich wollte, war, dass er aufhörte, dass er von

AGAMEMNON Götter, wann hörst du auf damit? Sie selbst hat die Ar-

meinem zerschundenen Leib abließe. Und dann, als er es tat und ich noch

mee angeführt, hat befohlen, dass Antinoos die Achaier in meinen Dienst

am Leben war, wollte ich seinen Tod. Genau wie du.

stellt. Du musst das akzeptieren und deinen Frieden damit …

KLYTÄMNESTRA Du hast ihn …

KLYTÄMNESTRA Meinen Frieden? Frieden?! Wie kannst du dieses Wort

KASSANDRA Nachdem er den Tempel verlassen hatte, bin ich ihm tage-

in meiner Anwesenheit in den Mund nehmen? Wagen, es auszusprechen?!

lang gefolgt. Ich hatte gelernt, geduldig zu sein, unsichtbar, eine Lehre des

AGAMEMNON Was glaubst du denn? Dass ich nicht mein Leben hingäbe,

Krieges für eine unbewaffnete Frau. Geduldig bin ich geblieben, aber

könnte ich sie dadurch wieder lebendig machen?! Und was ist mit unseren drei

nicht unbewaffnet ...

anderen Kindern, die noch leben und denen wir eine Zukunft bieten müssen?

Sie holt ein kleines Messer hervor.

KLYTÄMNESTRA Indem du in den Krieg ziehst?

KLYTÄMNESTRA Woher hast du das?

AGAMEMNON Wenn wir in Troja siegen – und natürlich werden wir das,

KASSANDRA Von meinem Bruder Hektor. Es war sein Vermächtnis an

es ist nur eine Frage der Zeit –, wird Menelaos uns fürstlich belohnen. Das

mich. Als er starb, war ihm für zwölf Tage nicht einmal eine Bestattung

wird auch ihnen, das wird ganz Mykene zugutekommen.

vergönnt. Doch schon damals war meine Geduld dehnbar wie der Leib

KLYTÄMNESTRA Du hast um deinen Platz an der Sonne immer gebangt,

einer schwangeren Frau. Also habe ich gewartet. Und als dieser Unmensch

stimmt’s? Weil du nie aus seinem Schatten treten konntest, so wie ich

Achill den Leichnam endlich freigab, habe ich ihn sieben Tage und sieben

nicht aus Helenas Schatten. Du hast es nie abkönnen, dass dein Bruder

Nächte lang beweint. Am siebten Tag fand ich dieses kleine Messer bei ihm,

Sparta zum Blühen brachte, während dein Land immer tiefer in die Misere

gut versteckt an seinem Knöchel. Seitdem trage ich es immer am Leib. Bis

rutschte. Das Gefühl, dass diesmal er auf dich angewiesen ist, muss sich

nach Mykene, ja bis in Ihren Palast hat es mich unbemerkt begleitet.

himmlisch anfühlen.

KLYTÄMNESTRA Und du hast ihn damit getötet? Wann? Wie?

AGAMEMNON Es war Selbstmord! Es war Selbstmord, verdammt noch-

KASSANDRA Er wollte fort, Troja verlassen. Irgendwann entdeckte er

mal! Sag es! Sag es endlich! Sie hat sich dafür geopfert, dass wieder Frie-

einen Fischer am Strand, tötete ihn und nahm sein Boot. Doch das Meer

den herrscht in ihrem Land, sie hat die Menschen im Angesicht des Krie-

hatte es ebenso wenig eilig wie ich. Es herrschte Flaute, und so legte er

ges wieder geeint!

sich in das Boot und schlief ein. Ich schlich mich an, stieg zu ihm ins Boot,

KLYTÄMNESTRA Nichts ergibt einen Sinn.

zückte das Messer und rammte es ihm in die Lunge. Ich sah ihn krepieren,

AGAMEMNON Natürlich nicht, wenn das eigene Kind stirbt, aber …

sah ihn zappeln und winseln und röcheln und sich winden und sich an die

KLYTÄMNESTRA Nein, es ergibt keinen Sinn, weil nichts stimmt an dieser

Kehle fassen und Blut spucken und würgen und seine Hände nach mir

Geschichte. Und du weißt es! Sie, die ihrer Familie den Rücken kehrt, sich

ausstrecken und seine Beine in die Luft werfen und seine Rippen sich

auf dieses Ungeheuer einlässt, in den Untergrund geht, anfängt diesen gan-

weiten und ihn sich die Kleider vom Leib reißen und um Gnade flehen und

zen revolutionären Schwachsinn wirklich zu leben – ausgerechnet sie stellt

seine Augen sich verfinstern und den Tod mit einer endgültigen Gewissheit

sich auf einmal hin und erzählt, dass man in den Krieg ziehen soll, für dich,

umarmen. Ich sah ihm zu, Klytämnestra. Die ganze elende Zeit, während

gegen den sie die ganze Zeit gewütet hat wie ein Sommergewitter? Und

er an seinem Blut erstickte. Ich gab ihm den Tod – und mir den Frieden.

schließlich schafft sie sogar das. Sie hat sie alle so weit: Die Männer erklären

Der Rest liegt nun in Ihrer Hand.

sich bereit, für dich zu kämpfen, doch dann … dann springt sie?!

Kassandra legt Klytämnestra das Messer in die Hand und geht.

AGAMEMNON Du suchst einen Sündenbock. Sie hat eingesehen, dass

13 Vor dem Krieg

sie sich geirrt hat. Dass es falsch war, gegen uns vorzugehen, das Volk gegen ihren Vater aufzuhetzen. Wäre sie für ihre Idee nicht gestorben, hätte ihr niemand geglaubt. Erst durch ihren Tod, das wusste sie, konnte

Im Palast. Im Frühling, noch in Erinnerung des Herbstes. Der Nachmittag

sie es bezeugen. Sie ist eine Heldin.

ist vergoren, und der warme Regen trägt einen schwarzen Mantel.

KLYTÄMNESTRA Ein verwirrtes, unsicheres, wütendes Kind, das nach

AGAMEMNON Ich weiß, dass du wütend bist, und dein Schmerz dir maß-

seinem Platz suchte, das war sie.

los erscheint, dass du das Gefühl hast, den Verstand zu verlieren. Aber sie

AGAMEMNON Und auch, wenn es schmerzt: Sie hat ihn gefunden, ihren

hat es so gewollt. Und du musst lernen, das zu akzeptieren. Auch Elektras

Platz, meine ich. Die Menschen verehren sie wie eine Göttin, sie bringen

Zorn wird verklingen, Orest wird seine Sicherheit zurückgewinnen und

ihr Opfergaben dar, kampieren an ihrem Grab, richten ihre Gebete an sie ...

unser Nesthäkchen wachsen und gedeihen. Sieh du nur zu, dass du sie nicht

KLYTÄMNESTRA Mir ist schlecht.

im Stich lässt, damit das Leben der drei nicht klein erscheint verglichen mit

AGAMEMNON Ich muss los. Das Heer steht bereit.

ihrem Tod. Du wirst es schaffen. Und ich komme wieder. Das verspreche

KLYTÄMNESTRA Ich flehe dich an, lass mich nicht in dieser Finsternis

ich dir. Gibst du mir deinen Segen, damit ich siegreich heimkehre?

zurück. Rahme mir nicht meine Qualen ein, zwinge mich nicht, sie Tag für

KLYTÄMNESTRA Ich gebe ihn dir. Aber dafür musst du ihn ausfindig

Tag anzusehen, das gnadenloseste Gemälde, das die Menschheit je erschuf!

machen, in Troja, und ihn töten. Das ist das einzige, worum ich dich bitte.

AGAMEMNON Bei Sonnenaufgang stechen wir in See. Ein Menschen-

AGAMEMNON Es war ihre Entscheidung. Wann siehst du das endlich

meer wird uns vom Strand in Euobeia aus zujubeln. Und wir werden als

ein, Klytämnestra? Nicht einmal er ist schuld an ihrem Tod.

Sieger zurückkehren!

Theater der Zeit 5 / 2025

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Stück Nino Haratischwili KLYTÄMNESTRA Ich bete, dass ihr Gesicht niemals aus deinen Träumen

KLYTÄMNESTRA Meiner würdig? Was für eine entzückende Erklärung

verschwinden, dass ihr Schatten dir den Schlaf rauben, ihre Stimme deine

für eine Katastrophe, die mein Leben im Stücke gerissen hat!

Gedanken verwirren, ihr Geruch deine Hand zum Zittern bringen möge,

AIGISTHOS Antinoos, er hat uns getäuscht, auch mich. Er hat mich er-

noch während du dein Schwert damit führst. Nein, ich gebe dir nicht meinen

presst …

Segen. Im Gegenteil. Ich verfluche dich, Agamemnon! Ich verfluche dich auf

KLYTÄMNESTRA Weißt du, was mich am meisten bestürzt? Das Schwei-

ewig. Und bereue jeden deiner Samen, der in mir Wurzeln geschlagen hat.

gen. Das jahrelange Schweigen. Dass du das überhaupt gekonnt hast. Du,

Du sprichst mir von unseren Kindern, die noch am Leben sind? Ungesche-

der Nacht für Nacht neben mir lag und sich mein Leid anhörte, nein, es

hen machen möchte ich sie alle, noch in mir drin, könnte ich den Sand in den

mit Händen greifen konnte – und trotzdem schwieg. Dabei habe ich es

Uhren nach oben laufen lassen. Den Tag möchte ich aus dem Gedächtnis

gewusst. Ja, ein Teil von mir hat es gewusst. All die Zeit über. Aber gese-

löschen, an dem ihr nach Sparta gekommen seid, du und dein Bruder. Eure

hen habe ich es nicht.

Gesichter, eure Stimmen, eure lockenden Worte, eure Versprechen. Alles

AIGISTHOS Ich flehe dich an, du musst mir zuhören. Ich werde dir alles

tilgen. Alles vergessen. Ich würde dich niemals getroffen, nie ein Wort an

erklären, ich wollte Iphigenie …

dich gerichtet haben, dir nie in dieses götterverhasste Land gefolgt sein. Ich

KLYTÄMNESTRA Nie wieder soll der Name meines Kindes über eure

würde niemals in den Tempel mit dir gegangen sein und dir niemals meine

verfaulten Lippen kommen! Nie mehr!

Treue geschworen haben. Niemals hätte ich deine Lügen als meine Hoffnun-

Sie sticht zu. Mit dem trojanischen Messer, dem Messer des großen Helden,

gen geschluckt. Ich hätte dir niemals geglaubt, auch deine Liebe nicht, die

der zwölf Tage nicht bestattet werden durfte. Immer und immer wieder, bis

schon gar nicht, denn hätte ich gewusst, dass sie mich zermalmen würde.

sie erschöpft über dem Toten zusammensackt. Aber kein Frieden stellt sich

14 Nach dem Krieg

ein. Nicht hier, und nicht jetzt.

15 Nach dem Krieg

Die Wände werden einstürzen. Und die Säcke voller verschimmelter Erwartungen und Wünsche umkippen. Ins Meer. Ins ewige Rauschen.

Die Welt hat sich zu einem Schrei erhoben und übergibt sich. Die Schwer-

Aigisthos im Schlafgemach. Klytämnestra legt sich zu ihm.

mut ist der messerscharfen Klarsicht gewichen. Wie immer ist die passen-

AIGISTHOS Du hier? Aber ist das nicht zu gefährlich? Pause. Wo ist er?

de Farbe dafür: rot.

Agamemnon? Hat dich jemand gesehen?

Die Königin sitzt am Rand der Wanne und der Welt, das kleine Messer des

KLYTÄMNESTRA Du hast so friedlich geschlafen.

griechischen Helden in der Hand. Ihre tote Tochter tritt ein und setzt sich

AIGISTHOS Hast du mit ihm über mich gesprochen? Was hat er zu mei-

ihr gegenüber. Eine ganze Welt zwischen diesen beiden Frauen – und eine

ner Beförderung gesagt? Seit seiner Ankunft hat er noch kein Wort an

Leiche.

mich gerichtet.

KLYTÄMNESTRA Wo bist du all die Zeit gewesen?

KLYTÄMNESTRA Deine Angst vor ihm, sie verjährt wohl nie.

IPHIGENIE Bei dir.

AIGISTHOS Wie meinst du das?

KLYTÄMNESTRA Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht. Verzeih.

KLYTÄMNESTRA Zehn Jahre habe ich in einer verdammten Lüge gelebt.

Ich will nicht die sein, die das getan hat.

Zehn Jahre, in denen ich glaubte, euren Machenschaften entronnen zu

IPHIGENIE Es war der einzige Weg, um das Schicksal zu erfüllen.

sein. Zehn Jahre, in denen du mir falsche Leichen angeschleppt, in denen

KLYTÄMNESTRA Es war der Weg von einer Ausweglosigkeit in die

du mich mit falschen Hoffnungen gefüttert hast, zehn Jahre, in denen ich

nächste. Sie werden die Trojanerin strafen, fürs erste. Danach bin ich an

zu wissen glaubte, welches Ungeheuer mein Kind auf dem Gewissen hat.

der Reihe. Dann deine Geschwister. Sie werden sie zurückholen und auch

Während ich in Wahrheit mitten unter diesen Ungeheuern gelebt habe.

sie für meine Taten büßen lassen. Sie werden Orest Blutrache abverlan-

AIGISTHOS Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst!

gen, damit er zum König gekrönt werden kann.

KLYTÄMNESTRA Warum? Sag mir nur das: Warum? Was hast du dir

IPHIGENIE Kein König mehr. Keine Königin. Denk dran.

davon erhofft? Den Thron? Ernsthaft? Nach allem? Nachdem du schon

KLYTÄMNESTRA Er ist nicht wie sein Vater, er wird daran zerbrechen.

einmal so kolossal gescheitert bist? Nachdem ich dein Leben gerettet

IPHIGENIE Du hast versucht, etwas wieder geradezubiegen. Ich weiß,

habe? Zeigt man so seine Dankbarkeit, Aigisthos?

dass du es versucht hast. Doch die Welt, die man dir hinterlassen hat, ist

AIGISTHOS Ja, du hast mich am Leben gelassen, aber seitdem hat dein

nicht mehr geradezubiegen. Zu krumm und zu verbeult ist sie. Du wolltest

Mann keine Gelegenheit ausgelassen, mich zu erniedrigen und zu demüti-

es mir recht machen, und Vater auch. In diesem Dazwischen kann man

gen. Keine Posten, keine Aufgabe, die er mir noch anvertraut hätte.

nur verrückt werden.

KLYTÄMNESTRA Du inzestuöse Missgeburt! Ich aber, ich habe dir ver-

KLYTÄMNESTRA Ich habe geschwiegen, weil ich dachte, meine Liebe

traut. Mein Mann mag ja nicht in vielem recht gehabt haben, aber in dem

könnte ihn heilen. Von all seinen Alpträumen und Unzulänglichkeiten.

Punkt hätte ich auf ihn hören sollen. Ich hätte dir die Eingeweide rausrei-

Von seiner beschissenen Kindheit. Von seinen kaputten Gelüsten und sei-

ßen sollen, damals, nach deinem lächerlichen Aufstand, wie es sich für

ner Geltungssucht. Was für ein Irrtum!

einen Verräter ziemt. Statt dich in mein Leben zu lassen, und in mein Bett!

IPHIGENIE Man lehrt uns die Liebe als unsere Muttersprache, man sagt

AIGISTHOS Ich habe einen Fehler begangen, ja, ich hatte gehofft, nach-

uns, es sei die universelle Sprache, nur damit wir keine andere lernen.

holen zu können, wovon ich glaubte, dass es mir zustünde. Ich wollte nur

KLYTÄMNESTRA Bist du nicht auch ihretwegen in den Tod gegangen?

eines: ein Mensch sein. Deiner würdig. Aber das war ich nicht, weder das

IPHIGENIE Nein. Nicht deswegen.

eine noch das andere.

KLYTÄMNESTRA Sondern?

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Theater der Zeit 5 / 2025

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IPHIGENIE Ich hatte sie alle verraten, hatte sie als Kanonenfutter auf die Schlachtfelder geschickt. Doch hätte ich es nicht getan, so hätte ich seinen Tod zu verantworten gehabt. Eine Mörderin wäre ich gewesen, so oder so.

Dabei wollte ich besser sein als ihr. Damit leben, dass ich es nicht war, konnte ich nicht.

KLYTÄMNESTRA Und wie soll ich damit leben?

IPHIGENIE Indem du aufhörst, die Landkarte des Hasses auszuweiten.

Dort, wo du den Hass in Leichen verwandelt hast, galt er gar nicht diesen Toten. Er galt deiner Mitwisserschaft.

KLYTÄMNESTRA Ich dachte, der Schmerz würde aufhören, aber er ist da, noch immer. Und ich weiß nicht, was tun. Ohne dich. Zehn Jahre schon, und ich kann ich es noch immer nicht.

IPHIGENIE Das sind nur die Metastasen deiner Angst. Die Steine der Bitterkeit in deinem Magen. Die Kerne deiner Träume, an denen du dich zu verschlucken glaubst.

KLYTÄMNESTRA Geh nicht.

IPHIGENIE Keine Sorge, ich bleibe. Es ist das Schicksal einer Tochter, die Mutter zu beerben. Aber bei uns ist es anders gekommen: Nun bist du es, die mein Erbe weiterträgt. Kein Schicksal mehr, weißt du noch?

KLYTÄMNESTRA Ja, kein Schicksal mehr.

Iphigenie geht. Klytämnestra versucht sie zu umschließen mit all ihrer blutverschmierten Kraft. Aber die Toten kann man nicht halten. Und aufhalten schon gar nicht. In der Zwischenzeit ist Kassandra hereingekommen.

KLYTÄMNESTRA Was willst du hier?

KASSANDRA Ich habe für alles gesorgt. Sie zeigt auf eine kleine Kapsel, die an einer Kette über ihrer Brust baumelt. Ich werde sanft entgleiten.

Und du wirst sagen, du hättest uns so vorgefunden, Aigisthos und mich.

KLYTÄMNESTRA Wie lange, denkst du, wird es dauern? Bis sie es herausfinden? Bis man Orest herbringt und ihn zwingt, seinen Vater zu rächen? Bis dieses verdammte Gemetzel weitergeht?

KASSANDRA Alles geht weiter. Darauf haben wir keinen Einfluss.

KLYTÄMNESTRA Aber nicht für dich, was? Pause. Und? Bist du zufrieden mit deinem Ende? Ich beneide dich.

Kassandra steckt sich die Kapsel in den Mund. Klytämnestra stürzt sich auf sie und beginnt sie wild zu küssen. Kassandra wehrt sich, versucht sich dem Kuss zu entwinden, doch Klytämnestra war schon immer eine, die das Feuer in anderen zu entfachen wusste. Und manche Talente gewinnen mit der Zeit noch an Glanz. Vor allem, wenn es darum geht, mithilfe der Lippen einer Frau den eigenen Tod zu küssen.

KASSANDRA Nein, nein, nein! Gib sie mir zurück! Du kannst die Götter nicht überlisten! Du kannst die Zukunft nicht abwenden! Dieser Tod gehört dir nicht. Spuck ihn wieder aus!

KLYTÄMNESTRA Du und dein verdammtes Schicksal. Du hättest den Baum nur fällen müssen.

KASSANDRA Welchen Baum?

KLYTÄMNESTRA Deinen Schicksalsbaum, von dem der Galgenstrick herabhängt, der dir seit Geburt um den Hals baumelt. Weißt du noch? Du

CALL FOR PROJECTS Ausschreibung für die Spielzeit 2026/27 Bewerbungsschluss: 2. Juni 2025

WAS IST NOPERAS?

Im Rahmen der Förderinitiative »NOperas!« des NRW KULTURsekretariats schließen sich zwei Theater zusammen. Gemeinsam realisieren sie in den Spielzeiten 2026/27 und 27/28 jeweils ein Musiktheater-Projekt, das nach seiner Premiere an dem ersten Theater am nächsten Haus weiterentwickelt wird. Mit einer dem Projekt angepassten Gestaltung von Probezeiten eröffnet »NOperas!« Wege zur kooperativen Stückentwicklung.

AUSSCHREIBUNG

Mit dieser geht die aktuelle Runde »NOperas!« in ihre zweite Spielzeit. Beteiligt sind für 2026/27 erneut das Staatstheater Darmstadt und das Theater Münster. Über die von den Theatern eingebrachten Ressourcen hinaus werden Fördermittel von bis zu 150.000 Euro zur Verfügung gestellt.

WER KANN SICH BEWERBEN?

»NOperas!« folgt einem erweiterten Musiktheaterverständnis. Im Mittelpunkt stehen die Stückentwicklung und das prozessorientierte Arbeiten in mehreren Probenphasen. Bewerben können sich Teams, die gemeinsam das Zusammenspiel von Komposition, Text, Regie und Bühne verantworten. Eine Jury der beteiligten Häuser, des Trägers sowie externer Expert:innen des zeitgenössischen Musiktheaters wählt das zu realisierende Projekt aus.

Die Ausschreibungsfrist endet am 2. Juni 2025. Ausführliche Informationen finden Sie auf www.noperas.de

hast davon erzählt.

KASSANDRA Man kann ihn nicht fällen. Sobald man es tut, wächst er nach.

KLYTÄMNESTRA Dann werde ich ihn ausreißen, samt seiner Wurzeln.

KASSANDRA Tue es nicht. Ohne König, ohne Königin stürzt das Land in den Abgrund.

KLYTÄMNESTRA Eine Klippe mehr, was soll’s.

Theater der Zeit 5 / 2025

»NOperas!« – eine Initiative des Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm) des NRW KULTURsekretariats, aktuell als Kooperation mit dem Theater Münster und dem Staatstheater Darmstadt.

Gefördert durch:

Stück Nino Haratischwili KASSANDRA Du gehst meinem Tod entgegen. Doch was wird aus mir?

KASSANDRA Das kann ich nicht. Dich hier allein lassen.

Willst du, dass sie mich zerfleischen?

KLYTÄMNESTRA Ich habe das Unsentimentale an dir immer gemocht,

KLYTÄMNESTRA Nein. Ich will, dass du in mein Zimmer gehst. In der

also komm mir jetzt nicht so.

großen Truhe neben meinem Bett – die Schlüssel dazu findest du unter

KASSANDRA Du kannst die Zukunft nicht umschreiben. Dein Sohn

meinem Kissen – sind zwei Listen und ein Umschlag: Auf einer Liste ste-

wird König sein. Und alles von vorn beginnen.

hen die Namen der treuesten Anhänger meiner Tochter. Du wirst sie aus-

KLYTÄMNESTRA Soll er König sein, aber wenigstens nicht der Mörder

findig machen. Als der Krieg ausbrach, haben sie in Theben Unterschlupf

seiner Mutter.

gesucht. Die Zweite enthält alle Reformen, die meine Tochter angestrebt

KASSANDRA Das ändert nicht, was ich gesehen habe.

hat. Händige sie diesen Leuten aus. In dem Umschlag befinden sich die

KLYTÄMNESTRA Aber es ändert, was du weißt.

Verträge, die Agamemnon mit seinen Archonten geschlossen hat, die Be-

KASSANDRA Man kann den Tod nicht in Raten zahlen, Klytämnestra.

weise, auf die die Bewegung so lange wartet. Dir werden sie glauben, mehr

Ich war an der Reihe, nicht du.

noch als meiner Tochter, ich weiß es. Denn du bist eine von ihnen, eine

KLYTÄMNESTRA Hier irrst du, Seherin. Wenn man für andere sterben

Unterdrückte, eine Sklavin. Aber du musst Mykene verlassen, bevor es

kann, warum dann nicht auch für andere leben?

hell wird. Nimm dir aus der Schatzkammer, was du für die Reise brauchst.

Kassandra zögert, wendet sich zum Gehen, dreht sich nochmal um. Sie hat

Ich habe sie für dich aufgeschlossen. Das ist das Ende, das du gesucht hast!

die Gegenwart anders vorausgesehen. Sie zweifelt, sie spürt, dass der Baum

KASSANDRA Nichts von alldem werde ich tun! Das sind nur Wahnvor-

umgekippt, sie selbst aber noch am Leben ist. Und so bricht die Ungewiss-

stellungen, Halluzinationen. Das ist nur das Gift, das zu wirken beginnt.

heit über ihr herein und lässt sie vor lauter Atemlosigkeit rennen – nach

KLYTÄMNESTRA Merkst du, wie sich die Schlinge um deinen Hals lo-

Theben, in eine andere, ungeschriebene Zukunft.

ckert? Du bist es mir schuldig.

Iphigenie kehrt zurück. Sie kniet vor ihrer Mutter. Nun kann sie sie be-

KASSANDRA Was ist bloß in dich gefahren? Du glaubst selbst nicht an

rühren, endlich kann sie ihr mit der Hand übers alte, befriedete Gesicht

das Märchen von einer neuen Welt.

fahren, ist ihre Mutter doch ebenfalls zu einem Schatten geworden.

KLYTÄMNESTRA Ich bin der alten einfach überdrüssig. Sie ist zu krumm und verbeult. Geh jetzt! Und sieh zu, dass dich niemand bemerkt!

– FIN –

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Die Kleiststadt Frankfurt (Oder), das Kleist Forum und die Dramaturgische Gesellschaft vergeben im Jahr 2026 zum 31. Mal den KleistFörderpreis für neue Dramatik.

Bewerben können sich Autor:innen, die zum Zeitpunkt des Einsendeschlusses am 31. August 2025 bislang nicht mehr als einen Text zur Uraufführung gebracht haben, mit deutschsprachigen, originalen Texten, die zur Uraufführung noch frei sind.

Der Preis ist mit 10.000 € dotiert und mit einer Uraufführungsgarantie am Badischen Staatstheater Karlsruhe verbunden.

Bewerbungsverfahren: kleistförderpreis.de

Theater der Zeit

Foto TASU

Diskurs & Analyse

„Die wahre Geschichte des Ah Q“ von Ma Wenqi nach Lu Xun in der Regie von Li Jianjun. Gastspiel NEW YOUTH GROUP beim Heidelberger Stückemarkt

Laudatio Der Verlag Theater der Zeit erhält den Kurt-Wolff-Preis 2025 Serie ­Drama­­turgie der Zeitenwende: Anica Happich „Thüringer Befund“ Heidelberg Neue ­chinesische Dramatik beim Heidelberger Stückemarkt Bericht Hannah Helbig und Christian Feras Kaddoura in Performances von der Arbeit als Hospitantin und Regieassistent

Theater der Zeit 5 / 2025

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Diskurs & Analyse Kurt-Wolff-Preis 2025

Laudatio zum Kurt-Wolff-Preis 2025 an den Verlag Theater der Zeit Von Friedrich Dieckmann

Laudator Friedrich Dieckmann (oben), Katharina E. Meyer von der Kurt Wolff Stiftung,Verlagsgründer Harald Müller, Paul Tischler von Theater der Zeit und Kultur­staats­ministerin Claudia Roth auf der Leipziger Buchmesse am 28. März

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Preiswürdige Verleger Die Preisträger der Kurt-Wolff-Stiftung, die wir aus Achtung vor der Amtlichen Deutschen Rechtschreibung unbedingt mit zwei Bindestrichen schreiben wollen, zeigen uns einen wichtigen Ausschnitt aus der Vielzahl heute tätiger Unternehmen, die zumeist auf einem hohen Grad von Selbstausbeutung ihrer Inhaber und Mitarbeiter beruhen. Zwei neue Namen finden sich vom heutigen Tag an auf dem Ruhmesblatt einer Stiftung, deren Bedeutung wir nicht hoch genug schätzen können (ich vermeide das tautologische Modewort wertschätzen); neben vielen andern Aktivitäten richtet sie den Blick der Öffentlichkeit auf die Existenz dieses unersetzlichen Elements unseres vielfach bedrohten Kulturlebens.

Wir müssen diese Bedrohung an dieser Stelle nicht näher ausführen; der „Kulturschwund der unheimlichsten Art“, den Thomas Mann am Ende seiner Schillerrede von 1955 diagnostizierte, droht uns heute durch die Entwertung des Buches vermöge des Vordringens elektronischer Medien, die wie eine vielköpfige Krake jahrhundertealte Formen und Elemente geistig-künstlerischen Lebens aufzusaugen am Werk sind, eine Entsinnlichung und Entindividualisierung des Lesens befördernd, die auf einen homo novus als Manipulationsobjekt algorithmischer Despotien zielt. Sich dem entgegenzustemmen ist eine Aufgabe, die von all denen, die auf eigene Faust und Rechnung schöne und wertvolle Bücher in die Welt senden, in besonderem Maß angenommen wird, mit jener Nachhaltigkeit, die sich an das Buch als den eigenartig-schönen, handlich-vielseitigen Gegenstand heftet, der, wenn es gut geht (und das tut es hier häufiger als andernorts), von Einband und Vorsatzpapier über Schriftgestalt, Satzspiegel

Theater der Zeit 5 / 2025

Fotos Theater der Zeit

Ruhm den Kleinen!

Was wäre die deutsche Literatur ohne die kleinen, wagemutigen Verlage, die so viele Erstdrucke nachmals berühmter Werke in die Welt gesetzt haben, häufig anonym, um sich selbst und den Autor nicht zu gefährden, manchmal mit imaginierten Namen und Druckorten? In der Weygandschen Buchhandlung erschien 1774 der Erstdruck von „Werthers Leiden“, und der Verleger hatte nichts davon, als sich, von Rechtsverhältnissen unbehelligt, die Nachdrucker zuhauf auf den exzeptionellen Text stürzten. Wer kennt noch die Eichenbergischen Erben, bei denen im gleichen Jahr die zweite Auflage des „Götz von Berlichingen“ erschien; der Erstdruck hatte nicht nur den Verlag, sondern auch den Autor verschwiegen. Novalis’ Schriften kamen 1802 in der Berliner „Buchhandlung der Realschule“ heraus, und 1835 verlegte J. D. Sauerländer Büchners „Dantons Tod“ in so wenigen Exemplaren, daß eines davon heute 4500 Euro kostet. Aber das Stück war in der Welt, keine Erbin konnte es mehr verbrennen. Was wäre aus Nietzsche geworden, wenn nicht der Leipziger Kleinverleger Fritzsch Geld und Mut an den exzentrischen Weltbetrachter gesetzt hätte? So könnten wir fortfahren und würden begreifen, daß bis heute die Entdeckerlust und Risikobereitschaft kleiner, auf der Initiative wagemutiger Literaturfreunde beruhender Verlage ein Netz über Deutschland spannen, ohne dessen stille Tragfähigkeit das, was wir Literaturgesellschaft und literarisches Leben nennen, längst zusammengebrochen wäre.

Diskurs & Analyse Kurt-Wolff-Preis 2025 und Durchschuß bis zu jener Fadenheftung geht, die die Leselust vollkommen macht. Die Verlage, die wir heute ins Auge fassen, wissen um die Bedeutung aller dieser Elemente.

Mit den Verlagen sind die Verleger preiswürdig, die sich uns in einer je eigenen Doppelgestalt präsentieren: Doppelgestalt eines Ehepaars im einen Fall und Doppelgestalt zweier Generationen, des Gründers und seines Nachfolgers, im andern. Wie wird man Verleger? Im Fall von Angelika und Bernd Erhard Fischer ist das schnell aufgeklärt: durch das Versagen eines bestehenden Verlags, der ein aufgrund mündlicher Zusagen ins Werk gesetztes Buchvorhaben im letzten Moment absagte. Es sollte in Bild und Text Dichter in ihren Wohnhäusern porträtieren, ein naheliegendes, aber noch nie umfassend in Angriff genommenes Projekt. Angelika Fischer als Fotografin und ihr Mann als Autor hatten sich lebhaft ins Zeug gelegt; sie hatten das Brecht-Haus in Buckow, das Hauptmann-Haus auf Hiddensee und das EhmWelk-Haus in Bad Doberan ins Visier genommen und gedachten nicht, es damit genug sein zu lassen: Thomas Mann in Nidden, Hans Fallada in Carwitz, Anna Seghers in Berlin-Adlershof, Karl May in Radebeul und Ernst Jünger in Wilflingen sollten dazu kommen. Frau Fischer hatte viele Jahre als Werbe- und Industriefotografin gearbeitet, während ihr Mann als Buchgestalter tätig gewesen war; die neue Aufgabe war ihnen eine Herzensangelegenheit, auch weil sie ihre Interessen und Fähigkeiten dabei vereinigen konnten.

Längst haben die Fischzüge der beiden Verleger die Grenzen des deutschen Sprachraums überstiegen, und mit Hilfe eines englischen Autors war bei den Heften „Virginia Woolf in Rodhill“ ein besonderes Glanzstück geworden. Auch das Buchprogramm griff über den deutschen Sprachraum hinaus; zu den Erzählungen der Berliner Autorin Roswitha Schieb kamen Wiederentdeckungen im Bereich der skandinavischen Literatur; Bernd Fischer selbst faßte das Vietnam von heute ins Auge. Dazu ein Schillerroman von Jürgen Hultenreich, eine Eckermann-Erkundung von Bernd Dietzel – aus den Heften mit dem umklebten Etikett ist im Lauf der Jahre ein staunenswert umfangreiches Programm geworden, dessen Initiatoren, Organisatoren und Urheber aus einem kleinen Haus in Lichterfelde den Horizont ihrer Leser nach vielen Himmelsrichtungen erweitern.

TdZ-Geschichte Auf andere Weise tut dies ein Verlag, der seinerseits notgeboren war und aus kleinen, wie improvisatorischen Anfängen über einen Zeitraum von fast dreißig Jahren zu der Dimension aufwuchs, in der er sich heute darstellt. Am Anfang stand auch hier eine Heftreihe, in Gestalt einer Zeitschrift, die 1946 in einem Berliner Theater-Verlag ans Licht trat. Sein Gründer, der mit der alten Volksbühnenbewegung verbundene Bruno Henschel, eignete ihn sechs Jahre später der Partei zu, der er angehörte, der Haupt- und Staatspartei eines Landes, dessen Verlagspolitik darauf gerichtet war, thematische Schwerpunkte verlegerisch zu konzentrieren, ja zu monopolisieren, ein Verfahren, das die Profitabilität dieser Verlage nachhaltig sicherte. So gedieh der Henschelverlag mit an-

Theater der Zeit 5 / 2025

Eine Neu- und Wiedergründung unter dem alten Namen und mit einem einzigen materiellen Rückhalt: der Abonnentenkartei.

geschlossenem Bühnenvertrieb und mehreren Zeitschriften zum einzigen Theaterverlag des Landes.

Mit dem Umbruch der ökonomischen Rahmenbedingungen wurde seine Zeitschrift Theater der Zeit nach 1990 in eine Krise gestürzt, die durch eine grundlegende Neugestaltung nur vorübergehend aufgehalten wurde. Bis zum Januar 1992 konnte eine Redaktion, an deren Spitze die Belegschaft den hochbewährten Martin Linzer wählte, ihre Arbeit fortsetzen; dann waren alle Hilfsquellen versiegt, das Ende der Zeitschrift schien unabwendbar. Ich war ihr seit dem Jahr 1964 in freier Mitarbeit als Opernund Theaterkritiker verbunden gewesen und hatte im Lauf eines Vierteljahrhunderts die verschiedensten Chefredakteure, förderliche und unförderliche, mutige und unmutige erlebt, zugleich unter Redakteuren und Redakteurinnen freundschaftlich verbundene Kollegen gefunden. Sie hatten nach dem Sturz der parteihörigen Leitung großartige Hefte herausgebracht – und damit sollte es auf einmal vorbei sein? Ein Retter stellte sich ein, er hieß Harald Müller und hatte eigentlich einen Literaturverlag gründen wollen. Das jähe Verschwinden von Theater der Zeit ließ ihn umdenken, der sanguinische Tatmensch sann auf eine Neu- und Wiedergründung unter dem alten Namen und mit einem einzigen materiellen Rückhalt: der Abonnentenkartei; den Titel der Zeitschrift hatte er der Treuhand genannten Anstalt für einen Betrag, den er sich hatte leihen müssen, abkaufen können. Die rechtliche Basis gab eine Interessengemeinschaft Theater der Zeit als Trägerin einer Gründung, deren Geschäftsführer Harald Müller und deren Herausgeber Martin Linzer hieß, mit einem Beirat, der aus dem im Westen verwurzelten und durch Interviews mit Heiner Müller bekannt gewordenen Frank A. Raddatz und mir bestand, der ich seit 1990 von Bucharbeiten zu einer vielseitigen publizistischen Tätigkeit übergegangen war.

Ich sehe uns noch Ende 1993 in meiner Treptower Wohnung über die Probebogen des von dem Buch- und Werbegraphiker Rudolf Grüttner in verkleinertem Format und strengem SchwarzWeiß gehaltene erste Heft der Neuedition gebeugt, die als Zweimonatsschrift von 96 Seiten zum Preis von 12 DM startete, mit Texten unter anderen von Peter Brook, Heiner Müller und Frank Hörnigk, Literaturprofessor an der Humboldt-Universität und seinerseits ein Geburtshelfer der Neugründung. Den Rücktitel des Heftes zierte zur Gänze eine Werbeanzeige des Theaters Oberhausen. Nicht nur die Theater des östlichen Deutschlands waren an der Fortexistenz einer Zeitschrift interessiert, die eine Alternative zu Theater heute bildete, der auf der Grundlage einer finanzstarken Stiftung im westlichen Berlin herausgegebenen Monatsschrift, die in Westdeutschland fast eine Monopolstellung innehatte.

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Diskurs & Analyse Kurt-Wolff-Preis 2025 Unterdes gedieh der Verlag durch die Etablierung weiterer Buchreihen, die vielfältige Bedürfnisse befriedigten und dies bis heute tun.

Es war ein langer, an Wandlungen und Standorten reicher Weg von diesen ersten Heften einer versuchten Wiedergeburt zu dem heutigen Erscheinungsbild einer achtzig Seiten starken, auf Hochglanzpapier gedruckten Zeitschrift mit zahlreichen farbigen Abbildungen; mit 10,50 Euro kann sie für überaus preiswert gelten. Im zweiten Jahr der Neugründung interessierte sich ein westdeutscher Verlag für die Trägerschaft des finanziell ganz ungesicherten Unternehmens und ließ bald wieder davon ab; durch die von Harald Müller rastlos ins Werk gesetzte Schaltung kleiner und großer Spielplananzeigen unterstützten die deutschen Theater in Ost und West die Existenz der Zeitschrift. Der Übergang zum monatlichen Erscheinen war im Januar 2000 ein Zeichen wachsender Stabilisierung; als besonders erfolgreich erwies sich die Herausgabe von Doppelheften, mit denen die Redaktion, die längst eine gesamtdeutsche war, mit Herkünften aus allen Himmelsrichtungen des disparat vereinigten Vaterlandes, für ihre Abonnenten die Sommerpause überbrückte.

Unikum im deutschen Buchwesen Das erste dieser Arbeitsbücher erschien im Sommer 1996 und trug den gedichtentnommenen Namen „Kalkfell“; es war ein stimmenreicher Nachruf auf den im Januar dieses Jahres verstorbenen Heiner Müller, dessen Begräbnis zu einem nicht enden wollenden Trauerzug vom Berliner Ensemble zum Dorotheenstädtischen Friedhof geführt hatte. Ein Theaterland trauerte um einen Dichter, der sich, von einer denunziantisch gefütterten Presse behelligt, in der mit drei andern geteilten Direktion des Berliner Ensembles aufgerieben hatte. Das von einem achtköpfigen Herausgeberteam betreute Heft war ein Meisterwerk, das den Leser auch heute noch in seinen Bann zieht; auf vielen Wegen brachte es einen Theatermann in Sicht, dessen radikale Skepsis betreffs der Zukunftsaussichten der sich so siegesgewiß gebenden transatlantischen Zivilisation sich seither realdramatisch bestätigt hat.

Was den Apologeten eines schrankenlosen Kapitalismus damals als „Ende der Geschichte“ erschien, hat sich im neuen Jahrhundert, das mit einem islamistischen Großangriff auf die Zitadelle der Neuen Welt begann, als ein ideologisches Wunschgebilde wie der vorauseilende Sozialismus herausgestellt, der nur die schwächere Variante einer von Grund auf verfehlten Wirtschaftsweise war. Sie katastrophenfrei zu revidieren wäre die Aufgabe, der ein neues Theater, eine neue Kultur vorzuarbeiten hätte, aber es handelt sich um eine Menschheitsaufgabe, und die Menschheit ist ein nach Lebens- und Bewußtseinslagen allzu differentes Plurale tantum, um handlungsfähig zu ein. Auch Heiner Müller wußte

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keinen Rat außer dem Versuch, das Selbstbewußtsein der Akteure zu erschüttern; die aber gingen ohnehin nicht gern ins Theater.

Die große Nachfrage, die „Kalkfell“ auslöste, war der starting point dessen, was sich seither als Buchverlag Theater der Zeit darstellt. Den sommerlichen Arbeitsbüchern gesellte sich 1998 eine broschierte Buchreihe namens Recherchen, die es bis heute auf 174 Bände gebracht hat, das sind im Mittel sieben pro Jahr.

An ihrem Anfang standen Analysen und Kommentare zu Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“, das 1930 das tödliche Inbild kommunistischer Parteigebundenheit offengelegt hatte; Nummer 2 lenkte den Blick auf das Theater der zu Ende gehenden neunziger Jahre; Nummer 3, herausgegeben von dem Berliner Dramaturgen Maik Hamburger, versammelte ausgewählte Texte von Adolf Dresen, dem eminenten Regisseur, der bis 1977 am Deutschen Theater gearbeitet hatte, um dann sein Glück und Unglück in Wien und Frankfurt am Main zu suchen: „Wieviel Freiheit braucht die Kunst?“ lautete der vielversprechende Titel. Nummer 10, eine Gemeinschaftsproduktion mit dem Literaturforum im Brecht-Haus, war „Die Freiheit ein Augenblick“ überschrieben und enthielt Texte von mir „aus drei Jahrzehnten“. Damals wie heute findet hier auf hohem Niveau nahezu alles Raum, was Theaterleute – Produzenten und Zuschauer – wissen wollen, und blickt man auf jüngst erschienene Bände, so stößt man auf die von Heiner Goebbels ergründete „Ästhetik der Abwesenheit“ und die Rahmenbedingungen des deutschen Kindermusiktheaters, auf Tragelehns „Roter Stern in den Wolken“, „Die Sorge um das Offene“ von Julius Heinicke und vieles andere mehr.

Bis weit in das neue Jahrhundert wurde der Verlag, ein Unikum im deutschen Buchwesen, von der genannten Interessen­ gemeinschaft herausgegeben. Das änderte sich 2011, als der Verein, auch aus steuerlichen Gründen, ihre Rechte an die neu gegründetete Theater der Zeit GmbH übertrug. Innerhalb von 15 Jahren hatte sich über jene Recherchen hinaus eine Buchproduktion entwickelt, bei der dem Geschäftsführer ein ihm auch familiär verbundener junger Mann zur Seite stand, der, 1981 geboren, als Student geistes- und kunstwissenschaftliche Interessen mit dem Erwerb wirtschaftlicher Kenntnisse verband, individueller Vorgriff auf ein Fach, das später als Kulturmanagement eigenständig wurde. Während Paul Tischler, so hieß der begabte Novize, sich immer mehr in operative Aufgaben des Verlags einarbeitete, übernahm der Verleger eines Tages die Chefredaktion der Zeitschrift, sich einer Doppelbeanspruchung aussetzend, die glücklicherweise nicht lange anhielt. Unterdes gedieh der Verlag durch die Etablierung weiterer Buchreihen, die vielfältige Bedürfnisse befriedigten und dies bis heute tun. Backstage nennt sich eine Reihe, in der Protagonisten des deutschen Theaters sich in Gesprächen und Interviews darstellen: Armin Petras oder Charly Hübner, Vera Tscheplanowa oder Burghart Klaußner. Unter der Rubrik Wendungen findet man geistsprühende Bücher, in denen Essayisten wie Bernd Stegemann, Frank A. Raddatz oder Wolfgang Engler kritische Blicke auf Kunst und Gesellschaft werfen; eine Reihe, die gut französisch Scène heißt, publiziert fortlaufend neue französische Theaterstücke. Damit andere Länder nicht zu kurz kommen, gibt es unter dem Reihentitel Dialog Theaterstücke aus

Theater der Zeit 5 / 2025

Diskurs & Analyse Kurt-Wolff-Preis 2025 Brasilien und Kuba und vieles andere zu lesen. Von besonderer Bedeutung sind die nobel gedruckten Lektionen, eine Reihe von Orientierungsbüchern nicht zuletzt für Studenten aller aufs Theater bezogenen Fächer, sei es Kostümbild, Schauspielen, Theaterpädagogik, Regie oder Dramaturgie. Dem Begriff des Lehrbuchs haftet nach Form und Inhalt leicht etwas Trockenes an – nicht hier, wo etwa zum Thema Dramaturgie Bernd Stegemann, der auch als Gesellschaftsanalytiker bekannte Autor, die Epochen des europäischen Theaters seit der Antike in exemplarischen Texten vorstellt. Wollen Sie wissen, wie Stegemann diese Epochen definiert? Es würde zu weit führen, Sie müssen dieses wunderbar gedruckte Buch schon erwerben!

Außer der Reihe, aber gewissermaßen eine eigene Reihe bildend stehen die großen Bild-Text-Bände, entstanden in Kooperation mit deutschen und außerdeutschen Bühnen, die sich Erfahrung und Perfektion der Verlagsmitarbeiter in Lektorat, Gestaltung und Herstellung für die Dokumentation ihrer Arbeit zunutze machen. Theater ist die intensivste, aber auch die flüchtigste aller Kunstformen; sie bedarf der Haltekräfte des Buches, um sich den Zeitgenossen dauerhaft einzuprägen und die Nachwelt zu erreichen. Diese Bände geben Auskunft über die Arbeit bestimmter Ensembles und Intendanten, aber auch ganzer Theater wie der Passionsfestspiele von Oberammergau, der Burgfestspiele Jagsthausen oder des Dresdner Schauspielhauses, das sein 100-jähriges Jubiläum mit einem monumentalen Band feierte. Das Schau-

spielhaus Zürich, das kürzlich mit einem graphisch offensiven Spielzeitband auf sich aufmerksam machte, und das Chemnitzer Schauspiel, die Hamburger Kampnagelfabrik und das Hamburger Thalia-Theater – sie alle und noch manch andere vertrauen ihre Arbeitsberichte dem Verlag Theater der Zeit an, dessen alter, bald achtzig Jahre umfassender Name seinen Gegenwartsbezug markanter denn je einlöst.

Ich muß vor diesem Publikum aus Kennern und Fachleuten nicht ausführen, welch hohes Maß an Koordination und Organisation, finanzieller Versiertheit und intellektuellem Überblick alles dies erfordert. In der Person Paul Tischlers hat seit kurzem die junge Generation, inzwischen in die Jahre gekommen, die Gesamtleitung eines Unternehmens in ihre Hände genommen, und der Kurt-Wolff-Preis ist wie das i-Tüpfelchen auf dieser Wachablösung; er würdigt ein Teamwork, das nun in eine neue Epoche eintritt. Zwei Verlagen gilt es zu diesem Preis zu gratulieren und ich bin sicher, daß Sie alle in die guten Wünsche einstimmen, die deren künftige, durch eine hilfreiche Summe gestärkte Arbeit begleiten. „Ad multos annos“ sei Angelika und Bernd Fischer, Harald Müller und Paul Tischler und allen ihren Mitarbeitern aus solennem Anlaß zugerufen!

Laudatio zur Verleihung Kurt-Wolff-Preises an den Verlag Theater der Zeit sowie des Kurt-Wolff-Förderpreises an A . B .

Fischer gehalten am 28. März 2025 auf der Leipziger Buchmesse, hier leicht gekürzt. T

fft-duesseldorf.de

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MAI 2025 – MAI 2026

AUFTAKT 18.5.

Die Argonause wird gefördert im Programm Zero – Klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte der Kulturstiftung des Bundes. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Das FFT wird gefördert durch die Landeshauptstadt Düsseldorf und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

PERFORMANCE

PROGRAMM ZERO Klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte

Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #08 Ich arbeite seit fünf Jahren in Thüringen. Erfurt ist die einzige Landeshauptstadt, die kein eigenes Schauspiel- und Tanzensemble mehr hat. Die Idee der Fusionierung der Schauspiel- und Tanzsparte mit dem Nationaltheater Weimar als spätere Folge der politischen Umbrüche 1989 scheiterte. Entsprechend dieser emotionalen und kulturellen Lücke wurde nicht nur ein gesamter Kulturort samt Sparten geschlossen, sondern ein Publikum sich selbst über-, ja, sogar zurückgelassen. Diese kulturpolitische Entscheidung vor nun über 20 Jahren hat emotionale Wunden bei den Einwohner:innen Erfurts hinterlassen. So steht auf der Wand im Eingangsbereich zur großen Bühne geschrieben: „Heute fehlt der Stadt ein entschiedenes Profil, nämlich das Schauspiel. Nicht nur als Haus.“ Das ehemalige Alte Schauspielhaus ist ein architektonisches Mahnmal gegen den Kulturabbau.

Doch mit diesem Denkmal zeigen sich die Erfurter:innen nicht einverstanden und beweisen 2019, wie die Zivilgesellschaft einem Kulturort seine Würde zurückgibt. Es wurde eine Kultur­ genossenschaft (KulturQuartier Schauspielhaus) gegründet, die in kurzer Zeit Genossenschaftsanteile im Wert von einer Millionen Euro verzeichnet und damit das Gebäude der Stadt abkaufte. Die Bürger:innen der Stadt nutzen die Idee der Allmende und kaufen bis heute Anteile im Wert von 1000 Euro. Auf diesem emotionalen Humus baut das PHOENIX Theaterfestival auf und schafft gemeinsam mit den Partner:innen des KulturQuartiers sowie den zahlreichen Engagierten eine positive Neuerzählung: Verlassene Kulturorte werden aus bürgerschaftlichem Engagement wieder aufgebaut.

Thüringer Befund Vom Wenden der Not in einer Zeit ohne Antworten Von Anica Happich

Anica Happich, geboren 1989 in Magdeburg, wurde in Frankfurt am Main als Schauspielerin ausgebildet und engagiert sich vor allem für Theater in der schauspiellosen Landeshauptstadt Erfurt.

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Suche nach dem Publikum der Zukunft Doch auch hier merken wir 2023 nach drei Jahren Arbeit: ­PHOENIX ist auf der Suche nach einem verlassenen Publikum, einem Publikum, das komplett neu aufgebaut werden muss, einem Publikum der Zukunft. Es geht darum, für das zeitgenössische Schauspiel (wieder) Zuschauer:innen zu gewinnen und zugleich ein Programm anzubieten, das für die Stadt und ihre Bewohner:innen relevant ist. Doch selbst im morbiden Charme des verlassenen Schauspielhauses konstatieren wir, dass wir mit unseren Mitteln und Ansätzen erneut ein kulturinteressiertes ­Publikum erreichen. Wir können sehen und evaluieren, wer über die Schwelle des denkmalgeschützten Gebäudes tritt und wer fehlt. Also s­uchen die Dramaturgin und Theatermacherin Maren Barnikow und ich 2023 im Rahmen des Forschungsauftrags ­Artist Lab, beauftragt durch den Bundesförderer Fonds Darstellende Künste, nach den „Publika“ der Zukunft in den Stadtgebieten Erfurts und im ländlichen Raum Thüringens. Mit einer Umfrage und einer Pop-up-Kuration wollten wir herausfinden, wie wir neues Publikum für unsere Theatervorstellungen gewinnen können. Falsche Frage. Das weiß ich heute. Denn die Bewegung ist eine andere und viel simpler. Nämlich diese hier: „Warum soll ich zu euch kommen? Kommt ihr doch zu uns!“, sagt eine langjährige Bewohnerin des Erfurter Rieths während unserer engagierten Umfrage ganz trocken zu uns.

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Foto Simon Hegenberg

Anica Happich, Künstlerische Leitung vom PHOENIX Theaterfestival und den Plattenstufen-Festspielen in Erfurt

Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #08 Schauplatz: Erfurt Rieth, Thüringen Steckt darin eine Abgrenzung, ein Vorwurf, eine Entfremdung von Kulturarbeitenden? Ihr Künstler:innen in euren Theaterhäusern, in eurer Bubble?! Und wir Menschen?! Unser Leben ist hier. Neubaugebiet Rieth. Alltag Platte! Oder steckt darin eine Botschaft und ein Wunsch: Kommt doch bitte her und bereichert das Quartier mit Kultur. Ich werde darauf nicht antworten. In diesem Quartier leben ca. 7000 Menschen, die 7000 unterschiedliche Antworten hätten.

Die Plattenstufen-Festspiele: RAUS RAUS RAUS Was wir aber getan haben, ist das: Wir haben das PHOENIX Theaterfestival 2024 ins Quartier verlegt. Wir haben uns hingewendet und mit dem Stadtteilbüro Rieth und den Menschen im Quartier konkret zusammengearbeitet. Entstanden sind die mit dem Zukunftspreis der kulturpolitischen Gesellschaft ausgezeichneten Plattenstufen-Festspiele. Der Titel der Festspiele kommt von den Bewohnenden aus dem Rieth und spielt an auf die im Sommer stattfindenden Domstufen-Festspiele im Zentrum der Stadt. Die Botschaft: Wir haben eine 360°-Platten-Arena; hier sind unser Lebensort und unsere Heimat im Rieth. Wir spielen Open-Air und nutzen den zentralen und einzigen Begegnungsort, den Platz der Völkerfreundschaft. In den Gesprächen, was wir denn spielen sollten, kam immer wieder diese eine Antwort: „Ihr seid Künstler. Ihr seid die Experten. Ein Musical, ein Theaterstück wäre schön, aber inhaltlich überlassen wir das euch. Hauptsache es passiert was!“

Künstlerische Haltung als Intervention Die sich rasant ändernden Prämissen, wie wir Theater heute noch denken können, um sozial anzudocken, benötigen die Suche im Außen und nicht im Innen. Wenn wir das Theater in eine Wende führen wollen, dann in eine aktive und radikale Zuwendung. Wir müssen das Theater den Menschen antun!

Direkte, nahbare Stücke mit hohem künstlerischen Anspruch erfordern eine kuratorische Balance, die nicht immer leicht zu finden ist. Sich zum Publikum hinwenden, nicht abwenden ist das Gebot der Stunde! Ziel im öffentlichen Raum ist ein Spektakel, bei dem das Zusammenkommen im Vordergrund steht. Es können durch die begrenzte Ereignishaftigkeit Orte erschaffen werden, „die nicht im Modus der Ewigkeit, sondern in dem des Festes mit der Zeit verbunden sind: nicht ewigkeitsorientierte, sondern zeitweilige“1 Zusammenkünfte. Alltagsorte werden so zu poetischen Bezugsräumen und in neue kommunikative Zusammenhänge gebracht. Die Kunst bewegt sich auf die Menschen zu und erreicht auch die, die sonst selten Berührung mit ihr haben oder sich bewusst von ihr und uns abwenden. Theater hat eine Bedeutung, wenn Menschen für- und voreinander auftreten. Diese radikale Theatersprache und Haltung finde ich im Kollektiv 1 Michel Foucault: Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge.

Suhrkamp, Berlin 2013, S. 16.

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des Rumpel Pumpel Theaters. Ein Kollektiv, welches aus Stadttheaterschauspieler:innen mit Theatersozialisation am Staatstheater Oldenburg und am Theater Bochum besteht. Ihr Handwerk und ihre Virtuosität entfalten eine Sogwirkung, die auch die Jungs von nebenan, die eigentlich gerade eine Mountainbike-Tour machen wollten, eine Stunde lang mit Fahrrädern in den Händen verweilen lassen. Oder die Musiktheaterkombi glanz&krawall, die ihr Musiktheater mit überzeugter Konsequenz auf die Orte aus- und zurichtet, an denen sie spielt. Ihre künstlerisch-ästhetische Position ist das intendierte Unterlaufen tradierter Sehgewohnheiten und Gefälligkeiten. Die kreative Sprengkraft, die sich hinter einer unkonventionellen Haltung verbirgt, gerät zur em­ powernden Intervention in einer Landschaft aus Beton, die selten glänzt und oft krawallt. Beharrlich „da“ hingegen, trotz ständiger Anfeindungen im thüringischen Raum, die Künstlerin Anna Barth mit ihrer e-mobilen Bibliothek und Ausstellung, der MOTHEK. Oder der Meckerchor, initiiert von der Theatermacherin Anna Stiede, der mit seiner performativen Kraft das Schimpfen nicht populistischen Meinungsmacher:innen überlässt. Hier wird das Meckern nicht delegiert, hier wird das ostdeutsche Schimpfen als Meinungskundgabe und eine noch zu DDR-Zeiten entstandene subversive Praxis der Vertrauenssuche genutzt zum kollektiv reinigenden Dampfablassen. Diese Hinwendung ruft: All hands on deck. Jede:r spielt mit. Jede:r spielt eine Rolle.

Kunst und Demokratie Nur gut, dass die Finanzierung der institutionell geförderten Theater und Orchester im Land Thüringen für die Finanzierungsperiode 2025 bis 2032 gesichert ist. Die Freien Darstellenden Künste in Thüringen hingegen wissen nicht, was nächstes Jahr ist. Ich sehe auch hier die Notwendigkeit einer Hinwendung und Chancen zwischen beiden Akteur:innen. Eine starke Demokratie und die Freiheit der Kunst bedingen sich gegenseitig und wirken in ihrer gelebten Praxis. Am Ende kommt es drauf an, was wir jetzt tun, jede:r Einzelne von uns. Es braucht die Anwesenheit selbstbewusster, multiperspektivischer und ästhetisch vielschichtiger Positionen im öffentlichen Raum. Wir brauchen Stoffe und Wagnisse, die zu denken geben, zur Diskussion anstiften und provokant und lustvoll Routinen unterbrechen. Und wir brauchen selbstbewusste und starke Künstler:innen, die die Energie haben, den öffentlichen Raum unbequem und liebevoll verstörend zu bespielen und damit erweiternde Perspektiven zu eröffnen und sich rigoros zuzuwenden, hinzuwenden und ganz pragmatisch zu gestalten. In Zeiten, deren rastlose Wenden uns täglich treiben, ist der Kompass klar: Wir sind da, wo ihr seid. T

Weitere Texte zur Serie Dramaturgie der Zeitenwende finden Sie im Dossier unter tdz.de/zeitenwende

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Diskurs & Analyse Heidelberger Stückemarkt

Wenn Essen keinen Trost mehr spendet Neue chinesische Dramatik beim Heidel­berger Stückemarkt Von Yinfu Gao

Der Heidelberger Stückemarkt 2025 hat China als Gastland des Jahres gewählt. Die sechs eingeladenen Werke wurden fast alle während der Pandemie geschaffen oder erstaufgeführt und geben somit einen Einblick in das Erscheinungsbild und die Ausrichtung des chinesischen Theaters der letzten fünf Jahre. Thematisch behandeln sie Familienbeziehungen, Migration, Feminismus sowie die historische Interpretation und Dekonstruktion literarischer Klassiker. Sie zeichnen sich sowohl durch Literarizität als auch durch politische Relevanz aus und setzen sich intensiv mit der Realität auseinander.

Han Jings „Vierundzwanzig Stunden vor Neujahr werden wir des Lebens müde“ beginnt mit der familiären Szenerie des chinesischen Neujahrsfests, einer der wichtigsten Traditionen in China. Die Autorin versucht, durch das Schreiben ihre eigene Familiengeschichte zu verstehen. Die zu Beginn des Stückes erwähnte Erbkrankheit der Familie wird zum Ausgangspunkt für eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte.

Wie die Autorin selbst sagt: „Man muss sich daran erinnern, wie die vergangenen Generationen gelebt haben.“ Mit dem allmählichen Zerfall des traditionellen Familien­ lebens durch die Ein-Kind-Politik ist das gemeinsame Feiern des Neujahrs in Großfamilien zu einer Seltenheit geworden. Während die jüngere Generation in dem Stück nicht nach Hause zurückkehren kann, wird sie von den älteren Familienmitgliedern dennoch schmerzlich vermisst. Han Jing selbst war während des Neujahrsfests 2019 bis 2020 aufgrund der Pandemie zu Hause isoliert, was zur Inspiration für dieses Stück wurde.

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Obwohl im chinesischen Internet heute der Trend „Familienverhältnisse brechen“ („duanqin“) kursiert und viele junge Menschen den Feiertagen entfliehen, um nicht von Verwandten nach „Heirat, Kindern und Karriere“ gefragt zu werden, wendet sich Han Jing in der Schlussszene gegen eine einfache Verurteilung der älteren Generation. Stattdessen lässt sie die Stimmen der jüngeren Generation verstummen und gibt den älteren Familienmitgliedern Raum auf der Bühne, um deren Perspektive sichtbar zu machen: Menschen, die in den warmen Süden gezogen sind, erinnern sich sehnsüchtig an die zugefrorenen Flüsse des Nordens.

Ein weiteres Werk „Ein gutes Jahr (Akt. 1)“, das während der Pandemie entstand, stammt von dem kantonesischsprachigen Dramatiker Xu Hongchang. Hongchang beginnt sein Stück mit einer typischen Essensszene, um Generationenkonflikte innerhalb einer chinesischen Familie darzustellen und gleichzeitig deren historische Ursachen zu hinterfragen. „Die Kommunikationsbarrieren zwischen zwei Generationen wurden bereits unzählige Male thematisiert“, sagt Xu. „Doch was ist die eigentliche Ursache dieses Problems? Wenn die Wurzeln nicht in diesen zwei Generationen selbst liegen, wo dann?“ Die Landreform der fünfziger Jahre und die Hungersnöte jener Zeit sind zentrale Aspekte des Stückes. Die Mutter im Stück hat diese Extremsituationen selbst erlebt. Für sie, die „Hunger“ am eigenen Leib erfahren hat, kann ein Mensch, solange er Nahrung hat, weiterleben. Durch diese schweren Zeiten hindurch hat sie einen selbstbezogenen Optimismus entwickelt. Doch sie vermeidet es, gesellschaftliche Probleme zu diskutieren, und macht

Theater der Zeit 5 / 2025

Foto TASU

„Die wahre Geschichte des Ah Q“ von Ma Wenqi nach Lu Xun in der Regie von Li Jianjun. Gastspiel NEW YOUTH GROUP beim Heidelberger Stückemarkt

Diskurs & Analyse Heidelberger Stückemarkt Endlich ist dieser Moment gekommen: Der durch die Pandemie auch im Theater unterbrochene kulturelle Austausch zwischen China und Deutschland wird wiederhergestellt.

stattdessen die Unzufriedenheit ihres Sohnes zu einem individuellen Versagen: „Warum kannst du nicht wie andere in deinem Alter einfach arbeiten, heiraten und ein Haus kaufen?“ Die jüngere Generation hingegen empfindet die soziale Realität als belastend – politische Depression, der Druck in Wissenschaft und Beruf sowie das Spannungsverhältnis zwischen Idealismus und Realität lassen die Speisen der Mutter ungenießbar erscheinen. Doch wenn Essen nicht mehr Trost spenden kann, was ist dann das Heilmittel für die moderne Gesellschaft?

Ebenfalls in kantonesischer Sprache geschrieben ist das Stück „Zugvögel“ von Chan Ping Chiu, das die Ängste und Entscheidungen der Hongkonger:innen in den letzten sechs Jahren thematisiert: Gehen oder bleiben? Der Autor hat Interviews in der Hongkong-Diaspora geführt und die Erfahrungen in ein Werk über Migration, Erinnerung und Geschichte verwandelt.

Das Thema hat in der klassischen chinesischen Literatur eine lange Tradition seit „Seltsame Geschichten aus Übersee“ – was passiert, wenn man das Heimatland verlässt und in ein fremdes Land reist? Chu Xia knüpft in ihren Arbeiten an diese Tradition an. Ihre fantasievollen Parabeln sind Reflexionen der realen Welt. „Der Schattenjäger“ erzählt die fantastische Geschichte eines Schattentheaterspielers, der in das „Schattenland“ gelangt. Die Bewohner:innen dieser Insel müssen für den König Schatten fangen. Als der Schattenspieler das Geheimnis des Königs entdeckt, ersetzt er ihn, doch in dem Moment, in dem er die Krone trägt, verliert er den Zugang zur Welt der Schattenspiele. Wie Chu Xia sagt: „Jeder wird letztlich von dem gefangen, was er am meisten

Theater der Zeit 5 / 2025

begehrt, und diese Gefangenschaft ist wie ein Schatten – man kann ihr nicht entkommen.“ Chu Xias Wohnort Nanjing und seine Umgebung sind reich an den traditionellen darstellenden Künsten, z. B. sind einige ihrer Figuren an die Tradition mündlicher Volksüberlieferungen angelehnt. Chu Xia versucht, solche Performanceelemente in das zeitgenössische Theater zu integrieren. Nachdem Chu Xia das Schattenspiel in Haining in der Zhejiang-Provinz erforscht hatte, vertiefte sie ihre Darstellung der Schattenspiel-Künstlerfigur weiter.

Chu Xia liest gerne Mythen und Fabeln; sie glaubt, dass Fabeln in einer Zeit der menschlichen Unwissenheit entstanden sind und daher bewusst vage bleiben. Deshalb möchte sie den „Schatten“ nicht eindeutig interpretieren, sondern den Zuschauenden Raum für eigene Reflexionen und Deutungen lassen. Darin verbergen sich reichhaltige Metaphern und kulturelle Bedeutungen.

Das Werk „Die Geschichte vom Pfirsichblütenfächer neu erzählt“ von Xiao Jing interpretiert das klassische chinesische Drama „Der Pfirsichblütenfächer“. Im Gegensatz zum Original aus dem Jahr 1699 hebt sie die weibliche Perspektive hervor. Die Prostituierte Li Xiangjun ist nicht länger ein Opfer der Geschichte oder eine Projektionsfläche für männliche Helden. Stattdessen sagt sie selbstbewusst: „Auch wenn mein Status niedrig ist, habe ich das Recht, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.“ Das Stück „Die wahre Geschichte des Ah Q“, inszeniert von Li Jianjun und geschrieben von Ma Wenqi, adaptiert mehrere satirische Werke von Lu Xun. Nachdem der Protagonist Ah Q erschossen wird, gelangt er in die Unterwelt, wo Götter und Geister sein Leben aus den „Büchern des Lebens und Todes“ rekonstruieren, um die Mechanismen einer Gesellschaft zu entlarven, in der „Menschen Menschen fressen“ und das Volk Enthauptungen als Spektakel betrachtet. „Theater aus Deutschland direkt vor der Haustür sehen“ war ein Werbeslogan des Berliner Theatertreffens für den chinesischen Markt. Von 2016 bis 2019 wurden deutsche Inszenierungen in Peking, Shanghai und Tianjin eingeladen, wodurch das chinesische Publikum begann, zeitgenössische deutsche Theaterkünstler wie Christopher Rüping kennenzulernen. Dieser kulturelle Austausch half dabei, das stereotype Bild Deutschlands, das oft nur mit der Automobilindustrie und Flüchtlingskrise assoziiert wurde, zu erweitern.

Endlich ist dieser Moment gekommen: Der durch die Pandemie auch im Theater unterbrochene kulturelle Austausch zwischen China und Deutschland wird allmählich wiederhergestellt. T

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Diskurs & Analyse Interview

Burn-out und Weinkrämpfe Zwei „Helferlein“ erheben die Stimme – Hannah Helbig und Christian Feras Kaddoura erzählen in Performances von der Arbeit als Hospitantin und Regieassistent Von Stefan Keim

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Theater der Zeit 5 / 2025

Fotos oben rechts, unten links Sophia Hegewald, oben links, unten rechts Talisa Frenschkowski

Bild oben rechts, unten links: „Überbrückungszeit – Die Leiden des jungen Feras“ von Christian Feras Kaddoura.

Mit Christian Feras Kaddoura und Merlin Schreiber. Regie, Bühne, Konzept, Songwriting Christian Feras Kaddoura Bild oben links, unten rechts: „Strukturen und Menschen – Tagebuch einer Hospitantin 2.0“ von und mit Hannah Helbig.

Die Produktion erhält beim Festival Körber Studio Junge Regie den Publikumspreis

Diskurs & Analyse Interview Sie schneiden Äpfel, richten die Probebühne ein, organisieren, helfen, wo sie können – und manchmal wissen die Regisseur:innen nicht einmal ihre Namen. Eine Hospitantin und ein Assistent haben nun unabhängig voneinander ihre Erlebnisse in Performances auf die Bühne gebracht. Hannah Helbig hat am Berliner Ensemble bei Oliver Reeses Inszenierung von Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ hospitiert. Und dabei erlebt, dass der BE-Intendant sich ihr gegenüber fast so rücksichtslos verhielt wie der größenwahnsinnige Bruscon auf der Bühne. Am Ende von „Strukturen und Menschen – Tagebuch einer Hospitantin 2.0“ spielt sie Sprachnachrichten aus dieser Zeit vor, in der sie sehr emotional einer Freundin von den Demütigungen berichtet. Christian Feras Kaddoura ist Regieassistent am Bochumer Schauspielhaus. Sein Stück „Überbrückungszeit – Die Leiden des jungen Feras“ ist viel freundlicher. Aber auch er erzählt davon, dass die Freude am Theater erst zurückkehrte, als er sich wegen eines drohenden Burn-outs für eine Woche krankgemeldet hat. Ein Gespräch über sehr verschiedene Erlebnisse am deutschen Stadttheater.

HANNAH HELBIG: Ich starte ja das Stück mit einem Einspieler aus dem Vertrag, den ich für die Hospitanz am Berliner Ensemble unterschrieben habe. Darin gibt es eine Art Schweigeklausel. Doch die ist gar nicht nötig, die Leute schweigen bereits aus

Angst vor einem Jobverlust. Ich erzähle überhaupt nichts Neues, alle kennen solche Geschichten. Sie werden nur nicht öffentlich erzählt. Das muss aber passieren. Und ich hatte die Hoffnung, dass sich Leute melden, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, und ein Nachdenken darüber beginnt.

CHRISTIAN FERAS KADDOURA: Bei mir ist es etwas anders.

Mein Abend ist auch ein Liebesbrief an den Beruf der Regieassistenz, ich habe auch gute Erfahrungen gemacht. Als ich mir deine Performance angeschaut habe, dachte ich, wow, ich habe wirklich mit vielen Regisseurinnen und Regisseuren zusammengearbeitet, die selbst assistiert haben. Da war immer eine Wertschätzung für das, was man tut. Klar, es gibt immer Arschlöcher, aber das, was du erlebt hast, ist schon hart. Ich mache den Beruf weiter sehr gerne. Es kamen viele Assistierende nach der Vorstellung zu mir und haben mir erzählt, wie sehr sie das berührt hat. Hast du nach deinen Erlebnissen überhaupt noch einmal eine Hospitanz am Stadttheater gemacht?

HH: Tatsächlich nicht. Ich hab noch einmal in der Freien Szene assistiert. Manchmal denke ich auch, ich spreche jetzt aus den sechs Wochen heraus, andere Leute haben viel mehr Erfahrung.

Aber nach den Aufführungen kommen zu mir viele Leute und berichten von ähnlichen Erlebnissen. Dann denke ich, die sechs

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Neben zehn herausragenden Inszenierungen aus NRW, internationalen Gastspielen und Eigenproduktionen der gastgebenden Häuser bietet das Westwind Festival 2025 ein vielseitiges Rahmenprogramm unter dem Motto »Arts for Change«: Mit Workshops, Fachgesprächen, Präsentation der Studie »Spark Change – The Impact of Performing Arts on Children« und einem Straßenfest für Jung und Alt. — www.westwind-festival.de Junges Schauspiel in Zusammenarbeit mit FFT Düsseldorf und tanzhaus nrw

Gefördert von: Mit freundlicher Unterstützung vom Amt für Soziales und Jugend und Demokratie leben! Düsseldorf. In Kooperation mit dem NRW KULTURsekretariat und Erasmus+.

Diskurs & Analyse Interview Hospitant:innen sind in einer seltsamen Zwischenposition. Man läuft mit, lernt was, ist aber auch Arbeitskraft für Kaffeemachen und das Buffet.

Wochen sind genug, um darüber zu sprechen. Jede Erfahrung sagt etwas über die Strukturen aus, in denen sie stattfindet.

CFK: Natürlich, das ist total legitim. Du bist ja – wie du im Stück erzählst – am Ende auch als Regieassistentin eingesprungen. Bei den Sprachmemos, die du da einspielst, zuzuhören, das ist schon krass. Sehr ehrlich, sehr cool.

HH: Da haben wir ja beide ein ähnliches Mittel gewählt, diese Voicemails, die direkt aus der Zeit berichten und so unterschiedlich sind. Du mit der Briefform, an den „Werther“ angelehnt, ich mit den rohen Sprachnachrichten direkt von den Abenden nach den Proben.

CFK: Das ist irgendwie typisch für den Beruf. Da ruft man auf dem Weg nach Hause die Freund:innen oder die Eltern an und muss etwas rauslassen über den Tag. HH: Man braucht Leute, bei denen man sich ausheulen kann, damit man am nächsten Tag wieder da stehen kann.

CFK: Und es muss mehr Wege geben, dieser Dauerbelastung wenigstens ab und an zu entkommen. Wobei ich sagen würde, es war bei mir kein Burn-out, aber das ist vermutlich so eine Regieassistenz-Krankheit. Ich hatte Glück, ich hab nur eine Hospitanz gemacht und dann eine Produktionsassistenz, die bezahlt wurde, die ich mir auch ausgesucht habe. Das darf erst recht kein Dauerzustand sein, dass man so viel Stress aushalten muss und dafür nicht einmal bezahlt wird.

HH: Mir wurde sehr oft gespiegelt, dass es nur die Harten ans Theater schaffen und man dafür gemacht sein muss. „Mit genug Leidenschaft kriegt man das hin, und da ist wohl jemand zu schwach.“ Das finde ich falsch.

CFK: Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass man sehr für sich einstehen muss. Wenn was schiefläuft, gehe ich direkt auf die Leute zu und spreche das an. Das ist nötig, sonst wird man schnell zum Laufburschen degradiert. Ich würde schon sagen, nur die Hartnäckigen schaffen es. Das finde ich nicht gut, das ist schade.

HH: Auf jemanden zuzugehen und Probleme anzusprechen, ist schwierig, wenn der Intendant die regieführende Person ist. Da gibt es keine Kontrollinstanz. Ich hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte.

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CFK: Bei mir war es tatsächlich Johan Simons. Da war eine Irritation, jemand hatte das Licht im Proberaum umgebaut, ich wusste dadurch plötzlich nicht mehr, wo es angeht. Darauf ging er den Rest des Tages mit mir um, als hätte ich meinen ersten Tag. Dann bin ich gleich nach der Probe in sein Büro gegangen und hab das Problem angesprochen. Darauf hat Johan mir direkt gesagt, er findet das richtig gut, dass ich zu ihm komme. Das ist natürlich sehr personenabhängig und vielleicht der Spirit des Hauses. Johan fragt die Hospitierenden oft direkt nach ihrer Meinung, andere Regieführende in Bochum auch. Da hab ich schon etwas mehr Glück gehabt als du.

HH: Hospitant:innen sind in einer seltsamen Zwischenposition.

Man läuft mit und lernt was, ist aber auch die Arbeitskraft, die Kaffee kocht und das Buffet vorbereitet. Ich hab ja auch Angewandte Theaterwissenschaft studiert und fühlte mich durchaus fähig mitzudenken. Aber das wurde überhaupt nicht gesehen, sondern eher verhindert. Und die Regieassistenz wird ja oft als Vorstufe für den Regieberuf gesehen. Aber es ist ja eigentlich eine ganz andere Tätigkeit, ein Organisations- und Managementjob.

Vielleicht würden Personen, die gar nicht in erster Linie Kunst machen wollen, sondern sich im Organisieren auskennen, nicht so viel mit sich machen lassen. Weil sie ein ganz anderes Standing haben. Es ist ein eigener Arbeitsbereich, den man dann aber auch anständig bezahlen müsste.

CFK: Genau. Es ist nicht zwingend die Vorstufe zum Regisseur.

Ich musste mehrmals am Haus sagen, dass ich inszenieren will.

Das ist nicht selbstverständlich. Ich dachte, ein Regieassistent sollte sich kontinuierlich in diese Richtung weiterentwickeln.

Aber ich musste hart darum kämpfen zu inszenieren. Sag mal, hat Oliver Reese eigentlich auf deine Performance irgendwie reagiert?

HH: Bei mir hat sich niemand aus dem BE gemeldet. Ich hatte mich schon ein bisschen juristisch beraten lassen, bevor ich Oliver Reese namentlich genannt habe. Aber ich finde, das ist total wichtig und gibt dem Stück die nötige Kraft, weil das sonst nicht getan wird. Jetzt gab es ja die Berichte um Machtmissbrauch in der Maskenabteilung im Berliner Ensemble. Da wurde auch ich kurz zitiert, und die Journalistin hat das BE mit den Vorwürfen konfrontiert. Die Leitung hat bedauert, dass ich so eine schwierige Zeit gehabt habe. Aber Endprobenphasen seien nun mal hart.

Diese Normalität ist der Skandal! Um das zu ändern, braucht es mehr als eine Doppelspitze oder weibliche Führungsteams. Du hast recht, Feras, dass es auf die Menschen ankommt, die dort sitzen. Aber wenn da jemand mal nicht so nett ist, ist es ein strukturelles Problem, wenn es keine richtige Kontrollinstanz gibt. Die Organisationsstrukturen verursachen extreme Machtbündelung und unterstützen Missbrauch. Wir brauchen Alternativen zum Intendanzsystem. Ich denke an das Modell von Jena oder die Ideen von „Staub zu Glitzer“. Wir haben so viele Theater in Deutschland, da kann man doch an einigen Häusern mal andere Modelle ausprobieren. T

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Theater der Zeit

Foto Julia Weber

Report

„Die Hexe von Konotop“ von Hryhorij Kvitka-Osnovyanenko. Regie Ivan Urywskyj beim Europäischen Theaterfestival in Stuttgart

Polen Polnisches Theater beim Showcase in Opole Stuttgart Das Europäische Theaterfestival löst den Dramatiker:innenpreis des Landes Baden-Württemberg ab Serbien Nikita Milivojević als Künstlerischer Leiter von Bitef abgesetzt und die Frage nach der Zukunft von Serbiens wichtigstem Festival

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Ästhetische Selbstreflexion Polnisches Theater beim Showcase in Opole – sakrales Planking inklusive Von Nathalie Eckstein

„I’m Nowhere/Desvanecimiento“, Konzept und Regie von Norbert Rakowski

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Alle Kritiker:innen, Kurator:innen, Festivalleitungen, Produzent:innen und Dramaturg:innen kennen diese Theaterreisen. Zu Showcases und Festivals. Müde von der Reise, angekommen in einer Stadt, in der man vornehmlich das Theater sehen wird, ist es schön, alte Bekannte zu treffen, die man genau zu diesen Anlässen und nur in diesen Kontexten trifft. Die einladenden Institutionen, Häuser und Festivals sorgen für angenehme Unterbringung, erweisen größte Gastfreundschaft und bieten bei Snacks und Getränken Raum für gemeinsamen Austausch. Das Programm zu sehen, ist der eine Aspekt, der andere ist die internationale Vernetzung der Akteur:innen.

Alle Anwesenden sind es gewohnt, viel Theater zu sehen. Theater ist der Beruf (s. auch „Wir gehen rein“, S. 88). Das Gesehene wird anhand hoher, internationaler Maßstäbe bemessen. Alle sind hier fürs Theater, alle nehmen Reisen und Mühen auf sich. Der Austausch – gerade in diesen Zeiten – ist nicht nur ideell wichtig, sondern in diesen Kontexten, in denen es auch immer um Verkaufsinteressen von Produktionen und die Sichtbarkeit der Häuser und Institutionen geht, essenziell. Das Jan Kochanowski Theater Opole macht beim jährlichen Showcase mit Übertiteln die Produktionen der vergangenen Saison zugänglich. In dieser Ausgabe zum 50-jährigen Bestehen des Theaters waren auch Gastspiele dabei.

So wurde das Wochenende mit „Madre“, einer Produktion von Marco Martinelli, Ermanna Montanari, Stefano Ricci und Daniele Roccato, eröffnet, produziert vom Albe/Ravenna Teatro, in Zusammenarbeit mit Primavera dei Teatri. Die Performance behandelt die Beziehung zwischen einem Sohn und der titelgebenden Mutter, die in einen Brunnen gefallen ist – hallo psychoanalytisches Märchensymbol! Während Ermanna Montanari stimmlich halb hechelnd, halb bellend beide diptychonartig angeordneten Monologe nacheinander performt, malt Stefano Ricci auf dem Boden live auf kreisrunde schwarze Pappe Kreidebilder, deren Entstehung auf eine ebenso runde schwarze Fläche projiziert wird, begleitet von Daniele Roccato am Cello. Der Text spielt mit Motiven aus Märchen – wie die Hexenhaftigkeit der Mutter und ihrem unklaren Geisteszustand in der Isolation – und Katholizismus – wie die Übermacht der Mutter gegenüber dem Sohn und einer kleinen Schlange, die sich mit ihr im Brunnenschacht befindet.

Die Live-Paintings sind eher kommentierend denn illustrierend.

Melancholisch und irritierend.

Die Performance fand in der von Intendant Norbert Rakowski im großzügigen Theaterbau mit zur Stadt hin offenen Front neu geschaffenen Spielstätte Modelatornia statt. Dort, so die Idee, sollte ein Ort entstehen, der kontinuierlich der Umsetzung der Postulate von Jerzy Grotowski dient – die Grundlage für experimentelle Erkundungen im Bereich des Theaters. Grotowski, der in Opole das Teatr 13 Rze˛ dów übernahm und zum Experimentierfeld der Avantgarde des Theaters machte, ist in Opole noch präsent.

Weniger avantgardistisch, sondern ebenso elegant wie berührend erzählt, ist Rakowskis eigene Arbeit „I’m Nowhere/Desvanecimiento“, die das Thema der Sterbehilfe behandelt. Mit einer Pressekonferenz, gebaut mit einem Tisch mit Mikrofonen und zwei Live-Kameras, die auf einen großen Monitor übertragen, beginnt der Abend. Die Schauspielerin und Influencerin Sophie (Victoria

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Fotos links Edgar De Poray, rechts oben Edgar De Poray, unten HaWa, NIMiT

Report Opole

Report Opole Lago) möchte sterben. Ihre Produzentin, ihre Psychiaterin, ihr Arzt, ihr Anwalt und ihr Partner sollen bezeugen und als Leumund für ihren Tod dienen. Sie selbst (Victoria Lago) verliest ein Statement. All das findet mehrsprachig auf Polnisch, Spanisch und Englisch statt.

Auch die Fragen der Presse, die aus dem Off vom Band kommen, sind mehrsprachig und stellen den europäischen Bezug des Themas her. In mehreren europäischen Ländern ist Sterbehilfe legal, in Polen ist das Thema tabuisiert. Die Fragen der Presse beziehen sich auf legale Aspekte, auf monetäre und letztlich auf philosophische. Sophie ist eine normschöne junge Frau von 27 Jahren. Sie sieht nicht krank aus. Ihre Psychiaterin betont die Dissoziative Identitätsstörung. Ihre Produzentin betont die Rolle der Medien, des Verfolgens und Eindringens in die Intimsphäre der jungen Frau. Letztlich geht es, wie immer in der Debatte, um die Frage des freien Willens.

Im zweiten Teil des Abends folgt man der cineastischen Erzählung einer letztlich europäischen Familie, dem polnischen Dirigenten Jan Kaczka, dessen Eltern im KZ starben, und seiner Frau Maria Torres, die als Tochter polnischer Emigranten in Spanien aufwuchs, die am Ende ihres Lebens gemeinsam Sterbehilfe in Anspruch nehmen, und ihrem Sohn, seiner Frau und deren studierender Tochter, die beschließt, sich das Leben zu nehmen. Ohne Text der Schauspieler:innen, nur über eine Stimme aus dem Off erzählt, erfahren wir über ihre Lebenssituation, ihre Biografie und ihre Umstände. Immer wieder besteht die Stimme auf eine Trennung zwischen den Figuren, die wir auf der Bühne sehen, und den angeblich real verbürgten Personen. Immer wieder wird auch durch den offenen Umbau das Artifizielle des Theaterabends als solches ausgestellt. Norbert R ­ akowski erzählt elegant und effizient und vor allem über hervorragendes Lichtdesign (Bogumił Palewicz) atmosphärisch in einem intelligenten Bühnenbild (Maria Jankowska), in dem der modulare Screen der Pressekonferenz zum Fenster werden kann, genauso wie zur Sanduhr oder zum Röntgenbild, von Leben und Sterben und allem dazwischen. Unter allem liegt ein Klangteppich einzelner Töne, der ebenso wie das Bild immer wieder glitched. Der Abend stellt Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Modalität des Todes und erzeugt über seine unaufgeregte Erzählung und die fast tranceartigen Bewegungen des großartigen Ensembles einen Resonanzraum für das Thema, das hier eine flirrende Leichtigkeit bekommt.

Mutig widmet sich das Tanzstück „III Symfonia“ von Janusz Orlik der gleichnamigen Symphonie von Henryk Górecki. Das Musik­stück in drei Sätzen, dessen Text, gesungen von einem Sopran, letztlich auch die Mutter-Sohn-Beziehung thematisiert. Im ersten Satz entstammt der Text einem polnischen Maria-Lamento des 15.

Jahrhunderts, der Text des zweiten Teiles („Mutter, ich werde nicht weinen“) ist ein Zitat einer Inschrift einer Wand aus der Gestapo-­ Gefangenschaft, der des dritten Teils ein polnisches Lied, in dem eine Mutter ihren Sohn sucht, der von den Deutschen getötet wurde.

Zwischen Publikumsbeziehung und Bewegungen, die einer rituellen Praxis nahekommen, nahezu sakrales, minutenlanges Planking inklusive, nähert sich der Choreograf dem vorgetragenen Leid der Musik.

Ebenfalls mit der eigenen – in diesem Falle ästhetischen – Geschichte beschäftigt sich „Top Dogs“ in der Regie von Marcin Liber, eine Eigenproduktion des Theaters. Basierend auf dem Script von „Der Conferencier“ aus dem Jahr 1978, ein Film darüber, was

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Oben: „Top Dogs“ von Małgorzata Czerwień. Regie Marcin Liber Unten: Janusz Orlik in „III Symfonia“

man für sozialen Aufstieg zu tun bereit ist, beschwört der Abend den Stil der späten siebziger Jahre des sozialistischen Polens herauf, mit Kostümen, bühnengroßem Teppich, Genderklischees (die immer wieder auch kommentiert und gebrochen werden), Musik und Disco-Choreografie. Das alles passiert mit großer Spielfreude des elfköpfigen Ensembles und geht insgesamt sehr schnell und unterhaltsam über die Bühne.

Obwohl keine der ausgewählten Eigenproduktionen des Theaters repräsentativ für das polnische Theater sein kann, zeigt sich ein Einblick in historische und ästhetische (Selbst-)Reflexion des polnischen Theaters, so auch mit der Eigenproduktion „Der Sturm. Regeln einer Insel“ in der Regie von Katarzyna Minkowska, das beim internationalen Shakespeare-Festival in Gdańsk bereits letztes Jahr ausgezeichnet wurde (s. a. „Es müssen Köpfe rollen“ auf tdz.de). T

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Report Stuttgart

Nichts weniger als die Freiheit steht auf dem Spiel Das Europäische Theaterfestival in Stuttgart löst den Dramatiker:innenpreis des Landes Baden-Württemberg ab Von Elisabeth Maier

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Beim Gastspiel des ukrainischen Ivan Franko Nationaltheaters aus Kiew in Stuttgart flossen Tränen. „Die Hexe von Konotop“, eine Erzählung des Autors Hryhorij Kvitka-Osnovyanenko aus dem Jahr 1833, berührte nicht nur die Geflüchteten aus dem kriegsgeschüttelten Land im ausverkauften Schauspielhaus. Als die Zuschauer:innen den Saal verließen, sangen sie gemeinsam. Beim Europäischen Theaterfestival war Iwan Urywskyjs aktuelle Inszenierung des Stückes zu sehen. Der Text zählt für Schüler:innen in der Ukraine zur Pflichtlektüre. In der Satire bietet eine starke Frau aus einem kleinen Dorf den russischen Militärs die Stirn. In Kriegszeiten gewinnt dieser Plot eine neue, beklemmende Aktualität.

Selbst in die ukrainischen Kinos kam „Die Hexe von Konotop“. Mit ihrem Horrorstreifen trafen Regisseur Andriy Kolesnyk und Drehbuchautor Yaroslav Wojciešek 2024 aber offenbar nicht den Nerv des Publikums. Dagegen fand Regisseur Urywskyj im Nationaltheater zu einer zeitlosen, klugen Theatersprache. Drei fahl geschminkte Schauspielerinnen sitzen am Anfang an einer Mauer. Der geweißelte Stein scheint sie zu verschlingen. Doch sie rühren sich nicht. Bis sie von den russischen Soldaten als Hexen gebrandmarkt werden. Folkloristische Musik und die grausame

Theater der Zeit 5 / 2025

Foto Magda Hueckel

„Elizabeth Costello. Sieben Vorlesungen und fünf Moralgeschichten“ von Krzysztof Warlikowski in eigener Regie

Report Stuttgart Poesie des Textes verschmelzen in der Regiearbeit zu einer faszinierenden Ästhetik. „Die Eigenheiten des ukrainischen Theaters entdecken“ wollte Burkard C. Kosminiski, der Stuttgarter Schauspiel-Intendant, mit dem Gastspiel. Zu oft werde dessen eigenständige Sprache mit der russischen Bühnenkunst gleichgesetzt. Aber das greift nach den Worten Kosminskis zu kurz. Die Ukraine hat nach seinen Worten auch im Theater ihre eigenen Traditionen und ihr unverwechselbares Profil. „Achtung, Freiheit!“ hat das Staatstheater das Festival übertitelt, das zum ersten Mal in Stuttgart stattfand.

Das neue Format, das aus Sondermitteln des Landes Baden-Württemberg finanziert wird, löst den Europäischen Dramatiker:innenpreis ab. 2020 hatte das Staatstheater den vom Land finanzierten und mit 75 000 Euro dotierten Preis erstmals an den libanesischkanadischen Weltdramatiker Wajdi Mouawad vergeben. 2022 sollte die Preisträgerin Caryl Churchill heißen. Doch der Preis wurde der 84-Jährigen wegen Antisemitismus-Vorwürfen wieder aberkannt und die Jury revidierte ihre Entscheidung. Das stieß bei vielen Kunstschaffenden auf heftige Kritik. Auch israelische Künstler:innen schlossen sich der Solidaritätsaktion an.

Warlikowskis politisches Theater Schauspielchef Kosminski ersetzte den Dramatiker:innenpreis nach diesem Skandal durch ein einwöchiges Festival. Es soll künftig alle zwei Jahre stattfinden. Dieses Jahr lag der Schwerpunkt auf Osteuropa. Durch den Krieg in der Ukraine und die politischen Konflikte in osteuropäischen Ländern ist die Freiheit der Kunst in diesen Ländern besonders bedroht. „Die Meinungsfreiheit steht durch den Rechtsruck in ganz Europa auf dem Spiel“, verwies Petra Olschowski (Grüne), die baden-württembergische Ministerin für Kunst und Wissenschaft, auf die Gefahren für die Demokratie. Mit besonderer Sorge blickt sie auf die USA, die in der zweiten Amtszeit des Präsidenten Donald Trump zunehmend von demokratischen Grundwerten abrückten. Dass das Land in dieser Zeit Sondermittel für ein internationales Theaterfestival bereitstellt, ist für sie ein wichtiger Beitrag zu einem weltoffenen Europa.

Diese Werte beherzt zu verteidigen, betrachtet Kosminski als eine zentrale Aufgabe der Kunst. In seinen ersten Jahren als Schauspielintendant hat er mit dem kroatischen Regisseur Oliver Frljić und mit jungen Schauspieler:innen aus Deutschland, Polen und Kroatien gearbeitet. In dem auf drei Jahre angelegten Projekt entwickelten sie an Häusern in den unterschiedlichen Ländern gemeinsam Perspektiven für ein europäisches Theater. Dass das in den jeweiligen Theaterstrukturen nicht einfach ist, zeigte das Experiment – zumal Lockdowns in der Pandemie die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg erschwerten. Trotz dieser Schwierigkeiten entstanden internationale Produktionen, die den Horizont des Stuttgarter Publikums weiteten.

Solche internationalen Netzwerke denkt das Staatstheater Stuttgart gerade in Zeiten eines Krieges in Europa weiter. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vor mehr als drei Jahren sind die Dramatikerinnen Luda Tymoshenko und Maryna Smilianets Artists in Residence in Stuttgart – die Zusammenarbeit

Theater der Zeit 5 / 2025

des Staatstheaters mit dem Stipendienprogramm der Akademie Schloss Solitude macht das möglich. „Diese kontinuierliche Zusammenarbeit ist eine große Chance für unser Haus“, ist Schauspielchef Kosminski überzeugt. Das Stück „Willkommen am Ende der Welt“ wurde im Rahmen des Festivals im Kammertheater uraufgeführt. In der Regie des ukrainischen Regisseurs Stas Zhyrkov entwirft die Autorin in Zeiten der Kämpfe und der Zerstörung positive Lebensmodelle – doch die bleiben in der Bar fernab jeder Zivilisation Lebensfluchten. „Die Möglichkeit, am Staatstheater in Stuttgart zu arbeiten, bedeutet für uns Künstlerinnen und Künstler viel“, sagte Smilianets bei der Diskussion im Rahmen des Festivals. Doch sei es schwer, sich auf die künstlerische Arbeit zu konzentrieren, „wenn das Land und die Menschen ständigen Angriffen ausgesetzt sind“. Was es bedeutet, nicht zu wissen, wie es der Familie und ihren Freund:innen geht, das belastet die Künstlerin sehr.

Bewusst lenkte das Staatstheater den Blick beim Festival auch auf andere Länder in Osteuropa. Seit vielen Jahren arbeiten die Stuttgarter mit dem Nowy Teatr in Warschau zusammen, geleitet von Starregisseur Krzysztof Warlikowski, der seit Jahrzehnten auch in der internationalen Szene mit seinen innovativen Arbeiten von sich reden macht. Obwohl Polen Teil der Europäischen Union ist, herrscht auch dort Unsicherheit. „Die Spielerinnen und Spieler haben Angst“, sagte der Regisseur mit Blick auf die ungewisse politische Lage in dem osteuropäischen Land. Durch die starke Position der rechtspopulistischen PIS-Partei gerade auf lokaler Ebene ist auch in Polen die Kunstfreiheit bedroht.

Kritische Kunstschaffende werden entlassen oder sehen sich Repressionen ausgesetzt.

In diesem Spannungsfeld entwickelt Warlikowski sein politisches Theater, das die Akteur:innen immer wieder an Grenzen peitscht, wie bei der Produktion „Elizabeth Costello. Sieben Vorlesungen und fünf Moralgeschichten“. Im Fokus steht der süd­ afrikanische Literatur-Nobelpreisträger J. M. Coetzee. „Kann Kunst die Welt retten?“, fragt die fiktive literarische Figur, die auch Warlikowski fasziniert. Die Autorin, die Coetzee als sein Alter Ego geschaffen hat, wird in der viereinhalbstündigen Regiearbeit durch ein Albtraumszenario geschleudert. Bühnen- und Kostümbildnerin Małgorzata Szczesniak hat einen magischen ˛ ´ Spielraum geschaffen, in dem die Akteur:innen um Antworten auf existenzielle Fragen ringen. Wie lässt sich soziale Ungerechtigkeit abbauen? Wann hört die Tötung und Ausbeutung der Tiere auf?

Da spricht Warlikowski Klartext – und bezieht radikal Position.

Legebatterien und Schlachthöfe setzt er mit den Vernichtungs­ lagern der Nationalsozialisten gleich.

Der Regiestar entwirft nicht allein große Theaterbilder. In seinen Arbeiten zoomt er die Menschen, die ihre eigene Lebensgrundlage vernichten, ganz nahe heran. Von ihren persönlichen Schwächen lenkt er den Blick auf universelle Fragen, die seine brillanten Schauspieler in „Elizabeth Costello“ verhandeln. Mit seiner Videokunst zeigt Kamel Polak die Verstörung jener Menschen in Warlikowskis Monumentaltheater. Dass der innovative Altmeister Teil des Festivals war, unterstreicht die ästhetische Kraft und die Vielfalt der osteuropäischen Bühnenkunst. T

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Report Belgrad

„Sie wollen Institutionen, die sie kontrollieren können“ Nachdem Nikita Milivojević als Künstlerischer Leiter von Bitef abgesetzt wurde, ist unklar, ob das serbische Theaterfestival im September überhaupt stattfinden kann – währenddessen erlebt das Land die größte Protestwelle seiner Geschichte Von Natasha Tripney

Am 25. September letzten Jahres betrat Milo Rau die Bühne des Madlenianum-Theaters in Belgrad, um die Eröffnungsrede der 58. Ausgabe des Belgrader Internationalen Theaterfestivals ­(Bitef) zu halten. In seiner typischen, mitreißenden Art kritisierte er die europäische Heuchelei in Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen und verwies dabei speziell auf das geplante Lithiumabbauprojekt von Rio Tinto im Jadar-Tal, gegen das es in Serbien großen öffentlichen Widerstand gibt. Olaf Scholz hatte Serbien kürzlich besucht, um die europäische Lithiumversorgung zu sichern, und Rau, dessen Inszenierung von „Antigone im Amazonas“ Teil des Festivalprogramms war, verglich ihn mit Kreon.

Die Rede wurde an dem Abend mit Jubel und Applaus aufgenommen, doch die Stadtbehörden zeigten sich deutlich weniger erfreut. Während des Festivals machten sie ihren Unmut deutlich und setzten die Organisatoren unter Druck, sich von Raus Aussagen zu distanzieren. Der Druck schien zunächst nachzulassen, Anfang dieses Jahres erfuhr Nikita Milivojević , der seit 2023 als Künstlerischer Leiter von Bitef tätig war, dass sein Mandat nicht

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verlängert wurde. Milivojević ist überzeugt, dass diese Entscheidung politisch motiviert war. „Sie wollen Institutionen, die sie kontrollieren können“, sagt er.

Derzeit ist unklar, wer die Position übernehmen wird oder ob überhaupt ein neuer Künstlerischer Leiter ernannt wird. Das bringt das Festival in eine schwierige Lage. Traditionell findet ­Bitef im September statt, doch der Planungsprozess beginnt lange vorher. Nun befindet sich das Festival in einem Stillstand und verharrt bewegungslos.

In den 1960er und 1970er Jahren bildete Bitef eine wichtige Brücke zwischen der amerikanischen und europäischen Avantgarde­szene und war Gastgeber für einige der renommiertesten Theatermacher:innen dieser Zeit, darunter Peter Brook, Lev Dodin und Pina Bausch. Es bleibt eines der bedeutendsten Festivals der Region. Doch nun steht seine Zukunft infrage. „Das ist unverantwortlich“, sagt die Dramatikerin, Dramaturgin und Bitef-Kuratorin Tijana Grumić, „vor allem von denen, die für die Kontinuität des Festivals verantwortlich sein sollten.“

Theater der Zeit 5 / 2025

Foto picture alliance / SIPA | Spasa DAKIC

Demonstrant:innen versammeln sich vor dem serbischen Parlament während einer großen Anti-Korruptions-Kundgebung von Universitätsstudenten in Belgrad, Serbien

Report Belgrad Der Künstlerische Leiter wird von der Stadtversammlung Belgrads ernannt. Obwohl das Festival immer wieder um eine Bestätigung bat, erhielt es keine klare Antwort darauf, ob Milivojevićs Mandat verlängert würde – letztlich erfuhren sie es erst durch den Livestream der entsprechenden Parlamentssitzung auf YouTube.

Ohne einen Künstlerischen Leiter im April sind die Chancen auf ein erfolgreiches Festival im September äußerst gering. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie jetzt ein Festival auf die Beine stellen wollen – es ist wirklich zu spät“, sagt Milivojević.

Dies geschieht, während Serbien die größten Protestbewegungen seiner Geschichte erlebt. Seit letztem Jahr finden regelmäßig Proteste statt – ausgelöst durch den Einsturz des Betondachs über dem Eingang des kürzlich renovierten Hauptbahnhofs in Novi Sad am 1. November. Dabei kamen 14 Menschen ums Leben; zwei Wochen später starb eine weitere Person im Krankenhaus. Am 21. März erlag ein Teenager seinen Verletzungen aus dem Unglück – insgesamt gab es 16 Todesopfer.

Für viele Menschen, die von einem korrupten und nepotistischen System zermürbt sind, war dies ein Wendepunkt. Die Tragödie löste Empörung aus. Zunächst fanden 15-minütige Schweige­ kundgebungen statt, beginnend um 11:52 Uhr – dem Zeitpunkt des Einsturzes. Als Studierende der Fakultät für Darstellende Kunst während einer dieser Proteste angegriffen wurden, reagierten sie mit der Besetzung ihres Fakultätsgebäudes und stellten Forderungen: Verantwortliche sollten zur Rechenschaft gezogen und relevante Dokumente zur Renovierung des Bahnhofs veröffentlicht werden.

Andere Fakultäten folgten diesem Beispiel, und die Bewegung hat sich inzwischen im ganzen Land ausgebreitet. Während die Studierenden weiterhin die treibende Kraft sind, wächst die Unterstützung aus anderen Gesellschaftsbereichen, und auch ihre Taktiken haben sich weiterentwickelt: Sie gehen zu Fuß, fahren Fahrrad oder laufen sogar zwischen serbischen Städten – eine effektive Methode zur Verbreitung ihrer Botschaften in einem Land mit staatlich kontrollierten Medien. Milivojević, Professor an der Akademie der Künste in Novi Sad, äußerte sich unterstützend: „Das sind kluge junge Leute, die nach einer besseren Zukunft suchen.“ Neben kleineren lokalen Protesten finden auch Massendemonstrationen statt: Am 15. März versammelten sich Menschen aus dem ganzen Land in Belgrad zur größten Demonstration in Serbiens Geschichte. Eine unabhängige Beobachtungsorganisation schätzte die Zahl der Teilnehmer:innen auf 325 000 – tatsächlich könnte sie jedoch weit höher gewesen sein.

Die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) und Präsident Aleksandar Vučić wechseln zwischen dem Herunterspielen der Proteste und deren Zuschreibung an „ausländische Einmischung“. Die Regierung organisierte zudem Gegenkundgebungen. „Die Logik des Präsidenten ist wie die eines Fußballfans: Mein Team ist stärker als deins“, sagt Milivojević . „Dieser Protest am 15. März war der größte in Serbiens Geschichte – das bedeutet, dass etwas im Land nicht stimmt“, erklärt er weiter.

Was Milivojević widerfahren ist, ist kein Einzelfall; vielmehr ist es Teil eines Musters – eines Musters, das auch Ivan Medenica kennt, der frühere Künstlerische Leiter von Bitef. Medenica wurde 2015 nach dem Tod von Jovan Ćirilov zum Künstlerischen Leiter

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ernannt; Ćirilov hatte das Festival 1967 gemeinsam mit Mira Trailović gegründet. Sein Mandat sollte Ende 2022 auslaufen; zu diesem Zeitpunkt liefen bereits Verhandlungen mit mehreren ausländischen Unternehmen für das nächste Festivaljahr. Doch trotz Bemühungen erhielt Medenica keine offizielle Antwort vom Kultursekretariat – nur eine inoffizielle Mitteilung: Er solle weiterarbeiten; eine Garantie für ein neues Mandat könne jedoch nicht gegeben werden.

Milivojević wurde im Februar 2023 ernannt und konnte zusammen mit Grumić und Geschäftsführerin Ksenija Đurović ein Festival im September organisieren – allerdings unter schwierigen Bedingungen. Erst im vergangenen Jahr konnte das Team mit einem Programm wirklich Akzente setzen, das u. a. Milo Raus „Antigone im Amazonas“ und Carolina Bianchis „Cadela Força Trilogy – Chapter I: The Bride and the Goodnight Cinderella“ sowie Werke aufstrebender regionaler Künstler wie Tjaša Č rnigoj und Žiga Divjak präsentierte. Das Festival wurde anerkennend aufgenommen, doch Milivojević glaubt nicht, dass die Behörden die Durchführung eines erfolgreichen Festivals als Priorität betrachten. „Das sind keine ernsthaften Leute. Sie kümmern sich nicht um irgendein Festival. Kultur interessiert sie nicht“, sagt er. Diese Meinung teilt auch Medenica: „Aufgrund der Verantwortungslosigkeit und Ignoranz der Stadtbehörden“, erklärt er, „wurde Bitef innerhalb von nur zwei Jahren zum zweiten Mal in eine ernste Krise gestürzt.“ Selbst während der Zersplitterung Jugoslawiens und der Kriege der 1990er Jahre, als Serbien internationalen Wirtschaftssanktionen ausgesetzt war, fiel Bitef nie aus. Doch ohne schnelle Entscheidungen über die Zukunft des Festivals erscheint es zunehmend fraglich, ob es in diesem Jahr stattfinden kann. Milivojević sieht dies jedoch nicht unbedingt negativ: „Ich bin kein Fan der The-show-must-goon-Idee“, sagt er. „Wenn man unter allen Bedingungen bereit ist, einen Weg finden zu finden, um zu überleben, ist das keine gute Strategie“, fügt er hinzu. „Wenn man mit weniger Geld, weniger Vorbereitungszeit und sogar ohne Künstlerischen Leiter weitermacht, unterstützt man in gewisser Weise die Behörden.“ Derzeit ist Serbiens Kulturbudget eines der niedrigsten in Europa. „Das zeigt deutlich, welchen Stellenwert Kultur für sie hat“, sagt Milivojević . Ihrer einzigen Maßgabe zufolge zählt nur, ob man die Partei unterstützt oder gegen sie ist. „Das ist das Einzige, was für sie von Bedeutung ist.“ Die Proteste dauern weiterhin an, doch seit dem 15. März scheint sich etwas verändert zu haben. Sowohl Milivojević als auch Grumić empfinden eine Mischung aus Angst und Hoffnung angesichts der aktuellen Lage im Land. „Man dachte immer, diese Generation junger Menschen sei sehr apathisch“, sagt Grumić , „dass sie sich nicht für das politische Leben interessieren würden – und sie haben uns gezeigt, dass sie sehr politisch sind. Sie wissen genau, worüber sie sprechen und was ihnen wichtig ist.“ Ihre Aktionen zeigen spürbare Auswirkungen – so trat kürzlich Premierminister Miloš Vučević zurück – und haben auch psychologische Folgen. „Es hat definitiv eine Art Paradigmenwechsel gegeben“, sagt sie. „Für mich ist klar, dass nach diesem Ereignis nichts mehr so sein wird wie zuvor – egal, wie es endet.“ T Aus dem Englischen von Nathalie Eckstein

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Foto Pinelopi Gerasimou

Verlag Theater der Zeit Vorabdruck

ANNNA³. The Worlds of Infinite Shifts, Ioanna Paraskevopoulou, Karolina Szymura and Ying Yun Chen at Athens Festival, 2021.

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck

I see You see Me – The Poetics of Mutual Observing Alexandra Waierstall in conversation with Matthias Quabbe on expanding space and time, generosity as choreographic practice, and the magic of geometry.

MATTHIAS: TWENTY years of work and such a variety of projects with different setups, outlines, locations, casts … Is there a continuous interest that runs through?

What inspires you?

ALEXANDRA WAIERSTALL: I love the moment of people connecting and I am curious about a special kind of beauty that comes out of this connection. It is the beauty of holding space for each other and building trust, which is the basis of everything. It is the beauty of how the body perceives, feels and senses and creates an opening into a space of alignment where it’s neither possible nor necessary to know who’s carrying whom. The beauty is in the connection, in the slowing down, in the subtle shift of weight that’s a beginning, an opening. Even the body standing, if it just shifts a little bit, there is just this constant movement, this perception of really going to the essence of things. It creates something that is inviting and allows us to be a part of it. I think this curiosity and the nourishment that comes with it drives my work.

MQ: So, it is about an ambiguous state of togetherness.

AW: It is a constant mode of transition. There is no resting, there is no conservative idea of stability. There are different layers of transitioning happening on the time level, on the space level, on the body level, on the personal level, but it is not happening on each level in synchrony.

Therefore, I work with and communicate through these different levels of the transitioning. That’s what we could call choreography: facilitating a communication between the transition that’s happening on many levels.

Theater der Zeit 5 / 2025

MQ: This transition happens in the work, in the studio, but also from project to project. We see costumes, objects, sound etc. travel from one project to the other. What is that about?

AW: It is the same transformation that is happening with movement from one body to the other. Everything travels through the projects. And it transforms from one work to the other, sometimes just in nuances, but it changes everything. This concept comes from and initiates attentiveness, which is essential for how I work with people, what the projects breathe and what the work needs to be perceived. What I believe the whole world needs.

And here we meet: Choreography at the edge of time Herausgegeben von Judith Jaeger und Matthias Quabbe in Zusammenarbeit mit Alexandra Waierstall

MQ: Is it a concept of sustainability?

AW: I think it’s more than that, because it does not aim at the economy of the production, but at the ecology of continuous involvement and pursuit, exceeding the limits of just one project. It is about understanding my practice, my collaboration with others, the connection between everyone and everything involved as wider and deeper than the short cycle between rehearsal and premiere. That refers to the people I work with and it also refers to choreographic material and objects, like the costumes, light, sound, text.

MQ: And it is not just a mode of operation.

AW: It is a way to deal with and work on time. I do not just upcycle parts of my work. They travel from one project to the other, but they never stay the same. They transform and simultaneously change what’s around them. That’s how elapsing time forms and is formed by the bodies, the people, the material – apart from my own influence on the projects.

I see it as a quality of futurism, an idea of a (not the) future, like a memory of the self. It comes in a tiny but steady dose and maybe sticks to the work rather like a soft, fleeting smell than a plain-tosee visual aesthetic on the surface. T

Neuerscheinungen aus dem Buchverlag online vollständig lesen. Weitere Infos unter tdz.de/abo

Offene Fadenbindung mit ca. 200 S. Buch in englischer Sprache mit QR-Code deutsch Erscheint im Juli 2025 ISBN 978-3-95749-570-9 (Print) EUR 35,00 (Buch oder E-Book)

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Magazin Kolumne

Wir gehen rein Von Lina Wölfel

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Woran erkennt man eine Kulturjournalistin in einer veritablen Lebenskrise? Erstens: Sie benutzt das Wort veritabel anstelle von „echt“. Zweitens: Sie geht nicht mehr ins Theater. Warum? Weil das Theater sie nicht mehr berührt. Theater ist Beruf. Zitatfetzen, Punchlines, Szenenbeschreibungen und Assoziationen, mehr oder weniger lesbar in ein A5-Notizbuch gekritzelt.

Bis zu einem Tag im Mai vergangenen Jahres. Auf der Bühne im Schauspiel Leipzig flippen zwei Herren in einem Wald Steine. Sie kommen ins Gespräch und stellen fest, dass sie beide Fußballprofis sind, beide bei Real Madrid spielen und beide – was für ein Zufall – bereits dreimal die Champions League gewonnen haben. Da passiert es: Die Kritikerin schmunzelt. Aus dem Schmunzeln wird lautes Lachen. Und gleich darauf Rührung, wenn sich beide – stets in der dritten Person Plural – die wohl höflichsten Komplimente der Theatergeschichte machen: „Ich sprach von ihren Augen und wie sehr ich sie mag. Und dass sie dann am schönsten sind, wenn sie mich ansehen.“ Ruhige, unaufgeregte Blicke, geradezu minimale Gesten des Sich-Annäherns, ein

„Wir gehen rein“ – An dieser Stelle greift TdZ-Redakteurin Lina Wölfel Phänomene der ­ Theaterwelt auf.

Theater der Zeit 5 / 2025

Foto Isabel Machado Rios

„zwei herren von real madrid“ von Leo Meier. Regie Albrecht Schroeder am Schauspiel Leipzig

schüchternes Lächeln und dann: „Sie haben recht, ich sehe sie.“ *Boom*, entwaffnet.

Ich frage mich, wann ich das letzte Mal zwei Menschen so zärtlich miteinander habe umgehen sehen. Im echten Leben UND auf der Bühne. In den letzten Jahren war Theater für mich stilistisch geprägt durch Abstraktion und Diskursästhetik. Weg vom (Mit-)Fühlen, hin zum Nachdenken, Überdenken, ja manchmal sogar BelehrtWerden. Auf der Bühne: oft Einzelkämpfer:innen. Die Rückeroberung gemeinsam erlebter Momente der Zärtlichkeit hält da einen fast kathartischen Gegenentwurf bereit. Zärtlichkeit impliziert ein Tun, die Aufforderung zum aktiv Zärtlich-Handeln. Die Autorin Şeyda Kurt beschreibt diese Kraft in ihrem Buch „Radikale Zärtlichkeit“: „Es geht um ein Handeln, das einem anderen Menschen zuspielt, mit ihm spielt, bejahend und produktiv, ohne ihm schaden zu wollen. Bei Zärtlichkeit denkt kaum jemand an Gewalt.“ Theater ist die Vereinbarung, kollektiv eine Wirklichkeit auf Zeit auszuprobieren. In der Wiederholung dieser (zunächst theatralen) Vereinbarung liegt das Potenzial einer das Theater überschreitenden Gegenwart.

Ganz konkret: Zärtlichkeit – begreift man sie als Handlungsprämisse – spiegelt nicht nur das Problem, sondern macht eine Lösung erfahrbar – sie ist eine subversive Technik.

Da müssen wir reingehen. Ich suche Zärtlichkeit seit jenem Abend im Mai in allem, was ich sehe und schreibe. Erobern wir uns die Zärtlichkeit zurück. Und fangen wir auf der Bühne an. Sehen wir einander. T

Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

Autorinnen / Autoren 5 / 2025 Josef Bäcker, Künstlerische Leitung, Jena Friedrich Dieckmann, Schriftsteller und Essayist, Berlin Yinfu Gao, Regisseurin und Theaterkritikerin, Frankfurt am Main

Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Michael Helbing, Stefan Keim, Elisabeth Maier, Lara Wenzel, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Nathalie Eckstein (Online), Lina Wölfel (Online) Mitarbeit Iris Weißenböck (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Anica Happich, Theaterleiterin, Erfurt Céline Karow, Künstlerische Leitung, Jena Sophie-Margarete Schuster, Kulturwissenschaftlerin und Autorin, Berlin Natasha Tripney, Kritikerin, London und Belgrad Juliane Voigt, Kritikerin und Autorin, Stralsund

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand.

Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 80. Jahrgang. Heft Nr. 5, Mai 2025. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 02.04.2025 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit X.com/theaterderzeit

Vorschau 6 / 2025 Die französische Autorin MarDi

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Juni 2025 Sandra Hüller führte erstmals Regie und legte sich am neuen theater in Halle die Latte dafür gleich besonders hoch: „Penthesile:a:s“ der französischen Autorin MarDi ist eine komplexe Auseinandersetzung mit dem schon bei Kleist ungeheuer verwickelten Amazonenkampf – der Stückabdruck.

Theater der Zeit 5 / 2025

Außerdem ein Schwerpunkt zum Thema Heimat(en) mit Thüringer Spezialitäten, sächsischen Erkundungen und einem gerade eröffneten Haymatministerium in Mannheim.

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Foto privat

tdz.de

Magazin Interview

Im Gespräch mit Stefan Keim

Franziska Werner ist Kuratorin, Dramaturgin und Produktionsleiterin. Viele Jahre war sie die Künstlerische Leiterin der Sophiensæle in Berlin. Von 2025 bis 2027 ist sie für das Impulse Festival ­verantwortlich, das nun den Untertitel „für Performance, Theater und Tanz“ trägt. Die erste Ausgabe unter ihrer Leitung findet vom 18. Juni bis 6. Juli statt.

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Bevor du deine erste Festivalausgabe präsentiert hast, gab es Kürzungsankündigungen durch die Stadt Köln. Das Programm wirkt aber noch umfangreicher als vorher.

Wie geht das zusammen?

FW: Die Kürzungen aus Köln scheinen zum Glück zumindest für diese Ausgabe vom Tisch. Uns wurde der volle Beitrag aus Köln für die Impulse zugesagt, auch wenn der Haushalt noch nicht final verabschiedet ist. Dass das Festivalprogramm umfangreicher wirkt, liegt wahrscheinlich an der veränderten Programmstruktur: Wir präsentieren das Festival nun an drei verlängerten Wochenenden nacheinander mit Produktionen aus allen drei Programmschienen, Showcase, Post-West und Impulse meets …, in allen drei Festivalstädten Mülheim an der Ruhr, Köln und Düsseldorf.

Der Showcase umfasst elf Produktionen.

Viele Performances sind dabei, auch populäre Formen wie Stand-up oder True Crime werden bedient. Die Off-Szene wirkt in ihrer Vielfalt oft unübersichtlich. Welche inhaltlichen und ästhetischen Trends lassen sich ausmachen?

FW: Ich würde sagen, die Freie Szene ist so vielfältig und unterschiedlich wie die Gesellschaft. Klar greifen die Künstler:innen Fragen auf, die sie persönlich beschäftigen, auch politisch. Diese werden oft sehr originell und unerwartet mit anderen Erzählungen und Themen verknüpft – sei es eine Haartransplantation mit einem Klassenaufstieg, Schwarze Schlagerstars und Pina Bausch oder die radioaktive Wolke von Tschernobyl mit KI-Clouds. Und genau aus solch individuellen Verknüpfungen entstehen neue Perspektiven und unerwartete Kunsterlebnisse. Was die Formatvielfalt betrifft, hat sich die Freie Szene schon immer aus dem breiten Repertoire des Kunst- und Unterhaltungsbusiness bedient. Das ist ja oft genau das, was Spaß macht.

Neu ist u. a. eine neue Programmlinie namens „Post-West“. Ihr wollt mit Gastspielen und Austauschprojekten die Auflösung westlicher Werte und den Rechtsruck beleuchten. Geht es da mehr ums Beschreiben und Analysieren oder wollt ihr offensiv Orientierung und Lösungs­ ansätze bieten?

FW: Ich denke, von allem ein bisschen und weder noch. Mit Post-West geht es darum, Impulse zu setzen, die eben auch nach anderen Logiken funktionieren. Theater ist keine Nachrichtensendung oder Therapiestunde – zum Glück! Obwohl Therapie für mich manchmal schon. Es geht darum, dominante, scheinbar allgemeingültige Erzählungen, mit denen wir aufgewachsen sind, zu hinterfragen und beweglicher zu werden.

Das Verhältnis zwischen Ost und West erzählt viel über den Zustand unserer Gesellschaft. Die Erosion des Westens hat bereits mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der sogenannten Wende begonnen und nicht erst mit den Ereignissen in jüngster Zeit in den USA, der Ukraine etc.

Es gibt inzwischen eine Menge Festivals für Off-Produktionen. Was ist die besondere Rolle des Impulse Festivals?

FW: Die Impulse bringen seit 35 Jahren besonders bemerkenswerte Arbeiten der Freien Szene aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nach NRW. Mit einer Jury aus allen drei Ländern plus zehn Scouts und über 500 gesichteten Arbeiten gibt das Festival damit einen guten Ein-, aber auch Überblick über aktuelle Strömungen der Freien Szene. Die Impulse bleiben dabei ein Festival, dessen Juryentscheidung mit großer Spannung erwartet wird und durch die Verdichtung im Auswahlprozess auch eine Qualität verspricht. Die oft genannte Parallele zum Theatertreffen der Stadt- und Staatstheater kommt da nicht von ungefähr.

Ist die Zukunft des Festivals trotz der Einsparungen in Köln gesichert?

FW: Wir können gerade nur hoffen, dass die Finanzierung der Impulse stabil bleibt, sowohl aus den Festivalstädten als auch auf allen anderen Förderebenen – Kommunen, Land NRW und Bund. Gewissheiten ändern sich leider gerade sehr schnell und wir müssen wachsam und wenn nötig auch widerständig bleiben – das gilt ja, wie wir alle wissen. längst nicht nur für unser Festival. T Foto Katja Renner

Was macht das Theater, Franziska Werner ?

Theater der Zeit 5 / 2025

deutschestheater.de

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Die besten Theaterstücke der Schweiz Schweizer Theatertreffen

21.—25.5.2025 → Zentralschweiz

www.schweizertheatertreffen.ch

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