Ästhetiken der Intervention. Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters

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Ästhetiken der Intervention Ein- und Übergriffe im Regime des ­Theaters Ulf Otto und ­Johanna Zorn (Hg.)



Ästhetiken der Intervention


Ästhetiken der Intervention Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters Herausgegeben von Ulf Otto und Johanna Zorn Recherchen 156 © 2022 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Satz: Tabea Feuerstein Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio Printed in Germany ISBN 978-3-95749-304-0 (Paperback) ISBN 978-3-95749-425-2 (ePDF) ISBN 978-3-95749-426-9 (EPUB)


Recherchen 156

Ästhetiken der Intervention Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters Herausgegeben von Ulf Otto und J ­ ohanna Zorn



Inhalt

Johanna Zorn, Ulf Otto Einleitung Azadeh Sharifi »Noch einen Schritt weitergehen« Überlegungen zu weißer Imagination, ­Interventionen und ­dekolonialen Ästhetiken Matthias Warstat Intervention und Dissoziation Kollektivbildung im politischen Theater

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Julia Prager 61 ver-sammeln und ver-rändern Zur dislozierenden Intervention der Bürgerbühne bei Vanessa Stern und Bürger:innen (Schuldenmädchenreport, Dresden 2019) Sandra Umathum Von der Kunst, interventionistische Kunst ­überhaupt zu werden Simone Niehoff Künstlerische Interventionen als übergriffige Akte Wie das Zentrum für Politische Schönheit scheitert Lars Koch Performing Artivism Relevanzanspruch und Popularitätsmanagement beim Zentrum für Politische Schönheit, bei Milo Rau und Friedrich von Borries Johanna Zorn Inframinimale Spiele der Differenz Ein kunsttheoretisches Abtasten des Modells ›Intervention‹

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Benjamin Wihstutz Kippmomente 158 Über Aktivismus, Theater und Politik Anna Raisich Vom Glauben an die Macht der Bilder Wie man die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit ­kritisiert

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Ulf Otto Die Kunst der Umbesetzung Intervention als Artikulation in Mittelreich (2017)

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Marita Tatari On the change of change Handlung und Bühne unter gegenwärtigen Bedingungen

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Kai van Eikels Was dazwischenkommt beim Intervenieren (Nazis, Renovierungen, alltägliches Vergessen)

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Autor:innen

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Johanna Zorn, Ulf Otto Einleitung Im Jahr 2000 nimmt Christoph Schlingensief die FPÖ beim Wort und spielt Big Brother mit Asylsuchenden: Auf dem Platz vor der Staatsoper steht im Rahmen der Wiener Festwochen ein Wohncontainer und jede Woche wird gewählt, wer abgeschoben wird. Darüber prangt ein Plakat mit der Aufschrift »Ausländer raus«. Es entsteht eine Kippfigur aus Kunst und Politik, die die bürgerlichen Werte in den Double Bind nimmt: Wer schweigt, stimmt zu, wer stört, versteht die Kunst nicht. Jeden Tag wird vor Ort, in der auflagenstärksten österreichischen Tageszeitung Krone und im ORF in heftiger Erregung um das Bild gestritten, das von Österreich um die Welt geht, während das Feuilleton genüsslich beobachtet, wie die individuellen und kollektiven Selbstinszenierungen in medialen Rauch aufgehen. Der Filmemacher Schlingensief zerrt das deutschsprachige Theater aus der ästhetischen wie politischen Provinzialität auf die Weltbühne und verleiht ihm das Pathos der Avantgarde. Auf den Container konnte man sich einigen, weil er als Vergleichsgröße eines Theaters der Intervention taugt, das anders politisch sein will, als es Postdramatik und Performativität gedanklich zugelassen haben. Zugleich aber markiert dieser Container auf dem Opernplatz am Ende des 20. Jahrhunderts einen Moment, der nicht mehr der unsere ist. Die Geste der Entlarvung, die noch den Container umweht, hat einen schalen Beigeschmack bekommen (und Geschmack ist in der Ästhetik bekanntlich eine nicht unwesentliche Größe). Denn einerseits stellt sich die Frage, ob eine solche Demaskierung einer Neuen Rechten heute noch beikommen könnte, die längst die Maske hat fallen lassen und zugleich die demagogische Maskerade professionalisiert hat. Andererseits wiederum muss sich die künstlerische Maskierung, die zur politischen Demaskierung dient, inzwischen die Frage gefallen lassen, was sie für diejenigen bedeutet, deren Gesichter da als Maske dienen. Angesichts der zunehmenden Sorge um die natürlichen wie gesellschaftlichen Umwelten, stellt sich heute also auch an Interventionen grundsätzlicher denn je die Frage, was von ihnen bleibt, wenn der Zirkus weiterzieht. Intervenieren – vom lateinischen intervenire (dazwischenkommen) – bedeutet, sich einzumischen: von außen kommend, örtlich und zeitlich befristet, in Situationen, die als krisenhaft definiert werden

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und durch das eigene Handeln zum Guten gewendet werden sollen. Notwendig sind Interventionen daher übergriffig, stellen Souveränität in Frage, erfordern Legitimation und setzen Institutionen voraus, die über Definitionsmacht verfügen: Oberkommandos, Zentralbanken, Seelsorger, die hier im generischen Maskulin stehen bleiben, um die patriarchale Geste, die dem Eingriff innewohnt, nicht zu verschleiern – und seit Ende des 19. Jahrhunderts auch Philosophen. Statt nur Interpretation fordert die elfte Feuerbach-These eben auch Intervention.1 Sie erschafft damit einen Linksintellektuellen, dessen J’accuse, das seinerseits eng mit der Konstruktion heroischer Männlichkeit verbunden ist, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts poststruktural und postkolonial dekonstruiert, sich sowohl theoretisch wie praktisch in die distribuierte Artikulation von Dissens auflöst.2 Bei Maurice Blanchot bleibt ein radikales Nein, das auf eine Not reagiert, welche die Kunst zur Antwort nötigt.3 Ähnlich entfaltet die Kunst bereits bei Herbert Marcuse ihre »magische Kraft nur als Kraft der Negation«4, bei Adorno wiederum ist sie gar das fundamental Nichtidentische, das immer das emphatische »Es soll anders sein«5 ausrufen müsse. Wichtiger allerdings als diese theoretischen Positionen der ästhetischen Negation sind seit den 1960er Jahren häufig die Aktionen feministischer Performances im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen, die dem Dissens und seiner Logik der Unterbrechung die Form geben.6 In der Kunst tritt die Intervention insofern zumeist in Opposition zur Repräsentation auf. Es ist das programmatische Übergreifen in das Terrain des (Sozio-)Politischen über die Dimension des Ästhetischen hinaus und damit das Überschreiten dessen, was gemeinhin als moderne Autonomieästhetik bezeichnet wird, das Interventionen auszeichnet. In avantgardistischer Tradition relativieren sie einen bürgerlichen Kunstbegriff, der das politische Potential der Kunst gerade in ihrer kategorialen Distanz zur Politik begründet sah, und verbinden mit dem Grenzübertritt nicht zuletzt die Hoffnung auf eine Erneuerung der Kunst. Daher ist der Ein- und Übergriff der künstlerischen Intervention zuerst einmal Geste, stellt Haltung aus und ist auf die behauptete Wirksamkeit nicht angewiesen. Die Transgression der Dichotomie von Kunst und Politik ist zentral, bleibt aber temporär, so dass sie eher als ein Flirt mit der Überwindung dieser Trennung erscheint, dessen Attraktivität sich gerade aus der zeitweisen konfliktuellen, bisweilen konfrontativen Überlagerung der ästhetischen und politischen Sphäre ergibt.7 Mehr als fraglich bleibt insofern, ob der Anspruch einer künst-

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Einleitung

lerischen Handlung auf »Realitätsproduktion« tatsächlich so simpel zu bewerkstelligen ist, wie es etwa das kuratorische Team der 7. Berlin Biennale 2012 rund um Artur Żmijewski nahelegte, indem es behauptete: »Wir stellen Kunst vor, die tatsächlich wirksam ist, Realität beeinflusst und einen Raum öffnet, in dem Politik stattfinden kann.«8 Denn einerseits lebt der Begriff der Intervention vom Auftrag zu Wirksamkeit, Direktheit und Transformation durch ein nunmehr explizit ins Feld des Politischen und Sozialen ausgeweitetes künstlerisches Tun, beschreibt andererseits aber ein Handeln, das notwendig im Feld des Ästhetischen verankert bleiben muss. So sind es letztlich die Ambivalenzen und Aporien der Sphäre des Ästhetischen selbst, des nur scheinbar fest umrissenen Felds der Kunst, die von Interventionen aufgestört und sichtbar gemacht werden. Das bedeutet zugleich, dass künstlerische Interventionen die Stabilität jener Institutionen, aus denen heraus sie operieren, geradezu voraussetzen. Weil die Institutionen ihnen die Macht über die Verhältnisse, in die sie eingreifen, überhaupt erst verdanken, müssen sie notwendig zu ihnen zurückkehren, um überhaupt künstlerische Interventionen zu bleiben. Ein kurzer Blick in die Geschichte dezidiert politischer Theaterpraktiken illustriert diese komplexe Verwicklung von Distanzierung und Wiedereintritt in das Reich der Kunst: Erwin Piscator, der das politische Theater vom Begriff her erfindet, erträgt, aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt, die bürgerliche Schauspielerei, die sein Beruf war, nicht mehr und wendet sich stattdessen dem Agitprop zu. Damit stellt er sich zugleich in den Dienst der Partei, eröffnet mit finanzieller Unterstützung eines Industriellen nur wenige Jahre später die Piscator-Bühne und dadurch ein Theater, das die Welt wieder, wenn auch mit neuen Mitteln, abbildet. Ganz ähnlich halten es die historischen Avantgarden, deren programmatische »Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis«9 hauptsächlich in den Stätten der Kunst verbleibt. Bereits vor ihnen ist es Richard Wagner, der im Geist der Revolution zwar das »große Gesamtkunstwerk«10 als das Kunstwerk der Zukunft erträumt, mit seinem ›Bühnenweihfestspiel‹ schließlich sogar an der Neuerfindung des Ritus arbeitet, letztlich aber doch (nur) Theater macht. Die Strategien zur Überwindung der Trennung von Kunst und Leben sowie der Teilung in die Tätigkeiten des Vorspielens und Zuschauens zugunsten der Inszenierung von ›direkter Aktion‹ werden im Laufe des 20. Jahrhunderts vielfältig. Augusto Boals Programmatik, das Theater tatsächlich ›unsichtbar‹ zu machen oder, mehr noch, seine Methode des Forumtheaters will das Publikum tatsächlich zum aktiven

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Gestalter von szenischen Umwelten formen und zu gesellschaftlich verantwortlicher Handlungsfähigkeit ›erziehen‹.11 Im Living Theatre rund um Julian Beck und Judith Malina oder in der experimentellen Performance-Group von Richard Schechner tritt das Publikum ebenso aktiv in die Handlung ein und agiert exemplarisch gesellschaftliche Rollenzuschreibungen kritisch aus, ohne allerdings das Theater dabei zu verlassen. Marina Abramović und andere Vertreter:innen der Body Art, die sich nicht nur selbst ins Fleisch schneiden, sondern mit diesem Schnitt prekäre Präsenzen erzeugen, um sich der Repräsentation und Reproduktion vorderhand zu entziehen, setzen seit jeher alles daran, um ihr Vorkommen im kulturellen Gedächtnis medial zu garantieren.12 Die Interventionen im postdramatischen Theater seit den 1980er Jahren wiederum, die darauf zielten, den Einsatz des Theaters selbst ins Spiel zu bringen, erscheinen zunehmend als in sich selbst gefangen.13 Schlingensief schließlich, der wie bereits angedeutet, vielleicht am vorläufigen Ende einer Entwicklung steht, gründet mit Chance 2000 zwar eine echte Partei, treibt allerdings mit der zentralen Forderung, sich selbst zu wählen, ein intrikates Spiel um Selbstwirksamkeit und gesellschaftlichen Zugriff, das der Politik notwendig fremd und im Bereich der Kunst verankert bleiben muss.14 Die Dramaturgie der künstlerischen Intervention ist insofern der Heldenreise, dem Joyce’schen Monomythos, nicht ganz unähnlich.15 Den Auftakt bildet die Bestimmung eines Mangels und einer Aufgabe, der zum Überschreiten der Schwelle in eine Welt (außerhalb der Kunst) führt. Diese ist zunächst insofern fremd, als dass die bekannten Handlungsroutinen hier (in einem anderen Sozialsystem) nicht mehr gültig sind. Es folgt das Abenteuer, das sich als eine Reihe von Prüfungen gestaltet, in denen es gilt, dem und vor allen den Unbekannten (Aktanten) zu begegnen. Die Reise gipfelt schließlich in der Apotheose des maskulin konstruierten (Künstler-)Helden, der an diesen Begegnungen gewachsen ist. So steht am Ende die Rückkehr des gereiften Helden, dessen Schatz an (Welt-)Erfahrung schließlich die von ihm zurückgelassene (Kunst-)Welt in eine neue Freiheit führt. Es sind Berufung (Definition der Krise), Abenteuer (Kontingenz der Situation) und Heimkehr (Transformation des Systems), aus denen sich Interventionen zusammensetzen und auf die sie sich befragen lassen: Somit stellt sich, erstens, die Frage nach der diskursiven Politik und der epistemischen Gewalt, die mit der Bestimmung der Verhältnisse wirksam wird: Wie stellen Interventionen die Welt dar, in die sie sich einmischen? Zu fragen ist, zweitens, nach den Strategien der Kontingenzbewältigung: Verstopfen sich Künstler:innen die Ohren

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Einleitung

und schlagen das Gegenüber symbolisch tot, um Kurs auf ihrer ›Reise‹ zu halten und Autorität zu wahren, oder setzen sie die eigene Identität auf’s Spiel und verhalten sich insofern ver-antwortlich? Drittens schließlich steht die Frage nach dem, was bleibt und dem, was wird nach der Rückkehr, kurz: nach dem Wiedereintritt in die Kunst. Bringt das Ende der Weltläufigkeit also etwas anderes als Distinktionsgewinne und neue Grenzschließungen? Hat sich nachhaltig etwas verändert im Verhältnis von Kunst und Welt? Da Interventionen immer Transgressionen sind, wenn vielleicht auch nur temporäre, haben die Fragen, die sie provozieren, sowohl eine ästhetische als auch eine ethische Dimension. Vielleicht bestünde das eigentliche Potential der künstlerischen Intervention deshalb gerade darin, die Frage nach den Konsequenzen in jene Sphäre zurückzutragen, die maßgeblich aus der eigenen Konsequenzlosigkeit heraus operierte.16 Durch einen zeitgenössisch verstärkt politisch-aktivistischen Zu- und Angriff auf die Institution Theater wie umgekehrt durch die forcierte Ausweitung von Theatern hin zu gesellschaftskritischen Konfrontations- und integrativen Begegnungsräumen ist das Etikett der Intervention mittlerweile für ein institutionelles Selbstverständnis von Engagement attraktiv geworden. So können etwa institutionskritische Überschreibungs- und Aneignungsstrategien Gegenentwürfe zu normativen Repräsentations-, Besetzungs- und Wahrnehmungspolitiken vornehmen, indem sie dominante Funktionsweisen im »ästhetischen Regime« des Theaters offenlegen, das mit Jacques Rancière auf einer spezifischen »Aufteilung des Sinnlichen«17 beruht, die den jeweils geltenden Raum des Sicht- und Sagbaren bestimmt und nach außen hin abgrenzt. Der Begriff der Intervention im Theater kann sich dabei weder auf eine klar konturierte Theoriebildung noch auf eine Vielzahl an einschlägigen Referenzfiguren und -praktiken berufen, sondern markiert in einem recht breiten und ungefähren Sinn einen Anspruch auf Wirksamkeit.18 Eine erhellende Vergleichskonstellation eröffnet der Blick auf den Bereich der bildenden Kunst und der Performance, wo der Interventionsbegriff seit den 1990er Jahren zunehmend Verwendung findet. Er fungiert dort als lose Sammelbezeichnung für ästhetische Manifestationen, die sich dem Phantasma der unbeteiligten Kritik offensiv widersetzen und auf ein hohes Maß an Sichtbarkeit außerhalb der elitären Kunstschauplätze abzielen. Die von unterschiedlichen Kunstakteur:innen geforderte Inversion einer »depoliticizied celebration of surface«19 zugunsten einer Reklamation von gesellschaftlicher

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­ irksamkeit soll sich nunmehr in ›ergebnisoffenen Projekten‹ artikuW lieren. Im Bestreben, »künstlerische Praxis als ein gesellschaftliches Handlungsformat«20 zu performieren, gerät dabei der pragmatische Aspekt des Kunstgeschehens zunehmend ins Zentrum des Interesses. Angesprochen sind damit aktivistische Kunstformen, die, wie im Portmanteau Artivismus deutlich angezeigt, eine wechselseitige Infizierung von Kunst und sozialer Aktion einfordern, aber auch der vielgestaltige Bereich von Kunst im öffentlichen Raum wie die unterschiedlichen künstlerischen Strategien der Subversion und Suspension einer weithin anerkannten symbolischen Ordnung. So fasst das Begriffs­ lexikon zur zeitgenössischen Kunst (2006) »Interventionismus und Aktivismus«21 im gleichnamigen Eintrag auch zusammen und nennt das Aufbegehren gegen sexistische und rassistische Funktionsweisen kultureller Institutionen durch die Guerilla Girls oder die Plakataktionen des Kollektivs ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power), die »das homophobe Unbewusste der Staatsräson«22 offenlegten, in den USA der 1980er Jahre als einschlägige Beispiele. Diese Szene aktivistischen Intervenierens in politische und soziale Kontexte, zu der im internationalen Spektrum sowohl die seit den 1990er Jahren in Österreich tätige WochenKlausur zu zählen ist wie die seit 2011 aktive feministische Punkrockband Pussy Riot oder die 2013 als ­Standing Man titulierte Protestaktion von Erdem Gündüz, agiert ihrem Selbstverständnis nach »mit konkreten Zielsetzungen«23 und begreift künstlerisches Schaffen »nicht mehr als formale[n] Akt, sondern als Eingriff in unsere Gesellschaft«24. Eine etwas andere Facette des Wirkungsversprechens von direkten Eingriffen wiederum füllt das Spektrum der sogenannten »urbanen Intervention«25 aus, die kritische Praxis zuallererst als Thematisierung von unterhinterfragten Wahrnehmungskonditionen des öffentlichen Raums ausübt und Städte als Einschreibungsorte architektonisch-künstlerischer Brechungen nutzt, dabei aber durchaus stadtplanerischen Marketingstrategien zuarbeiten kann. Die Intervention kann sich also auch im Bereich der bildenden Kunst weder auf ein geschlossenes Konzept im Singular noch auf eine klar konturierte Theoriebildung berufen. Dass es sich bei der Intervention um einen »überverwendeten, aber unterbestimmten Begriff«26 handelt, wie es im Untertitel des von Friedrich von Borries herausgegebenen Glossar der Interventionen heißt, liegt dabei nicht nur am heterogenen Ensemble von Ansprüchen auf Engagement, Transformation und impact, die er unter sich vereint. Widerstand gegen eine theoretisch und historisch konsistente Rahmung produziert die Interventionen inhärente Unterbrechungs- und Überschreitungslogik selbst.

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Einleitung

Zentrale historische und ästhetische Anknüpfungspunkte für ein Verständnis sowohl von Kunst als sozialer Fuge (»social interstice«27) wie als Produktion von Dissens und Modus der Verschiebung liefern insofern eine ganze Reihe von künstlerischen Praktiken aus den Bereichen der bildenden Kunst und der Performance seit den 1960er Jahren, die Widerstand gegen die Vorstellung vom geschlossenen Feld ›Kunst‹ und der Fokussierung auf ihre Objekte leisten wollten: Der Auszug aus den hermetischen Räumen der Kunst im Zuge der Land Art und die Entdeckung von Städten als Bühnen für skulpturale Eingriffe der Public Art ersetzten ein statisches und ortloses Betrachten von Kunstobjekten im vermeintlich neutralen White Cube28 durch Konzepte des Ephemeren, des Unabgeschlossenen und der Ortsgebundenheit bzw. -spezifität. Bereits die dezidiert kapitalismuskritische Ereignisästhetik im Umfeld der Situationistischen Internationale (SI) entdeckte die Stadt als Ort, in den Spuren ästhetischen Handelns eingedrückt werden können. Die linksintellektuelle Bewegung um Guy Debord erprobte mit den Tätigkeiten des Dérive (zielloses Umherschweifen), des Détournement (Umlenken und -kontextualisieren von gegebenen Sinnzusammenhängen) und der Récupération (Rückaneignung der symbolischen Ordnung) eine Reihe an subversiven Gebrauchspraktiken urbaner Umwelt, die später ein breites Echo in den kommunikationsstörenden Techniken der Kommunikationsguerilla erfuhren. Auch die aktivistisch grundierten Versuche der New Genre Public Art in den 1990er Jahren traten an, um einen Kontrapunkt zum unternehmerischen und apolitischen Ansatz der so bezeichneten Young British Artists um Damian Hurst zu setzen, und verpflichteten sich auf die ästhetische Kritik sozialer Handlungen.29 Das Anliegen, neue Kommunikationsräume zwischen Menschen und ihren urbanen Lebensräumen zu stiften, ging unterdessen über den im Zuge von Kunst im öffentlichen Raum bereits vollzogenen Ausbruch des Künstlerischen aus den Institutionen erheblich hinaus. Als Exempel einer mittlerweile selbst historischen Entgrenzung der Künste »im Zeichen der unmittelbaren Verwandlung der Lebenswelt in den ästhetischen Schwebezustand«30 legten sie den Fokus vom Kunstobjekt weg und stattdessen auf Prozessualität und Resonanz ästhetischer Kommunikation, um so die Ansprechbarkeit von Subjekten, das Affektgeschehen selbst ins Zentrum ihrer Aktionen zu rücken. Mit Blick auf diese Tendenzen argumentierte Nicolas Bourriaud mit seinem Schlagwort der Ésthetique Relationelle (1998) für einen Paradigmenwechsel weg von der »assertion of an independent and private symbolic space« hin zu »human interactions and its social context«31.

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Als Exponent für dieses Kunstverständnis, das den Austausch zwischen Menschen als »everyday micro-utopias«32 deklariert, dient dem Kunstkritiker u. a. der Künstler Rirkrit Tiravanija. Mit dessen Aktion Untitled (Free) (1992), die nicht mehr als eine Einladung zum Essen in die 303 Gallery in New York war, wo der Künstler seine Gäste bekochte, ging aus der Perspektive Bourriauds Begegnung, gesellschaftliche Öffnung und damit eine Gestaltung politischer Öffentlichkeit einher. Die Kritik an dieser Vision von Teilhabe und Austausch entzündete sich in der Folge vor allem an der antikonfrontativen Ästhetik wie an der Nobilitierung jeglichen Prinzips von Interaktion zu politischer Emanzipation. So wendet Claire Bishop im Rückgriff auf die radikaldemokratische Position Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes ein,33 dass das Fehlen jeglicher antagonistischer Disposition zugunsten eines Austauschs von zwischenmenschlichen Gesten keineswegs dazu prädestiniert sei, gegenhegemonial zu wirken, sondern vielmehr für die Konstitution autoritärer Strukturen offen stehe.34 Das von Bourriaud artikulierte Vertrauen in das ästhetisch-transformatorische Potential des Entgegenkommenden und Geteilten unterschlägt in diesem Sinn die Existenz eines substantiellen »Unvernehmens«35, das als Spannungsmoment jegliches Zwischen-Menschen-Sein prägt. Die notwendige Pluralisierung von vorhandenen Perspektiven und die Diversifizierung von Teilnehmer:innen am Kunstgeschehen kann dabei verstärkt durch Gemeinschaften thematisiert werden, die Nancy Fraser in kritischer Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas als counterpublics bezeichnet hat, in denen »members of subordinated social groups invent and circulate counter discourse«36. Die Erkenntnis allerdings, dass selbst widerständige künstlerische Haltungen gegen dominante Repräsentationslogiken des Ästhetischen und Funktionsmechaniken der »Kunstwelt«37 nicht zwangsläufig gegenhegemonial sein müssen, sondern wieder in institutionelle Selbstbefestigung rückübersetzbar sind, ging vor allem aus dem Betätigungsfeld der Institu­ tional Critique in den späten 1980er Jahren hervor. Die damit aufgerufene Praxis des Intervenierens in die Konstitutionsbedingungen, Verfahrensweisen und Machtpolitiken von Kunstinstitutionen ist eng verbunden mit den Künstlerinnen Andrea Fraser, Louise Lawler und Martha Rosler. Hatten bereits Künstler wie Daniel Buren, Marcel Broodthaers und Hans Haacke in den 1960er und 1970er Jahren subversive Strategien entwickelt, um die ökonomischen Wertdiskurse des mächtigen Museumsdispositivs offenzulegen, so war die Institutionskritik der 1980er Jahre vor allem daran interessiert, das komplexe Netz von Bedingungen des Zustandekommens und Funktionierens

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Einleitung

des Kunstsystems zu analysieren und sich selbst in diesem Angriff nicht außen vor zu lassen. Die Institutionskritik basiert dabei nicht nur, wie Isabelle Graw darlegt, »auf der Grundannahme, Kunst könne etwas bewirken«38, sondern schreibt ihr ebenso »eine epistemologische Funktion«39 zu. Die zentralen Operationsbegriffe der Recherche, Dokumentation und Analyse reagieren entsprechend auf diese Überzeugung. Ausgehend von der diskursiven Setzung liegt die paradoxe Situation der Institutionskritik mit Andrea Fraser darin, eben nicht von außen in ein distinktes Feld kommen zu können, »weil in die Inkraftsetzung von Verhältnissen zu intervenieren immer auch heißt, dass du selbst an ihrer Inkraftsetzung teilhast«40. Die unauflösbare »Ambivalenz der Institutionskritik«41 – wie jeglicher intervenierenden Praxis – fußt demnach auf einer zugrundeliegenden Spaltung, aufgrund der die Akteur:innen die Aufteilung in einen an der Institution partizipierenden und von ihr profitierenden Part einerseits und einen in diese Teilhabe eingreifenden Teil in actu reflektieren müssen. Dieses punktuelle Panorama politischer Ambitionen im Bereich der bildenden Kunst und Performance seit den 1960er Jahren zeigt zweierlei: Zum einen eine auffallend unterschiedliche Interpretation politischer Kunst, die von der Erzeugung eines Höchstmaßes an Direktheit im aktivistischen Kontext bis zur konsensorientierten Auslegung von zwischenmenschlicher Begegnung und Inklusion reicht; und andererseits die unterschiedlichen künstlerischen Methoden, die allesamt Angriffe auf Konzepte der künstlerischen Geschlossenheit – ob des Werkes, der Institution oder der Handlungsräume und -weisen – sind. Und wie sich in den Beiträgen dieses Bandes zeigt, sind es ganz ähnliche Fragen nach der Schließung des Ästhetischen, die auch im Bereich der performativen Künste unter dem Begriff der Intervention verhandelt werden.

Zu Aufbau und Inhalt des Buches

Das Interesse an den Ästhetiken der Intervention, aus dem heraus dieser Band entstanden ist, richtet sich insofern auf künstlerische Strategien einerseits und deren theoretische Einholung andererseits – und zwar im Horizont der ästhetischen Traditionen des europäischen Kunsttheaters. Weder ein Theater, das tatsächlich Sozialarbeit ist, noch die Theatralität politischer Kommunikation als solcher stehen im Rahmen dieser Publikation zur Debatte, sondern jene Arbeiten,

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die sich zwar an diesen beiden Phänomenen orientieren, das Feld der Kunst dabei aber höchstens zeitweise verlassen. Die Beiträge des Bandes nähern sich dem Thema im Spannungsfeld von ästhetischer Theoriebildung, historischer Perspektivierung und exemplarischer Analyse konkreter Interventionen. Sie fokussieren gescheiterte Aktionen und erfolgreiche Artikulationen von Ein- und Übergriffen, reflektieren öffentliche Diskussionen und ästhetische Debatten, durchdringen heroische Figuren und pathetische Manifeste. Einerseits sind es dabei die etablierten ›Marken‹, wie das Zentrum für Politische Schönheit um Philipp Ruch, das Institute for Political Murder von Milo Rau oder Christoph Schlingensief, die einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Andererseits sind es im Diskurs des Theaters weniger prominent platzierte und internationale Arbeiten, wie die Performances von Terre Thaemlitz, die Aktionen von Cesare Pietroiusti, Paul Chan oder Koki Tanaka sowie die programmatische »Schwarzkopie« von Mittelreich durch die Regisseurin Anta Helena Recke, die den Bereich zeitgenössischer Interventionen um signifikante Aktionen und Performances erweitern. Die Beiträge vereint, dass sie detaillierte Analyse und ästhetische Theoriebildung immer auch mit der Frage verbinden, wie sich die häufig großen Gesten der Kunst in den Räumen des Sozialen effektiv niederschlagen, welche Kontroversen sie auslösen und wie sie die Felder von ›Kunst‹ und ›Politik‹ ins Verhältnis setzen. Insofern kommunizieren die einzelnen Artikel auf sehr unterschiedlichen Ebenen miteinander. Einige greifen dieselben Arbeiten auf, andere teilen theoretische Bezugspunkte und wieder andere begegnen sich im weiten Raum von korrespondierenden, aber auch auseinanderstrebenden Fragestellungen und Denkfiguren. Würde man sie ordnen wollen, so ergäbe sich ein Netzwerk, das sich vielfältig arrangieren, aber nicht linear abbilden ließe. Entsprechend stellt die gewählte Reihenfolge, die Anschlusspunkte ebenso wie Perspektivwechsel fokussiert, eine von vielen Möglichkeiten der Strukturierung dar. Azadeh Sharifis Beitrag befasst sich im Kontext der Dekolonialisierung des deutschsprachigen Theaters und vor dem Hintergrund einer globalen antirassistischen Bewegung mit Interventionen. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet Anta Helena Reckes ­Mittelreich (2017), das in eine facettenreiche Geschichte des Widerstands marginalisierter Gruppen gegen Vereinnahmung und Fremdzuschreibung im Theater der BRD eingeordnet wird. Mittelreich wird als antirassistische Intervention gegen hegemoniale Narrative

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Einleitung

verstanden, die unmittelbare Vorläufer in den Protesten gegen die Inszenierung von Bernard-Marie Koltès’ Stück Combat de nègre et de chiens (1980) im Jahr 2003 an der Berliner Volksbühne sowie das Black­ facing in Michael Thalheimers Inszenierung von Dea Lohers Unschuld am Deutschen Theater Berlin 2012 hat. Die Aneignung des weißen Theaterraums führt in der Darstellung Sharifis in drei Schritten vom Protest vor dem Theater zur Aktion im Saal und kommt schließlich mit Mittelreich auf der Bühne selbst an. Dabei geht es der Autorin vor allem um den Prozess des interventionistischen Einschreibens in eine deutsche Geschichtserzählung, die wesentlich von Ausschlüssen geprägt ist. Ins Zentrum der Intervention rücken insofern die Modalitäten von Geschichtsschreibung und mit ihnen die Frage, welche Geschichten auf und von deutschen Bühnen erzählt werden. Matthias Warstat geht in seinem Beitrag historisch weiter zurück und kontrastiert die Interventionen im politischen Theater der Gegenwart mit dem Agitproptheater rückt hierbei die Frage nach der Kollektivbildung in den Mittelpunkt, die Warstat gerade auch in Abgrenzung zur bildenden Kunst als wesentliches Bindeglied von Theaterkunst und Politik versteht. So argumentiert der Beitrag dafür, dass sich sowohl politische als auch ästhetische Kollektivbildungen im Spannungsfeld von Assoziation und Dissoziation abspielen und nicht zuletzt dort prekär werden, wo sich ästhetische und aktivistische Ansprüche überlagern. Da künstlerische Interventionen zwangsläufig als Kunst wahrgenommen, empfunden und bewertet werden, sind sie demnach notwendig mit affektiven Geschmacksurteilen verbunden, die ihre eigene soziale Dynamik entwickeln und Kollektivbildungen nach sich ziehen, die maßgeblich den Rahmen für politische Kommunikation bestimmen. Am Beispiel der sogenannten Landagitation, mit der die Agitproptruppen ihr urbanes Umfeld verließen, um gleichsam von außen in Dörfer und Kleinstädte zu kommen, arbeitet Warstat schließlich heraus, dass soziale Milieu-Differenzen einen entscheidenden Einfluss auf die Kollektivbildungen haben und insofern als Parameter für die Ästhetik von Interventionen zu verstehen sind. Julia Pragers Beitrag fokussiert die Bürgerbühne, die sich ausgehend von deren Etablierung am Staatsschauspiel Dresden seit 2009 zu einem europäischen Phänomen entwickelt hat. Im Zentrum ihrer Ausführungen steht die Analyse von Vanessa Sterns Inszenierung Schuldenmädchenreport (2019), da es dieser Produktion gelingt, zentrale Parameter des Formats ›Bürgerbühne‹ zu hinterfragen und auf diese Weise selbst zu unterbrechen. Den Ausgangpunkt liefert dabei die kritische Durchdringung des Partizipationsideals der B ­ ürgerbühne

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mitsamt seinem Bestreben nach der Inszenierung von Authentizität. Dahingegen zeichnet sich Sterns Inszenierung aus Sicht der Autorin gerade durch das transformative, mithin dislozierende Spiel mit den Konventionen des Genres aus. Wie Prager in einer detailgenauen Analyse zeigt, gelingt es der Produktion Schuldenmädchenreport mit Mitteln der intermedialen Persiflage und der volkstheaterhaften Komik das Authentizitätsphantasma zu unterlaufen. Damit erfolgt nicht zuletzt eine Entlarvung der bürgerlichen Werte des Reformtheaters. Die Intervention, mit Hans-Thies Lehmann postdramatisch als Unterbrechung des Ästhetischen gedacht, wird von Prager auf diese Weise als Gegenbegriff zur Partizipation konturiert. Sandra Umathum geht in ihrer Argumentation vom appellativen Charakter von Interventionen aus: Intervention zielt auf ein Antwortgeschehen und erzeugt Öffentlichkeiten, in denen widerstreitende Positionen hörbar werden. Das für die Entstehung von Öffentlichkeit konstitutive Antworten, das Kundtun einer Meinung allerdings, so zeigt sich mit Blick auf die Kunstform Theater, stellt sich nicht einfach so ein. Mit Bezug auf Oliver Marcharts konfliktuelle Konzeption des Ästhetischen fokussiert Umathum deshalb jenes Phänomen des Widerstreits von Positionen, das dem Begriff der Intervention erst Sinn verleiht. Die mediale Resonanz ist insofern notwendiger Bestandteil, nicht aber Selbstzweck von Interventionen und erübrigt sich, wie die Autorin an der (gescheiterten) Intervention Sucht nach uns! (2019/20) des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) zeigt, wenn die Antagonisierung vor Ort ausbleibt. Im Gegenzug dazu erscheint etwa Christoph Schlingensiefs Bitte liebt Österreich in seiner unhintergehbaren Evokation von Dissens als exemplarische, wenn auch mittlerweile historische Intervention. Das Dispositiv des Theaters, das ein Antworten prinzipiell selbst dann unwahrscheinlich macht, wenn es dazu auffordert, wie Umathum zu Beginn des Beitrags am Beispiel einer Arbeit von Terre Thaemlitz zeigt, erlangt seine Relevanz daher vielleicht gerade aus der Fähigkeit, den Widerstreit zu verzögern und zu verschieben. Simone Niehoff widmet sich ebenfalls der Aktion Sucht nach uns! des ZPS, die bereits bei Umathum als Beispiel für das Scheitern von Interventionen fungiert. Als zentraler theoretischer Referenzpunkt dient der Autorin das völkerrechtliche Verständnis von Intervention als übergriffige und illegitime Transgression einer nationalen Souveränität. Gerade der »aggressive Humanismus«42, den das ZPS als Operationsmodus selbstbewusst in Anschlag bringt, zeigt in seiner militaristischen Rhetorik und seinen fragwürdigen Legitimationspraktiken starke Parallelen zum Modell staatlicher Interventionen. Was das ZPS

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Einleitung

mit völkerrechtlichen Interventionen dabei im Wesentlichen teilt, ist das Neutralitätsphantasma und damit den Glauben, außen stehend und selbst unantastbar im Namen derer agieren zu können, deren Stummheit dadurch sowohl vorausgesetzt als auch hergestellt wird. Weder die Grenzüberschreitung noch die Verletzungen, die von der Aktion Sucht nach uns! ausgehen, lässt die Intervention unterdessen scheitern. Vielmehr, darin argumentiert Niehoff in die ähnliche Richtung wie Umathum, liegt im Bemühen darum, die Kontrolle über das Narrativ durch die Eingrenzung der Handlungsspielräume zu behalten und so die reaktive Prozesshaftigkeit zu unterbinden, die regelrecht künstlerische Negation der Aktion. Lars Koch weist ebenfalls darauf hin, dass die Partizipation in den Arbeiten des ZPS präfiguriert ist und der Inszenierung der Aktivisten-Persona Philipp Ruch untergeordnet wird. In den Mittelpunkt der vom Autor so bezeichneten ›Erlebnisszenarios‹ gerückt, begründet sich deren Attraktivität primär aus der Verbindung von Komplexitätsreduktion und Selbstvalorisation. In einem close reading der ›Interpretationsmanuale‹ von Philipp Ruch/ZPS, Milo Rau/IIPM und Friedrich von Borries/RLF untersucht Koch die Strategien der Markenbildung und des Medienhandelns, die der Inszenierung der Persona des Artivisten wie der Performanz von Autorschaft im Kontext medialer Aufmerksamkeitsökonomie wesentlich zugrunde liegen. Im Zuge dieser Analyse zeigt sich nicht nur, dass sowohl Rau als auch Ruch sich vornehmlich in einer dezidierten Abgrenzung von der Postmoderne profilieren, sondern dass hinter den Gewaltanalysen und kritischen Durchdringungen von Öffentlichkeiten in den einzelnen Arbeiten letztlich das affektive Identifikationsangebot des authentischen Intellektuellen zentral bleibt. Demgegenüber vermag Friedrich von Borries’ von seinem Roman RLF (2013) ausgehendes Kunstprojekt aus der Sicht Kochs ein Experimentierfeld zweiter Ordnung zu kreieren, das in der überaffirmativen Reinszenierung aktivistischer Pathosformeln die Konsumierbarkeit von Subversion reflektiert und, an Schlingensief geschult, ein ironisches Spiel mit doppeltem Boden betreibt. Im 2021 veröffentlichen Roman Fest der Folgenlosigkeit erfährt diese Produktion von Ambiguität wiederum eine entscheidende Akzentverschiebung. Eingelassen in ein transmediales Setting hinterfragt das Projekt die gesellschaftliche Übereinkunft einer Verantwortungsdelegation der ökologischen Krise an Politik und Wirtschaft und erscheint aus der Perspektive Kochs deshalb als radikale Intervention in das gesellschaftlich Imaginäre.

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Johanna Zorn, Ulf Otto

Johanna Zorn reflektiert in ihrem kunsttheoretischen Beitrag ebenso das Mittel der Ironie und macht es für einen performativen Selbstwiderspruch interventionistischer Praktiken fruchtbar. Als Praxis eines Intervenierens gegen seinen eigenen Begriff zeigt sich das Modell der Intervention, weil das eingreifende und entgegentretende Kunsthandeln einerseits die Trennung der Sphären von Kunst und Politik auslösen will, andererseits aber die Trennbarkeit dieser Bereiche markiert. So ruft der Interventionen eigene Anspruch einer Transgression des Ästhetischen ins Politische mit Zorn den Dualismus von ›Kunst‹ und ›Politik‹ erst ins Leben. Beruhen die Strategien zusätzlich noch auf der eindeutigen Rede, die den Anspruch auf gesellschaftliche Wirksamkeit einlösen soll, erodiert das emanzipatorische Potential von Kunst und ihr kritischer Begriff bleibt leer. Zur Veranschaulichung dieses dialektischen Zusammenhangs geht der Beitrag von Marc Antons Grabrede aus Shakespeares Julius Cäsar aus, einem demagogischen Glanzstück der Rhetorik, das seine Wirkung nicht aus der Eindeutigkeit, sondern gerade aus dem Verbergen und Unkenntlichmachen der eigenen Haltung (dissimulatio) in der Tradition der Ironie (eironeia) entfaltet. Anhand der von Marc Anton rhetorisch funktionalisierten, unauflöslichen Spannung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Ausdruck und Maskierung erinnert die Autorin schließlich an einen Modellfall des uneindeutigen Sprechens in der Geschichte der Intervention: Christoph Schlingensiefs Container-Aktion Bitte liebt Österreich aus dem Jahr 2000. Benjamin Wihstutz konstatiert, ähnlich wie Koch, eine Abwendung vom über lange Zeit vorherrschenden Politikbegriff der Postdramatik. Er verortet die Intervention daher im Kontext einer Konjunktur des Aktivismus im Gegenwartstheater, die er in engen Zusammenhang mit der Diversifizierung der theatralen Publika und den daraus entstehenden Initiativen gegen Diskriminierung setzt. Zentral für die Intervention als Spielart eines solchen aktivistischen Theaters ist aus Wihstutz’ Sicht ein fundamentales Kippmoment, das sich durch einen Rahmenwechsel auszeichnet und dazu führt, dass die theatrale Behauptung, das Als-ob, sich von der künstlerischen Autorität emanzipiert und eine soziale Dynamik schafft, die letztlich realweltliche Konsequenzen hat. Vor dem Hintergrund der Geschichte aktivistischen Theaters zeigt der Autor anhand der Aktionen rund um das Projekt deine-stele.de (2017) des Zentrums für Politische Schönheit und dem General Assembly (2017) von Milo Rau sowie des sogenannten ›Ibiza-Videos‹ (2019) exemplarisch, in welcher Weise aktivistische theatrale Strategien Kippmomente entstehen lassen, in denen Kunst und Politik sich wechselseitig verschalten. 20


Einleitung

Anna Raisichs Beitrag verhandelt mit Erster Europäischer ­Mauerfall (2014) ebenfalls eine Aktion des ZPS, richtet die Aufmerksamkeit allerdings einerseits auf den Diskurs, in dem die Aktionen des Kollektivs diskutiert werden, und andererseits auf die Bilder, die nicht Akzidens, sondern wesentlicher Bestandteil der Aktionen sind. Ausgehend von der ausführlichen Analyse eines Textes von Mely Kiyak zeigt Raisich, dass die Rezeption der Aktionen wesentlich mit der Grenzziehung zwischen Kunst und Politik operiert. Kiyaks Argument gegen die kritischen Pressestimmen beruht darauf, dass diese den Kunstwerk-Status schlicht verkennen und stattdessen lediglich über die Mittel, nicht aber über die Inhalte berichten, Kunstkritiker:innen so zu ahnungslosen Mitspielenden würden, die die eigene Position nicht verständen. Sie beruft sich dabei vor allem auf die Tatsache, dass die in der Aktion von Berlin an die europäischen Außengrenzen gebrachten Gedenkkreuze aus Werkstätten des Theaters stammen, sich somit also als bloße Mittel entpuppten. Mit Bruno Latour arbeitet Raisich jedoch heraus, wie sich diese Argumentation in eine ikonoklastische Tradition einordnet, die den Glauben an die vermeintlich leeren Symbole als naiv denunziert und in dieser entlarvenden Geste nicht zuletzt der eigenen Position Autorität verleiht. Stattdessen schlägt sie vor, die Bilder als Mediatoren zu verstehen, die weniger abbilden denn verbinden und über diese Verbindungen tatsächliche Wirkmächtigkeit erlangen. Entsprechend verfolgt der Beitrag den Weg dieser Bilder durch die Aktion hindurch und zeigt, wie in der Reise der Kreuze an die Außengrenzen Europas ein deutsches Gedächtnistheater erneuert wird, das koloniale Denkmuster und Rollenzuweisungen viel eher aufrechterhält als in Frage stellt. Ulf Ottos Beitrag befasst sich, wie derjenige von Azadeh Sharifi, mit der Inszenierung Mittelreich und fragt nach dem Erfolg dieser Intervention: Wie gelingt es der Arbeit, das Weißsein des (deutschsprachigen) Theaters zu artikulieren. Ausgehend von dieser Grundfrage nähert sich der zweite Abschnitt des Beitrags der Inszenierung aufführungsanalytisch an, beschreibt das Oszillieren der Wahrnehmung als dominante ästhetische Erfahrung und zeigt zugleich die Grenzen dieses Ansatzes auf. Daran anschließend nimmt der dritte Abschnitt das diskursive Geschehen in den Blick, das sich im Umfeld der Arbeit entfaltet hat und in diese selbst hineinragt. Dabei zeigt sich, dass es gerade die Verknüpfung von ästhetischen Erfahrungen und diskursiven Einordnungen ist, anhand derer die Bewertung und Bedeutung der Arbeit verhandelt werden. Mittelreich, so wird abschließend argumentiert, lässt sich mit STS und ANT als ein ästhetisches Experiment

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beschreiben, das den rassistischen Fundamenten des bürgerlichen Theaters zur Evidenz verhilft, und damit notwendig auch die Position der Wissenschaft herausfordert. Marita Tatari stellt noch grundsätzlicher die Frage nach dem Publikum an den Anfang, oder in ihren Worten, diejenige nach der Adressierung eines ›Wir‹, das kein Ganzes mehr formt. An die ­Diagnose einer Zeitenwende anknüpfend, wie sie sich bei Jean-Luc Nancy und Erich Hörl findet, argumentiert der Beitrag aus der ästhetischen Theorie heraus: Theater als westliche Kunst konstituiert sich seit der Neuzeit als affektive Gegenwart eines Gemeinsamen, das sonst nicht gegeben ist, und war daher immer auch als Vorwegnahme einer in die Zukunft projizierten Egalität zu verstehen. Als ein Exzess über das Wirkliche war Kunst traditionell Utopie und jede Intervention in die ästhetische Form entsprechend zugleich als politischer Eingriff zu begreifen. Gerade dieser tradierte Progress der ästhetischen Formen hat sich aus der Perspektive Tataris in unserer postfundamentalistischen Situation nach Schlingensief letztlich erledigt. Damit ist er zugleich einer primären Relationalität gewichen, die statt der Intervention in die ästhetische Form ein radikal anderes Denken eines neuen ›Wir‹ erfordert. Kai van Eikels betont in seinem Beitrag schließlich die antagonistische Definition des Feldes und die Erklärung des Notstands, die dem Eingriff vorhergeht: Interventionen erscheinen daher als Ausnahmezustände, in denen das Politische temporär suspendiert wird, und stehen damit auch im Gegensatz zu einem Begriff der Kunst, der gerade im Aussetzen des Notwendigen seine Freiheit begründet. Es ist die Frage nach dem Management der Kontingenz, die dadurch in den Mittelpunkt rückt und die van Eikels an drei Beispielen – Cesare Pietroiustis Pensiero unico (2003), Paul Chans Waiting for Godot in New Orleans (2007) und Koki Tanakas Precarious Task #7: Try to keep conscious about a specific social issue, in this case ›anti-nuke‹, as long as possible while you are wearing yellow color (2013) – als eine Bewegung aus Ereignishaftigkeit (vor Ort) und ästhetischer Aneignung (im M ­ edialen) analysiert. Als unverzichtbar für künstlerische Interventionen stellt sich dabei der abschließende Wechsel von der politischen Öffentlichkeit zur Kunstöffentlichkeit, der nicht zuletzt ökonomischen Imperativen gehorcht. So steht am Ende des Beitrags die große Frage, was die politische Intervention eigentlich an das politische Handeln zurückgibt. Was die versammelten Beiträge über die theoretischen Positionen und ästhetischen Exempel hinaus vereint, ist eine Skepsis gegenüber den

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Einleitung

Narrativen der Intervention und das Bemühen, deren tatsächliche Politik in der detaillierten Analyse wie der historischen Perspektivierung zu erschließen. Das Buch eröffnet auf diese Weise Fragen, die in den oftmals erhitzten medialen Diskussionen weniger Raum finden: Steht etwa die Erinnerungspolitik, die eine Aktion wie F ­ lüchtlinge fressen des Zentrums für Politische Schönheit aus dem Jahr 2016 thematisiert, nicht eigentlich in diametralem Gegensatz zum emanzipativen Projekt des postmigrantischen Theaters? Was bedeutet die Wiederkehr der heroischen Künstlerpersona, die mitunter an jenen von Schlingensief gern zitierten Fitzcarraldo (1982) erinnern lässt, der im Namen der Kunst und auf Kosten der Indios ein Schiff über einen Berg ziehen lässt? Wenn sich, wie Marx in Aufnahme eines Hegelschen Diktums behauptet hat, die Geschichte immer zweimal wiederholt, nämlich einmal als Tragödie und einmal als Komödie, in welcher Schleife befinden wir uns mit der ostentativen Verabschiedung von Postmoderne und Dekonstruktion? Schließlich, daran sei erinnert, ist die Performance in Kunst wie Theorie untrennbar mit einer queer-feministischen Tradition verbunden, die in Opposition zum patriarchalen Gestus des Linksintellektuellen auf den fehlenden Außenstandpunkt besteht und stattdessen die eigene Verwundbarkeit ins Spiel bringt – noch Schlingensief, der sich selbst auf den Container stellt, steht in dieser Tradition. Zu fragen wäre daher am Ende auch, ob es nicht doch wieder die Falschen sind, die hier die meiste Aufmerksamkeit erhalten? Und: Welche anderen, wichtigen Positionen bleiben hinter den ›lauteren‹ Stimmen weitgehend ungehört? Das Projekt der Dekolonialisierung klingt in vielen Beiträgen an, jenen zentralen Ort, der ihm im Kontext dieses Bandes eigentlich zukommen müsste, nimmt es allerdings nicht ein. Sichtbar wird in und mit diesem Band zuletzt also auch ein Desiderat, das seinerseits der Intervention harrt.

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Johanna Zorn, Ulf Otto 1 Vgl. hierzu die berühmte These im Wortlaut: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern.« Marx, Karl: »ad Feuerbach«, in: Ders./Engels, Friedrich: Gesamtausgabe (MEGA), Abt. 4, Bd. 3, hrsg. v. der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1998, S. 19 – 21, hier S. 21. 2 Zum sprachlichen Emblem eines mutigen Opponierens gegenüber politischen Missständen vgl. Zola, Émile: »J’accuse…! Lettre au Président de la République«, in: L’Aurore, 13. Januar 1898, o. S. 3 Vgl. Blanchot, Maurice: Die Literatur und das Recht auf den Tod, Berlin 1982. 4 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortge­ schrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 82. 5 Adorno, Theodor W.: »Engagement«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II. Noten zur Literatur, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974, S. 409 – 430, hier S. 429. 6 Kennedy, Jen/Mallory, Trista E./Szymanek, Angelique: Transnational perspec­ tives on feminism and art, 1960-1985, New York 2021. 7 Vgl. hierzu Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere, Berlin 2019. 8 Żmijewski, Artur: »Act for Art [Auszug]«, Homepage der Berlin Biennale: https:// www.berlinbiennale.de/de/kataloge/1355/7-berlin-biennale-fr-zeitgenssische-politik (Zugriff am 20. April 2021). 9 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974, 72. 10 Vgl. Wagner, Richard: »Das Kunstwerk der Zukunft« (1849), in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, Leipzig o. J., S. 42 – 177, hier S. 60. 11 Vgl. Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt am Main 1989. 12 Vgl. Santone, Jessia: »Marina Abramović’s ›Seven Easy Pieces‹: Critical Documentation Strategies for Preserving Art’s History«, in: Leonardo 41.2 (2008), S. 146 – 152. 13 Vgl. Balme, Christopher: The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014. 14 Vgl. Chance 2000 – Abschied von Deutschland (D, 2017, R: Kathrin Krottenthaler und Frieder Schlaich) 15 Campbell, Joseph: The Hero with a Thousand Faces, Princeton 1949. 16 Vgl. Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere, Berlin 2019. 17 Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hrsg. v. Maria Muhle, Berlin 2006, S. 25 – 34. 18 Eine wichtige Ausnahme bildet die 2015 erschienene Publikation, die den Begriff vor allem für die pädagogische und therapeutische Zielsetzung im sogenannten applied theatre fruchtbar macht. Vgl. Warstat, Matthias et al. (Hrsg.): Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis, Berlin 2015. 19 Bishop, Claire: »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: OCTOBER 110 (2004), S. 51 – 79, hier: S. 53. 20 Babias, Marius: »›Die Kernfrage lautet, ob ›Kunst‹ tendenziell ein Medium der Kritik ist‹«, in: Kunstforum International 212 (2011), S. 108 – 113, hier S. 113. 21 Vgl. Greene, Stephen: »Interventionismus und Aktivismus«, in: Butin, Herbert (Hrsg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2015, S. 153 – 157. 22 Ebd., S. 155. 23 Homepage der WochenKlausur: https://wochenklausur.at/methode.php?lang= de (Zugriff am 9. Juni 2021]. 24 Ebd., https://wochenklausur.at/index1.php?lang=de, (Zugriff am 9. Juni 2021). 25 Vgl. Borries, Friedrich von et al.: »Urbane Intervention«, in: dies. (Hrsg.): Glossar der Interventionen. Annäherung an einen überverwendeten, aber unterbestimmten Begriff, Berlin 2012, S. 209 – 211. 26 Vgl. Ebd. 27 Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon 2002, S. 16. 28 Vgl. hierzu O’Doherty, Brian: Inside the White Cube. In der weißen Zelle, hrsg. v. Wolfgang Kemp, Berlin 1996. 29 Vgl. hierzu Lacy, Suzanne (Hrsg.): Mapping the Terrain. New Genre Public Art, Seattle 1995. 30 Bubner, Rüdiger: »Ästhetisierung der Lebenswelt«, in: Haug, Walter/Warning, Rainer (Hrsg.): Das Fest, München 1989, S. 651 – 662, hier S. 661.

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Einleitung 31 Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 14. 32 Ebd., S. 31. 33 Vgl. hierzu Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991. 34 Bishop: »Antagonism«, S. 66. 35 Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2002. 36 Fraser, Nancy: »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Calhoun, Craig (Hrsg.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge (Massachusetts) 1992, S. 123. 37 Zum Begriff der »Kunstwelt« vgl. grundlegend Danto, Arthur: »The Artworld«, in: The Journal of Philosophy 61/19, 1964, S. 571 – 584; Die Rezeption durch George Dickie bereitete maßgeblich die reduktionistische Institutionstheorie vor, derzufolge einzig die Institutionen der Kunstwelt über den Status von Kunst entscheiden: Dickie, George: Art and the Aesthetic. An Institutional Analysis. Ithaka; New York 1974. 38 Graw, Isabelle: »Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art«, in: Kunstforum International 59 (2005), S. 41 – 53, hier S. 41. 39 Ebd. 40 Fraser, Nancy: »Was ist Institutionskritik?«, in: Kunstforum International 59 (2005), S. 87 – 89, hier S. 89. 41 Ebd. 42 Vgl. hierzu die Selbstbeschreibung des ZPS auf der Homepage https://politicalbeauty.de (letzter Aufruf: 20.11.2021).

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Azadeh Sharifi »Noch einen Schritt weitergehen« Überlegungen zu weißer Imagination, ­Interventionen und dekolonialen Ästhetiken ich werde noch einen schritt weitergehen bis an den äußersten rand wo meine schwestern sind wo meine brüder stehen wo unsere FREIHEIT beginnt May Ayim, grenzenlos und unverschämt (1990)

1. Nachdenken über Black Lives Matter

»Noch einen Schritt weitergehen«, so lautet eine Zeile aus dem Gedicht grenzenlos und unverschämt der Afrodeutschen Aktivistin und Poetin May Ayim, die als Wegbereiterin für viele Schwarze und Afrodeutsche Künstler:innen sowie aktivistische Bewegungen gilt. Obwohl aus dem Jahr 1990, ist die Gedichtzeile aktueller denn je. In den letzten Monaten hat sich aber auch viel bewegt. Die Morde an den Afroamerikaner:innen George Floyd, Ahmaud Arbery und Breonna Taylor durch die US-amerikanische Polizei haben weltweit zu Solidarisierungen und Protesten geführt. Auch die deutsche Black Lives Matter-Bewegung hat zahlreiche große Demonstrationen in Großstädten organisiert, an denen sich junge Schwarze, People of Color (PoC) und weiße Menschen beteiligt haben. Es wurde gegen Rassismus im Alltag und gegen institutionellen Rassismus demonstriert, gegen Racial Profiling und gegen durch Rassismus motivierte Gewalt staatlicher Organe.1 Auch in den Mainstream-Medien wurde breit über Rassismus diskutiert und zwar in einer Form, die weder nach der Aufdeckung der rechtsradikalen und terroristischen Gruppe NSU noch während deren Aufarbeitung, bei der die Verstrickungen deutscher Staatsapparate aufgedeckt wurden, möglich war. So wurden beispielsweise die

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Berliner Verkehrsbetriebe kurzerhand ›übermütig‹ und wollten die U-Bahn-­Haltestelle »Møhrenstraße« in die nicht weniger problematische »Glinkastraße« umbenennen, was einerseits großen Jubel, andererseits aber auch Kritik auslöste und letztlich durch den Berliner Senat widerrufen wurde. Schließlich wurde der Vorschlag von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Berlin Postkolonial e.V. sowie anderen Vereinen und Initiativen, die sich bereits lange für eine Umbenennung von rassistischen und kolonialen Straßennamen durch sinnvolle Alternativen (etwa Umbenennungen nach wichtigen Schwarzen deutschen Persönlichkeiten) eingesetzt hatten, nachgegeben. Die Møhrenstrasse soll bald schon nach dem ersten Afro­ deutschen Philosophen Antonio Wilhelm Amo umbenannt werden. Nicht nur ›auf der Straße‹, auch im Theater ist plötzlich einiges möglich. Ab der Spielzeit 2020/2021 leitet Julia Wissert als erste Schwarze Intendantin Deutschlands das Schauspiel Dortmund.2 Die Benennung der politischen Selbstbezeichnung Schwarz sowie ihr Geschlecht sind notwendig, um die Diskrepanz zwischen Behauptungen und der Realität am deutschen Theater zu betonen. Denn die Statistiken verweisen immer noch darauf, dass die künstlerische Leitung von deutschen Staats- und Stadttheatern erdrückend weiß und männlich dominiert ist.

2. Nachdenken über die weiße Imagination

Auch der Erfolg von Anta Helena Reckes Inszenierung von Mittelreich an den Münchner Kammerspielen im Jahr 2017, die programmatisch als sogenannte »Schwarzkopie«3 der Inszenierung von Anna Sophie Mahler angekündigt wurde, ist gekoppelt an rassistische Rückschläge und kolonial-stereotype Rezeptionen seitens Theatermacher:innen und Theaterkritiker:innen. So schrieb beispielsweise Bernd Noack in der NZZ: an kann einen modernen farbigen Film mittels FernbedieM nung in einen schwarz-weissen verwandeln; dass man dadurch auch die Zeit und die Atmosphäre des Films und um einen selber herum ändert, bleibt eine Illusion. Wenn man nun im Theater aus Weiss Schwarz macht, erzielt man einen ähnlichen Effekt: die Umkehrung der Wirklichkeit – ohne wirkliche Wirkung. Regisseurin Anta Helena Recke kann kaum vermitteln, was diese Irritation eigentlich soll. Provokation? Im Publikum sitzt

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niemand, den die »farblich« augenfällige Umbesetzung auch nur im geringsten stören, gar empören würde. Inhaltlich? Es ergibt keinerlei Sinn, dass der alte Bauer nicht mehr die voralpenfrische rosige Hautfarbe hat; und dass der Chor der Flüchtlinge jetzt wie eine Gruppe Migranten aus unseren Tagen aussieht, trägt auch nicht unbedingt zum tieferen Verständnis dieser eigentlich rein deutschen Geschichte bei, die von Welt- und Nachkriegszeiten, von geplatzten deutschen Träumen, von in der BRD dumpf nachhallendem Nazismus, wachsenden Vorurteilen und sexuell übergriffigen Katholiken erzählt.4 Das Postulat der »Umkehrung der Wirklichkeit«, das Noack hier bemüht, ist in Wahrheit eine Verkennung der deutschen Realität, die nicht erst seit dem Anwerbeabkommen im Jahre 1955 nicht »weiß« (als soziale Konstruktion) ist. Die Verkennung (oder bewusste Unsichtbarmachung) der Existenz von Schwarzen Deutschen, aber auch deutschen Juden und Jüdinnen, Sinti:ze und Rom:nja und weiteren ­Ver-­Anderten als Teil der deutschen Gesellschaft, wird mit der Forderung nach Authentizität des alten Bauern mit »voralpenfrische[r] ­rosige[r] Hautfarbe« zusätzlich untermauert. Wenn also mit der kolonial und patriarchal gefärbten Brille die Intention der Regisseurin nur als »Irritation« und »Provokation« gedeutet wird, dann deswegen, weil nicht nur der Theaterraum immer noch als weiß imaginiert wird. Auch die Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung Eva-­ Elisabeth Fischer, die sowohl über die Intention der Regisseurin wie auch der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung bzw. Empowerment-­ Bewegung Schwarzer Menschen genau Bescheid zu wissen scheint, reproduziert rassistische und koloniale Bilder und Stereotypen: ecke erklärt die Hautfarbe wortreich zum Politikum der AuffühR rung: »In Mahlers Mittelreich-Fassung werden auch nicht-deutsche Körper thematisiert ... Da bin ich gemeint, weil ich den deplatzierten Schwarzen Körper habe« – ein Zitat, dass [sic!] einen fast 60 Jahre nach der stolzen Propagierung schwarzen Selbstbewusstseins mit dem Slogan »Black is beautiful« doch ziemlich irritiert. So schwarz sind sie dann ja auch wieder nicht, diese neuen sechs Körper und Gesichter. Dass man über die Farbschattierungen der Darsteller nachdenkt, hat mit zweierlei zu tun: Einerseits stellt sich ziemlich schnell heraus, dass deren Hautfarbe für das Bühnengeschehen völlig irrelevant ist. Denn eine ähnliche Familiensaga um Schuld, Verdrängung, Miss-

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brauch, Flüchtlingsproblematik und Erbstreitigkeiten wäre, vom oberbayerischen Lokalkolorit, das von Mahler und folglich auch von Recke in ihrer 1:1-Einstudierung sorgfältig wegretuschiert wurde, einmal abgesehen, wohl überall vorstellbar.5 Während die Theaterkritikerin sich hier mit »Farbschattierungen« beschäftigt, die »für das Bühnengeschehen völlig irrelevant« seien, war »Hautfarbe« nie das Anliegen von Anta Helena Recke und der Inszenierung von Mittelreich. Im Gegenteil, in Interviews und in Artikeln verweist Recke darauf, dass es ihr um »das Schwarze Deutschsein«6 geht. Mit Schwarz ist eine politische und soziale Konstruktion in einem globalen Zusammenhang gemeint, die unter anderem auf die Dehumanisierung durch jahrhundertelange koloniale und epistemische Gewalt verweist.7 Schwarz (mit einem großgeschriebenen S) ist eine von »Menschen afrikanischer und afro-diasporischer Herkunft, schwarzen Menschen, Menschen dunkler Hautfarbe und people of colo(u)r«8 gewählte Selbstbezeichnung. Wenn nun die Theaterkritikerin das Schwarzsein (»So schwarz sind sie ja auch nicht«) und damit auch die Intention des Schwarzseins in Frage stellt, dann offenbart sich darin zum einen die Kontinuität der »Kolonialität von Macht und Wissen«9, indem Schwarze Menschen weiterhin als Objekte weißer Subjektivität imaginiert werden – die weiße Theaterkritikerin definiert anhand ihrer eigenen Vorstellungen, was schwarz ist und spricht den Performer:innen ihr Schwarzsein ab. Zum anderen wird sogar Schwarzes Deutschsein aus der deutschen Geschichte herausgedacht. Dass diese Denkmuster nicht nur in der Rezeption vorzufinden sind, sondern in den eigenen Reihen – und in diesem Fall sogar im eigenen Haus –, schildert Anta Helena Recke in ihrem Text »Uh Baby it’s a white world«: ls im Haus allmählich bekannt wurde, dass ich diese Aneignung A auf die Bühne bringe, entgegneten einige: »Hey, ich hab’ gehört, dass du Mittelreich mit Flüchtlingen umbesetzen willst. Das ist ja lustig!« Zudem wurden mir im Castingprozess immer wieder wahllos Schwarze Menschen oder Geflüchtete oder Schauspieler*innen, deren Muttersprache nicht deutsch ist, vorgeschlagen. Das heißt, wenn man sagt, man besetzt Mittelreich mit Schwarzen Schauspieler*innen um, verstehen die Leute, man besetzt es mit Geflüchteten und Ausländer*innen. Hier zeigt sich das Unvermögen der weißen Kolleg*innen in der weißen Imagination selbst,

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sich einen Schwarzen Körper jenseits von Prekarität, Armut, Not, Exotik oder Flucht vorzustellen.10 Die weiße Imagination, in der Schwarze und weitere ver-anderte Subjekte nur eine ihnen zugewiesene Rolle und eine konkrete Funktion erfüllen, ist tief in den Strukturen des deutschen Theaters verwurzelt. Kritische Auseinandersetzung, wie sie beispielsweise durch die Theaterwissenschaftler:innen Katrin Sieg und Lisa Skwirblies geschieht, versucht diese strukturelle Asymmetrie aufzuzeigen, zu hinterfragen, aufzubrechen und neu zu denken.11

3. Nachdenken über Anfänge und Diskontinuitäten Insgesamt sind die Diskussionen um rassistische und Ausschluss produzierende Strukturen im Theater (und anderen deutschen Kulturinstitutionen) nicht neu. Spätestens seit dem Erfolg des Ballhaus Naunynstraße, das mit seinem selbstgewählten Label »postmigrantisch« in den Mainstream der deutschen Theaterszene intervenierte, wird eine größere Repräsentation der Diversität der deutschen Realität gefordert. Trotz dieses sich langsam abzeichnenden Wandels zeigt sich die Abwehrreaktion von den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung wie von Intendant:innen deutlich, wenn es etwa beschwichtigend heißt: »Einen Schritt nach dem nächsten!«12 Denn wenn in diesem Beitrag in der Ausgangsfrage eine Verbindung zur Black Lives Matter-Bewegung gestellt wird, dann auch um auf die Verwobenheit von Politik und Kunst, Intervention und das reine Überleben in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft für Schwarze Menschen zu verweisen. Es geht darum, die Erfahrung von Schwarzen Menschen ins Zentrum zu stellen. Daher steht entsprechend weniger die Frage, ob oder wie die weiße Imagination Schwarzes Leben in ihrer Vielfalt zulässt, sondern wie durch Intervention und Aneignung, in diesen von einer weißen Imagination besetzten Raum (im wahrsten Sinne des Wortes) eingegriffen werden kann. Dabei – und das ist Teil der Kolonialität der Strukturen, – werden diese Interventionen durch hegemoniale Narrative immer wieder strukturiert, ausgesiebt, exkludiert, vergessen und geteilt, um sie beherrschbar zu machen. Wenn der entscheidende Moment einer postmigrantischen (und postkolonialen) Intervention im deutschen Theater immer wieder nur auf 2008 datiert wird, weil das Ballhaus Naunynstraße in jenem Jahr unter dem selbstgewählten Label »Postmigrantisches Theater«

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neu eröffnet hat, dann werden damit zugleich die bereits lange existierenden Strukturen von BIPoC-Künstler:innen und Aktivist:innen aus der Theatergeschichte (heraus)gehalten. Dabei waren und sind Proteste und Interventionen immer wieder wichtige Momente für marginalisierte Gruppen, um sich gegen Vereinnahmung und Fremdzuschreibungen zu wehren und Interessen und Anliegen öffentlich zu vertreten. Der Protest der Jüdischen Gemeinde Frankfurt im Jahr 1985 gegen die Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod am Schauspiel Frankfurt war in dieser Hinsicht essentiell. So konstatiert Michael Brenner in der Jüdischen Allgemeinen, dass für »das jüdische Leben in der Bundesrepublik diese Bühnenbesetzung einen entscheidenden Einschnitt« markierte.13 Zum ersten Mal, 40 Jahre nach der Shoah, traten wichtige Repräsentant:innen der Jüdischen Gemeinde in der deutschen Öffentlichkeit auf. So wurde bei der Veranstaltung EIN/AUSschlüsse und Selbstermächtigung im Kultur­ betrieb, die 2017 als Teil des Akademieprogramms des Jüdischen Museum Berlin stattfand, auf die Wichtigkeit dieses historischen Moments des Aufstandes verwiesen. Auch die historische Initiierung einer Afrodeutschen Frauenbewegung, die sich später in Form der Initiative ADEFRA e. V. – Schwarze Frauen in Deutschland institutionalisiert hat und mit dem Aufenthalt der Afroamerikanischen Poetin und feministischen Theoretikerin Audre Lorde an die FU Berlin ihren Anfang fand, war ein entscheidender Schritt in Richtung eigener Community-Strukturen, die über die die Schwarze Community hinaus von ebenfalls großer Bedeutung war. Lorde war Mitte der 1980er Jahre als Gastprofessorin am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien eingeladen, wo sie selbst explizit eine Einladung an Schwarze deutsche Frauen aussprach, an ihrem Seminar teilzunehmen. Bis dahin waren Afrodeutsche Frauen, so die Historikerin Katharina Oguntoye, als Schwarze weibliche Subjekte in Deutschland isoliert. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenssituationen und -interessen, sei es als Schwarze Deutsche oder Afrikanisch-Deutsche oder Amerikanisch-Deutsche, beriefen sie sich nicht auf eine gemeinsame Identität als Schwarze deutsche Frauen.14 Die im Anschluss gegründete Bewegung ADEFRA verfolgte das selbstdefinierte Ziel, Räume für eine kollektive Auseinandersetzung mit Schwarzen Lebensrealitäten in Deutschland im Allgemeinen und mit den Existenzweisen Schwarzer Frauen in Deutschland im Spezifischen zu erschaffen. ADEFRA war angetrieben von Visionen einer Community, die einen Ort einer kollektiven Auseinandersetzung, der Wissensund Gesellschaftskritik und einer z­ugewandten, ­ solidarischen

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Teilhabe für Afrodeutsche Frauen ermöglichte. Mit Methoden wie Theaterworkshops, Körperarbeit, kreativem Schreiben und Biografiearbeit wurden Grundlagen einer gemeinsamen Wissensgenerierung und -produktion durch eigene Selbst- und Lebensverhältnisse geschaffen. Damit deckten sie Themen auf, die in der offiziellen Geschichtsschreibung selten, und, wenn überhaupt, vorwiegend in den Fußnoten vorkommen. Der marginalisierende Umgang mit Themen, in denen Schwarze Menschen als gesellschaftliche Handlungssubjekte zentrale Akteur:innen sind, führt zu einer Unsichtbarmachung ihrer gesellschaftlichen Beiträge. Diese Form der normalisierten, systematischen Nicht-Wahrnehmung bezeichnet die Afroamerikanische feministische Theoretikerin Patricia Hill Collins als »suppression«, ein vorsätzliches Vernachlässigen von Wissensbeständen und Wissensformen:15 »Black Women (intellectuals) create Black Feminist Thought by using their own concrete experiences as situated knowers in order to express a Black Women’s standpoint.«16 ADEFRA machte sich dies in der Aufarbeitung ihrer eigenen – Afrodeutschen – Geschichte zu eigen. Die Verzahnung von persönlichen Erinnerungen Afrodeutscher Zeitzeuginnen mehrerer Generationen sowie Gedichte, Interviews und Erfahrungsfragmente verknüpfen sich zu einer kollektiven Geschichte und leiten eine Schwarze feministische deutsche Geschichtsschreibung ein. Damit werden grundsätzliche Fragen über den impliziten wie expliziten Voraussetzungsreichtum von Historiografie aufgeworfen: Wie kann eine verdrängte und unsichtbar gemachte Geschichte ausgegraben und erzählbar gemacht werden? Aus wessen Perspektiven und Deutungen wird diese dann historisiert und innerhalb der deutschen Geschichtsschreibung kontextualisiert? In dieser Tradition sind sowohl künstlerische als auch interventionistische Auseinandersetzungen einzuordnen. Sie sind Gegendiskurse zu hegemonialen Diskursen, die die koloniale Binarität (des Eigenen und Fremden) durch ein Hinterfragen aufbrechen und einen Diskurs der Selbstrepräsentation überhaupt erst ermöglichen. Nikita Dhawan und Maria Do Mar Castro Varela verweisen darauf, dass poststrukturalistische Ansätze das Feld der Repräsentation in Frage gestellt haben. Dies bedeute jedoch nicht, dass Repräsentation nicht möglich sei, sondern dass Repräsentationen als konstruiert und machbar verstanden werden müssen.17

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Noch einen Schritt weitergehen

4.

Nachdenken über Formen der Interventionen

Eine wichtige Intervention gegen die hegemonialen Narrative von Schwarzsein ereignete sich bei der Premiere des Stücks Kampf des Negers und der Hunde18 von Bernard-Marie Koltès an der Berliner Volksbühne im Jahre 2003. Die Volksbühne unter der Leitung von Frank Castorf hatte sich entschieden, das N-Wort in ausgeschriebener Form als Banner vor dem Theater aufzuhängen. Diese Form der Bewerbung des Theaterstückes sorgte bei der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) sowie anderer solidarischer Künstler:innen und Aktivist:innen für Protest. Die ISD forderte, das N-Wort durch die Selbstbezeichnung Schwarz zu ersetzen.19 Die Forderung zielte auf eine Brechung oder zumindest Unterbrechung des kolonialen, da erniedrigenden und damit auch ent-menschlichenden Prozesses, der sich in dieser sprachlichen Terminologie versteckt. Stattdessen entgegnete der damalige Intendant Frank Castorf, dass das Ausschreiben des N-Wortes eine bewusste Provokation sei, die entsprechend offensiv sein müsse.20 Die Frage, an wen sich die Provokation richte und wem gegenüber tatsächlich durch die Reproduktion des kolonial-rassistischen Blicks Gewalt ausgeübt werde, wurde dabei erst gar nicht gestellt. Die Kritik an diesem (strategischen) blinden Fleck haben die Protestierenden am Abend der Premiere vor der Berliner Volksbühne mit Transparenten kundgetan, auf denen der Schriftzug »Der unbeirrte Kampf des weißen Europäers mit sich selbst« zu lesen war.21 Während dieser erste Protest gegen den Gebrauch rassistischer (und kolonialer) Mittel (hier: Sprache) im deutschen Theater vor den Toren des Theaters stattfand, wurde in den folgenden Protesten ein Schritt weitergegangen. Die nächste wichtige Intervention fand daher im Theater, konkret im Zuschauerraum statt. Ausgelöst durch die Ankündigung einer Inszenierung von I am not Rappaport des Schlossparktheaters Berlin im Jahre 2012, in der die Plakate einen weißen Schauspieler in Blackface zeigten, hatte sich in den sozialen Medien ein großer Protest geformt, der dann zur Gründung von Bühnenwatch führte. Bühnenwatch, die sich in der Selbstdarstellung als eine Gruppe von Schwarzen, weißen Künstler:innen und Aktivist:innen of Color verstanden, haben unterschiedliche Interventionen vorgenommen. Die wohl bekannteste Intervention von Bühnenwatch fand im Deutschen Theater Berlin während einer Aufführung von Dea Lohers Unschuld statt. In Unschuld wird ein soziales Biotop inszeniert, eine kleine Stadtgesellschaft am Rande eines Meeres, in dem eines Tages zwei Schwarze Menschen (im Text als »illegale schwarze Immigranten« bezeichnet) auftauchen

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und diese vor Fragen nach Schuld und Verantwortung stellen. Bereits im Theater­text ist eine auf koloniale Hierarchisierung basierende Beschreibung angelegt – die Schwarzen Figuren werden auf von außen projizierte Zuschreibungen (»illegal« und »Immigrant«) reduziert. In der Inszenierung von Michael Thalheimer treten zwei weiße Schauspieler in Blackface auf, deren Schminke im Verlauf der zwei Stunden abgeht und die Bühne verfärbt.22 Joy Kristin Kalu hat in ihrem Aufsatz »On the Myth of Authentic Representation: Blackface as Reenactment« dafür argumentiert, dass Blackface als theatrale Darstellungsform durchaus eine wirksame und sozialkritische Praktik darstellen kann. Allerdings war Blackface nicht die einzige stereotype Darstellungsform, die in der Inszenierung gewählt wurde. Kalu beschreibt dies folgendermaßen: owever, what shocked, offended and deeply upset me as a specH tator is the so far barely discussed fact that Peter Moltzen, playing the immigrant Fadoul, repeatedly slips into the posture, movements and mimicry of a monkey, imitating its sounds along with it. The recourse to this cliche, which goes back to eighteenth century quasi-scientific, craniometric studies proclaiming that black people were genetically closer to monkeys than white people and which enjoyed great popularity during National Socialism, astonished me. To invoke this cliche as a theatrical means for characterizing a character can only be interpreted as the degradation of that character, which furthermore is not at all motivated by the content of the play or the context of the production.23 Kalu macht deutlich, dass der Gebrauch von Blackface hier unzweideutig in einem degradierenden Kontext steht, indem auf die Figur des primitiven Schwarzen Mannes rekurriert wird. Dabei bewirkt die Referenz auf eine über Jahrhunderte hinweg stabile Konstruktion des Schwarzen Mannes/›Black Man‹ durch die europäischen Kolonisatoren, die diesem alle menschlichen Attribute abspricht, dessen entwerteten Status als Objekt des Kolonialismus und Kapitalismus.24 Am Abend der Aufführung im DT Berlin standen nach dem ersten Auftritt der zwei weißen Schauspieler in Blackface über 40 Personen auf und verließen geschlossen und ohne Worte den Zuschauerraum. Im Foyer begannen sie einen vorbereiten Handzettel zu verteilen, auf dem sie ihre Aktion begründeten und zum Boykott der Verwendung von Blackface aufriefen.25 Tatsächlich haben dieser und weitere Proteste und Interventionen von Bühnenwatch zu einer nachhaltigen und veränderten

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Noch einen Schritt weitergehen

Diskussion über die Verwendung rassistischer und degradierender Theaterpraktiken geführt. Das langsame Aneignen des weißen Theaterraumes durch Interventionen von BIPoC Künstler:innen und Aktivist:innen, zunächst vor dem Theater, dann im Theaterraum, führte schließlich auch zu einem Aneignen der Bühne selbst. In diese Tradition könnte zumindest auch die Inszenierung von Mittelreich als Schwarzkopie durch Anta Helena Recke gestellt werden. So verweist sie selbst in ihrem Beitrag »Uh Baby it’s a white world« darauf, dass es ihr primär um den Umstand des Markierens ging, d. h. Schwarzes Deutschsein »sichtbar zu machen«26. Dieser Ansatz bezog sich zum einen auf das Fehlen Schwarzer Theatermacher:innen im deutschen Stadt- und Staatstheater und zweitens konkret auch auf das Schwarze Deutschsein. Anta Helena Recke bezieht sich hier auf die mediale und politische Debatte, in der Schwarze Menschen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa als deplatziert angesehen werden.27 Zum anderen wollte sie »den problematischen Schein-Universalismus weißer Körper auf deutschen Bühnen entlarven«28. Die Inszenierung von Mittelreich als Schwarzkopie kann als eine ästhetische Intervention in den weißen Theaterraum gelesen werden, in der sowohl die Positionierung von Schwarzen Körpern sowie die Aneignung des weißen, eurozentristischen Theaterraumes als dekoloniale ästhetische Praxis verhandelt werden.

5.

Nachdenken über dekoloniale Ästhetiken

Das Beispiel der Inszenierung von Mittelreich als Schwarzkopie ermöglicht über die politische Ebene hinaus auch ein Nachdenken über die ästhetische Ebene. Was bedeutet es, die (deutsche) Theaterbühne zu dekolonisieren? Denn mit der Frage nach dem, was auf der Bühne verhandelt wird und wie es verhandelt wird, eröffnen sich neue Themen und Fragen, neue Sichtweisen und Diskussionsräume. Neu sind sie, weil auf der deutschen Bühne die eigene, sprich deutsche Geschichte – durch ihre marginalisierten Subjekte und deren soziale und politische Positionen – bisher nie überprüft und hinterfragt wurde. Zudem gab es nicht einmal eine Perspektive, die von marginalisierten Betroffenen aus den eigenen Reihen, sprich aus einer deutschen Position entwickelt wurde. Schwarze, marginalisierte Subjekte und ihre Körper werden auf weißen Bühnen ver-andert. Ihnen werden über Jahrhunderte

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sich verfestigte Bilder und Vorstellungen ein- und zugeschrieben, sie werden zu Symbolen kolonialer und eurozentristischer Stereotypen. Anta Helena Recke selbst schreibt, dass ein »Schwarzer Körper immer etwas ganz anderes als ein weißer Körper« sei, denn mit dem »Schwarzen Körper wird es immer komplex und irgendwie prekär.«29 Prekär verweist auf die geografischen wie auch sozioökonomischen Bedingungen, die Schwarzen Körpern zugesprochen werden. Es wird Leid und Mitleid assoziiert und evoziert. Was also wird ästhetisch in der Inszenierung von Anta Helena Recke anders als in der Inszenierung von Anne-Sophie Mahler verhandelt? Zwar führte die Eins-zu-eins-Kopie zu großer Kritik30, da die Schauspieler:innen die Rollen nicht neu erlernten oder interpretierten, sondern vielmehr über Videoaufnahmen die Gestik, Mimik und Bewegungen der weißen Schauspieler:innen aus der Mahler-Inszenierung einstudierten und minutiös wiedergaben. Dafür konnte in der Inszenierung von Recke sowohl das Postulat, dass race im deutschen Theater bei der Besetzung keine Rolle spiele, als auch die Tatsache, dass auf den deutschen Bühnen ein Universalismus herrsche, mit der Anwesenheit von ge-anderten Subjekten widerlegt werden. Mit der Präsenz von Schwarzen Körpern bzw. Schwarzen Performer:innen wird tatsächlich ein Perspektivenwechsel vorgenommen. Die bayerische Familiengeschichte, die sich über fast ein Jahrhundert spannt, und damit einen historischen Abriss einer modellhaften deutschen Familie zeigt, wird nicht mehr aus einer weißen Perspektive erzählt, sondern aus einer Schwarzen. Hier steht eine deutsche (oder bayerische) Schwarze Familie im Vordergrund, die durch Weltkriege, (sexualisierte) Gewalt, patriarchale Strukturen und Komplizenschaft sowie politische und soziale Veränderungen gezeichnet ist. Während Rassismus und Kolonialismus nicht thematisiert werden, sind diese doch auf der Bühne präsent, den Körpern und ihren sozialen Umständen inhärent. Wenn es Anta Helena Recke auch explizit darum geht, Schwarzes Deutschsein auf der Bühne zu thematisieren und Schwarze Menschen eben nicht, wie sonst medial verhandelt, als »Ausländer« oder »Fremde«31 zu positionieren, sind diskriminierende, degradierende und gewaltvolle Erfahrungen trotzdem Teil dieses deutschen Schwarzseins. Nicht ein imaginiertes Herkunftsland (»Afrika« als Land und nicht Kontinent)32 oder dessen Verlassen und hier Ankommen wird thematisiert, sondern das Leben und Überleben in Deutschland als Schwarze deutsche Familie im 20. Jahrhundert. Es werden Bilder und Geschichten von unterschiedlicher und komplexer Betroffenheit und Kollaboration vermittelt. Es wird unausgesprochen

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Noch einen Schritt weitergehen

thematisiert, wie eine Schwarze deutsche Familie den Zweiten Weltkrieg mit seiner rassistischen und antisemitischen Ideologie überlebt hat und wie sie mit den Traumata und Wunden in der Nachkriegszeit umgegangen ist, wie sie sich verbindet oder abgrenzt von Menschen, die sich nun auf der Flucht befinden und ein neues Leben aufbauen müssen. Die Platzierung einer Schwarzen deutschen Familie mitten in Deutschland (oder eigentlich noch besser im tiefsten Bayern) führt zur Positionierung von Schwarzem Deutschsein im Zentrum der deutschen Geschichte. Dabei stellt diese sich gegen die koloniale Konstruktion des Schwarzseins, dass, wie auch Achille Mbembe nochmals betont hat, zuallererst eine Konstruktion des Westens ist. On a phenomenological level, the term first designates not a significant reality but a field – or, better yet, a coating – of nonsense and fantasies that the West (and other parts of the world) have woven, and in which it clothed people of African origin.33 Die Inszenierung und ihre theatralen Mittel stellen die koloniale Ordnung von Anfang an in Frage, widersetzen sich ihrer Logik. Anta Helena Recke postuliert in ihren Texten und in Interviews, dass den Strukturen des deutschen Theaters eine Kolonialität innewohnt, und legt deren Mechanismen offen. Die ästhetische Verhandlung auf der Bühne ist keine, die die kolonialen und exkludierenden Umstände für das Publikum dekonstruiert, um die Notwendigkeit einer Dekolonisierung nachvollziehbar zu machen. Sie ist als Standpunkt gesetzt, aus dem heraus agiert und die Geschichte auf die Bühne gebracht werden kann.

6.

Überdenken & Überwerfen – Neudenken & Neuentwerfen

In May Ayims Gedicht grenzenlos und unverschämt, in dem sie Afro-Deutschsein thematisiert, will sie sich der kolonialen und binären Logik (Deutschsein versus Afrikanischsein) nicht unterwerfen. Sie hinterfragt die hegemonialen Narrative und lässt sich nicht in ihnen festhalten. Sie verlässt bewusst das Zentrum und begibt sich in die Peripherien (»bis zum äußersten Rand«) und vermutet dahinter die (oder eine) Freiheit, in der sie auch ihre »Schwestern« und »Brüder« verortet. Auch Fred Moten und Stefano Harney hinterfragen in The ­Undercommons34 die Logik der Ordnung und ihre Raumaufteilung aus einer Schwarzen radikalen Tradition. The Undercommons ist nicht

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an einen physikalischen Ort gebunden und wird auch nicht im identitätspolitischen Sinne auf Subjekte angewendet, die bei dominanten Systemen und Machtstrukturen marginalisiert und exkludiert sind. Es geht vielmehr um eine Koalition, die auf der Anerkennung des im Vorwort von Jack Halberstam bezeichneten »the brokenness of being«35 basiert. Diese Gebrochenheit bezieht sich auf die koloniale und patriarchale Ordnung, in der Subjekte in ihrem Sein ver-andert werden. Immer noch sind Interventionen notwendig, weil das Theater keinen Raum für marginalisierte Subjekte und Communitys ermöglicht. Immer noch ist ihre Präsenz eine Unterbrechung im kolonialen Raum, der sie in ihrer Gänze (als Subjekte ohne den »white gaze«) nicht zulässt und nicht wahrnimmt. Es geht um die Anerkennung von Wissensproduktionen und Kulturpraktiken, die immer noch einen lediglich marginalen Status haben, indem sie etwa als Amateur- oder Communitytheater klassifiziert werden, weil sie mit dem eigenen Theaterbegriff nicht übereinstimmen. »Einen Schritt weitergehen, und noch einen Schritt darüber hinaus«, das bedeutet im theatralen Raum zugleich das Überdenken und Überwerfen, aber auch das Neudenken und Neuentwerfen von Ästhetiken, die, wie Anta Helena Recke sagt, den »Schein-Universalismus« oder, wie May Ayim es noch expliziter tut, die »Sch-Einheit« konstant in Frage stellen und die Flüchtigkeit (­fugitivity) sowie den gebrochenen Raum und das gebrochene Sein anerkennen. Eine konsequente Dekolonisierung von Theater und dessen hegemonialen Narrativen ist unabdingbar. Nur so kann einen Schritt weiter gegangen werden.

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Noch einen Schritt weitergehen

1 Es sei hier auf den bis heute ungeklärten Tod von Oury Jalloh, der in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, und die verschiedenen Initiativen, die sich für eine Aufklärung einsetzen, verwiesen. In Berlin ist 2020 das Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) erlassen worden. Für Betroffene ist damit die Möglichkeit zur Verfolgung rassistisch-motivierter Diskriminierung durch Berliner Behörden (und somit auch der Polizei) geschaffen. 2 Hier soll Wagner Carvalho, der künstlerische Leiter des Ballhaus Naunynstraße, nicht unterschlagen werden. Allerdings ist das Ballhaus Naunynstraße kein Staats- oder Stadttheater und neben einer Basisförderung mehrheitlich durch Projektförderung finanziert. 3 Vgl. Moka, Madeleine: »Anta Helena Recke: Die Konstruktion von Whiteness im Theater«, in RosaMag, 15. September 2019, https://rosa-mag.de/anta-helena-recke-thematisiert-critical-whiteness-im-theater/ (Zugriff am 3. März 2021). 4 Noack, Bernd: »Aus Weiß mach Schwarz«, in: Neue Zürcher Zeitung, 14. Oktober 2017, https://www.nzz.ch/feuilleton/aus-weiss-mach-schwarz-ld.1321753 (­Zugriff am 3. März 2021). 5 Fischer, Eva-Elisabeth: »Schwarz allein reicht nicht«, in: Süddeutsche Zeitung, 13.10.2017, https://www.sueddeutsche.de/kultur/schauspiel-nach-sepp-bierbichlerschwarz-allein-reicht-nicht-1.3707139 (Zugriff am 3. März 2021). 6 Recke, Anta Helena: »Uh Baby it’s a White World«, in: Liepsch, Elisa/Warner, Julian/ Pees, Matthias (Hrsg.): Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen, Bielefeld 2018, S. 50 – 59, S. 56. 7 Mbembe, Achille: Critique of Black Reason, Durham 2017. 8 Siehe auch Website von Diversity Arts Culture, https://www.diversity-arts-culture. berlin/woerterbuch/schwarz (Zugriff am 3. März 2021). 9 Vgl. Quijano, Anibal: »Coloniality and Modernity/Rationality«, in: Mignolo, Walter D./ Escobar, Arturo (Hrsg.): Globalization and the Decolonial Option, Abingdon 2009, S. 22 – 32. 10 Recke: »Uh Baby«, S. 57. 11 Siehe auch Sieg, Katrin: Ethnic drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor 2002; Skwirblies, Lisa: Performing Empire: Theatre, Race, and Colonial Culture in the German Empire, 1884–1914, Palgrave 2022. 12 Diese Aussage ist eine Verkürzung vieler Podiumsgespräche und Diskussionen, an denen ich als Wissenschaftlerin of Color eingeladen wurde, um mit weißen Theatermacher:innen über »Diversität« und »nicht-weiße« Künstler:innen zu sprechen. 13 Brenner, Michael: »1985 - Theaterskandal in Frankfurt Jüdische Allgemeine«, in: Jüdische Allgemeine, 5. August 2013, https://www.juedische-allgemeine.de/ politik/1985-theaterskandal-in-frankfurt/ (Zugriff am 3. März 2021). 14 Oguntoye, Katharina/ Opitz (später Ayim), May/ Schultz, Dagmar: Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1992. 15 Vgl. Reed-Anderson, Paulette: Berlin und die afrikanische Diaspora, Berlin 2000. 16 Collins, Patricia Hill: Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment, New York 1990, S. 17. 17 Dhawan, Do Mar: »Postkolonialer Feminismus und die Kunst der Selbstkritik«, in Steyerl, Hito/Rodriguez, Gutierrez (Hrsg.): Spricht die Subalterne deutsch? ­Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2012, S. 270 – 290. Hier S. 276. 18 Ich werde im Folgenden das N-Wort nicht ausschreiben. Hier sei auf Grada ­Kilomba verwiesen, die darauf aufmerksam macht, dass das »N-Wort […] in der Geschichte der Versklavung und Kolonisierung situiert ist, d. h. es [ist] ein Begriff, welcher mit Brutalität, Verwundung und Schmerz einhergeht«. Kilmoba, Grada: »Das N-Wort«, Bundeszentrale für politische Bildung, 3. Juni 2006, https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/afrikanische-diaspora/59448/ das-n-wort?p=all (Zugriff am 3. März 2021). Überdies sei darauf verwiesen, dass das N-Wort in Frankreich mittlerweile strafrechtlich geahndet wird. Im Englischen wurde der Titel von Anfang an mit »Battle of Black and Dogs« übersetzt, http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2016/04/france-debates-word-negre-negro-rossignol-160403054604312.html (Zugriff am 3. März 2021). 19 Sie verwiesen darauf, dass »das Freie Schauspielensemble in Frankfurt/Main dieselbe Inszenierung durch den Begriff Schwarze ersetzt hat«. Siehe auch Zöllner, Abini: »Don‘t call me Neger«, in: Berliner Zeitung, 12. Dezember 2003.

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20 Ebd. 21 Ebd. 22 Siehe auch Otoo, Sharon Dodua: »(Ab)using Fadoul and Elisio: Unmasking Representations of Whiteness in German Theatre«, in: Textures, 14. Mai 2014, http://www.textures-platform.com/?p=3216 (Zugriff am 3. März 2021). 23 Kalu, Joy Kristin: »On the Myth of Authentic Representation: Blackface as Reenactment«, in: Textures, 29. Oktober 2012, http://www.textures-platform. com/?p=2616 (Zugriff am 3. März 2021). 24 Mbembe: Critique of Black Reason, S. 11. 25 Das DT Berlin hat an dem Abend mit einem spontan organisierten Publikumsgespräch reagiert. Dies führte teilweise zu einer Veränderung bzw. einem »white face« für die beiden Figuren. Allerdings wurde dies nach wenigen Vorstellungen auch wieder verworfen. 26 Recke: »Uh Baby«, S. 55. 27 Vgl. Recke: »Uh Baby«, S. 56 und El-Tayeb, Fatima: European Other. Queering Ethnicity in Postnational Europe, University of Minnesota Press 2011, S. 4 – 5. 28 Recke: »Uh Baby«, S. 55. 29 Recke: »Uh Baby«, S. 54. 30 Hier sei noch mal auf die Rezension von Eva-Elisabeth Fischer aus der Süddeut­ schen Zeitung verwiesen. 31 Recke: »Uh Baby«, S. 56. 32 Der Blick des Westens auf den afrikanischen Kontinent und seine Bewohner:innen, der über Jahrhunderte durch das koloniale Projekt geprägt war, führt zur Verkürzung und Simplifizierung. Oft wird von Afrika als Singular und manchmal als Land und nicht als Kontinent gesprochen. So verweist auch die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichi in ihrem vielzitierten TED talk »The Danger of a Single Story« auf die immer noch fortwährende Festschreibung einzelner Narrative über den afrikanischen Kontinent. Siehe auch Ngozi Adichi, Chimamanda: »The Danger of a single story«, TED talk, Juli 2009, https:// www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_single_ story?language=de Zugriff am 3. März 2021). 33 Mbembe: Critique of Black Reason, S. 38. 34 Vgl. Moten, Fred/Harney, Stefano: The Undercommons. Fugitive Plannning & Black Study, New York 2013. 35 Halbertsam, Jack: »The Wild Beyond. With and for the Undercommons«, in: Moten, Fred/Harney, Stefano: The Undercommons. Fugitive Plannning & Black Study, New York 2013, S. 2 – 12, S. 6.

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Matthias Warstat Intervention und Dissoziation Kollektivbildung im politischen Theater Wenn es heute darum geht, politisches Theater zu interpretieren und zu bewerten, richtet sich der Blick oftmals zurück auf die Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Dieser Rückbezug ist damit zu erklären, dass komplexe Fragen, die mit der historischen Avantgarde vor hundert Jahren verbunden waren, in modifizierter Form wieder relevant geworden sind: Welche Chancen und Risiken liegen darin, Theater für politische Zwecke zu instrumentalisieren? Wie lassen sich politische und ästhetische Dimensionen des Theaters miteinander verbinden? Kann sich das Theater mit anderen Medien (insbesondere Massenmedien) messen, wenn es um politische Relevanz und Durchsetzungskraft geht? Diese Fragen haben in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts schon Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Erwin Piscator, Friedrich Wolf, Georg Lukács und viele andere beschäftigt – heute begegnen sie uns in verändertem gesellschaftlichem Kontext aufs Neue. Es ist von daher verständlich, dass sich politisch ambitionierte Theatermacher:innen und Performancegruppen wie im deutschsprachigen Raum etwa Rimini Protokoll, andcompany&Co., René Pollesch oder das Zentrum für Politische Schönheit explizit – etwa im Rahmen von Reenactments – mit Avantgarde-Positionen auseinandersetzen. Allerdings scheint das gesellschaftliche Umfeld dieser Positionen mit der heutigen Situation politischen Theaters nur schwer vergleichbar. Die politischen Konflikte waren anders ausgeprägt und insgesamt polarisierter. Das mediale Umfeld ließ dem Theater mehr Raum als heute, aber eine schnelle Mobilisierung und Vernetzung fiel in diesem Umfeld nicht unbedingt leichter als heute. Schließlich differierten die politischen Zielsetzungen. In einem Essay mit dem Titel On Art Activism (2016) bezieht sich Boris Groys auf die vorrevolutionäre russische Avantgarde, um deren entschiedene »Dysfunktionalität« heutigen Formen angewandter und aktivistischer Kunst gegenüberzustellen. Das Revolutionäre der Kunst von Kasimir Malewitsch, Alexei Krutschonych und anderen habe gerade darin gelegen, sich konkreten Fortschritten und Optimierungsprogrammen zu verweigern und stattdessen auf eine radikale Dysfunktionalisierung des Gegebenen zu setzen. Auch in der Gegenwart möchte Groys entsprechend nur solche Positionen im engeren Sinne zur Kunst zählen, die den gesellschaftlichen Status quo nicht

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verbessern, sondern gänzlich verabschieden (bzw. archivieren, musealisieren) möchten: ontemporary art puts our contemporaneity into the art museum C because it does not believe in the stability of the present conditions of existence, to such a degree that contemporary art does not even try to improve these conditions. By defunctionalizing the status quo, art prefigures its coming revolutionary overthrow. Or a new global war. Or a new global catastrophe. In any case, an event that will make the whole contemporary culture, including all of its aspirations and projections, obsolete […]1 Diese Einschätzungen, die Groys im Rekurs auf die frühen russischen Suprematisten, Futuristen und Kosmisten und hier besonders auf bildende Kunst formuliert, lassen sich nicht ohne Weiteres auf die Theateravantgarde übertragen.2 Weder wollten politische Theatermacher:innen in Zeiten der historischen Avantgarden die Gegenwart musealisieren, noch hatten sie den Anspruch auf eine Verbesserung der gegebenen Existenzbedingungen ganz fallengelassen. Analog zum Bemühen um Dysfunktionalisierung in der bildenden Kunst neigte aber auch die Theateravantgarde zu radikalen Gesten der Zurückweisung der herrschenden Zustände, und sie entwickelte, gerade in Deutschland, eine vitale Bindung an die Idee der Revolution. Besonders deutlich zeigte sich das in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als sich politisch engagierte Theaterleute zu den revolutionären Ereignissen in Russland und anderen europäischen Gesellschaften positionieren mussten. Auch in Deutschland suchte man nach Antworten auf die revolutionären Massenbewegungen der Jahre 1917 bis 1920 – deren Kontur allerdings nicht leicht zu greifen war: Es handelte sich um eine Kette teils politisch, teils ökonomisch motivierter Aufstände, darunter [ …] die sozialen Unruhen und »wilden« Streiks, die in den letzten Kriegsjahren ständig weiter um sich griffen und ihren Höhepunkt im politischen Massenstreik vom Januar 1918 fanden, an dem sich in Berlin über eine halbe Million, in ganz Deutschland mindestens eine Million Arbeiter beteiligten; die Umsturzbewegung vom November 1918, die weder geplant, noch von Parteiund Gewerkschaftsführungen organisiert worden war, dennoch aber Millionen mit sich riss und im ersten Anlauf einen überwältigenden Erfolg erzielte; die rasche Ausbreitung der Arbeiter- und

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Intervention und Dissoziation

Soldatenräte als Repräsentanten der revolutionären Bewegung in allen Teilen des Reiches und im Frontheer; die Massendemonstrationen und Streikbewegungen während der Wintermonate, wozu auch der sogenannte Spartakusaufstand von Anfang Januar zu rechnen ist, der sich aus einer planlosen Massendemonstration von über 500 000 Arbeitern in Berlin entwickelte; die Sozialisierungsbewegungen, Massenstreiks und Aufstandsbewegungen, die im Frühjahr 1919 die wichtigsten Industriegebiete des Reiches erfassten; die räterepublikanischen Experimente in einzelnen Städten und Gebieten; die Massenbewegungen innerhalb der alten und neuen Parteien und gewerkschaftlichen Organisationen; schließlich der erfolgreiche Generalstreik im Kampf gegen den Kapp-Putsch, bei dem 12 Millionen Arbeiter die Arbeit niederlegten.3 Das politische Theater im Deutschland der Weimarer Republik, das zumindest in seinen antibürgerlichen, gegen das tradierte Kunst- und Theatersystem gerichteten Ausprägungen unter den Avantgarde-Begriff gefasst werden kann, wäre ohne die Revolution von 1918/19 und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Konflikte nicht vorstellbar. Wichtige Grundzüge der Avantgarde lassen sich unmittelbar auf die Revolutionserfahrung rückbeziehen. Zwei davon möchte ich hervorheben, zumal sie in eine andere Richtung weisen als Groys’ berechtigter Hinweis auf die Dysfunktionalität der historischen Avantgarden in der bildenden Kunst. Erstens war das politische Theater in Deutschland seit den (letztlich gescheiterten oder zumindest nicht überwiegend erfolgreichen) Massenbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder mit Fragen von Kollektivität und dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv beschäftigt.4 Das mag trivial klingen, aber es war eine ernsthafte und komplexe Auseinandersetzung, zumal im Motiv der Kollektivität politische und ästhetische Fragen konvergierten. So rückte das Chorische in Gestalt von Sprech-, Bewegungs- und Tanzchören seit den zwanziger Jahren wieder mit ins Zentrum der Theaterpraxis, und vielen Theoretiker:innen und Kritiker:innen dieser Praxis war die Notwendigkeit bewusst, chorische Formationen auf der Bühne zu politischen Massenbewegungen auf der Straße in Beziehung zu setzen. Seit den Monaten des Umbruchs von 1918/19 konnte man in der städtischen Öffentlichkeit täglich politische Kollektive in Aktion sehen. Sowohl die Gewaltsamkeit als auch die Wirkungskraft solcher Formationen war für aufmerksame Beobachter:innen unverkennbar, ganz gleich ob

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sie das dynamische Geschehen in Kategorien von Masse, Klasse, Bund oder Gemeinschaft beschrieben.5 Zweitens griff die Avantgarde in ihren Formen und Inszenierungsweisen jene Spannungen, Konflikte und Kämpfe auf, die das kollektive Geschehen auf der Straße dominierten. In den unruhigen Spätjahren der Weimarer Republik seit 1929 wurde dieser Zusammenhang besonders deutlich. Kollektive waren in dieser Zeit der Straßenkämpfe und Massenaufmärsche keine in sich ruhenden Gemeinschaften oder demokratisch diskutierenden Versammlungen. Vielmehr agierten sie oft aggressiv und gewaltsam, spalteten sich häufig und brachten dann neue, radikalere Gruppen hervor, die sich gegeneinander wendeten. Darin liegt ein dissoziativer Zug der politischen Öffentlichkeit, der sich im Theater spiegelte oder sogar noch verschärfte. Die öffentliche Performanz theatraler Kollektive war eine Praxis auch und gerade der Dissoziation. Es ging darum, sich zu fokussieren und zu begrenzen, sich abzutrennen, um eine härtere Kontur für den politischen Kampf zu gewinnen.6 Dieses Bemühen um dissoziative Konturierung kann besonders am Agitproptheater aufgezeigt werden. An Kollektivität und Dissoziation scheiden sich im politischen Theater auch heute die Geister. Wenn es darüber nachzudenken gilt, wie wirkungsvolle politische Interventionen des Theaters heute aussehen können, welche Bedeutung der ästhetischen Erfahrung in gegenwärtigen politischen Konflikten zukommt, und wie Theater sich zu aktivistischen Anliegen positionieren soll, steht unweigerlich die Frage nach dem Umgang mit Kollektivität und Dissoziation im Raum. Mit Akteur:innen und Zuschauer:innen stehen sich in Theateraufführungen zwei Gruppen gegenüber, die als Kollektive aufgefasst werden können. Somit scheint Kollektivität im theatralen Dispositiv nahezu ›von vornherein‹ angelegt. Fast zwangsläufig entwirft jede Theaterpraxis Bilder eines Verhältnisses von unterscheidbaren Kollektiven. Kollektive, die zueinander in Beziehung treten, tun dies in Konstellationen, die sich zwischen Assoziation und Dissoziation bewegen. In den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war klarer zu erkennen als heute, dass Kollektive im Theaterraum mit Kollektiven außerhalb des Theaters, etwa auf der Straße oder in der Fabrik, korrespondieren. In diesen Korrespondenzen liegen politische Möglichkeiten und durchaus auch Interventionschancen. Diese ergeben sich – damals wie heute – an den verschiedenen Grenzen des Theaterdispositivs: Bühne und Zuschauerraum, Vorderbühne und Hinterbühne, Aufführungsraum und Außenraum, Raum der körperlichen Ko-Präsenz und mediale Erweiterungen etc. Es ist ein Spiel mit

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Intervention und Dissoziation

Kollektiven – auf der Bühne, vor der Bühne und hinter der Bühne; innerhalb und außerhalb des Theaters –, die alle auf keinen Fall in eins gesetzt werden dürfen, aber in wechselnde Verhältnisse zueinander geraten, und diese Verhältnisse können, darin liegt ihre politische Qualität, assoziativ oder dissoziativ gestaltet werden. Interventionen können auf die Konvergenz, aber auch auf die Trennung von Kollektiven abzielen.

1.

Die Krise des Agitproptheaters 1930 – 1933

Die späte Weimarer Republik war die paradigmatische Zeit einer dissoziativen Politik, die im Sinne Carl Schmitts auf Freund-Feind-Oppositionen basierte und in der die verschiedenen Lager oft mit paramilitärischen Mitteln auf eine klare Trennung vom politischen Gegner setzten.7 Chantal Mouffe würde von einer antagonistischen Politik sprechen, die immer weniger ins Demokratisch-Agonale transformiert werden konnte.8 Das politische Theater war von dieser Polarisierung einerseits unmittelbar betroffen, andererseits trug es selbst aktiv zu einer Verschärfung der politischen Gegensätze bei. Für linke Theatermacher ergab sich eine doppelte Frontstellung: Die NSDAP, seit den Septemberwahlen von 1930 zweitstärkste Partei im Reichstag, sorgte vor allem mit den großstädtischen Gruppen der SA, die sich auf Straßenund Saalschlachten spezialisiert hatten, für eine ständige gewaltsame Bedrohung gegen linke politische Versammlungen und mithin auch gegen entsprechende Theateraufführungen.9 Zugleich mussten politisch engagierte Theaterleute aber auch in dem erbitterten Konflikt zwischen SPD und KPD Position beziehen, denn die parteipolitischen Trennlinien verliefen mitten durch die proletarischen Milieus. Ein paradigmatisches Beispiel für dissoziative Interventionen mit den Mitteln des Theaters sind die kommunistischen Agitproptheater-Truppen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Die Beschäftigung mit ihnen liegt heute näher als früher, denn seit einigen Jahren gibt es im deutschsprachigen Raum wieder viel beachtete Theatergruppen, die in der Tradition des Agitproptheaters situiert werden können. Diese Gruppen teilen mit den Agitproptruppen der Jahre um 1930 folgende Charakteristika: Sie verstehen sich als Kollektive; sie arbeiten in großer Nähe zu politischen Bewegungen oder als Teil dieser Bewegungen; sie haben keine Angst vor klaren Botschaften; und sie suchen ihr Publikum außerhalb des Theaters, zum Beispiel auf der Straße oder, was die Gegenwart anbelangt, im Internet.10

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Um 1930 gab es in Deutschland rund 300 Agitproptheater-Gruppen, die sich dem Organisationsspektrum der KPD zuordneten. In der Regel bestanden sie aus einzelnen professionellen Theaterleuten (Schauspielern wie Wolfgang Langhoff, Autoren wie Friedrich Wolf, Regisseuren wie Maxim Vallentin) und einer überwiegenden Mehrheit von jüngeren Leuten aus dem Arbeitermilieu, von denen die meisten arbeitslos waren und sich von daher ganz in den Dienst der agitatorischen Theaterarbeit stellen konnten. Die Interventionen dieser Theatergruppen sahen folgendermaßen aus: Sie gestalteten Nummernprogramme aus satirischen Kurzszenen, politischen Liedern und didaktischen Sprechchören, die auf die aktuelle politische Situation eingingen oder als Teil einer politischen Kampagne der KPD oder einer ihrer Vorfeldorganisationen funktionierten. Mit diesen Programmen fuhren die Gruppen in die Arbeiterbezirke, manchmal aber auch in kleinbürgerliche Wohnviertel und am Wochenende in die ländliche Umgebung der Großstädte. Wenn die Agitproptruppen in Hinterhöfen, auf der Ladefläche ihres Auftrittswagens oder in Gasthaussälen auftraten, trafen sie auf ein Publikum, dessen Probleme und Themen sie unmittelbar adressieren und dessen Haltung sie beeinflussen wollten. Am erfolgreichsten waren die Gruppen offenbar dort, wo sie in einem Milieu agierten, dem sie selbst angehörten. Allerdings entwickelten sie mit ihrer Arbeit einen eigenen Lebensstil, der sie von großen Teilen selbst des kommunistischen Arbeitermilieus unterschied: Die Truppenmitglieder verbrachten oft viele Stunden des Tages zusammen, bildeten Wohngemeinschaften, und in diesen Wohnungen gestalteten sie die Kostüme, Requisiten und Texte für ihre Auftritte. Es war ein kommunitäres Leben im Stil einer Produktionsgenossenschaft, die sich in den Dienst zentral gesteuerter Kampagnen zu stellen bereit war. Es wurden Agitationsziele definiert und im Zuge dessen politische Konstellationen und Konfliktlagen beschrieben, in die hinein man mit der eigenen Theaterarbeit zu intervenieren beabsichtigte. Der Erfolg solcher Interventionen ließ sich an einfachen Parametern ablesen: ob es zum Beispiel gelungen war, Spenden für die Familien inhaftierter Genossen zu sammeln, Abonnements für eine Verbandszeitschrift zu vermitteln oder neue Mitglieder für die sogenannten ›Roten Verbände‹ der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition zu werben. Der Erfolg ließ sich leicht ablesen, aber er stellte sich nach 1930 immer seltener ein. Auffallend ist nämlich, dass das interventionistische Agitproptheater der KPD schon lange vor der Machtübernahme der National-

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sozialisten in eine Krise geriet. Zwar berichtete die KPD-Presse immer wieder hymnisch über fulminante Auftritte der Truppen und schrieb ihnen beeindruckende Resonanz zu. Aber die intensiven Diskussionen, die zur selben Zeit von Theoretikern und Praktikern dieses Theaters über politische, ästhetische und technische Fragen geführt wurden, legen einige Skepsis nahe. Vor allem seit 1931 war in diesem Diskurs immer häufiger von einer Krise die Rede, deren Symptome auf verschiedenen Ebenen situiert wurden. Auf einer Konferenz des Arbeiter-Theater-Bundes Deutschland im April 1931 wurde erstmals ausführlich über eine sogenannte »Programmkrise« diskutiert.11 Vertreter von Agitproptruppen aus unterschiedlichen Regionen des Reiches gestanden ein, dass ihr szenisches Repertoire nach den dicht gedrängten Wahlkampf- und Kampagneneinsätzen der Jahre 1930/31 erschöpft sei.12 Stand eine Truppe – wie in Wahlkampfzeiten üblich – fast allabendlich auf der Bühne, so fand sie kaum Gelegenheit, ihr Programm zu aktualisieren und neue Nummern einzustudieren. Der Anspruch, auf tagesaktuelle Probleme des Publikums einzugehen, wurde auf diese Weise schleichend unterhöhlt. Während die Truppenvertreter vor allem Zeitmangel für diese »Programmkrise« verantwortlich machten, suchten Kritiker und Funktionäre tieferliegende Ursachen in Theoriedefiziten: Vielen Truppen, so die Klage, seien marxistische Positionen nur vage bekannt. Auf ästhetischer Ebene richtete sich die Kritik an den Agitproptruppen gegen einen zunehmenden ›Schematismus‹ in der Wahl der Darstellungsformen. Viele Beobachter bemängelten, dass die politische Revue wie auch das chorische Kollektivreferat zu ›Schablonen‹ erstarrt seien, die »von außen an den jeweiligen politischen Stoff herangeklatscht«13 würden. Es herrsche eine fatale Diskrepanz zwischen Form und Inhalt, wenn man etwa »die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung seit 1917 in einer Kurzszene« abhandle oder »die Schrecken des Krieges mit Kindertrompeten«14 imitiere. In der Zeitschrift Das Rote Sprachrohr, dem wichtigsten Organ der Agitpropbewegung, wurde die Neigung der Truppen zu stereotypen Allegorien und Abstraktionen kritisiert: nd hier kommen wir an den wesentlichen Mangel unserer U bisherigen Arbeitsmethode. Wir haben dargestellt: den Kapitalisten (meistens mit einem dicken Bauch und einem Geldsack drum), den Bonzen, die Justiz usw. – Abstraktionen, Begriffe, die auch in unserem Kopf nicht der Ausgangspunkt eines Gedankenganges waren, sondern ein Endresultat; wir haben nicht unseren

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­ edankengang auf der Bühne dargestellt und dadurch in der G gleichen Weise wie in unserem eigenen Kopf den Begriff im Zuschauer entwickelt, sondern wir haben ihm Endresultate, feststehende Begriffe, grob gesagt, um die Ohren gehauen.15 Mit ähnlichen Argumenten forderte der Dramatiker Friedrich Wolf nach 1931 eine grundsätzliche Abkehr vom Prinzip des Nummernprogramms und plädierte stattdessen für abendfüllende Theaterstücke: Komplexere politische Zusammenhänge, so Wolf, seien in Kurzszenen nicht zu vermitteln.16 Auch die schauspielerischen Leistungen wurden im Fachdiskurs als mangelhaft empfunden. In einer Resolution forderte der Bundestag des Arbeiter-Theater-Bundes die Truppen im Mai 1932 dazu auf, mit arbeitslosen Berufsschauspielern Kontakt aufzunehmen, um sich an deren Kenntnissen zu schulen.17 Zu befürchten stand, dass sich die dramaturgischen und ästhetischen Defizite der Agitproptruppen auf der Wirkungsebene negativ bemerkbar machen würden. Tatsächlich setzte sich im Agitpropdiskurs die Einschätzung durch, dass es um die Wirksamkeit der Truppen nicht allzu gut bestellt sei. Viele von ihnen, so der kritische Tenor nach 1931, verbreiteten Langeweile, überfrachteten ihre Darbietungen mit Zahlen und Fakten und versagten vor der Aufgabe, ihr Publikum nicht nur kognitiv, sondern auch emotional anzusprechen.18 Speziell außerhalb der angestammten Parteimilieus, bei Auftritten vor Kleinbauern, Angestellten und Mittelständlern, erzielten die Truppen offenbar nur geringe Resonanz. Friedrich Wolf analysierte dieses Problem 1933 in einem Rückblick auf seine Arbeit mit dem Spieltrupp Süd-West: ewiß, man rief dem Publikum zu: »Links, links, links, Prolet!« G Aber damit machte man den Kleinbauern und Angestellten bloß kopfscheu. War er vielleicht ein »Prolet«, ein Glied der Arbeiterklasse? Man nahm in Parolen und Behauptungen Dinge vorweg, die gerade dem deklassierten Angestellten, dem ausgepowerten Kleinbauern erst bewiesen werden mußten ... ein folgenschwerer Irrtum, der lange unsre Arbeit in Fragen der »Einheitsfront« hemmte.19 Vielen Truppen haperte es an der Fähigkeit, sich auf die Bedürfnisse ihres jeweiligen Publikums flexibel einzustellen. Der Kontakt zu den Zuschauenden war zu flüchtig und punktuell, als dass eine nachhaltige Bindung hätte erreicht werden können. Zum Eingehen längerfristiger Verpflichtungen – wie etwa eine Zeitschrift zu abonnieren oder einem

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Verband beizutreten – waren viele Zuschauer:innen allein auf der Basis eines einmaligen Aufführungserlebnisses nicht bereit. Die Truppen hätten wohl einzelne Wohnviertel und Dörfer regelmäßiger bearbeiten müssen. Stattdessen blieb es meist beim einmaligen Milieu­kontakt, der noch dazu unzureichend vorbereitet wurde. Die verschiedenen Problemkomplexe verdichten sich in der Gesamtschau zu einer umfassenden Krisendiagnose. Die Interventionen des Agitproptheaters funktionierten offenbar nicht richtig – oder nicht mehr richtig. Die Appelle dieses Theaters wirkten auf das Publikum disparat oder sogar widersprüchlich: Einerseits bezogen sich die Truppen auf das Ideal proletarischer Solidarität und bemühten sich um einen engen Kontakt und ein gemeinschaftliches Einvernehmen mit ihrem Publikum. Andererseits produzierten sie häufig Spaltungen und Trennungen; darin liegt die dissoziative Seite ihrer Arbeit. Das Agitproptheater war konfrontativ, oft auch schon im szenischen Auftritt: Man stellte sich in einer Reihe frontal zum Publikum auf und konfrontierte die Zuschauer:innen mit chorisch vorgetragenen Belehrungen und Forderungen. Man sah sich als eine Avantgarde im Lenin’schen Sinne, die dem Publikum vorangehen zu können glaubte. Den Zuschauer:innen aber ideologisch einen Schritt voraus zu sein, bedeutete auch, sich von diesem Publikum programmatisch und performativ abzutrennen, sich ihm mehr zu konfrontieren als zu assoziieren. Es ging den Truppen um Organisation, Assoziation und die Bildung revolutionärer Gemeinschaften, aber dem standen trennende und dissoziative Impulse gegenüber, gerade bei der Arbeit in sozialen Milieus, die nicht unmittelbar die eigenen waren. Die konkreten Interventionen wirken seltsam blockiert in einem unauflösbaren Bündel aus assoziativen und dissoziativen Kräften.

2.

Politische Intervention und ästhetische Erfahrung

Einige der Kritikpunkte, die man aus der Debatte um das Agitproptheater der frühen dreißiger Jahre nur zu gut kennt, begegnen in der Diskussion um politisches Theater heute in abgewandelter Form wieder. Dabei geht es, grob gesagt, um die Vermittelbarkeit von aktivistischen und ästhetischen Ansprüchen. Hinter der »Programmkrise« verbarg sich der Vorwurf, dass die kurzen Szenen, Songs und Sprechchöre zu plakativ, brachial und simplifizierend gestrickt seien, um ein Publikum ernsthaft überzeugen zu können. Tatsächlich waren die Szenen nach einem einfachen

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­ chwarz-weiß-Schema gebaut: Es war für das Publikum immer auf S den ersten Blick erkennbar, wie sich Gut und Böse verteilten. Es gab ausbeuterische Kapitalisten und tapfere Arbeiter, skrupellose Hausbesitzer und hilflose Mieter, brutale Polizisten und friedliche Demons­ tranten, dumme Nazis und schlaue Kommunisten. Auch heute findet sich in Bezug auf aktivistische Theaterformen oftmals die Einschätzung, diese müssten notgedrungen mit brachialen Zuspitzungen arbeiten. Dahinter kann die interpassive Haltung eines ›Wir wissen es natürlich besser‹ stehen:20 Für uns selbst ist die Darstellung zwar zu plakativ, aber es gibt andere Zuschauer:innen, andere Zielgruppen, die solche Vereinfachungen goutieren oder auf diese zum besseren Verständnis angewiesen sind. Schon in der Krisenzeit nach 1930 brach sich bei einzelnen Theatermachern die Erkenntnis Bahn, dass hinter einer solchen Sichtweise eine überhebliche, jedenfalls nicht schmeichelhafte Einschätzung des eigenen Publikums steht. Heute zeigt sich unter den Praktiker:innen eines Theaters der Intervention oft ein Hadern mit der Frage, ob man die eigene Praxis als Kunst bezeichnen darf oder warum dieser Praxis der Kunstbegriff nicht von allen zugebilligt wird. Im Agitproptheater hielt man es eher mit der lässigeren Haltung eines Piscator oder Brecht, die auf den Kunstbegriff als solchen keinen gesteigerten Wert legten und nicht der Meinung waren, dass politisches Theater ein solches Prädikat nötig hätte. Gleichwohl war die ästhetische Dimension der Programme bei den Truppen ein ständiges Thema. Die Form der Aufführungen, die gewählten Gesten der Adressierung, die Gestaltung der Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum wurden deshalb immer wieder kritisch befragt, weil Zweifel an deren Wirksamkeit blieben. Damit verband sich auch eine Professionalisierungsdebatte: Wie erfolgversprechend war es, politisches Theater mit Leuten zu machen, die zwar engagiert bei der Sache waren, aber keine wirkliche Theaterausbildung genossen hatten? War es wichtiger, Laien aus der Bewegung umfassend in die Theaterpraxis einzubinden, oder sollte man versierte Profis nach vorne schieben, weil diese wirkungsvoller in Kontakt mit dem Publikum treten könnten? Hinter solchen Besorgnissen steht die Ahnung, dass auch aktivistische bzw. agitatorische Theaterdarbietungen am Ende vom Publikum einem ästhetischen Urteil unterzogen werden. Dies geschieht unabhängig von der Intention der Macher und ist kein Privileg besonders gebildeter oder kunstinteressierter Zuschauer:innen. Es geht um Gesichtspunkte wie: Ist die Darbietung gelungen? Spielen die Darsteller:innen überzeugend? Ist das Geschehen auf der Bühne interessant,

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aufregend, anrührend? Aus solchen Fragen ergeben sich Urteile, die nicht auf den politischen Gehalt oder die Botschaft der Aufführung bezogen sind. Trotzdem werden auch die aktivistischsten und agitatorischsten Interventionen, wenn es künstlerische Interventionen sind, fast unweigerlich zum Gegenstand einer ästhetischen Beurteilung durch das Publikum. Nicht immer ist diese Richtung der Beurteilung der politischen Wirkung des Dargebotenen zuträglich. Das ästhetische Urteil entfaltet auch eine eigene soziale Dynamik. In der ästhetischen Erfahrung können assoziative und dissoziative Impulse wirksam werden. Schon Kant hat auf den Drang hingewiesen, Geschmacksurteile mit anderen zu teilen: [ …] wenn jemand aber etwas für schön ausgibt, so mutet er andern eben dasselbe Wohlgefallen zu: er urteilt nicht bloß für sich, sondern für jedermann, und spricht alsdann von der Schönheit, als wäre sie eine Eigenschaft der Dinge. Er sagt daher, die Sache ist schön; und rechnet nicht etwa darum auf anderer Einstimmung in sein Urteil des Wohlgefallens, weil er sie mehrmahlen mit dem seinigen einstimmig befunden hat, sondern fordert es von ihnen.21 Auch Sianne Ngai hebt in ihren Essays über die zeitgenössischen ästhetischen Attribute »cute«, »interesting« und »zany« (Our Aesthetic ­Categories, 2012) darauf ab, wie bedeutsam in gesellschaftlicher Hinsicht unser Bedürfnis ist, über Geschmacksurteile zu sprechen und andere in unser Empfinden einzubeziehen. Sie beschreibt weitreichende soziale Wirkungen, die an ästhetische Urteile geknüpft sind: o judge something or someone »cute« is to simultaneously erotT icize and infantilize that object/person. While interesting art is serial or ongoing and comparative and dialogic […], to performatively call something »interesting« (often with an implicit ellipsis, »interesting …«) is to highlight and extend the period of an ongoing conversation. The judgment of the object as »interesting« with all its glaring conceptual indeterminacy, almost seems designed to facilitate the subject’s formation of ties with another subject: the »you« whose subsequent demand for concept-based explanation might be read as the feeling based judgment’s secret goal.22 Auf diese Weise können ästhetische Gemeinschaften, aber auch starke Aversionen gegen Subjekte entstehen, die unser Urteil nicht

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teilen können oder wollen. In der Reflexion politischer Ästhetik sollte diese dissoziative Dynamik nicht unterschätzt werden. Dass sich die Darstellungspraxis einer Agitproptruppe, einer aktivistischen Straßentheater-Gruppe oder eines politisch engagierten Performance-Kollektivs immer auch einer ästhetischen Beurteilung unterziehen muss, ist für die politische Wirkung dieser Praxis folgenreich. Denn in dieser Beurteilung, die stets mit affektiv grundierten Erfahrungen einhergeht, entstehen neue soziale Bindungen und Distanzen oder werden bestehende Gefühle der Zugehörigkeit und Abgesondertheit verstärkt. Nicht zufällig funktionierten die Aufführungen der Agitproptruppen um 1930 wohl am besten dort, wo man nicht nur politische Überzeugungen, sondern auch Freizeitgewohnheiten und ästhetische Präferenzen teilte: in den Vereinslokalen und Versammlungen der eigenen Partei, Gewerkschaft oder Kulturorganisation. Die Hoffnung, mit konfrontativen Darbietungen bei einem den Akteuren unvertrauten Publikum auf dem Lande reüssieren zu können, mussten die Truppen spätestens Anfang der dreißiger Jahre aufgeben. Überhaupt erwies sich die direkt parteipolitische Mobilisierung durch Theater als schwierig. Gerieten die Programme zu didaktisch, die chorischen Rezitationen zu langatmig, dann sprang der Funke beim Publikum nicht über; versuchte man es dagegen mit einem komisch-unterhaltsamen Zugang, wurde schnell der Vorwurf der Oberflächlichkeit oder Geschmacklosigkeit erhoben. Die theatrale und damit indirekte Kommunikation mit einem oft zufällig zusammengewürfelten Publikum barg mehr Risiken als etwa die Auftritte geschulter Agitationsredner, die ihre Ansprachen mit viel Erfahrung flexibel an unterschiedliche Publikumsreaktionen anpassen konnten. Den Darsteller:innen ohne professionelle Ausbildung, die ja die Mehrheit in den Agitproptruppen stellten, waren solche spontanen Anpassungen ihrer standardisierten Nummernprogramme dagegen oftmals nicht möglich. Anders als den reisenden Kampagnen-Rednern fiel es ihnen auch schwer, skeptische Teilnehmer:innen im Publikum zu identifizieren und durch Blickkontakt direkt anzusprechen. Politischer Aktivismus durch Theater hat bis heute mit den Tücken geschmacklicher Vorlieben und Idiosynkrasien zu kämpfen. Das Zentrum für Politische Schönheit, das eine ästhetische Kategorie im Namen führt, ist dafür ein viel diskutiertes Beispiel. Obwohl oder gerade weil man die politischen Ziele der Gruppe durchaus teilt, kann einen beim erstmaligen Sehen wie auch beim wiederholten Betrachten der Aktionen ein ungutes Gefühl beschleichen: Lebende

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Tiger im Käfig vor einem Theater und die Rede von Geflüchteten, die sich ihnen zum Fraß vorwerfen lassen wollen (Flüchtlinge fressen – Not und Spiele, 2016); eine inszenierte islamische Bestattung auf einem Berliner Friedhof als Kunstaktion (Die Toten kommen, 2015); eine Stahlsäule mit (angeblicher) Asche von Opfern des National­ sozialismus als Installation vor dem Reichstagsgebäude (Sucht nach uns!, 2019) – solche Gesten können nicht nur als ethisch ambivalent und politisch zweifelhaft, sondern leicht auch als geschmacklos empfunden werden: zu viele Sarg-Attrappen, zu viele pathetische Statements, zu schnelles Springen zwischen Themen und Sensationen. Die ästhetischen Zweifel, die die brachialen szenischen Bilder auslösen, wirken sich auf die politische und ethische Einschätzung der jeweiligen Aktion sicherlich aus. Wenn man eine Darstellung als forciert, plump oder auch nur technisch misslungen bewertet, wird es schwierig, die politischen Forderungen wohlwollend oder zumindest unbefangen zu prüfen, die sich in dieser Darstellung artikulieren. Für eine Theatergruppe erreicht das Zentrum für Politische Schönheit beeindruckende Publizität, aber ob diese Publizität tatsächlich die politischen Anliegen der Gruppe voranbringt, erscheint fraglich. Von ästhetischen Aversionen können Abstoßungsreaktionen ausgehen, und dieser dissoziative Effekt kann sozial so stark wirken, dass die gewünschte Solidarisierung schwach bleibt oder sogar ganz ausbleibt. Der enge Zusammenhang von ästhetischen, politischen und ethischen Beurteilungsvorgängen in der Erfahrung von Kunstwerken gestaltet sich auch für soziale, therapeutische oder pädagogische Theaterprojekte kompliziert. In solchen Projekten erhofft man sich vom Prozess der Erarbeitung einer Theaterinszenierung, d. h. von der Probenarbeit mit ihren verschiedenen Elementen – vom Konzeptionsgespräch über die szenische Rollenarbeit bis hin zu Feedback-Runden – soziale, therapeutische oder pädagogische Effekte für die Teilnehmenden. Auf diese Weise sollen Interventionen in konkrete gesellschaftliche Konflikte oder individuelle Problemlagen möglich werden. Nicht immer streben solche Produktionen eine öffentliche Aufführung an, denn nicht an Zuschauer:innen, sondern an die beteiligten Akteur:innen richtet sich das Wirkungsversprechen. Häufig wird eine Aufführung vor Publikum aber doch gewünscht, weil sie durch öffentlichen Zuspruch und Applaus eine willkommene Anerkennung für die Mitwirkenden verspricht. Diese kann anders ausfallen als erhofft, sobald die Spielenden in der Aufführungssituation zu Objekten von affektiven Geschmacksurteilen der Zuschau-

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enden werden. Werden die Darsteller:innen in diesem Zuge etwa, wie Sianne Ngai es nahelegt, erotisiert oder infantilisiert (›süß‹, ›niedlich‹) oder zum Ausgangspunkt eines Gesprächs, an dem sie selbst nicht teilnehmen können (›interessant‹), dann hat sich die Intervention in einer Weise verselbständigt, die weder politisch noch therapeutisch kalkulierbar ist. Umgekehrt kann sich das Publikum in eine reservierte oder gar überhebliche Haltung geradezu gedrängt sehen, wenn therapeutische oder pädagogische Theaterarbeiten von sich aus – etwa durch offensiv vorgetragene Kunstansprüche – den Vergleich mit professionellen Theatergruppen herausfordern. Insofern kann es eine Intervention auch gefährden, wenn sie vom Publikum vorwiegend als ästhetisches Ereignis wahrgenommen (und beurteilt) wird. Das wirft die Frage auf, um was für eine Art von Praxis es sich bei theatralen Interventionen handelt. Ein wichtiger Faktor ist die Mitwirkung von Laien, die für ihre Arbeit oftmals nicht entlohnt werden, weil sie zum Beispiel als Patient:innen ein Theatertherapie-Angebot wahrnehmen oder als Teilnehmer:innen an einem partizipativen Projekt mitwirken. Die künstlerische Praxis, wenn sie als solche definiert wird, bleibt bei solchen Projekten ohne materielle Vergütung – dies umso mehr, als auch die Anleiter:innen/facilitators von den finanzierenden Institutionen häufig explizit für ihre pädagogische, soziale oder therapeutische Tätigkeit bezahlt werden – und nicht für ein künstlerisches Schaffen. Die Aufführung wird dadurch keinesfalls entwertet, zumal sich der Wert eines ästhetischen Objekts nicht einfach an Art und Umfang der aufgewendeten Arbeit bemisst. Trotzdem verbleibt bei Produktionen, die ausdrücklich der Intervention, der Anwendung oder dem Engagement gewidmet sind, ein leiser Zweifel über ihren Wert: Die Darbietung ist funktional, erfüllt ihren Zweck, aber ist sie auch Kunst? Wenn man keinen Eintritt bezahlen muss, können dann wirklich Künstler:innen am Werk sein? Dieser Zweifel am künstlerischen Status des Gebotenen interferiert mit möglichen politischen Wirkungen. Denn Zuschauer:innen, die – womöglich en passant, auf der Straße, am Rande einer Demonstration etc. – mit einer theatralen Intervention konfrontiert sind, werden diese, sobald sie sie als Theater identifiziert haben, auch auf ihren ästhetischen Wert befragen. Diese Fragerichtung wird wie von selbst aktiviert und ist relativ unabhängig von der sozialen Herkunft oder kulturellen Vorprägung des:der Zuschauenden: Wenn wir Theater sehen – ganz gleich wo – fragen wir uns: Wie gefällt mir das? Wie gut oder schlecht ist das gemacht? Fällt die Antwort negativ aus, dann ist die politische Wirkung beeinträchtigt.

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Künstlerische Interventionen unterscheiden sich von anderen, derartigen Interventionen im Feld des Politischen vor allem dadurch, dass die Ausführenden als Künstler:innen gelten und deshalb die besonderen Bedingungen des Kunstmarktes bzw. des künstlerischen Feldes mit ins Spiel kommen. An diesem Punkt liegt einmal mehr ein Vergleich mit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts nahe, denn auch sie wirkten, etwa im Kontext von Agitation und Propaganda, an Kampagnen mit, die mehrheitlich von nicht-künstlerischen Akteuren (aus dem Bereich des Journalismus, der Öffentlichkeitsarbeit, der Partei- und Gewerkschaftsadministration) gestaltet wurden. Denkt man an die großen politischen Kampagnen der Weimarer Republik, dann ergibt sich der Eindruck, dass die Beiträge von Künstler:innen insgesamt nicht mehr und nicht weniger erfolgreich waren als andere Teile derselben Kampagnen (Flugblätter, Reden, politische Kundgebungen). Trotzdem stimmt wohl auch, dass Interventionen allein dadurch, dass sie von Künstler:innen gestaltet werden, anders ablaufen und anders wahrgenommen und beurteilt werden. Künstler:innen messen den kollektiven Prozess der Intervention nicht zuletzt an Idealen gemeinschaftlicher künstlerischer Arbeit, die sich im 20. Jahrhundert herausgebildet haben. Dazu gehört die Auffassung, dass sich alle Mitwirkenden nach eigenen Vorstellungen kreativ einbringen dürfen. Dies zu beherzigen bedeutet eine Offenheit und Flexibilität in der Durchführung des Prozesses, die anderen politischen Interventionen (etwa von Hilfsorganisationen oder Regierungsbehörden) fremd ist. Wenn Künstler:innen an einer Intervention beteiligt sind, stellen sich besondere Fragen an deren Ergebnis: Wird das entstehende Produkt zur Ware auf einem (wie auch immer zu konzeptualisierenden) Kunstmarkt? Möchte der:die Künstler:in sich mit der entstehenden Arbeit auch als Künstler:in profilieren? Zu den üblichen Bewertungsschemata politischer Interventionen treten zusätzliche Kriterien hinzu. Es geht nicht nur um unmittelbare Resultate in Bezug auf vorab definierte politische Ziele. Relevant wird jetzt auch die Frage nach künstlerischer oder ästhetischer Qualität: Kann das entstandene Werk bzw. die Aufführung im Vergleich mit ähnlichen Werken und Aufführungen bestehen? In welches Verhältnis tritt es zu früheren Werken desselben Genres? Welche künstlerischen Traditionen nimmt es auf oder schreibt es fort? Solche Fragen verkomplizieren die Einschätzung einer Intervention erheblich, zumal unklar ist, wie sie mit deren politischen Ansprüchen vermittelt werden können.

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In abgewandelter Form begegnete künstlerischen Interventionen schon in den frühen dreißiger Jahren der heute verbreitete Einwand, wonach politisches Theater die am dringlichsten zu gewinnenden Bevölkerungsgruppen systematisch verfehle: der leidige Vorwurf des preaching to the converted. Was nutzte es, wenn man in Arbeitervierteln Erfolge feierte, wo die KPD ohnehin längst tonangebend war? Was brachte der freundliche Applaus auf Parteiversammlungen, wo niemand mehr von der kommunistischen Sache überzeugt werden musste? Solche Fragen finden sich heute in ähnlicher Weise, wenn man aktivistischem Theater unterstellt, immer dieselben Leute zu erreichen, die einem sogenannten Theatermilieu zurechenbar seien – gebildete, alternative, aufgeschlossene Leute, mit denselben Werten und Einstellungen, die auch die Theaterpraktiker:innen hegen und ihrer künstlerischen Praxis zugrunde legen. Unter dem Gesichtspunkt der Kollektivität betrachtet, lassen solche Konstellationen allerdings auch erkennen, wie es politischem Theater gelingen kann, Konvergenz und Assoziation zu stiften. Mit ihren diversen chorischen Darstellungsformen, den Sprechchören und Auftrittsliedern, den synchronisierten Gesten und den einheitlichen Spieluniformen, inszenierten sich die Agitproptruppen als homogene, schlagkräftige Kollektive. Das Publikum im städtischen, parteinahen Arbeitermilieu hatte am ehesten die Chance, sich mit solchen in sich geschlossenen Bühnenkollektiven zu identifizieren, denn aus der eigenen Organisationswelt kannten die Zuschauer:innen die KPD-typischen Gesten der Einstimmigkeit und der Abschottung gegenüber den Anhänger:innen nicht nur der bürgerlichen und nationalistischen Parteien, sondern auch der Sozialdemokratie. Die Theatersituation des Agitprop mit ihren Deklamationen, Appellen und Liedern unterschied sich nicht gravierend von den performativen Mustern anderer Parteikundgebungen. Akteur:innen und Zuschauer:innen waren einander im Geiste gegenseitiger Affirmation verbunden. Eine dissoziative und weitaus weniger affirmative Dynamik konnte sich hingegen ergeben, wenn die Agitproptruppen ihr vertrautes urbanes Milieu verließen. Auf theatraler Grundlage formierten sich dann Kollektive, die sich nicht ohne weiteres in die soziale Umgebung des Aufführungsgeschehens einfügten, bzw. die kein unmittelbares Pendant in der Realität des Publikums aufwiesen. Klassisches Beispiel dafür war die Landagitation. Am Wochenende stiegen Mitglieder der Agitproptruppen auf einen Kleintransporter und fuhren in nahegele-

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gene Dörfer oder Kleinstädte. Was die Menschen auf dem Land und in den Dörfern umtrieb, wussten sie oft nur vom Hörensagen. Natürlich konnte man davon ausgehen, dass auch dort unter Ausbeutung gelitten wurde, aber die Probleme eines Tagelöhners auf dem Lande waren andere als die eines jugendlichen städtischen Arbeitslosen. Von außen kamen die Theatermacher in einen Mikrokosmos, der ihnen weitgehend unvertraut war, kamen aber mit klaren Botschaften und fest entwickelten Theaterformen, die sie für einen solchen Auftritt nicht substantiell abwandelten.23 Das Dazwischentreten, das Intervenieren, war in dieser Konstellation ein Von-außen-hinein: Es war ein Eintreten in einen anderen Kontext, das fast notwendigerweise zu Trennungen, Dissoziationen und Konflikten führte. Das Publikum merkte, dass es einerseits aufgesucht und adressiert wurde, dass ihm andererseits aber Lösungsvorschläge oder Handlungsanweisungen angetragen wurden, die aus anderen Konstellationen importiert waren. Solche Interventionen von außen, über soziale und geografische Distanzen hinweg, sind in der politischen Kunst heute ebenfalls weit verbreitet. Der Gestus des Von-außen-Kommens hat etwas Konfrontatives, auch Trennendes, allein dadurch, dass man für die kurze Zeit der Aufführung etwas in eine Umgebung hineinsetzt, etwas dazwischen fügt, das vorher nicht an diesen Ort gehörte. Die gesamte Umgebung soll dadurch neu konfiguriert werden. Hier muss sich ein Theater der Intervention derselben Kritik stellen, mit der alle interventionistischen Praktiken in Politik und Gesellschaft zu rechnen haben: Ist die Einmischung in andere Milieus, Umgebungen, Konfliktlagen geboten, sogar notwendig, oder ist sie als ein paternalistischer, gar kolonisierender Akt des Übergriffs zu bewerten? Kann diese Einmischung halten, was sie an Wirksamkeit verspricht, oder läuft sie Gefahr, mit ungeeigneten Mitteln in einem unbekannten Kontext zu stochern, dessen Fallstricke sie, von außen kommend, nicht hinreichend überschauen kann? Solche kritischen Fragen sind zweifellos berechtigt, und in ihnen spiegeln sich die Misserfolge aktivistischer Theatergruppen, die oftmals dort am wenigsten erreichen konnten, wo sie sich besonders weit aus ihrem eigenen Milieu hinauswagten. Andererseits kann die Lösung auch nicht darin bestehen, dass man Theaterleuten pauschal einen Verbleib in der (vermeintlich) eigenen, vertrauten sozialen Umgebung empfiehlt. Vielversprechend erscheint ein Interventionsbegriff, der nicht allein auf eine Bewegung Von-außen-hinein festgelegt ist. Intervention würde dann auch eine Wendung oder ein Sich-Unterbrechen umfassen, die oder das sich im eigenen Verantwortungsbereich vollzieht. Dies wäre

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eine Lesart von Intervention, wie sie sich etwa in dem diskursiven Bemühen zeigt, in laufende Diskussionen eigener Angelegenheiten zu intervenieren. Das inter, das Zwischen von Intervention ist doppelt lesbar: als ein Dazwischenkommen, aber auch als ein aktives Mittendrin-Sein, von dem Anstöße und Fragen ausgehen. Dissoziation und Assoziation sind dann nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern als ein Konglomerat von Praktiken, in dem trennende und vereinigende Impulse zusammenwirken, um politische Bewegung entstehen zu lassen oder in Gang zu halten. In der Zusammenschau von assoziativen und dissoziativen Bewegungen zeigen sich höchst unterschiedliche Kollektivbildungen, die in der Analyse theatraler Interventionen unterschieden werden müssen. Die theatrale Grenzziehung zwischen Bühne und Zuschauerraum, Akteur:innen und Publikum wird dabei auf komplexe Weise umspielt. Sie wirkt ohnehin oft destabilisiert, wenn sich politisches Theater, wie in interventionistischen Projekten verbreitet, von den Institutionen des Kunsttheaters löst. Allerdings kennen auch jene anderen institutionellen Kontexte, in denen sich Theater dann vollzieht – man denke etwa an die Organisationswelt der KPD in den Jahren um 1930 – Versammlungskulturen mit ausgeprägten Grenzen zwischen Podium und Auditorium. Kollektive, die unter solchen Rahmenbedingungen auf der Bühne inszeniert werden, können soziale Gruppenbildungen des betreffenden Milieus spiegeln oder auch konterkarieren, und sie können ein zufällig oder organisiert versammeltes Publikum einschließen oder ausgrenzen, anziehen oder abweisen. Theatrale Interventionen haben mit solchen sozialen Dynamiken stets zu rechnen – wodurch sie sich von anderen Interventionsformen unterscheiden, die ohne eine öffentliche und zur Wahrnehmung bestimmte Kollektivbildung auskommen.

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Intervention und Dissoziation

1 Groys, Boris: In the flow, London/New York 2016, S. 54. 2 Vgl. auch ders., 2018: »Kosmisch werden«, in: ders./Vidokle, Anton (Hrsg.), Kosmismus, Berlin 2018, S. 12 – 31. 3 Rürup, Reinhard: »Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs (1917–1920)«, in: ders.: Revolution und Demokra­ tiegründung. Studien zur deutschen Geschichte 1918/19, hrsg. von Brandt, Peter/ Lehnert, Detlef, Göttingen 2020, S. 117 – 146, hier S. 117. 4 Rürup: »Die Massenbewegungen«, S. 144, spricht »aufs Ganze gesehen« von einem Scheitern, weil es den Massenbewegungen nicht gelungen sei, »jene soziale Republik in Deutschland zu schaffen und solide zu verankern, die von einem Teil der Massenbewegung als Ziel, von einem anderen Teil wenigstens als Vorstufe zu einer sozialistischen Gesellschaft betrachtet wurde.« Ursächlich sei vor allem die mangelnde Vorbereitung der Massen gewesen: »Eine spontane Massenbewegung, deren Kern zweifellos aus der organisierten Arbeiterbewegung stammte, konnte sich weder auf ein strategisches Konzept, noch auf eine allgemeine Revolutionstheorie stützen, die der neuen Situation angemessen gewesen wäre.« 5 Die wohl auffälligsten und problematischsten Kollektivformationen gingen seit Mitte der 1920er Jahre von den Kampfbünden der politischen Parteien aus. Vgl. etwa zur Performativität des Roten Frontkämpferbundes Mallmann, Michael: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewe­ gung, Darmstadt 1996, S. 193 – 199. 6 Vgl. zu dissoziativen Dynamiken am Ende der Weimarer Republik Reichardt, Sven: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squa­ drismus und in der deutschen SA, 2. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2009, bes. S. 53 – 99. Durch seinen konfliktorientierten Ansatz nimmt Reichardt neben den faschistischen Kampfbünden auch die sozialistischen und kommunistischen Gegenbewegungen in den Blick. 7 Siehe bes. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 9. Korr. Aufl., Berlin 2015, S. 25 – 42. 8 Siehe Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt a. M. 2014, S. 21 – 43. 9 Die Zahl der politisch motivierten Versammlungsstörungen in Preußen stieg laut amtlicher Statistik von 318 im Jahr 1928 auf 5296 im Jahr 1932, den weitaus höchsten prozentualen Anteil an den Störungen hatten Nationalsozialisten und Kommunisten, siehe Reichardt: Faschistische Kampfbünde, S. 65. 10 Vgl. hierzu die Artikel von Simone Niehoff und Benjamin Wihstutz in diesem Band. 11 Redebeiträge und andere Materialien von dieser Konferenz bei Hoffmann, Ludwig/Hoffmann-Ostwald, Daniel (Hrsg.): Deutsches Arbeitertheater 1918 – 1933, Bd. 2, 2. erw. Aufl., Berlin 1972, S. 279 – 299. 12 Siehe die Stellungnahmen zur »Programmkrise« von den Truppen Links ran (Hannover), Kölner Blaue Blusen und Rote Schmiede (Halle) im Rahmen einer Umfrage der Zeitschrift Arbeiterbühne und Film 18 (1931), H. 4 u. 5; abgedruckt bei Hoffmann/Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater, Bd. 2, S. 301 – 303. 13 Schliesser, Elli: »Rückblick und Ausblick«, in: Das Rote Sprachchor 3 (1931), H. 1, unpaginiert; abgedruckt bei Hoffmann/Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeiter­ theater, Bd. 2, S. 282 – 287, hier S. 284. Vgl. auch »Kritische Durchsicht der eingegangenen Manuskripte«, in: Das Rote Sprachchor 2 (1930), H. 10, unpaginiert; abgedruckt bei Diezel, Peter (Hrsg.): »Wenn wir zu spielen – scheinen«. Studien und Dokumente zum Internationalen Revolutionären Theaterbund, Bern u. a. 1993, S. 297 f., hier S. 297. 14 Moos, Siegfried: »März. Die politische Lage und die Situation im ATBD«, in: Arbeiterbühne und Film 18 (1931), H. 3; abgedruckt bei Hoffmann/Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater, Bd. 2, S. 292 – 297, hier S. 295. 15 Schliesser: »Rückblick und Ausblick«, S. 285. 16 Siehe Wolf, Friedrich: »Schöpferische Probleme des Agitproptheaters. Vor der Kurzszene zum Bühnenstück. Eine Studie« (1933), in: ders.: Aufsätze über Theater, Berlin 1957, S. 12 – 54, bes. S. 24f. 17 Siehe die »Resolution des 12. ATBD-Bundestages, Mai 1932 in Chemnitz«, abgedruckt bei Diezel: »Wenn wir zu spielen – scheinen«, S. 326 – 330, S. 328f.

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Matthias Warstat

18 In diesem Tenor: »Kritische Durchsicht der eingegangenen Manuskripte«, in: Das Rote Sprachrohr 2 (1930), H. 10; abgedruckt bei Diezel: »Wenn wir zu spielen – scheinen«, S. 297f., bes. S. 297; Durus (d. i. Alfréd Kemény), 1931: »Schlußwort«, in: Arbeiterbühne und Film 18, H. 5: abgedruckt bei Hoffmann/Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater, Bd. 2, S. 304f., bes. S. 304. Vgl. auch Durus’ Bericht über die ­Reichstruppenkonferenz des ATBD von 1931, ders.: »Agitproptruppen spielen«, in: Die Rote Fahne Nr. 86, 14. Jg. vom 14. April 1931, Feuilleton-Beilage. 19 Wolf: »Schöpferische Probleme des Agitproptheaters«, S. 24f. 20 Zum Begriff der Interpassivität: Pfaller, Robert: Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008. Der Begriff bezeichnet Verhältnisse, in denen man Handlungen, aber auch Erfahrungen und Genüsse an andere delegiert, um sie selber nicht durchführen oder erleben zu müssen. Auch an Objekte kann delegiert werden, wenn man etwa Texte maschinell kopiert, anstatt sie tatsächlich zu lesen. 21 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Bd. 10, 23. Aufl., Berlin 2018, S. 126. Herv. i. O. 22 Ngai, Sianne: Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge, MA/ London 2012, S. 233f. 23 Zu den Problemen der Agitproptruppen beim ländlichen Publikum und anderen konkreten Wirkungsproblemen der theatralen Agitationspraxis um 1930 ausführlicher Warstat, Matthias: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918–33, Tübingen/Basel 2005, S. 357 – 361.

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Julia Prager ver-sammeln und ver-rändern Zur dislozierenden Intervention der ­Bürgerbühne bei Vanessa Stern und Bürger:innen (­Schuldenmädchenreport, Dresden 2019) Seiner Etymologie nach meint intervenieren »dazwischenkommen«, »eintreten«, »erscheinen« oder auch »unterbrechen«. Die mit der Intervention verbundene politische Kraft lässt sich demnach mit einer räumlichen Dynamik assoziieren, von einem wie auch immer gefassten Außen in ein Geschehen einzugreifen, um dort, gewissermaßen »vor-Ort«-bleibend, einzuwirken. Eine andere Perspektive auf den Zusammenhang von Intervention und Raum liefert dagegen Gilles Deleuze, der Intervention als Fluchtbewegung beschreibt, die den »geometrischen Raum« einer (Staats-)Macht deterritorialisiert; wobei Raum hier als eine Ordnung verstanden wird, die Subjekten soziale Orte zuweist und dabei festlegt, was unter welchen Bedingungen gesagt, was sicht- und hörbar werden darf.1 In diesem Sinn operieren intervenierende Bewegungen geradezu gegenräumlich, dislozierend. Sie erfolgen nicht innerhalb gegebener Grenzen eines Raumes, einer Institution oder eines diskursiven Feldes, sondern setzen vielmehr bei der Begrenzung selbst an.2 Intervention reflektiert hier immer schon auf die politischen und institutionellen Bedingungen und Bedingtheiten, die ihre Bewegung legitimieren, herausfordern oder eben auch auszusetzen suchen. Gewissermaßen verdoppelt sich damit auch das politische Engagement des Intervenierens, indem es – noch vor jeder konkreten Forderung oder Anteilnahme an einem Geschehen – das jeweils Sag- und Sichtbare räumlicher Ordnungen als verhandelbar ausstellt.3 Mit Blick auf die Bürgerbühne und ihre kunst- wie kulturpolitische Rahmung als »Theater der Partizipation«4 steht nun in Frage, wie sich dieses Format zu einer so akzentuierten Bewegung des Intervenierens verhält und damit in einen Zusammenhang von Theater und Intervention gebracht werden kann. Der Versuch, auf diese Frage zu antworten, stößt zunächst auf das grundlegende Problem, dass sich Partizipation und Intervention als gegenläufige Bewegungen geben: Das integrativ gerahmte Partizipieren scheint einer konfrontativen Dynamik des Intervenierens regelrecht zu widerstreben.5 Mehr noch,

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die Koppelung der Bürgerbühne an eine integrative und damit auch verräumlichende Bewegung des »Hineinholens« verstellt ihre dislozierende Kraft hinsichtlich der institutionell, marktlogisch und kulturpolitisch abgesteckten Grenzen des Theaters. Denn es ließe sich behaupten, dass der Auftritt von spielenden Bürger:innen, die nicht nur von nicht-professionellen Spieler:innen, sondern vielfach auch von marginalisierten Gruppierungen wie etwa Arbeitslosen oder Personen mit Migrationshintergrund verkörpert werden und damit als zwischen sozialer und theatraler Realität schwankende Kippfiguren erscheinen, an sich schon ästhetische, ökonomische wie soziokulturelle Konfrontation bedeutet. Im Erkunden des politischen Potentials der Bürgerbühne und der je spezifischen Spielformen von Bürgerbühnen erscheint es daher notwendig, die Dynamiken von partizipieren und intervenieren im aufgespannten Machtraum von Institutionenpolitik, ihrer Ökonomie, Kulturpolitik und theatralem Dispositiv zu betrachten und hinsichtlich der in ihnen ausgetragenen Spannungen von Aktivität und Passivität, Lokation und Dislokation auszudifferenzieren. Um den auf derart gegen-räumliche Bewegungen gesetzten Fokus sprachlich anzuzeigen und theoretisch auszuschöpfen, bietet es sich an, Partizipation und Intervention im Rahmen zweier Aktionsfelder zu verhandeln, die mit den (unterbrochenen) Verbformen ver-sammeln und ver-rändern relationiert werden: Während ver-sammeln insbesondere auf die kunst- und kulturpolitischen Dynamiken des ein- und ausschließenden Generierens von nicht-professionellen Spieler:innengruppen, heterogenen Publika sowie auf räumliche Anordnungen der Institution Theater abhebt, meint ver-rändern einen spezifischen Modus von intervenieren als theatrale Evokation politischer Aushandlung. Der eigentümlichen Bewegung des Ver-ränderns geht Hans-Thies Lehmann in seinen Ausführungen zum politischen Potential postdramatischen Theaters nach – die er bezeichnenderweise unter die Überschrift »Unterbrechung« stellt: eht es nicht darum, dass Theater sich selbst verändert, indem es G das Politische aufnimmt? Oder besser: sich »ver-rändert«? – um eine Bemerkung von Res Bosshart aufzunehmen, dass wir mehr über die Bewegung »zu den Rändern hin« als über die »von den Rändern her« sprechen sollten. […] Möglich wäre das beispielsweise, indem »man durch das Theater etwas geschehen lassen wird, aber nicht, indem man repräsentiert, imitiert oder eine politische Realität auf die Bühne bringt, die anderswo stattfindet, um

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allenfalls eine Botschaft oder eine Doktrin abzusetzen, sondern indem man die Politik oder das Politische in die Struktur des Theaters gelangen lässt, das heißt indem man auch die Gegenwart auseinanderbricht …«.6 Wie also – so möchte dieser Beitrag die an vielen Stellen offene Suchbewegung Lehmanns weiterführen –, wenn sie es denn tut, ver-rändert sich die Bürgerbühne?7 Und zwar entgegen ihrer Verschlagwortung im Begriffsfeld »Repräsentation«, »Realismus« und »Authentizität«, sondern als theatrale Intervention im Sinne von Praktiken der Unterbrechung, »die ein bestehendes politisches, soziales oder kulturelles System anhalten, suspendieren oder sogar vollständig außer Kraft setzen können«8, sich dabei aber auch als theatrale Mittel selbst unterbrechen und in Frage stellen. Hierfür erfolgt zunächst ein Umriss der kunst- und kulturpolitischen Rahmung des theatralen Versammlungsformats der Bürgerbühne, um damit jenes Feld mitsamt seiner begrifflichen Engführungen und Grenzen zu eröffnen, auf dem sich die spezifische Spielform einer Bürgerbühne als eine Praxis des Ver-ränderns entfaltet. Der Schuldenmädchenreport von Vanessa Stern und Bürger:innen (Staatsschauspiel Dresden 2019) spielt das Format Bürgerbühne selbst kritisch durch, indem nicht nur Spielweisen von Selbstexposition und Voyeurismus parodistisch gewendet, sondern auch theatertheoretische wie -historische Aspekte des Verhältnisses von Bühne, Bürger:innen bzw. »Volk« – von den Expert:innen des Alltags über das Typentheater der Sächsischen Reformbewegung bis hin zu Figurationen der Zauberposse im Wiener Volksstück – komisch aufgerufen, transformativ verschränkt und damit disloziert werden.

ver-sammeln: Das Format »Bürger-Bühne«

Wenn hier von der Bürgerbühne die Rede ist, dann insbesondere von jenem »Dresdner Modell«9, das 2009 am Staatsschauspiel Dresden durch den Intendanten Wilfried Schulz und unter der Leitung von Miriam Tscholl eingerichtet wurde, um eine neue Sparte des Theaters zu eröffnen, die »partizipative Rechercheprojekte mit Dresdner Bürgern zu lokalen Themen«10 entwickeln sollte. Die Dresdner Bürgerbühne verfügt seither über einen eigenen Etat im Gesamthaushalt des Theaters, der professionelle Produktionsbedingungen mit Regie, Dramaturgie, Kostüm und Bühnenbild ermöglicht. Dabei konnte sich

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diese neue Sparte in den zehn Jahren ihres Bestehens derart etablieren, dass die Besucher:innen der jährlich fünf Produktionen, die fest in den Spielplan des Staatstheaters integriert sind, inzwischen fast zehn Prozent der Gesamtzuschauer:innenzahl ausmachen.11 Die spielenden Bürger:innen werden in einem – wie es heißt – »sorgfältigen Entdeckungsprozess«12 ausgewählt, der in eine fast zweimonatige Probenzeit übergeht. Geprobt wird aufgrund der (zum Teil gegebenen) beruflichen Verpflichtungen der Spieler:innen meist am Abend und an ausgewählten Wochenenden. Da das Format auch in anderen europäischen und außereuropäischen Theatern aufgenommen wurde, bilden die Bürgerbühnen gegenwärtig ein international agierendes Netzwerk, das seine Produktionen auch beim europäischen Theatertreffen präsentiert. In der Korrelation von partizipieren und ver-sammeln fällt die Wortwahl des »sorgfältigen Entdeckungsprozesses« ins Auge. Miriam Tscholl, die bis 2019 die Dresdner Bürgerbühne leitete, zeichnet im Gespräch mit Theater der Zeit zwei Fluchtlinien des Partizipatorischen vor: Zum einen gehe es darum, »Theater als Lebensspiegel ganz normaler Leute«13 aufzufassen. Gleichzeitig sei es ein Prinzip der Bürgerbühne, dass sie wie die anderen Sparten behandelt werde, »mit gleichen Probenzeiten, professioneller Regie, Bühne, Kostümen – dem ganzen Know-how des Hauses«14. Es gehe auch »nicht vorrangig um Selbsterfahrungstrips oder Befindlichkeiten«, sondern »am Ende soll ein möglichst hochkarätiges Ergebnis«15 stehen, das die Kartenpreise auch legitimiere. In ähnlicher Stoßrichtung begreift Hajo Kurzenberger die Bürgerbühne als soziale und ästhetische Herausforderung aller Beteiligten, die an Profis vor allem auch die Frage stelle, warum sich bei einem bestimmten Thema oder Stück die Bürgerbühne als Aufführungsort anbiete. Sie haben – so Kurzenberger – »die Eigen- und Besonderheiten ihrer Darsteller, deren sogenannte Authentizität, zu entdecken, wollen deren szenische Artikulationsfähigkeit stärken und entfalten.«16 In beiden Stellungnahmen zeichnet sich ab, dass Partizipation für Bühnenangehörige einerseits und beteiligte Bürger:innen andererseits differente Herausforderungen darstellt, die die Bürgerbühne in ihre zwei Wortteile spaltet oder zumindest eine (möglicherweise politisch interessante) Unterbrechung einzieht. Noch einmal deutlicher zeigt sich diese Spaltung von Bürger:innen und Bühne in einer Wortmeldung des Intendanten Schulz: Neu sei im Format der Bürgerbühne nicht, »Hauptdarsteller des Lebens auf die Bühne zu holen«,

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neu sei vielmehr, dass sie ihr eigenes Theater bekommen, einen »­Identifikationspunkt, einen Ort bei uns«17. Die in den Diskurs der Bürgerbühne eingetragene Spaltungsdynamik von wir und sie – die das Theater in merkwürdiger Weise von den ›ganz normalen Bürgern‹ abhebt, veranlasste Judith Kriebel – in einer der wenigen kritischen Bezugnahmen auf das Format der Bürgerbühne – zu einer nicht unpolemischen Transformation ihrer Protagonist:innen: Nicht der normale Bürger komme auf die Bühne der Bürger, sondern der »Ausnahmebürger«. Denn die sozial formierten und situierten Körper, die vorzugsweise zu Protagonist:innen des Bürgertheaters werden, seien weit entfernt von herkömmlichen Vorstellungen von Bürgerlichkeit. So sei die Bürgerbühne eher ein Ausnahmebürgertheater, in dem der Skandal den Normalfall prädominiert und vorzugsweise »Hartz IV Empfänger«, »Mensch mit Behinderung« oder »wenigstens [mit] Migrationshintergrund« zur »Materialschau« würden – als »empirischer Rohstoff«18 für die sinnstiftende Arbeit der Regie. Der partizipatorische Ansatz sowie die mit ihm verbundene Selbstermächtigungsthese stehen damit mehr als in Frage. Die teilweise schlecht organisierbare Aufwandsentschädigung freier oder ermäßigter Theaterkarten (zusätzlich zu den 30 Euro, die pro Aufführung gezahlt werden) stehen für Kriebel zudem im Zusammenhang mit einer Krise des Theaters, das um seine wirtschaftliche Existenz kämpft.19 Die Sehnsucht nach Authentizität und Teilhabe, die sich als bürgerliche Bewegung in Dresden und anderswo in verschiedener Weise manifestiert, scheint indes auch im Theater eine Allianz mit marktwirtschaftlichen Logiken einzugehen. Von einer Strategie des »Audience Development« möchte Tscholl mit Blick auf die Bürgerbühne zwar nur bedingt sprechen; dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Spieler oder eine Spielerin nach der Teilnahme an einem Bürgerbühnenprojekt durchschnittlich sechs Mal häufiger ins Theater geht als vorher und 25 neue Zuschauer:innen mitbringt.20 Nachdenklich macht sicher auch Kriebels Einwand gegen die merkwürdige Form einer »verliehenen Selbstermächtigung« und die damit verknüpfte Debatte um das Für-sich-selbst-sprechen-Lassen auf der Bühne. Denn neben allen theatralen Einwänden, die sich von theatertheoretischer Seite aus gegen eine solche (Re-)Präsentationsvorstellung einbringen lassen, hebt sie auf eine veränderte Kommunikationsoder Sendungskultur ab, die bestimmte »soziale« Medien kultivieren. So bestehe seit Facebook und Co. ein ausdrücklicher Drang zur permanenten Kommunikation oder Sendung der eigenen Biografie.21 Im

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Gegenschuss tritt das voyeuristische Gaffen hervor, das bestimmte Fernsehformate schon lange und nicht endend wollend ausschöpfen. Dagegen – und das scheint der Bürgerbühne wesentlich zu sein – steht die Überzeugung, das theatrale Partizipieren als Grundpfeiler demokratischer Beteiligung einzusetzen. So insistieren Kurzenberger wie auch Tscholl darauf, dass eine partizipatorische Demokratie partizipatorische Theaterformen brauche. Denn: »In einer demokratischen Bürgergesellschaft braucht es eine Bürgerbühne, die Bürger unterschiedlichen Alters, verschiedener sozialer Herkunft, diverser Milieus und Berufe zusammenführt, miteinander ins Gespräch bringt und in ein gemeinsames Theaterspiel verwickelt.«22 Etwas differenzierter macht Jens Roselt in seinen Beobachtungen zur je spezifischen Spielweise der jeweils aus unterschiedlichen Kontexten kommenden Stücke beim internationalen Bürgerbühnenfestival von 2019 in Dresden deutlich, dass die Bürgerbühne als Format nicht per se politisch sein kann. Vielmehr hänge das politische Moment auch bei dieser theatralen Form an Verhandlungen von Hegemonien.23 War die Bürgerbühne 2009 in Dresden noch unerwünscht, ist es wohl als politischer Akt zu werten, sie entgegen aller Widerstände eingeführt zu haben. Mit dem Moment ihrer Etablierung scheint es jedoch notwendig, dass sie sich – um politisch zu bleiben – kritisch auf sich selbst bezieht. Diese Notwendigkeit tritt umso deutlicher in der Konfrontation mit den im Rahmen des Festivals gezeigten Stücken aus Ungarn hervor, wo Bürgerbühnen nicht nur nicht gefördert werden, sondern auch politisch bekämpft. Roselts Beobachtungen nach scheinen die Produktionen in den vergangenen Jahren theatraler angelegt zu sein, was auch heißt, dass die Spielenden nicht mehr auf ihre eigene Biografie reduziert werden. Vielmehr – und damit gewinnt das beanspruchte politische Moment der »Selbstermächtigung« an Tiefenschärfe – wird in zahlreichen Stücken vorgeführt, »wie befreiend es sein kann, unterschiedliche Rollen oder Identitäten einzunehmen und auszuprobieren und wieder abzulegen.«24 Aber auch ein weiteres Merkmal der für die Bürgerbühne als spezifisch erachteten Inszenierungsweise scheint diverser geworden zu sein: Die Gruppe und »Gemeinschaft« als zentrales Anliegen und wesentliche theatrale Form bleibt zwar tonangebend, jedoch stehen in den aktuellen Inszenierungen verstärkt die Bindungen und Relationen, die Verhältnisse von Einzelnen und Kollektiv in der theatralen Versammlung im Fokus.25 Mit dem Wandel zu spielerischen und selbstreflexiveren theatralen Formen anstelle der Inszenierung von Authentizität wird bereits

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eine gewisse dislozierende Bewegung angezeigt, mit der das Theater zum einen gegen seine eigene Begrenzung antritt, zum anderen aber auch kultur- und kunstpolitischen Debatten dazwischenkommt. In welcher Weise die Bürgerbühne sich dabei weniger als Theater der Partizipation, denn als eines der (Selbst-)Unterbrechung im Sinne Lehmanns ver-rändert, soll im folgenden Abschnitt exemplarisch werden.

ver-rändern: Schuldenmädchenreport von Vanessa Stern und ­Bürger:innen

Vanessas Sterns Produktion Schuldenmädchenreport lässt sich vorstellen als ein kritisches Spiel mit der und durch die Bürgerbühne, das einer Theaterpraxis des Ver-ränderns entspricht. Das Thema des Stücks sind Schulden und insbesondere weibliche Schuldenmacherinnen. Durch die eingebrachten Erwartungen und Auffassungen des calls wurde das Spektrum durch den Aspekt nicht-monetärer Schulden erweitert: Jede:r schuldet etwas. Das Schulden wird zum geteilten Zustand. Dennoch stehen auch hier Frauen im Vordergrund, die durch finanzielle Schulden eher am Rand der bürgerlichen Mitte stehen: eine Herstellerin von Luxusuhren aus einer sozial schwachen und immer schon verschuldeten Familie; eine Studentin, die meint, ihren Eltern schuldig zu sein, da sie ihre Ausbildung finanzieren; eine Rezeptionistin eines Luxushotels, die auf eher überschaubaren, beinahe alltäglichen Kreditschulden sitzt; eine Pensionärin, die unter verändertem Namen in verfremdender Maskierung auftritt und von ihrem Ex-Mann in die Schuldenfalle gedrängt wurde; sowie eine studierte Papierrestauratorin und Buchbinderin, die aufgrund verschiedenster Umstände keine Arbeit findet und am Existenzminimum lebt. Das Stück versammelt zunächst also – ganz in der Tradition der Bürgerbühne – verschiedenste Personen und arbeitet mit einem Teppich an verwobenen Biographemen. Interessant gestaltet sich die ausgestellte Spaltungs- und Unterbrechungsdynamik, die sowohl innerhalb der versammelten Gruppe, zwischen der Gruppe und dem wiederum heterogenen Publikum, der Gruppe und dem Produktionsteam, wie auch zwischen dem Stück und seinem offensichtlichsten Referenzmedium – dem in Bezug auf sein Genre schwerlich einzuordnenden Schulmädchenreport von 1970 – ausgetragen wird.26 Entgegen dem im Medienecho verlautbarten ungenierten ironischen Bezug auf die vielfach als Softporno b ­ ezeichnete

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filmische Adaption des von Günter Hunold verfassten Schulmädchen­ reports durch Ernst Hofbauer, scheint die Ironie der ausgestellten Referenz auf den Film vielmehr als Konstituens zu fungieren.27 Denn durch sie entfaltet sich ein komplexes Spiel mit der angeblichen Sehnsucht nach vermeintlich referenzloser Authentizität. Entscheidend scheint hierbei die unklare Positionierung des Films zwischen einem Aufklärungs- bzw. Emanzipationsorgan einerseits und einem traditionell männlich perspektivierten Softporno andererseits wie auch die ebenso uneindeutige Position der gezeigten »Schulmädchen« (die meisten Frauen waren Verkäuferinnen) zu sein. Die »Schulmädchen« treten als glaubhaft inszenierte Vertreterinnen einer sich emanzipierenden Jugend auf und als durch einen männlichen Blick und Gestus dominierte Körper. Sie werden gerahmt als aggressiv sexualisierte Wesen, als Mädchen von nebenan und/oder als politische Körper einer (zukünftigen) sexuellen Revolution. Eben diese nicht auflösbaren und diffus bleibenden Verquickungen von Emanzipation, Voyeurismus und normativer Prädomination übertragen sich auf die paradoxe Situation des Spiels mit und durch die Bürgerbühne, ihre Institutionalisierung und ihr Publikum. Der Film verkoppelt die Rahmenerzählung über eine sexuell aktive Schülerin, die suspendiert werden soll, mit mehr oder weniger dokumentarisch anmutenden Einschüben, in denen der Interviewer (Friedrich von Thun als er selbst) Mädchen auf der Straße nach Masturbation, Verführungspraktiken, aber auch nach der männlichen Schuldfrage im Kontext von sexuellen Akten mit minderjährigen Mädchen befragt. Schuldenmädchenreport scheint die filmische Struktur jedoch nicht einfach zu übernehmen, sondern durchzuspielen, sogar zu instrumentalisieren, ohne aber jemals souverän zu wirken oder eine Form von Souveränität im Sinne einer vor Exposition schützenden »Sicherheit« beanspruchen zu wollen, wie sie etwa Roselt im Kontext der Bürgerbühne verhandelt.28 Eher steht hier eine allgemeine Verunsicherung auf dem Spiel. Die Kamera, die von den Spielerinnen abwechselnd bedient wird und deren Aufnahmen auf eine Leinwand an der Bühnenrückwand projiziert werden, lässt sich nicht einfach als modisches szenisches Element fassen: Das Spiel mit der Kamera und den durch sie dominierten Interviewsequenzen referiert auf den titelanleitenden Film, aber auch auf gängige Fernsehformate wie die RTL-Doku-Soap Raus aus der Schuldenfalle. Teilweise ostentativ schamlos enteignet diese Technik den filmisch inszenierten gaze, um ihn auszustellen und mit gegenwärtigen Blickregimen zu verschalten. Die Kamera

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wird auf diese Weise tatsächlich »selbstermächtigend« eingesetzt, allerdings in einem sehr post-souveränen Gestus – und dabei gegen das gängige Narrativ der Selbstermächtigung durch die Bürgerbühne gerichtet. Diese Verkehrung der emanzipativen Geste drückt sich auch als Exposition der Ungleichheit der Spielerinnen als Arbeiterinnen im Kulturbetrieb aus, wenn sie mehr oder weniger die Haustechnik selbst bespielen, indem sie dem Ton Handzeichen geben und damit das Stück selbstverantwortlich strukturieren. Die Spaltung und disjunktive Verkoppelung von Professionalität und Laientum, auch jene von Wertigkeit und Billigkeit, wird auf verschiedene Weise als eine politisch relevante Unterbrechung markiert. Beispielsweise stehen die sehr raffinierten und als szenische Akteure ins Spiel kommenden Kostüme (etwa in einer komischen Leere-Taschen-Stripszene) der namhaften Kostümbildnerin Beatrix von Pilgrim im Kontrast zur ausgestellten materialhaften Billigkeit des Bühnenbildes, das allein aus leeren Bierkästen besteht, aber umso dekorativer angerichtet ist. Die Spielerinnen scheinen als eine Art Mittlerinnen diese Ebenen zu verbinden und ständig umzuwerten, wenn sie etwa in einer Sequenz Haptik und Aussehen der Bierkästen wie Luxustaschen bestaunen. Zudem sind es die Spielerinnen selbst, die aus dem Material der Bierkästen ständig neue Bühnenbilder und Akteure bauen. In einer weiteren Sequenz wird Billigkeit komisch ausgestellt, indem eine der Spielerinnen den Bierkasten als Drucker inszeniert und dabei das Druckgeräusch verzögernd lange imitiert. Auch ein Pfandflaschenautomat wird auf diese Weise hergestellt und durch das stimmlich nachgeahmte Piepen animiert. Die Theatermaschine kommt so in ihren vielfältigen Dimensionen zum Vorschein: als Maschine von Texten, Geschichten und Körpern. Dabei wird dieser »Pfandflaschenautomat«, der an sich überdeterminiert einen prominenten Platz im Stück einnimmt, in verschiedentlicher Weise bespielt. Nicht nur als solcher und als Ausdruck von sozialer Prekarität, sondern er wird auch zur Vorrichtung des voyeuristischen Gaffens, wenn die Spielerinnen sich hinter ihm einfinden, um die Kamera durch eine Öffnung zu schieben. Die zurückbleibende Spielerin nimmt mit dem Rücken zum Publikum vor dem Apparat Platz und blickt in das Kameraauge – oder wird von diesem angeblickt –, während sie intime Mails ihres Ex-Mannes vorliest. In einer anderen Sequenz wird der »Pfandflaschenautomat« zum »Versteck« für zwei der Spielerinnen, die sich – wie ein auf die Wand projizierter Zwischentitel das melodramatisch gerahmte Geschehen

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erörtert – »wegstehlen«, dem glotzenden Blick entziehen, um sich dann aber selbst zu filmen und so wiederum auszustellen. Zum Thema der im vermeintlichen Off geführten Debatte der beiden wird die Aushandlung von Kollektivierung in der Versammlung auf der Bühne und im gesamten Theaterraum. Die Spielerinnen beginnen plötzlich in einem starken Soziolekt zu sprechen und geben sich so (scheinbar) als aus Problembezirken Dresdens kommend zu »erkennen«. Gleichzeitig verschwestern sie sich durch verschiedene Abgrenzungsmanöver, wenn sie etwa in derber Sprache ihre finanzielle Ausbeutung durch das Haus und das teuer bezahlte Gaffen der Zuschauer:innen diskutieren und sich gleichzeitig vom »gebildeten Rest« der Gruppe distanzieren. Ex- und Inklusionsprozesse werden permanent auf- und vorgeführt. Überdeutlich wird dies auch in einer Sequenz, in der die Studentin Luise, die selbst keine Schulden hat, sondern sich lediglich ihren Eltern gegenüber schuldig fühlt, bei einem inszenierten WG-Casting (im Haus der Bürgerbühne?) verhört und daraufhin abgewiesen wird. Erst als nach immer neu ansetzenden Befragungen doch ein brauchbares Schuldnerinnenverhältnis ans Licht gebracht wird, darf Luise Teil der Gruppe sein. Das Thema Schulden und Verschuldung sowie der geschilderte Umgang damit lässt eine mögliche Zuordnung der Spielerinnen als »Expertinnen des Alltags«29 – eine vielfach bemühte Kategorie im Kontext der Bürgerbühne – prekär werden. Sie stellen sich weder als Expertinnen des Alltags noch der Bühne aus oder werden als solche ausgestellt. Unter anderem benötigt eine der Spielerinnen Texttafeln als Gedächtnisstütze, wie sie auch an das Publikum gerichtet kommentiert. Insofern die Texttafeln aber als szenische Elemente eingesetzt werden, bleibt offen, inwieweit hier ein »Mangel« an schauspielerischer Leistungsfähigkeit einer einzelnen Person kompensiert, eine allgemeine Hilfestellung geboten oder einmal mehr das Schauspielen als Arbeit inszeniert wird. Die theatrale Spielkategorie der »Expert:innen des Alltags« kommt jedoch noch in einer anderen Weise ins Spiel, insofern damit eine Theaterform aufgerufen ist, die vordringlich mit dem Regiekollektiv Rimini Protokoll in Verbindung gebracht wird. Dessen Arbeiten binden nicht nur auf vielfältige Weise nicht-professionelle Spielende ein, sondern entgrenzen auch ebenso vielschichtig den theatralen Raum, indem mediale Verschaltungen das Hier der theatralen Situation an ein räumlich wie zeitlich entferntes Anderswo koppeln (u. a. Situation Rooms) oder indem das Publikum in Fahrzeugen (etwa in

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den Cargo-Projekten) durch den öffentlichen Raum, an die Ränder des Theaters gefahren wird.30 Das Theater ver-rändert sich nicht automatisch, wenn es »ausschwärmt«, wie Carena Schlewitt das Verlassen der »Musentempel«31 bezeichnet. Vielmehr hängt das politische Theater, das sich selbst unterbricht und damit im Raum des Theaters interveniert, in besonderer Weise von seiner jeweiligen Spielform ab. Eben daran erinnert auch Schuldenmädchenreport in einer kurzen Sequenz, in der die Spielerinnen die Bierkästen zum Bus machen (nicht zuletzt eine weitere Anspielung auf Schulmädchenreport): Sie animieren die bewegungslose Attrappe durch ihre Körperbewegungen, »fahren« – den Blick direkt ins Publikum gerichtet – an ihm vorbei, um ihm dabei den Mittelfinger zu zeigen.

Die Gegenwart auseinanderbrechen

Ein letztes Beispiel, wie Schuldenmädchenreport das Format der Bürgerbühne unterbrechend ver-rändert, betrifft deren Relation mit dem im 18. Jahrhundert aufkommenden aufklärerischen Bürgertheater, die neben Kurzenberger auch Roselt aufruft: Nach Kurzenberger knüpft das Label Bürgerbühne nicht allein rhetorisch an eine Tradition des Theaters als aufklärerische »moralische Anstalt« an, die der kulturellen Emanzipation des Bürgertums verpflichtet war und als literarisches Theater der Bildung diente.32 Dagegen betont Roselt in seiner Rekapitulation der Genese aktueller Bürgerbühnen deren Weiterentwicklung von einer »moralischen Anstalt« hin zu vielfältigen künstlerischen Formen und Projekten eines »experimentellen Theaters«33. In diesem Zusammenhang lassen sich auch in der Inszenierung von Schuldenmädchenreport transformative Bezugnahmen auf das aufklärerische Theater ausmachen, die gerade in der spezifischen Verschränkung von Zeit-Räumen und Traditionen die Gegenwart auseinanderbrechen, um andere Stimmen vernehmbar zu machen, ohne sie aber zu repräsentieren.34 Aufgerufen und parodistisch umgestaltet wird dabei auch jener theaterhistorische Konflikt, der im 18. Jahrhundert zwischen dem Sächsischen Reformtheater und dem Wiener Volkstheater bzw. im Aufbegehren der Wiener Volkstheater gegen die aus Sachsen importierte »Reform« der Komödie ausgetragen wurde. Insbesondere die theatralen Mittel der Narrenfiguren, ihr unkontrollierbares Extemporieren, die vielfach inkohärente Handlungsabfolge und die

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s­ pektakelhafte Komik, waren der von Gottsched geprägten Reformbewegung ein Dorn im Auge.35 Dagegen suchte dieser mit seinem Typentheater und der damit angeregten invektiven Ausstellung von Lastern einen »aufklärerischen« Zugang zur Komik im Sinne einer durch das Verlachen des Anderen evozierten moralischen Besserung des Publikums.36 Nicht zuletzt waren solche Laster monetäre: Verschwendung wie Geiz gehörten zu den bevorzugten Thematiken des reformnahen Bühnengeschehens – aber auch zu jenen des Volkstheaters, freilich mit einer gänzlich anderen Wendung. Denn gerade für den Hanswurst bot das Geld stets eine Verlockung, insofern es ihm die Illusion schenkte, alles tun zu können. Er konnte Geld bei seinem Herrn erbetteln oder bei Gelegenheit erpressen, wobei dieses Verhalten in der Volkskomödie nicht moralisierend lasterhaft gerahmt wurde.37 Anstatt der lasterhaften Figur stellt das Spiel mit der angeblichen Verlockung des Geldes, wie Daniel Fulda herausarbeitet, gerade aus, dass die theatrale Figur des Hanswurstes doch schon aus sich heraus alles sein kann: »[S]eine vielen Verkleidungen führen ja nichts anderes als seine Lebensfähigkeit unter jeder Bedingung vor. Was das Geld verheißt, brauchen die Figuren in der Welt des Wiener Volksschauspiels letztlich nicht, denn sie substituieren es durch ihr Spiel.«38 Wenn Geld das Handlungsschema des Wiener Volkstheaters prägt, dann insbesondere in Form einer mehr oder weniger profilierten »Geizkomödie«, die – mit Bezug auf die commedia dell’arte – das durch monetäre Interessen eines »Alten« behinderte Glück zweier oder mehrerer »Liebender« thematisch macht.39 Vor diesem Hintergrund lässt sich Schuldenmädchenreport als transformative Aktualisierung des komischen Spiels mit Verschwendung und Geiz lesen, wobei die komische Figur des Hanswurstes – beinahe reformnah – in alle Spielenden eingegangen zu sein scheint: Ungeplantes wie dramaturgisch inszeniertes Extemporieren sowie die direkte Ansprache des Publikums strukturieren auch hier die Abfolgen komischer Szenarien. Die Schuldenmädchen der Dresdner Bürgerbühne re-importieren in gewisser Weise die parodistische Aufnahme des sächsischen Reformtheaters durch das Wiener Volkstheater, wenn sie als Stellvertreterinnen der lasterhaften Typen auftreten, in ihrem komischen Spiel aber gleichzeitig deren (weniger emanzipative, denn theatral-kritische) Entgrenzung ausagieren.40 Im Adressieren von Publikum und Theaterhaus als Geizige – und damit als ebenso lasterhafte Antitypen der spielenden Verschwenderinnen – verschiebt sich der Fokus der beschämenden Exposition. Dennoch bleibt das Stück nicht in einer Umkehrung des moralischen Ausstellens verhaftet. Wie

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auch im Wiener Volkstheater tritt die Komik bzw. das Lachen über die moralische Instanz hinaus.41 Maschinenzauber und Spektakel der Zauberpossen kehren in Schuldenmädchenreport wieder, wenn etwa die Tattoos einer Spielerin (Winkekatze und Flamingo) grotesk-komisch durch das Zupfen der Haut, technisch gestütztes Stimme-Verleihen und mediale Projektion zauberstückhaft als böse Hexe oder rachsüchtige Gottesfigur inszeniert werden. Nicht zuletzt bleibt auch die Bürgerbühne, der Verdienst der Spielerinnen, wie eben das Wiener Volkstheater des 18. Jahrhunderts vom Publikumserfolg abhängig. Dass Schuldenmädchenreport in der dynamischen Ausstellung von Einzelnen und Gruppierungen das geteilte Lachen (nicht das Mit-Lachen, zu dem Lessing Gottscheds Verlachen transformierte) zum Movens seiner dionysischen Komik werden lässt, kann somit gleichzeitig als Symptom einer Marktlogik wie auch als theatrale Selbstreflexion lesbar werden. Im schamlosen Verkoppeln der Formen, Räume und Zeiten ver-rändert sich die Bürgerbühne der Schuldenmädchen als ein sich selbst parodierendes »Volksstück«, das sich in Gestus und Haltung dennoch nicht von Bürgerlichkeit und/oder (Bildungs-)Elite abspalten kann und damit vielleicht am Offensichtlichsten seine divers-bleibenden, schauenden und spielenden Adressat:innen trennt, um sie aneinander zu binden. Entgegen einer Pressestimme, Vanessa Stern würde die Frauen aus der »Opferrolle«42 holen, lassen sich eindeutige Opfer- und Täterrollen aus einer solchen Perspektive nicht mehr festmachen. Vielmehr verkehrt das in- und exkludierende Spiel der Bürgerinnen das partizipative Moment der Bürgerbühne zu einer Exposition der Teilhabe aller Versammelten an einem marktlogischen und zum Teil auf Ausbeutung basierenden System inner- und außerhalb des Theaters. Das Schulden wird zu einem geteilten Zustand – im Theaterraum und über seine räumlichen Begrenzungen hinaus.

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1 Vgl. Deleuze, Gilles/Parnet, Claire (1977): Dialoge, Frankfurt a. M. 1980, S. 140. 2 Vgl. Hetzel, Andreas: »Rhetorik, Politik und radikale Demokratie«, in: ders./ Posselt, Gerald (Hrsg.): Rhetorik und Philosophie. Ein Handbuch, Berlin 2017, S. 535 – 561, S. 554. 3 Vgl. hierzu Butler, Judith: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, Cambridge MA 2015, insb. S. 174ff. 4 Vgl. hierzu auch Holling, Eva/Hylla, Katrin: »Re-/Produktionsmaschine Bürgerbühne?«, in: Koban, Ellen/Kreuder, Friedemann/Voss, Hanna (Hrsg.): Re/ produktionsmaschine Kunst. Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten, Bielefeld 2017, S. 161 – 174. 5 Sting, Wolfgang: »Ästhetische Praxis des Theaters als Intervention, Partizipation oder einfach nur ästhetische Erfahrung?«, in: KULTURELLE BILDUNG ONLINE, 2017, https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-praxis-des-theaters-intervention-partizipation-oder-einfach-nur-aesthetische (Zugriff am 30. Mai 2020). 6 Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben, Berlin 2012, S. 20. 7 Vgl. hierzu auch Warstat, Matthias: »Politische Dynamiken des Gegenwartstheaters. Funktionen einer Selbstmobilisierung«, in: Eusterschulte, Birgit/ Krüger, Christian/Siegmund, Judith (Hrsg.): Funktionen der Künste. Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken, Berlin 2020, S. 75 – 91. 8 Warstat, Matthias et al.: »Applied Theatre: Theater der Intervention«, in: dies. (Hrsg.): Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis, Berlin 2015, S. 11f. 9 Kurzenberger, Hajo/Tscholl, Miriam (Hrsg.): Die Bürgerbühne. Das Dresdner Modell, Berlin 2014. 10 Roselt, Jens: »Bürger als Experten auf der Bühne. De-/Professionalisierungen im zeitgenössischen Theater«, in: Krankenhagen, Stefan/ders. (Hrsg.): De-/Profes­ sionalisierung in den Künsten und Medien. Formen, Figuren und Verfahren einer Kultur des Selbermachens, Berlin 2018, S. 91 – 106, S. 98. 11 Kurzenberger, Hajo: »Die Bürgerbühne. Zur Geschichte und Entwicklung einer partizipatorischen Theaterform«, in: ders./Tscholl, Miriam (Hrsg.): Die Bürger­ bühne. Das Dresdner Modell, Berlin 2014, S. 23 – 37, S. 23. 12 Kurzenberger, Hajo: »Dresdner Modell. Demokratie braucht Bürgerbühne«, https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tup/20364490.html?forceDesktop=1 (Zugriff am 30. Mai 2020). 13 Decker, Gunnar: »Verführerin zum eigenen Ton«, in: Theater der Zeit 9 (2019), S. 42 – 45, S. 43. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Kurzenberger: Demokratie braucht Bürgerbühne. 17 Wilfried Schulz zitiert nach Kurzenberger: Demokratie braucht Bürgerbühne. 18 Kriebel, Judith: »…dann spielen plötzlich alle und alles mit«, in: Budde, Antje (Hrsg.): Fiebach. Theater, Wissen, Machen, Berlin 2014, S. 235 – 241, S. 238ff. 19 Ebd., S. 237. 20 Vgl. Tscholl, Miriam: »Die Bürgerbühne. Beschreibung eines Modells«, in: Kurzenberger, Hajo/dies. (Hrsg.): Die Bürgerbühne. Das Dresdner Modell, Berlin 2014, S. 11 – 21, S. 16f. 21 Vgl. Kriebel: »…dann spielen plötzlich alle«, S. 238. 22 Kurzenberger: Demokratie braucht Bürgerbühne. 23 Vgl. Roselt, Jens: »Eine Dekade der Bürgerbühnen« (Vortragsmanuskript). 24 Ebd., S. 2. 25 Vgl. ebd., S. 1. 26 Hofbauer, Ernst: Schulmädchen-Report: Was Eltern nicht für möglich halten, Deutschland 1970. 27 Vgl. https://www.sachsen-fernsehen.de/staatsschauspiel-dresden-zieht-bilanz632889/ (Zugriff am 30. Mai 2020). 28 Vgl. Roselt: Bürger als Experten auf der Bühne, S. 100ff. 29 Vgl. Malzacher, Florian/Dreysse, Miriam (Hrsg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007. 30 Vgl. Primavesi, Patrick: »Zuschauer in Bewegung. Randgänge theatraler Praxis«, in: Deck, Jan/Sieburg, Angelika/ders. (Hrsg.): Paradoxien des Zuschauens: Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater, Bielefeld 2008, S. 85 – 106.

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31 Vgl. Schlewitt, Carena: »Das Theater schwärmt aus«, in: Goebbels, Heiner/ Mackert, Josef/Mundel, Barabara (Hrsg.): Heart of the City. Recherchen zum Stadt­ theater der Zukunft, Berlin 2011, S. 54. 32 Kurzenberger, Geschichte und Entwicklung einer partizipatorischen Theaterform, S. 25. 33 Roselt: Dekade der Bürgerbühnen, S. 1. 34 Vgl. Lehmann: Das Politische Schreiben, S. 20f. 35 Vgl. Hein, Jürgen: Das Wiener Volkstheater, Darmstadt 1997, S. 20ff. 36 Vgl. Steinmetz, Horst: Die Komödie der Aufklärung, Stuttgart 1971, S. 20f. 37 Vgl. Fulda, Daniel: Schau-Spiele des Geldes, Tübingen 2005, S. 354. 38 Ebd. 39 Vgl. ebd. sowie Clasen, Thomas: »›Scherzworte, aus denen sich Kritiken entlehnen lassen‹. Die Begründung der Wiener literarischen Volkskomödie durch Philipp Hafner«, in: Jablkowska, Joanna/Kubisiak, Malgorzata (Hrsg.): Österreichische Literatur wie sie ist? Beiträge zur Literatur des habsburgischen Kulturraums, Lódź 1995, S. 114 – 130, S. 116. 40 Vgl. hierzu auch Hein, Jürgen: »Nachwort«, in: ders. (Hrsg.): Parodien des Wiener Volkstheaters, Stuttgart 1986, S. 383 – 411. 41 Vgl. Greiner, Bernhard: Die Komödie, Tübingen 2006, S. 152 sowie Gottsched, Johann Christoph: »Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen«, in: ders.: Schriften zur Literatur, hrsg. von Horst Steinmetz, Stuttgart 1972, S. 186 und Lessing, Gotthold Ephraim: »Hamburgische Dramaturgie, 29. Stück«, in: ders.: Werke Bd. 4: Dramaturgische Schriften, hrsg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 363. 42 Vgl. Rainer Kasselt, Sächsische Zeitung, 18. September 2019 zitiert nach Staatsschauspiel Dresden https://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/archive/s/schuldenmaedchen-report/ (Zugriff am 30. Mai 2020).

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Sandra Umathum Von der Kunst, interventionistische Kunst ­überhaupt zu werden 1.

»How do you make sure that you catch everyone’s attention? Intervention Art is the way!«1 Ob polemisch gemeint oder nicht, benennt dieser Satz eine zentrale Eigenschaft von interventionistischer Kunst, nämlich ihren Wunsch oder ihr Ziel, Aufmerksamkeit und Interesse hervorzurufen, sowohl für die Sache, um die es ihr geht, als auch für sich selbst, ihr Vorgehen und die Mittel, die sie hierfür wählt. Jede künstlerische Intervention, das verbindet sie mit der politischen wie der militärischen Intervention, demonstriert ihre Uneinigkeit mit etwas Gegebenem und zugleich die Absicht, mittels der Unterbrechung einer Ordnung einen Unterschied zu machen. Anders als politische oder militärische Interventionen befinden sich künstlerische allerdings in dem Vorteil, ihre Berechtigung nicht aus der Veränderung und Verbesserung der Situation zu beziehen, in die sie eingreifen. Im politischen und militärischen Bereich existiert ein an die Verpflichtung auf Erfolg geknüpfter Legitimationsdruck, den die Kunst nicht im selben Maß kennt. Kunst hat andere Spielräume und Möglichkeiten. Sie muss nicht unbedingt ein bestimmtes Ziel erreichen oder überhaupt formulieren. Sie besitzt das Privileg, die Notwendigkeit und Relevanz ihres Unternehmens ebenso im Tun testen zu können, wie die Angemessenheit der gewählten Mittel oder ihr Potenzial zur Mobilisierung. Trotzdem bewegen sich künstlerische Interventionen diesseits von Voraussetzungen und Kriterien, die über ihr Gelingen entscheiden. Auch sie kennen das Risiko des Scheiterns. Sie können aus unterschiedlichen Gründen schiefgehen, zum Beispiel, wenn sie nicht imstande sind, die Bereitschaft anderer zu aktivieren, auf sie zu antworten – wobei das Antworten, wie es Bernhard Waldenfels ausdrückt, nicht »mit dem Reden über etwas« beginnt, »sondern mit dem Hinsehen und Hinhören, das eine eigene Form der Unausweichlichkeit aufweist«2. Ohne die Hervorbringung eines Antwortgeschehens ist künstlerische Intervention nichts und ist sie nicht. Sie besitzt appellativen Charakter. Erst ein Antwortgeschehen, so die Grundannahme und der Ausgang meiner folgenden Überlegungen, konstituiert die künstlerische Intervention als solche.

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2.

Yokohama im Februar 2019: Im Rahmen von TPAM, dem jährlich stattfindenden Performing Arts Meeting, präsentiert die US-amerikanische, in Japan lebende Elektromusikerin, Künstlerin und Essayistin Terre Thaemlitz im Kanagawa Arts Theatre ihre Performance Deproduction aus dem Jahr 2017. Deproduction besteht aus zwei Teilen: Im ersten sind zunächst für etwa 20 Minuten lose verknüpfte Videosequenzen auf einer Leinwand zu sehen, über die anschließend für Menschen mit mittlerer Lesegeschwindigkeit etwas zu rasch die ca. 30-minütige Projektion eines Textes gleitet. Aufgrund ihrer verschwommenen oder verpixelten Textur geben die Videobilder nicht sofort zu erkennen, dass sie Szenen von sexuellem Missbrauch in familiären Beziehungen zeigen – wobei der Missbrauch und das Familiäre der Beziehungen anfänglich eher als Ahnung ins Bewusstsein treten, nahegelegt durch vage Anhaltspunkte, die später der Text bestätigt, in dem Thaemlitz mit den Konstrukten von Familie, Elternschaft und Reproduktion ebenso abrechnet, wie mit deren Verstrickung in die kapitalistischen Wertschöpfungsketten. Der Text stellt nicht einfach eine kritische Position vor, sondern eine eindeutig gegenhegemoniale, eine Position, mit der sich Thaemlitz insbesondere gegen die eigene community, mithin ihr Publikum wendet, gegen LGBTQ+ Menschen, die durch ihre Angleichung an die heteronormative Ordnung diese Konstrukte und mit ihnen die gesamte Ordnung aufrechterhielten anstatt sie zu bekämpfen. Der Text ist eine Entschönigung, die im Durchgang verschiedener kritischer Theorien das Rüstzeug für die beiden zentralen Thesen von Thaemlitz einsammelt: dass Kinderkriegen unethisch sei und Familie ein demokratiefeindliches Modell. Diese Thesen und Argumente sind an sich nicht neu;3 Thaemlitz verschärft sie allerdings nicht nur auf der Ebene des Diskurses, sondern auch durch die gewählte Form. So verdichtet sich in der Verknüpfung des Gezeigten mit dem Gesagten, in der Verschränkung der Videobilder mit dem Text und der düster gefärbten Musik, die Thaemlitz vom Mischpult linkerhand der Leinwand live einspielt, die Atmosphäre im Verlauf der Performance in einer Weise, die unangenehm und teils nur schwer erträglich ist. Deproduction ist eine der stärksten Performances, die ich in den letzten Jahren gesehen habe, und eine der radikalsten im Blick auf das Bemühen, eine antagonistische Position ins Spiel zu bringen.4 Deproduction sucht die Konfrontation, versucht, sie sogar sichtund hörbar zu machen, denn nachdem das Ende der Textprojektion

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erreicht und die Musik abgeklungen ist, lädt Thaemlitz im zweiten Teil der Performance das Publikum ein, mit ihr über diesen ersten Teil zu sprechen. Diese Einladung ist nicht ein Extra, das wie übliche Publikumsgespräche nach manchen Aufführungen stattfindet und nach anderen nicht. Die Möglichkeit, die eigene Stimme zu erheben, sich zu äußern und gegebenenfalls Widerspruch einzulegen, ist konstitutiver Bestandteil der Arbeit. Das Licht geht an, die Besucher:innen sind aufgerufen, sich zu Wort zu melden. Eine Person verlässt demonstrativ genervt den Saal, eine andere möchte wissen, wie der Soundtrack entstanden ist, eine weitere, ob Thaemlitz die Videobilder selbst gedreht oder irgendwo gefunden hat. Hinsichtlich des Inhalts bleibt es still. Man mag geneigt sein – was ich nicht bin, da es mir zu einfach erscheint –, das Ausbleiben von Gegenstimmen auf kulturelle Eigenheiten zu beziehen oder ein schlichtes Desinteresse an der Sache, um die es Thaemlitz geht. Das Schwierige an diesem Performanceende verdankt sich aber weniger dem Umstand, dass sich das Publikum auf einen kontroversen Austausch nicht einließ, als der Idee, einen solchen Austausch überhaupt einzukalkulieren.

3.

»Ästhetische Verfahren der Intervention«, schreiben Matthias Warstat, Julius Heinicke, Joy Kristin Kalu, Janina Möbius und Natascha ­Siouzouli in ihrem Buch Theater als Intervention, erden in der Regel insbesondere den Genres Kunst und Perforw mance im öffentlichen Raum zugeschrieben, die sich durch eine Manipulation der vorgefundenen räumlichen und sozialen Ordnung auszeichnen. Für jene Formen von Theater hingegen, die eine in sich geschlossene Narration zu entfalten suchen und sich durch eine klare räumliche Trennung von Zuschauerraum und Bühne auszeichnen, spielen interventionistische Ästhetiken eine untergeordnete Rolle.5 Thaemlitz’ Intervention richtet sich genau genommen nicht bloß gegen das hegemoniale Konstrukt der Familie. Ihre Intervention wendet sich auch, bewusst oder nicht, gegen das Konstrukt namens Publikum. Wir haben es hier mit einem Beispiel zu tun, das vorführt, wie schwierig sich die »Manipulation der vorgefundenen räumlichen

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und sozialen Ordnung« in Theaterinstitutionen gestalten kann, ja wie widerständig sich in ihnen die räumliche und soziale Ordnung gegenüber dem Bemühen um die Hervorbringung eines Antwortgeschehens verhält, das sich nicht im Hinsehen und Hinhören erledigt, sondern Stimmen und Positionen hörbar macht, einvernehmliche wie ablehnende, affirmative wie gegnerische. Das Dispositiv dieser Spielstätten hat den Besucher:innen beigebracht, was es bedeutet, Teil eines Publikums zu sein, und dass dies nicht vorsieht, sich aus der anonymen, alle gleichermaßen anonymisierenden Menge herauszulösen, indem man der eigenen Meinung oder Überzeugung Gehör verschafft und sich mit den Performer:innen oder anderen Zuschauer:innen kontroverse Auseinandersetzungen liefert. Die Regeln, die es als Mitglied eines Publikums im Theater zu befolgen gilt, sind seit der Institutionalisierung dieser Kunstform festgeschrieben, eingeübt und inkorporiert, und die Veränderbarkeit dieser Regeln oder die spontane Auflösung des Publikums in konkrete Erfahrungssubjekte mit einer Meinung oder Position darum schwerer zu erlangen als bisweilen erhofft und gewünscht. Ein Antworten, das Gehalt kundtut, ist dem Publikum während einer Vorstellung eher theoretisch als praktisch zugänglich. Realiter lebt ein solches Antworten vom und im Verzug, es findet zeitverzögert und ortsverschoben statt, jenseits der Aufführung, dort wo Menschen ihre widerstreitenden Positionen kollidieren lassen können, weil sie nicht (mehr) ein Publikum formieren. Im Theater kann man den Konflikten des Personals auf der Bühne zusehen, kann sich selbst im Konflikt mit den Positionen und Denkweisen erfahren, die eine Arbeit verhandelt und über die Rampe sendet, oder im Konflikt mit der Wahl der ästhetischen Mittel und dem Theaterverständnis, das einer Inszenierung zugrunde liegt. In der Regel spielen sich konfliktuelle Auseinandersetzungen mit einer Aufführung allerdings im Verborgenen ab, innerhalb der abgekapselten Gedanken- oder Gefühlswelt eine:r Zuschauer:in. Man kann noch dazwischenrufen, mit den Füßen scharren oder die Veranstaltung einfach verlassen. Die Transformation in einen Ort, an dem sich Zustimmung oder Ablehnung anders als in Form von Geräuschen äußern oder anders als im Heraustreten, das die Verschwindenden ins Aus befördert, kommt im Theater selten zustande und tritt dann meist als eine Intervention in Erscheinung, die im Vorfeld als Verstoß gegen die vorgeschriebenen Handlungen und Verhaltensweisen geplant und vorbereitet worden ist.6

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4.

Oliver Marchart denkt Öffentlichkeit als etwas, das nicht einfach existiert und nicht schon deshalb Öffentlichkeit ist, weil es öffentlich zugänglich ist, sondern als etwas, das erst und stets aufs Neue hervorgebracht werden muss. Folgt man Marchart, der vorschlägt, dass »diese Herstellung von Öffentlichkeit im Moment konfliktueller Auseinandersetzung geschieht«7, sich also im Aufprall verschiedener Positionen ereignet, dann muss man dem Theater bescheinigen, dass es sich in der Herstellung von Öffentlichkeit nicht leichttut. Wobei herstellen das falsche Wort ist, denn eine antagonistische Situation, für Marchart die Szene des Politischen, lasse sich »nicht voluntaristisch erzwingen«8. Bis zu einem gewissen Grad bleibe ihr Eintreten kontingent und so auch die Entstehung von Öffentlichkeit, die für Marchart nicht als Resultat aus dem Aufprall verschiedener Positionen hervorgeht. Vielmehr sei Öffentlichkeit »nichts Anderes als dieser Aufprall selbst«9. Dieser Aufprall steht, so möchte ich sagen, zum Moment des Interventionistischen in einem indexikalischen Verhältnis: Er zeigt an, dass sich eine Intervention ereignet hat. Was mit anderen Worten heißt, dass eine Aufführung oder ein Werk nicht schon Intervention ist, weil Künstler:innen sie als solche konzipieren oder weil Künstler:innen (oder andere Menschen) sie als solche deklarieren. In meinem Verständnis wird eine künstlerische Intervention erst im Modus eines Antwortgeschehens, das den Aufprall verschiedener Positionen wahrnehmbar macht.

5.

»Sie sind hier, Sie haben eine Karte bezahlt, um die Klappe zu halten«, retourniert Christoph Schlingensief die Zwischenrufe während einer Vorstellung seiner Hamlet-Inszenierung 2001 im Schauspielhaus Zürich. Mit einem Mann, der in Richtung Bühne grantelt, dass er dafür bezahlt habe, Hamlet zu sehen und nicht »Ihr Gelabere«10, entwickelt sich ein kurzer Disput, der jedoch ebensowenig wie die anderen Zwischenrufe eine spontane Intervention seitens der Zuschauer:innen ist. Genau genommen unterbrechen die Zwischenrufe nichts mehr. Sie klinken sich ein in eine Unterbrechung, die Schlingensief zu diesem Zeitpunkt schon selbst vollzogen hat: eine Unterbrechung sowohl im Ablauf seiner eigenen Inszenierung wie in der vorherrschenden Konvention, die Erscheinungsform einer Aufführung in jeder

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weiteren zu reproduzieren. Mit Ausnahme der letzten Arbeiten vor seinem Tod waren Schlingensiefs Inszenierungen nie fertige, fixierte Produkte, sondern Zusammenhänge mit veränderbaren Inhalten und Formen, die er in der Gegenwart des Publikums refiguriert, angehalten, kommentiert, infrage gestellt und verhandelt hat. Durch seine Abkehr von der Idee einer in sich geschlossenen Bühnensituation, die schon mit dieser Geschlossenheit ihre Ablehnung gegenüber einem vernehmbaren Antwortgeschehen signalisiert, erreichte Schlingensief mitunter wenigstens punktuell die Mobilisierung widerstreitender Stimmen und Positionen auch während einer Aufführung. Es gelang ihm in diesen Momenten eine vorübergehende Störung des Kon­strukts Publikum, die kurzfristige Aufhebung einer Konvention. Schlingensiefs Werk lässt sich als eine permanente Erprobung und Überprüfung von, wie Marchart es nennt, »Praxen der Antagonisierung«11 beschreiben. Mit dem Beginn seiner Theaterarbeit im Jahr 1992 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin machte er das Dispositiv der Aufführung, welches ihm, der vom Film kam und Filme seit seiner Kindheit gedreht hatte, nicht vertraut war, zum Gegenstand obsessiver Explorationen. Schlingensiefs Kapital war die nicht vorhandene Infiltration mit und zugleich seine Indifferenz gegenüber den Regeln des Theaters, gegenüber dem, was in dieser Institution als möglich und angemessen gilt und was nicht. Gerade in den ersten Jahren hat er diese Regeln ausgelotet, und das stets auch in Bezug auf die Fragen, wie sich den Menschen im Publikum eine Reaktion entlocken lässt und was eigentlich passieren muss, damit sie aufhören, die Klappe zu halten, obwohl sie genau dafür Geld bezahlt haben. Um hierauf eine Antwort zu finden, durchkreuzte Schlingensief die dominanten Weisen des Theatermachens. Er projizierte schwer erträgliche Bilder auf Leinwände, unterbrach, wie in Zürich, eine Vorstellung und gab zu oder behauptete, nicht weiter zu wissen, keine Idee, keinen Plan oder keine Lust mehr zu haben, beschimpfte Kritiker:innen von der Bühne herab, die eine Inszenierung als pubertär abgetan hatten, arrangierte ohne Absprache mit den anderen Performer:innen Szenen während der Vorstellung neu, überredete die Darsteller:innen mit Behinderung, etwas zu tun, das sie nicht tun wollten, pöbelte Leute im Publikum an, die für sein Empfinden an den falschen Stellen lachten, oder nötigte sie zu Aktionen, die ihnen sichtlich unangenehm waren.12

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6.

Denkt man Intervention als die Generierung von Öffentlichkeit im Aufprall widerstreitender Positionen, dann erklärt sich unmittelbar, weshalb der Stadtraum für die Hervorbringung eines Antwortgeschehens einen prädestinierteren Kontext bietet als die Theaterinstitution. Dass künstlerische Interventionen jenseits der Theater oder auch jenseits der Galerien und Museen bessere Bedingungen für die Mobilisierung widerstreitender Positionen vorfinden, muss jedoch nicht bedeuten, dass eine Intervention nicht trotzdem ins Leere laufen und daran scheitern kann, Intervention überhaupt zu werden. Marchart selbst nennt hierfür ein Beispiel aus der bildenden Kunst: die Aktion Standortkultur, die Hans Haacke, ein prominenter Protagonist der Institutionskritik, 1997 im Rahmen der documenta X durchführt. Im Stadtgebiet von Kassel lässt Haacke Plakate mit Zitaten von internationalen Vertretern aus der Wirtschaft anbringen, um deren strategische Interessen am Kultursponsoring aufzudecken. Als kritischer Beobachter und als Analyst der Allianz von Kultur und Wirtschaft hofft Haacke, damit eine Debatte anzustoßen. Wie er später einräumt, waren die Plakate für diesen Zweck indes nicht das geeignete Mittel: in komplexes Plakat mit verhältnismäßig kleinteiligen E Elementen geht […] im visuellen Gewimmel leicht unter. In den Medien gab es wenig Resonanz. Die von mir erhoffte Debatte blieb aus. Das Beispiel demonstriert, dass massenhafte Verbreitung im flächendeckend von Werbung okkupierten ›öffentlichen Raum‹ kein Garant für die Teilnahme am öffentlichen Diskurs ist.13 Standortkultur ist ein Beleg dafür, dass Kunst im Stadtraum nicht automatisch imstande ist, »everyone’s attention« einzufangen, wie es das Zitat behauptet, mit dem dieser Text begann. Das Interventionistischwerden einer jeden Kunst ist wesentlich von den gewählten Mitteln abhängig und, so wäre hinzuzufügen, von den Inhalten, die sie in die Diskussion zu bringen gedenkt. Zwar lässt sich durch das Verlassen von White Cube14 oder Black Box15 potenziell eine größere Anzahl an Menschen ansprechen als die relativ wenigen, die eine Aufführung im Theater oder eine Ausstellung im Museum erreichen. Gleichwohl steht Kunst dann vor der Herausforderung, in Kontexten Aufmerksamkeit und Anerkennung hervorrufen zu müssen, in denen andere

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Akteur:innen oft mehr Erfahrung und die besseren (ökonomischen) Voraussetzungen im Wettbewerb um diese Ressourcen besitzen. Wenn Haacke sagt: »In den Medien gab es wenig Resonanz«, thematisiert er nicht nur eine Enttäuschung oder ein Scheitern. Implizit benennt er zugleich ein Ziel, auf das Kunst, die in nicht-künstlerische Räume als gleichsam Unerwartetes vordringt, häufig zuarbeitet. Denn entscheiden die Medien, ein Antwortgeschehen zu verbreiten, voranzutreiben und mitzubestimmen, dann sorgen sie für eine Aufmerksamkeit, die weit über den Ort des ursprünglichen Handelns hinausreicht. Sie vervielfachen gewissermaßen die Zahl der Debattierenden. Insofern ist Medienresonanz nicht bloß das Resultat einer künstlerischen Intervention. Die Kausalität ist wechselseitig. Die Medien halten an einer künstlerischen Intervention entscheidende Anteile. Im selben Maß, wie die Medien das Interventionistische der Kunst befördern bzw. diese Beförderung latent immer schon in Aussicht stellen, nähren sie zugleich die Neigung interventionistischer Kunst zum Spektakulären, zum Aufsehenerregenden und Einzigartigen (im Sinn des herausragenden ebenso wie des einmaligen, nicht wiederholbaren Ereignisses).

7.

Im Dezember 2019 eröffnet das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) im Rahmen seiner Aktion Sucht nach uns! ein Mahnmal auf dem ehemaligen Gelände der Kroll-Oper. Es handelt sich dabei um die gegenüberliegende Seite der Straße, die heute in westlicher Richtung an den großen Rasen vor dem Reichstag, den Platz der Republik, grenzt.16 Das Kernstück dieses Mahnmals bildet eine Stele, in der sich ein Bohrkern mit den menschlichen Überresten von Opfern der Shoah befinden soll. Das ZPS hat sie nach eigenen Aussagen in den Umgebungen von Vernichtungslagern eingesammelt und in das Berliner Regierungsviertel überführt – dorthin, so heißt es auf der Webseite der Gruppe, wo »1933 die Demokratie beseitigt wurde«17, wo, »die Vernichtung von Millionen von Menschen ihren Lauf«18 nahm und wo in der Kroll-Oper »der Konservatismus die deutsche Demokratie in die Hände von Mördern«19 legte. Als »Gedenkstätte gegen den Verrat der Demokratie«20 will dieses Mahnmal nicht nur an die »Kräfte der Geschichte«21 erinnern, die zu Verfolgung, einem planmäßig durchgeführten Massenmord und dem menschenverachtenden Umgang mit den toten Körpern führten. Es möchte außerdem ein Appell sein

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gegen das gegenwärtige Wiedererstarken rechtsextremistischer Strömungen und faschistischen Gedankenguts, gegen ein politisches wie gesellschaftliches Verhalten, das sich nicht entschieden genug dagegen zur Wehr setzt und sich am Erfolg einer Partei wie der AfD somit mitschuldig macht. Bekanntermaßen scheitert Sucht nach uns! kurz nach seinem Beginn an einer Gegenintervention ausgerechnet aus denjenigen Reihen, deren Einspruch und Entrüstung das ZPS, so verraten es dessen überraschte Reaktionen, vielleicht am wenigsten erwartet hat. Unter anderem unter Berufung auf den Verstoß gegen das jüdische Gesetz der Totenruhe üben der Zentralrat der Juden, die Deutsch-Israelische Gesellschaft und das Internationale Auschwitz-Komitee scharfe Kritik an der Aktion und bewirken deren frühzeitige Beendigung.22 Es geht mir an dieser Stelle nicht um die Fehler, die zu diesen Reaktionen führten, und auch nicht um die anmaßenden Aspekte dieser Arbeit. Stattdessen möchte ich Sucht nach uns! als ein Beispiel in die Diskussion bringen, das sich als Intervention allein dank der Berichterstattung in den Medien in Szene setzt, ja das sich nicht einmal die Mühe macht, Öffentlichkeit am Ort der Installation selbst zu erzeugen. Von dem Begehren nach einer lediglich medialen Öffentlichkeit gibt das Mahnmal genauen Aufschluss. Es erweist sich als ein Ort, an dem eine antagonistische Situation sich nur als Abwesendes hervortut – und das nicht etwa, weil sich die antagonistische Situation in die Medien und sozialen Netzwerke verlagert, sondern weil die vom ZPS konzipierte Installation für die Entstehung einer antagonistischen Situation gar keine günstige Voraussetzung bietet. Die Stele mit den menschlichen Überresten ist Teil einer Einrichtung, die, obwohl sie auf Fotos oft mitabgebildet wird, in der Berichterstattung kaum Erwähnung findet. Umgeben ist die Stele von einem 2,5 Meter hohen Gerüst aus Metallstreben, das eine Art Tor formt. Oben am Torbogen ist ein Transparent mit der Aufschrift »Gedenken heißt Kämpfen« befestigt, während die Säulen bis zur Hälfte ihrer Höhe mit Blumen, bunten, kitschigen Plüschtieren und farbigen Zetteln behangen sind, welche Zitate unter anderem von Adorno zu lesen geben. Zwischen Grablichtern und Kränzen liegen Plüschtiere auch am Boden. Über die Angemessenheit dieser Ästhetik im Kontext der gewählten Thematik wäre zu diskutieren. Sie nimmt deutliche Anleihen bei der Art, in der für Verunglückte im Straßenverkehr oder für verstorbene Prominente heutzutage oft Orte der Trauer angelegt werden. Durch die Angleichung an die Ästhetik dieses relativ neuen Brauchtums wird die Installation als Repräsentation einer Gedenk-

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stätte erkennbar, mithin als ein Dispositiv, das für den Aufprall widerstreitender Positionen weder prädestiniert noch besonders durchlässig ist.23 Gedenkstätten sind nicht dazu angetan, Öffentlichkeit im Sinn einer antagonistischen Situation entstehen zu lassen. Sie animieren zu innerer Einkehr und Stille. Die spezifische Gemachtheit dieser schon am zweiten Tag ihres Bestehens fast unbesuchten Installation demonstriert überdeutlich, dass sie als Lieferantin für mediale Bilder und als Anlass für Berichterstattungen konzipiert ist, auf die Hervorbringung von Öffentlichkeit vor Ort jedoch weder angelegt ist noch dazu taugt.

8.

Im Juni 2000 findet im Rahmen der Wiener Festwochen Schlingensiefs Aktion Bitte liebt Österreich! statt. In Anlehnung an das damals noch relativ neue und erfolgreiche Fernsehformat Big Brother lässt Schlingensief neben der Staatsoper eine Containerinstallation errichten, in der sechs Tage lang zwölf Asylbewerber:innen wohnen. Wie bei dem televisuellen Vorbild werden sie rund um die Uhr von Kameras bewacht. Auf einem der Containerdächer ist ein großes »Ausländer-raus«-Schild befestigt, daneben weht die Fahne der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Seit wenigen Monaten ist sie als erste rechtsradikale Partei an einer Regierungsbildung in Europa nach 1945 beteiligt. An den Außenwänden der Container kleben Plakate mit rassistischen Zitaten, unter anderem von dem damaligen FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider. In unregelmäßigen Abständen wird das Geschehen im Innern der Container auf Bildschirmen vor Ort und ins Internet übertragen. Per TED-Abstimmung können jeden Tag zwei Asylbewerber:innen gewählt werden, deren ›Abschiebung‹ in einem allabendlichen Ritual durchgespielt wird. Schlingensief ist während des gesamten Zeitraums anwesend und steht für Fragen und Diskussionen zur Verfügung. Wie bei Big Brother bewegen sich die Vorgänge in den Containern am Nullpunkt des Interessanten. Das eigentliche Ereignis ist die Installation selbst bzw. sind die Menschen, die sich dort mit jedem neuen Tag in zunehmender Zahl einfinden, um miteinander zu streiten: die Befürworter:innen und Kritiker:innen der politischen Entwicklungen in Österreich, der FPÖ oder der Aktion; die Parteianhänger:innen, die sich urplötzlich um den Ruf ihres Landes besorgt zeigen, obwohl die am Container plakatierten Slogans und Parolen exakt diejenigen sind, mit denen sich die FPÖ zuvor einen Gutteil ihrer

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Wähler:innenstimmen sichern konnte; die Parteigegner:innen, die sich gegen die Aktion wenden, weil sie der Ansicht sind, diesen Slogans und Parolen dürfe kein Raum gegeben werden, auch nicht im Rahmen einer Kunstaktion mit eindeutig satirischem Grundton; die Menschen, die wiederum zu dieser Ansicht eine Gegenstimme formulieren, da sie die Ausstellung des Hässlichen und zugleich die Debatten und Begegnungen gutheißen, die dadurch zustande kommen; die Gegner:innen sowohl der FPÖ als auch der Aktion, die versuchen, die Aktion frühzeitig zu beenden, damit die Menschen aus den Containern befreit werden; die Kritiker:innen der Aktion, die sich gegen das frühzeitige Ende der Aktion mit dem Argument aussprechen, es könne der FPÖ und deren Interessen in die Hände spielen.24 Begreift man Intervention als Generierung widerstreitender Positionen, in deren Aufprall Öffentlichkeit entsteht, dann ist Bitte liebt Österreich! eine Arbeit, die Intervention im exemplarischen Sinn geworden ist mithilfe aller, die dazu einen Beitrag geleistet haben – den Menschen, die zu den Containern kamen, und natürlich denen, die sich in den Medien äußerten, aber eben nicht allein dort. Inmitten des Wiener Stadtzentrums tat sich eine Szene des Politischen auf, ein Ort des Widerspruchs, des Widersprechens und der Widersprüchlichkeit, eine Situation, auf die es keine einwandfreie Antwort gab und geben konnte, auch nicht von Schlingensief, der sich (und darin ganz unheroisch im so häufig vom männlich-heroischen Gestus infizierten Feld interventionistischer Kunstformen) mit Bitte liebt Österreich! einmal mehr in einen Zusammenhang begab, in dem er gezwungen war, die Überprüfung seiner eigenen Position performativ hervorzubringen, zu überprüfen und zur Disposition zu stellen. Selbstprovokation, als Entgegengesetztes zur Provokation, nennt Mark Siemons diese Form des Agierens: er ›provozieren‹ will, ist sich seiner selbst, seiner Mittel und W Ziele gewiss. Er weiß, wie die Welt ist und wie sie sein sollte: Nicht so, aber doch so. Er steht auf einem festen Boden, von dem aus er das Publikum zu jener Klarheit über sich bringen will, die er selber schon hat […]. Der Selbstprovokateur macht solche Annahmen nicht. Er ist sich seiner selbst, seiner Mittel und Ziele höchst ungewiss. Die Aktion ist für ihn kein Mittel, um andere zu belehren, sondern um etwas über sich selbst herauszufinden.25

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Von der Kunst, interventionistische Kunst ­überhaupt zu werden

9.

1998 interveniert Schlingensief mit seiner Partei Chance 2000 in den Wahlkampf zum 14. Deutschen Bundestag und sorgt für Aufmerksamkeit mit einer Partei- und Wahlkampfinszenierung, die sich zu den Selbstdarstellungen der anderen als ästhetische Unkorrektheit ins Verhältnis setzt.26 Während sich Politiker:innen und Parteien im Wahlkampf normalerweise bemühen, mit probaten Mitteln zur Darstellung zu bringen, wer sie zu sein und was sie zu tun beanspruchen, entzieht Schlingensief sich dieser Logik. Angemessen ist alles, was aus dem Rahmen fällt: Die Gründung von Chance 2000 findet in einem Zirkuszelt statt; auf den Parteitagen wird ein Tauziehen veranstaltet; auf einem Wahlplakat liegt Schlingensief mit verwirrtem Blick am Boden; auf der offiziellen Parteipostkarte sind die Darsteller:innen mit Behinderung abgebildet; Schlingensief spaltet die Partei, um sie wieder zu vereinigen, oder tritt zurück, um kurz darauf seinen Rücktritt zu dementieren.27 Das Prinzip der ästhetischen Unkorrektheit, einer gewissen Unachtsamkeit in der Form, ist der Motor eines Langzeitprojekts, das sich in die Kontaktzone von Kunst und Politik begibt, um deren Durchlässigkeit und gegenseitige Irritierbarkeit zu testen und sie in einem Maß zu überblenden, dass es beiden die Eindeutigkeit entzieht. In Bezug auf die Medienpräsenz steht Schlingensief den Politiker:innen allerdings in nichts nach. Sobald eine Kamera läuft, springt er ins Bild und rührt für seine Partei die Werbetrommel. Jede geplante Aktion wird zum bevorstehenden Großereignis stilisiert, um das Interesse der Journalist:innen, Fotograf:innen und Kamerateams zu provozieren. Für den Fall, dass sich niemand von ihnen blicken lässt, ist immer die eigene Handkamera dabei. Schlingensiefs Verhältnis zu den Medien war gleichermaßen von dem Begehren nach einer Annäherung geprägt, die es ihm gestattete, sie für seine Zwecke zu instrumentalisieren, wie von der Zwanghaftigkeit, sich an ihnen kritisch abzuarbeiten.28 Seine Interventionen im Stadtraum waren daher stets mit dem Ansinnen verknüpft, die Bilder und Bildsprache der Medien – für Schlingensief waren das vor allem noch die Printmedien und das Fernsehen – herauszufordern. In einem Wahlwerbespot von Chance 2000 zitiert er (ironisch?) das Credo Wim Wenders’: »Wir müssen die Bilder der Welt verändern! Nur dadurch können wir die Welt verändern.«29 Die Bilder, die es zu stören gilt, bleiben nie dieselben. Sie sind historisch ebenso im Wandel begriffen wie die Medien ihrer

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­Verbreitung. Bei Bitte liebt Österreich! hat Schlingensief es darauf angelegt, dass anstelle der imageträchtigen Bilder, die Wien von seiner besten Seite zeigen, Aufnahmen der in der Außendarstellung sorgsam verdeckten Aspekte der österreichischen Realität in die Zeitungen, ins Fernsehen und in die Fotoarchive der Tourist:innen gelangen. Schlingensiefs Aktion durchkreuzte die beschönigenden Bilder zu einer Zeit, vor mittlerweile 20 Jahren, als eine solche Art der Durchkreuzung noch funktionierte. Die Bilder, die er den anderen, den vorherrschenden als Störung und Unterbrechung entgegensetzte, waren dazu noch in der Lage, da sie noch nicht selbst zum Repertoire jener Bilder gehörten, die in der Zwischenzeit von Vertreter:innen rechtsradikaler Strömungen mit beunruhigender Selbstverständlichkeit und ohne jede Scham in die Kameras gehalten werden.

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Fragt man, was dem institutionalisierten Theater nicht nur bleibt, sondern was es eigentlich davon hat, dass es aufgrund seiner dispositiven Bedingungen für die Herstellung eines Antwortgeschehens, das Sicht- und Hörbarkeit vor Ort erlangt, nicht sonderlich geeignet ist, dann könnte eine Antwort lauten, dass dieser Nachteil des Theaters zugleich sein Vorteil ist. Weil die Chancen für die Herstellung von Öffentlichkeit während einer Aufführung nicht günstig stehen, ist es möglich, die Bedingungen für die Herstellung einer Gegenhegemonie im vor sofortigen Ein- und Widersprüchen geschützten Raum zu testen. Einigermaßen unbehelligt von affektgeladenen Spontanausbrüchen kann im Theater den Zuschauer:innen etwas vorgeführt, vor Augen gehalten und ihnen zum Denken gegeben werden, eine Gegen- oder gegnerische Position, eine Irritation, Herausforderung und Infragestellung von im Dies- und Jenseits des Theaters etablierten Ordnungen, von hier wie dort wirksamen In- und Exklusionsmechanismen. In der Sachlage, dass Zuschauer:innen zusammenkommen, um Teil eines Publikums zu sein, und dafür bezahlen, die Klappe zu halten, liegt neben den unvermögenden Anteilen des Theaters ein Potenzial, an dem die Relevanz dieser Kunstform und Institution hängt.

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1 Ich habe diesen Satz irgendwann ohne Quellenangabe notiert und bei der Google-Suche lediglich einen Hinweis gefunden, der zu Pinterest führt, ohne dass sich der Satz dort finden lässt. 2 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frank­furt a. M. 2006, S. 60. 3 Siehe stellvertretend Vogel, Lise: Marxism and the Oppression: Toward a Unitary Theory, New Brunswick 1983; Edelman, Lee: No Future. Queer Theory and Death Drive, Durham/London 2004; oder die Texte von Sarah Diehl, in: https://sarahdiehl.de (Zugriff am 21. September 2020). 4 Zum Verständnis von Antagonismus als konfliktueller Beziehung zwischen Differenzpositionen, die in der Negierung und Infragestellung einer artikulierten Ordnung zutage tritt, siehe stellvertretend Mouffe, Chantal: Über das ­Politische. Wider die kosmologische Illusion, Frankfurt a. M. 2007. 5 Warstat, Matthias/Heinicke, Julius/Kalu, Joy Kristin/Möbius, Janina/Siouzouli, Natascha (Hrsg.): Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis (= Recherchen 121), Berlin 2015, S. 29. 6 Beispielhaft steht hierfür die Intervention, welche die aktivistische Vereinigung Bühnenwatch während einer Vorstellung von Unschuld (Regie: Michael Thalheimer) im Februar 2012 am Deutschen Theater in Berlin durchführte, um gegen das in dieser Inszenierung praktizierte Blackfacing zu protestieren. Siehe hierzu Itzek, Johanna: »Eine Frage der künstlerischen Freiheit«, in: taz, 22. März 2012, https://taz.de/Debatte-um-Blackfacing-am-Theater/!5097749/ (Zugriff am 21. September 2020). Zunehmend lassen sich gezielte Eingriffe in laufende Aufführungen allerdings auch vonseiten der Rechten verzeichnen. Zwei prominente Beispiele, die sie selbst als »ästhetische Interventionen« bezeichnen, sind zum einen die Störung der Live-Radiosendung Im Salon 2016 im Berliner Maxim Gorki Theater (siehe Ehrenberg, Markus: »Radio-Eins-Sendung von ›­Identitärer Bewegung‹ gestört», in: Der Tagesspiegel, 13. September 2016, https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/rechtsextreme-gruppe-bei-rbb-sendung-radio-eins-sendung-von-identitaerer-bewegung-gestoert/14538794.html (Zugriff am 21. September 2020)), zum anderen die Störung der Performance Gala Global von Turbo Pascal 2018 auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters in Berlin. 7 Marchart, Oliver: »›There is a crack in everything…‹ Public Art als Politische Praxis (2007)«, in: http://whtsnxt.net/091 (Zugriff am 21. September 2020). 8 Marchart: »›There is a crack in everything…‹«. 9 Ebd. 10 Siehe »Schlingensief provoziert die Schweiz«, in: https://www.youtube.com/ watch?v=pPG0t3YhEp0 (Zugriff am 21. September 2020). 11 Marchart: »›There is a crack in everything…‹«. 12 Siehe ausführlich Umathum, Sandra: »Theatre of self-questioning: Rocky Dutschke, ’68, or the children of the revolution«, in: Forrest, Tara/Scheer, Anna Teresa (Hrsg.): Christoph Schlingensief: Art without Borders, Bristol/Chicago 2010, S. 57 – 70. 13 Zit. nach Marchart: »›There is a crack in everything…‹«. 14 Siehe stellvertretend O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle, Berlin 1996. 15 Siehe stellvertretend Otto, Ulf: »Techniken des Technikvergessens. Zur Genealogie der Blackbox«, in: Dreckmann, Kathrin/Butte, Maren/Vomberg, Elfi (Hrsg.): Technologien des Performativen, Bielefeld 2020, S. 49 – 59. 16 Nach dem Reichstagsbrand wurde die Kroll-Oper von den Nationalsozialisten als vorübergehender Tagungsort für das Parlament gewählt. Am 23. März 1933 wurde hier eines der wesentlichen sogenannten Ermächtigungsgesetze, das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« erlassen. Vgl. https://www. bundestag.de/parlament/geschichte/schauplaetze/kroll_oper/kroll_oper199642 (Zugriff am 21. September 2020). 17 Siehe Zentrum für Politische Schönheit (ZPS): »Die Gedenkstätte gegen den Verrat der Demokratie«, in: https://politicalbeauty.de/sucht-nach-uns.html (Zugriff am 21. September 2020). 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd.

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21 Philipp Ruch vom Zentrum für Politische Schönheit im Gespräch mit Annika Leister: »Es ist unmöglich, das Richtige zu tun«, in: Frankfurter Rundschau, 16. Januar 2020, https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/zps-philipp-ruch-zentrum-politische-schoenheit-interview-13442422.html (Zugriff am 21. Septem­ber 2020). 22 Siehe stellvertretend: »›Zentrum für Politische Schönheit‹ entschuldigt sich«, in: rbb24, 4. Dezember 2019, https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2019/12/ holocaust-aktion-zentrum-fuer-politische-schoenheit-raeumt-fehle.html (Zugriff am 21. September 2020). 23 Zur Einrichtung solcher Trauerorte siehe Sörries, Reiner: Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer, Darmstadt 2012. 24 Vgl. die Dokumentation der Aktion Schlingensiefs Ausländer raus, hrsg. v. Matthias Lilienthal/Claus Philipp, Frankfurt a. M. 2000. 25 Siemons, Mark: »Der Augenblick, in dem sich das Reale zeigt. Über Selbstprovokation und die Liebe«, in: Lilienthal, Matthias/Philipp, Claus (Hrsg.): Schlingen­ siefs Ausländer raus, Frankfurt a. M. 2000, S. 120 – 127, hier: S. 120. 26 Chance 2000 wurde im Rahmen des Wahlkampfzirkus ’98 in einem Zirkuszelt gegründet, das hierfür im Prater, der Außenspielstätte der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, errichtet worden war. Der Wahlkampfzirkus ’98 bildete den Auftakt für das gesamte Chance 2000-Projekt, zu dem unter anderem auch das Hotel Prora (Mai 1998) gehörte, vereinzelte Wahlkampfveranstaltungen, die Aktion Baden im Wolfgangsee (August 1998), die Wahlkampfreise Tour des Verbre­ chens durch verschiedene deutsche Städte (September 1998) und das Wahlde­ bakel ’98, das am Abend der Bundestagswahl in der Volksbühne stattfand. 27 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Chance 2000 siehe Gade, Solveig: »Putting the Public Sphere to the Test: On Publics and Counter-Publics in Chance 2000«, in: Forrest, Tara/Scheer, Anna Teresa (Hrsg.): Christoph Schlingen­ sief: Art without Borders, Bristol/Chicago 2010, S. 89 – 103. 28 Siehe Umathum, Sandra: »Von der Kunst, die Bilder zu stören. Unvollständiges zu Christoph Schlingensiefs Interventionen im Fernsehen«, in: Krüger, Klaus/ Hammes, Christian/Weiß, Matthias (Hrsg.): Kunst/Fernsehen, Paderborn 2016, S. 113 – 127. 29 Wildermann, Patrick: »Schlingensief wurde stürmisch geliebt und gründlich verkannt«, in: Der Tagesspiegel, 21. Februar 2020, https://www.tagesspiegel.de/ kultur/berlinale-doku-in-das-schweigen-hineinschreien-schlingensief-wurde-stuermisch-geliebt-und-gruendlich-verkannt/25572338.html (Zugriff am 21. September 2020).

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Simone Niehoff Künstlerische Interventionen als übergriffige Akte Wie das Zentrum für Politische Schönheit scheitert In einer Stahlsäule, wenige hundert Meter vor dem Reichstagsgebäude in Berlin, hinter einer Schicht orange leuchtendem Kunstharz, stellte das Künstler:innenkollektiv Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) eine Bodenprobe aus. Sie war positiv auf menschliche Überreste getestet worden, wobei es sich nach Aussage des ZPS höchstwahrscheinlich um die Asche von Ermordeten des Naziregimes handelte.1 Sucht nach uns! (2019/20) sollte an die Kollaboration konservativer Politiker mit der NSDAP erinnern und der CDU/CSU eine Warnung vor einer Zusammenarbeit mit der rechtsradikalen AfD sein.2 Allerdings avancierte Sucht nach uns! zur bisher kontroversesten Intervention des Kollektivs, da sie keineswegs das konservative und rechtsreaktionäre Lager provozierte, sondern vielmehr Entrüstung unter linken, progressiven und jüdischen Menschen evozierte. Diese Arbeit des ZPS zeigt, welche öffentlichen Wirkungspotenziale künstlerische Interventionen entfalten können, vor allem aber demonstriert sie ihre inhärente Problematik: ihre Übergriffigkeit und ihr Legitimierungsproblem. Interventionen werden aus völkerrechtlicher Perspektive, also in ihrem modernen Ursprungskontext, als zumeist illegitime Akte gewertet, als potenziell aggressive Einmischungen, die Reaktionen erzwingen sollen. Ähnlich wirken auch Interventionen in ihrer künstlerischen Spielart, wie diejenigen des Zentrums für Politische Schönheit. Binnen 48 Stunden nach Interventionsbeginn hatten sich der Zentralrat der Juden in Deutschland, das Internationale Auschwitz Komitee (IAK) Berlin, die Jewish Claims Conference und prominente jüdische Stimmen gegen die Aschesäule ausgesprochen. Dabei reichten die Reaktionen vom sachlichen Tweet des Zentralrats, dass die Verwendung von Asche in der Schoah Ermordeter eine Verletzung religiöser Gebote des Judentums und eine Instrumentalisierung der Toten sei, bis zu Zuspitzungen, etwa durch den Publizisten Eliyah Havemann: »Da ist vielleicht auch die Asche meines Großvaters mit drin und das erschaudert mich.«3 Die Kritik richtet sich nicht nur gegen die Verwendung der Bodenprobe, was nach jüdisch-talmudischem Recht verboten ist, sondern auch – deutlich emotionaler artikuliert – gegen

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den übergriffigen Umgang mit den Angehörigen der Ermordeten. So wirft beispielsweise die Journalistin Dinah Riese dem ZPS die Aneignung des Gedenkens an die Toten vor: Sie erklärt, jüdische Familien bräuchten »dafür keine Anleitung eines deutschen Kunstkollektivs.«4 Die Reaktionen problematisieren also auch das Ein- und Übergreifen auf Kontexte, die außerhalb des Kunstfeldes und des öffentlichen, dominanzgesellschaftlichen Zugriffs liegen. Als Reaktion auf den massiven öffentlichen Druck der deutsch-jüdischen Community, vor allem in den sozialen Medien, publizierte das Zentrum eine Stellungnahme und widmete die Säule um. Weitere, ähnlich konzipierte Installationen in Chemnitz, Halle und Arnstadt5 wurden abgebaut, die Crowdfunding-Kampagne zur Intervention abgebrochen, eine geplante Kundgebung, der »Zapfenstreich gegen die AfD«6, abgesagt und das Zentrum übergab die Bodenprobe der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands.7 Die Säule jedoch, der Stein des Anstoßes, blieb stehen, wenn auch in veränderter, umkonzipierter Form. Schließlich betonierte das ZPS sie sogar noch ein und veranschaulichte mit dieser symbolträchtigen (Inszenierungs-) Entscheidung, dass die Kurskorrektur nicht als Abbruch der Intervention zu verstehen sei. Diese ersten kritischen Reaktionen auf Sucht nach uns! entsprechen der bereits skizzierten völkerrechtlichen Perspektive auf Interventionen: Sie lehnen die Intervention als unzulässige Einmischung ab, wofür moralische und religiöse Gründe angeführt werden. Diese öffentliche Entrüstung ist nachvollziehbar – als künstlerischem Akt hingegen kann Sucht nach uns! nicht ›die Legitimität‹ abgesprochen werden. Im Folgenden werde ich einen kurzen Überblick über den völkerrechtlichen Interventionsdiskurs geben, um daraus eine dramaturgische Analyse von Sucht nach uns! zu entwickeln. Zentrale These ist dabei, dass die Versuche des ZPS, die Übergriffigkeit seiner Intervention zu kaschieren oder zu nivellieren, letztlich zu ihrem Scheitern führen. Damit soll weder die inhaltliche Problematik des Beispiels relativiert, noch künstlerischen Interventionen ihr Wirkungspotenzial abgesprochen werden. Ganz im Gegenteil, der völkerrechtliche Perspektivwechsel soll beides umso schärfer hervortreten lassen.

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Problematiken des völkerrechtlichen Interventionskonzepts

Der Rechts- und Staatstheoretiker Emer De Vattel prägt 1758 das moderne völkerrechtliche Verständnis der Intervention. Dabei verfolgt er das Ziel, rechtsphilosophische Grundlagen für die neu entstehenden Nationalstaaten zu schaffen und ihre Souveränität vor interventionistischen Verletzungen zu schützen. Entsprechend konzeptioniert er die Intervention über ihr Verbot: Schließlich ist, bei allen diesen Sachen, die niemanden, außer die Nation selbst betreffen, keine ausländische Macht im Recht, sich dort einzumischen, noch darf sie anderweitig eingreifen als durch Streitschlichtung, umso weniger, wenn sie dazu nicht angefordert wurde oder wenn sie nicht besondere Gründe dorthin rufen. Wenn sich jemand in die inneren Angelegenheiten einer anderen [Nation] einmischt, oder wenn er es unternimmt, auf sie Zwang in ihren Beratungen auszuüben, tut er ihr Unrecht.8 Im Zentrum von de Vattels Interventionsverständnis stehen also die Einmischung in Einflussbereiche und Machtsphären Anderer und deren Illegitimität, wobei er jedoch bereits Ausnahmen andeutet. Außerdem setzt er Interventionen keinesfalls mit militärischem Eingreifen gleich; denn das zweite bestimmende Merkmal einer Intervention ist das Erzwingen von Reaktionen, das Ausüben von Druck auf politische Prozesse. Man kann es auf folgende Formel bringen: Keine Reaktionen – keine Intervention. De Vattels Ansatz ist überraschend aktuell: 1945 wird mit dem Gewaltverbot in der UN-Charta die Illegitimität militärischer Interventionen erstmals geltendes Völkerrecht und schließlich verabschiedet die UN 1981 ein allgemeines Interventionsverbot, das den Begriff ähnlich weit fasst wie de Vattel. Spätestens seit dem Militäreinsatz der NATO im Kosovo 1999 ist jedoch die Frage nach möglichen Ausnahmen ins Zentrum der völkerrechtlichen Debatte gerückt. Zentrale Legitimationsstrategie ist dabei die Doktrin der humanitären Intervention, die das punktuelle, zeitlich begrenzte Eingreifen neutraler Dritter zur Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründen soll. Die humanitäre Intervention wird als letztes Mittel in Krisensituationen propagiert, ist jedoch bis heute nicht geltendes Recht, sondern eine umstrittene Argumentation zur Rechtfertigung völkerrechtswidriger Akte. Im völkerrechtlichen Begriffskontext ist eine Intervention also eine Einmischung in einen

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Bereich, der außerhalb des eigenen Einflussgebiets liegt und im Sinne des Interventionsverbots – bis auf wenige Ausnahmen, nämlich die Intervention auf Einladung, mit Autorisierung der UN oder zum Schutz eigener Staatsangehöriger – ein illegitimer Akt.9 Das Übergriffige und Illegitime als Merkmale der Intervention spiegeln sich auch in der Kritik am Zentrum für Politische Schönheit wider – insbesondere im Vorwurf der Arroganz und Selbstermächtigung. Im Zuge von Sucht nach uns! waren etwa Formulierungsvarianten wie »Selbstbesoffenheit«10 oder »pure Selbstgerechtigkeit«11 zu lesen. Havemann nannte die Antwort des ZPS auf seine Kritik »selbstgerecht, arrogant, uneinsichtig, plump und ein bisschen dumm«12. Das ZPS seinerseits bedient sich eines militärischen Vokabulars, um seine Arbeit am »aggressive[n] Humanismus« zu beschreiben: eine »Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit«, die mit der Formel »Moral als Waffe« die (klassen-)kämpferische Agitprop-Parole »Kunst ist Waffe« 13 anklingen lässt.14 Wenn es sich bei Interventionen völkerrechtlich um die Ausübung von Zwang und Druck handelt, stellt sich für politische Kunst und Performance die entscheidende Frage, wessen Reaktionen erzwungen werden sollen. Während aktivistische oder künstlerische Interventionen, die Druck auf politische Entscheidungsträger:innen ausüben, gegenhegemoniale, widerständige Strategien verfolgen, setzt das ZPS mit Sucht nach uns! nicht die Repräsentant:innen von Macht und Mehrheit, sondern eine Minderheit unter Reaktionsdruck. Vertreter:innen der jüdischen Community verurteilen das Ausstellen der Bodenprobe, empörte Reaktionen von konservativen Politiker:innen, die bei früheren Interventionen des ZPS entscheidend zum Generieren von Öffentlichkeit beigetragen haben,15 bleiben diesmal hingegen aus. Dabei hätte die Adressierung an die Unionsparteien kaum klarer sein können: Teil der Installation im Regierungsviertel ist eine Inschrift mit den Namen aller ihrer Bundestagsabgeordneten, die dort zukünftigen Kooperationen mit der AfD abschwören sollten. Zudem platzierte das ZPS den Grabstein des konservativen Politikers Franz von Papen, der als letzter Reichskanzler der Weimarer Republik mit Hitler paktierte, vor der CDU-Bundesgeschäftsstelle in Berlin.16 Aber diese Provokationen stehen in einem Missverhältnis zur Transgression gegenüber der jüdischen Kultur, wie auch der Publizist und Satiriker Leo Fischer kritisiert: »In Wirklichkeit war nichts an der Aktion geeignet, Konservative oder gar Rechte zu irritieren. Schockiert hingegen zeigten sich Opferorganisationen und jüdische Einzelpersonen«17. Diesen Vorwurf scheint das ZPS im Nachhinein auch einzusehen, wenn es in seiner

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Stellungnahme erklärt, man habe »den zentralen Wirkungsaspekt [der] Arbeit nicht im Vorfeld erkannt«18. Sucht nach uns! ist nicht die erste Intervention des Zentrums, die Minderheiten und marginalisierte Gruppen zum Gegenstand hat, während sie gleichzeitig auf eine dominanzgesellschaftliche Perspektive fokalisiert bleibt. Waren das bei früheren Interventionen Flüchtende und Geflüchtete, sind es bei Sucht nach uns! Jüdinnen und Juden, Nachfahren von Überlebenden der Schoah – und damit eine Minderheit, die in der deutschen Öffentlichkeit Gehör findet. Erstmals tritt eine Gruppe in Erscheinung, die sich gegen das Übergriffige, potenziell Bevormundende, in jedem Fall Instrumentalisierende der Interventionen des ZPS zur Wehr setzen kann. Das ZPS wird in gewisser Weise mit seinen eigenen Waffen geschlagen: Die Gegenstimmen generieren Öffentlichkeit. Es findet also eine diskursive Gegenintervention statt, die schließlich in einem inszenierten Demontageversuch kulminiert: Eliyah Havemann und das »Aktions-Künstler-Komitee (AKK) Vorschlaghammer« versuchen, die inzwischen umgestaltete Stele abzubauen, werden jedoch nach kurzer Zeit von der Polizei aufgehalten.19 Die Vorstellung, dass eine Intervention um ihrer Legitimierbarkeit willen durch eine unbeteiligte Partei erfolgen müsse, stellt eine letzte gemeinsame Problematik des völkerrechtlichen Begriffsverständnisses und der Arbeit des Zentrums für Politische Schönheit dar. Am Selbstverständnis des ZPS lässt sich ein Neutralitätsphantasma ablesen, für das die Selbstverortung als Künstler:innen, nicht als Aktivist:innen, zentral ist. Das ZPS verweigert sich der politischen Parteinahme, es benennt zwar klar seine Gegner:innen – bei Sucht nach uns! die AfD und die Unionsparteien – bildet aber keine Allianzen und kooperiert auch nicht, etwa mit Betroffenenverbänden oder Aktivist:innengruppen. Das wird bei Sucht nach uns! wiederholt als Problem beschrieben, beispielsweise in einem Kommentar der jüdischen Journalistin Dinah Riese mit dem vorwurfsvollen Titel »Wozu die Lebenden fragen?«20 Zudem dementierte der Zentralrat der Juden in Deutschland die Behauptung des ZPS, man habe sich im Vorfeld abgesprochen.21 Die völkerrechtliche Perspektive ermöglicht einen neuen Blick auf künstlerische Interventionen: Sucht nach uns! zeigt als Negativbeispiel auf, wie sich die Übergriffigkeit und Aggressivität, das Legitimierungsproblem und das Neutralitätsphantasma völkerrechtlicher Interventionen auch in der Dramaturgie künstlerischer Interventionen spiegeln. Der häufige Vorwurf, das ZPS trete arrogant auf und agiere selbstgerecht, kann unter diesem Blickwinkel auch anders gelesen

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werden: als Artikulation des Unbehagens an der Form der theatralen Intervention selbst.

Das Legitimitätsproblem künstlerischer Interventionen

Sucht nach uns! verfolgt ein ganzes Bündel von Authentifizierungsund Beglaubigungsstrategien, darunter (Pseudo-)Wissenschaftlichkeit, Materialfülle sowie Berufung auf historische und gegenwärtige ­Autoritätsfiguren und Ablasshändler:innen. Das ZPS versucht durch eine historische Studie,22 eine gut 200-seitige Zusammenstellung von Zeugnissen Ermordeter mit dem Titel An die Nachwelt23 sowie die Nennung der Zahlen von insgesamt 248 Bodenproben an 23 Orten, von denen wiederum 175 positiv auf menschliche Überreste getestet worden seien,24 den Eindruck von Wissenschaftlichkeit zu vermitteln. In Bezug auf das Anrufen historischer Autoritätsfiguren ist zuvorderst die aneignende Selbsteinschreibung in die »Tradition Emanuel Ringelblums« und seines Untergrundarchivs des Warschauer Ghettos zu nennen, die das ZPS im Vorwort zu An die Nachwelt vornimmt.25 Als zentrale Beglaubigung seiner Intervention setzt das ZPS jedoch die Asche selbst ein. Es wird suggeriert, dass die Evidenz des Ausstellens, die Evidenz der unmittelbaren Erfahrung, die Betrachter:innen gewissermaßen sinnlich gegen rechtsextreme Einflüsse immunisiere. Noch im August 2020 bezeichnet Philip Ruch die Asche in einer verblüffend esoterischen Wendung als »Kraftquelle« und behauptet, als solche hätten sie diejenigen erfahren, die ihrer leibhaftig vor Ort ansichtig geworden seien.26 Das ZPS legitimiert seine Intervention als »Auftrag der Toten«27. Allerdings beruft es sich dabei auf manipulierte, verfälschte Zitate von Angehörigen der Sonderkommandos, die in Auschwitz-Birkenau die Krematorien betreiben mussten. Die Autoren waren Teil der Widerstandsorganisation im Lager und dokumentierten die Abläufe und Details der Vernichtungsmaschinerie, wollten sie für die Nachwelt überliefern, besonders als Beweismaterial zur Verurteilung der Mörder. Um sicherzustellen, dass zumindest ein Teil ihrer Dokumente gefunden wird, fertigten sie so viele Aufzeichnungen wie möglich an und vergruben sie auf dem Gelände der Krematorien verteilt in Feldflaschen, Konservengläsern und ähnlichen Behältnissen. »Suchet weiter, ihr werdet noch mehr finden« schrieb aus diesem Grund einer von ihnen, Salmen Lewenthal, kurz vor seiner Ermordung 1944. Filip Müller, der das Lager überlebte, zog 1979 das Fazit »Wir

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haben dafür gesorgt, dass man sich in diese Erde graben würde«28. Beide Zitate beziehen sich unmissverständlich auf die in Auschwitz-­ Birkenau vergrabenen Dokumente. Das ZPS nutzt die Zitate in seinem »Bekennervideo« allerdings in einem gänzlich anderen Kontext und suggeriert mit der Montage, sie bezögen sich auf die Asche der Ermordeten, nach der gesucht werden solle.29 Auf seiner Homepage verwendet das ZPS zudem ein Zitat von Salmen Gradowski, einem weiteren Mitglied des Sonderkommandos und der Widerstandsgruppe: »Teurer Finder, suche überall, auf jedem Zollbreit Erde. Sucht in der Asche. Die haben wir verstreut, damit die Welt sachliche Beweisstücke von Millionen von Menschen finden kann.« Was wie eine sehr starke Legitimation für das umstrittene Vorgehen des Künstlerkollektivs klingt, ist schlicht eine Fälschung. Das Zitat wurde rekontextualisiert, unmarkiert und verfälschend gekürzt und mit einem zweiten Textfragment montiert.30 Gradowski ruft dazu auf, man möge nach der Befreiung des Lagers auf dem Gelände der Krematorien graben und die versteckten Dokumente finden, keineswegs zur Bergung menschlicher Überreste. Zudem verstreuten die Mitglieder des Sonderkommandos keine Asche, sondern vergruben lediglich einige Zähne, die sie während der Spurenvernichtung vor der Knochenmühle bewahren konnten. Diese Zähne sollten die Dokumente beglaubigen und als Beweise des Völkermords dienen. Das ZPS aber nutzt die manipulierten Zitate als Legitimation für seine Bodenprobensammlung und das Ausstellen positiv beprobter Bohrkerne im Jahr 2020. Die Strategie des Zentrums geht auf. Der Journalist Jan Kedves paraphrasiert das gefälschte Zitat ungeprüft in der S ­ üddeutschen Zeitung: Die Intervention sei nicht pietätlos, denn Gradowski habe ja gewollt, dass man nach seiner Asche suche.31 Aber auch zeitgenössische Stimmen werden vom ZPS genutzt, um die Intervention gegen Kritik zu immunisieren. Die wohl prominentesten sind der Historiker Götz Aly und Lea Rosh, die umstrittene Initiatorin des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Rosh unterstützte die Intervention und erklärte gegenüber Spiegel Online, sie sei »bewegt und angefasst« und die Aschesäule sei »tiefer als unser Holocaustmahnmal es ist«32. Dabei ist Rosh eine problematische Fürsprecherin: 1995, als der Zentralrat der Juden in Deutschland den ersten, nicht realisierten Entwurf des Denkmals kritisierte, schmetterte die Nichtjüdin Rosh jede Kritik von jüdischer Seite ab: »Halten Sie sich da raus, die Nachkommen der Täter bauen das Denkmal, nicht die Juden. Aber es wäre schön, wenn Sie nicken könnten.«33 Trotz dieser ausgesprochen taktlosen Äußerung – und es sollte k ­ eineswegs

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bei dieser einen bleiben34 – war Rosh weiterhin als Vorsitzende des Förderkreises federführend an der Realisierung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas beteiligt. Ihr offen zur Schau gestelltes Desinteresse an Kritik von jüdischer Seite übertraf Rosh noch mit ihrer Missachtung talmudischer Gesetze bei der feierlichen Eröffnung des Denkmals im Mai 2005: Sie präsentierte einen Backenzahn aus dem Vernichtungslager Bełżec. Fast zwanzig Jahre lang habe sie den Zahn bei sich zu Hause aufbewahrt und wollte ihn nun in eine der Stelen einbetonieren lassen.35 Fünfzehn Jahre später führte Philipp Ruch diesen Zahn, Lea Roshs morbides Souvenir, als »Inspiration für ›Sucht nach uns‹« an.36 Die Reaktion des damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, auf Roshs Vorschlag entspricht ziemlich genau den Einsprüchen gegen Sucht nach uns!: Er erklärte, Roshs Pläne seien »äußerst pietätlos« und verstießen zudem gegen jüdische Gesetze. Rosh hätte den Zahn an eine jüdische Gemeinde übergeben und sich rechtzeitig erkundigen müssen, ob sie »die Gefühle jüdischer Menschen verletzt«37. Damit entspricht die Debatte um die Aschesäule des Zentrums in ihren Kernpunkten nicht nur Spiegels Argumentation, sie erscheint beinahe als deren Reenactment. Schließlich gab Rosh nach und kündigte an, den Zahn an die Gedenkstätte in Bełżec zurückzugeben, um ihn dort nach religiösen Gesetzen und Riten beisetzen zu können.38 Rosh hat also bereits 2005 einer breiten (deutschen) Öffentlichkeit den Kontrast zwischen dem jüdischen Verständnis von Totenruhe und katholischer Reliquienverehrung vor Augen geführt. Ihr Handeln und ihre Aussagen müssen als Beispiele dafür gelten, wie das Ritual der sogenannten Vergangenheitsbewältigung über das Empfinden und Gedenken der Jüdinnen und Juden gehoben wird. Wenn das ZPS angibt, Rosh als Inspiration genutzt zu haben, bleiben eigentlich nur zwei Lesarten: Entweder es handelt es sich um umfassende historische Ahnungslosigkeit oder die strategische Instrumentalisierung nicht nur der Asche selbst, sondern auch der voraussehbaren, fast schon zwangläufigen Reaktionen aus der jüdischen Community.

Unkontrollierbarkeit, Verstrickungen und Schlingerkurs

Die soziologische Interventionsforschung hat in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt reflektiert, dass Interventionen komplexe Reaktionsverkettungen auslösen können. Interventionen sind schwer kalkulier- und planbare Prozesse, die sich durch eine hohe Eigen-

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dynamik auszeichnen.39 Die Reaktionen können sich dabei auch als Gegeninterventionen gestalten, die sich konträr zur Strategie der Intervenierenden verhalten und deren Ablaufplan durchkreuzen. Sucht nach uns! kann als prototypisches Beispiel dafür gelten, dass dies auch für künstlerische Interventionen gilt. Dem ZPS entgleitet zusehends die Kontrolle über Ablauf und Dramaturgie der eigenen Intervention, es muss reagieren statt agieren. Dieser Kontrollverlust lässt sich unter anderem am ›Schlingerkurs‹ des Kollektivs ablesen: Mehrmals wechselt im Verlauf der Intervention die Strategie, mit der das Zentrum der sich wiederholt neu entzündenden Kritik begegnet. Unmittelbar nach der Enthüllung der Säule, am ersten und zweiten der Tag der Intervention, verfolgt das ZPS eine Strategie der Aufdeckung und Transparenz mit der Veröffentlichung von FAQs. Es wird beispielsweise offengelegt, dass es sich bei den Videoaufnahmen von einer Tiefenbohrung und Baggerarbeiten im »Bekennervideo« des ZPS um beliebiges Stock Footage und nicht um die Dokumentation von Grabungen im Rahmen von Sucht nach uns! handelt. Zudem dementiert das ZPS, dass die Asche in der Säule aus Auschwitz stamme,40 wie es etwa die Süddeutsche Zeitung berichtet hatte.41 Schließlich folgt am 4. Dezember 2019 eine »Stellungnahme« des ZPS: Die Entschuldigung und das Eingeständnis von Fehlern sind darin jedoch derart eng mit einer Verteidigung der Intentionen des Künstler:innenkollektivs, mit dem Beharren auf der moralischen Legitimität seiner Interventionsgründe verwoben, dass eine deeskalierende Wirkung ausbleibt.42 Doch auch daraufhin bricht das Zentrum die Intervention keineswegs vollständig ab: Die entkernte Aschestele wird uminterpretiert zur »Schwursäule«, an der man Feinden der Demokratie den Tod schwören könne.43 Sie bleibt danach noch fast anderthalb Monate bis zum 16. Januar 2020 stehen. Laut Ruch sind Umbau und Umdeutung der Stele problem- und restlos möglich: »Wir haben die Gedenkstätte völlig neu konzipiert. Jetzt hat sie nichts mehr mit der Schoah zu tun.«44 Die Umgestaltung der Installation wird jedoch minimalinvasiv umgesetzt. Laut ZPS sei die Bodenprobe aus der Säule entfernt worden, doch überprüfbar ist das nicht: Das Sichtfenster der Säule wird mit schwarzem Stoff abgedeckt. Das Kunstwerk, das Vergangenes wieder sichtbar machen sollte, wird nun selbst verhüllt und vertuscht. Die ursprüngliche Funktion der Säule bleibt aber weiterhin erkennbar, markiert durch den materiellen Kontrast zwischen Stahl und Stoff. Die Bewältigung der eigenen jüngsten Vergangenheit will dem ZPS auch im Folgenden nicht gelingen: Trotz der Kritik an der ausstellenden Geste zeigt es nach wie vor detailscharfe Fotos der ­ursprünglichen

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Aschesäule auf seiner Webseite.45 Darüber hinaus verwendet die Gruppe im Zusammenhang mit der Einbetonierung der umkonzipierten Säule am 7. Dezember 2019 den nationalsozialistisch konnotierten Begriff »Sonderbetonkommando«.46 Darauf hingewiesen, dass so wieder ein Auschwitz- und NS-Bezug hergestellt werde, reagierte die Gruppe, indem sie historisches Unwissen vorgab,47 und das, obwohl »Sonderkommando« in ihrer eigenen Publikation Die Wege der Asche mit hoher Frequenz verwendet wird. Dass die Diskussion so lange schwelt und gut einen Monat nach Interventionsbeginn, am 5. Januar 2020, ein Abbauversuch der umgestalteten Säule unternommen wird, liegt nicht nur am Thema, sondern am Agieren und Lavieren des ZPS, an seinem Verhalten innerhalb der komplexen Reaktionsverkettungen, die für Interventionen charakteristisch sind. Die Interaktion mit Kritiker:innen zeichnet sich ebenso wie die Stellungnahme durch eine bemerkenswerte Beharrlichkeit aus, mit der das ZPS die Legitimität der Intervention behauptet: So tweetet das ZPS etwa: »Wir hoffen, dass die Angehörigen wertschätzenkönnen das [sic!] wir die Opfer des Holocaust der Lieblosigkeit entrissen haben.«48 Darüber hinaus löscht das ZPS kritische Kommentare in seinen Social-Media-Kanälen und blockt die Autor:innen, beispielsweise den jüdischen Künstler Leon Kahane49. Auch bleibt der offene Brief Andrej Hermlins, der gegen die Verwendung von Auszügen aus dem Gedicht »Die Asche von Birkenau« seines Vaters Stefan Hermlin protestiert, unbeantwortet.50 Das Zentrum für Politische Schönheit nimmt durch die Selbst-­ Interpretation seiner Interventionen im Sinne eines »erweiterten Theaterbegriff[s]«51 die Reaktionen der Öffentlichkeit als Teil ihrer Dramaturgie in Anspruch. Durch die Einbindung von Zitatensammlungen in die retrospektiven Darstellungen der Interventionen impliziert die Webseite des ZPS, das Künstlerkollektiv habe Kontrolle über die Eskalation der von ihm generierten Diskussionen, Reaktionsverkettungen und Öffentlichkeiten. Während das ZPS bei seinen früheren Interventionen die Reaktionen – selbst wenn diese kritisch waren oder sie zu verhindern suchten – zum allergrößten Teil integriert, tut es das in diesem Fall nicht. In das Narrativ der Intervention Sucht nach uns!, wie es die Webseite der Gruppe präsentiert, ist zwar die Entschuldigung und die Umgestaltung der Säule aufgenommen, es fehlt jedoch der Abbauversuch. Die Homepage der Gruppe verschleiert also den tatsächlichen Verlauf der Intervention, indem sie einen Teil der Reaktionen unterschlägt. Neben Havemanns Gegenintervention fehlen auch viele der kritischen Kommentare, beispielsweise von Stella Hindemith,

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einer Enkelin, und Mirna Funk, einer Urenkelin Stefan Hermlins, oder der in diesem Aufsatz mehrfach zitierten Dinah Riese. Obwohl diese Beiträge in der Jüdischen Allgemeinen, der Süddeutschen Zeitung und der taz erschienen sind, werden sie nicht nur in der Zitatensammlung, sondern auch in der Presseschau auf der Webseite des ZPS ausgespart. Zwar ignorierte das ZPS auch in der Vergangenheit kritische Stimmen in Bezug auf die Instrumentalisierung von Geflüchteten, jedoch entstand durch das Ausbleiben eines dadurch ausgelösten Skandals kein derart starker Eindruck eines aktiven Ausblendens. Beim Ersten Europäischen Mauerfall etwa nahm das ZPS die vielen Polizist:innen, die am Maxim Gorki Theater und auf dem Weg zur Grenze in Bulgarien die Gruppe kontrollierten und schließlich aufhielten, in die theatrale Aufführung der Intervention auf: Inszenierte Fotografien zeigen beispielsweise, wie Philipp Ruch einen Bolzenschneider an die Polizei übergibt.52 Bei Sucht nach uns! ist das anders. Auf den Demontageversuch des Aktions-Künstler-Komitees (AKK) Vorschlaghammer am 5. Januar 2020 reagierte das ZPS lediglich mit einem hämischen Tweet: »#Fail:20 ›Aktionskünstler‹ versuchen, Kunst abzureißen. Erst versagt Vorschlaghammer, dann Flex, dann Versuch umzustoßen. Nach 38 min kommt Polizei. […] Wir bieten AKK kostenlos Nachhilfe an.«53 Dabei wäre der Initiator, Eliyah Havemann, mit seinen polemischen Formulierungen und seiner theatralen Reaktion eigentlich der perfekte Antagonist des ZPS, er argumentiert und inszeniert ähnlich drastisch. Er nimmt für sich sogar in Anspruch, mit der Zerstörung der Säule die eigentliche Botschaft der Intervention, die Warnung vor Kooperationen mit der AfD an die Adresse der CDU/CSU, wieder in den Fokus gerückt zu haben – deshalb auch das Akronym AKK.54 Anders als Schlingensiefs Bitte liebt Österreich, integriert das ZPS die Gegenintervention nicht dramaturgisch. Im Gegensatz zu ihrem Vorbild,55 dessen Container Gegendemonstrant:innen stürmten und das Banner »Ausländer raus« entfernten, lässt das ZPS Havemann nicht gewähren. Auch die Reaktion des ZPS auf den Abbauversuch ist von einem gewissen Lavieren geprägt: Knapp eine Woche nach dem spöttischen Tweet erklärt Ruch: »Über diesen Protest diskutieren wir gerade intensiv. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass wir jetzt darauf beharren, die Stele dort stehen zu lassen.«56 Tatsächlich entfernt das ZPS die Säule drei Tage später, am 16. Januar. Ruch gibt nun aber an, man habe dem behördlichen Abbau zuvorkommen wollen.57 Gelang es dem Zentrum in seinen früheren Interventionen, verschiedenste Reaktionen von Polizeieinsätzen bis zu kritischen Wortmeldungen zu integrieren und so die Dramaturgie, die ­Handlung

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der Intervention weiter voranzutreiben, ist dies bei Sucht nach uns! nicht der Fall. Genau aus diesem Grund muss das Beispiel auch als gescheiterte künstlerische Intervention gelten: Der öffentliche Diskurs, der sich als Reaktionsverkettung auf die erste illegitime oder zumindest übergriffige Transgression entspinnt, wird im weiteren Verlauf der Intervention nicht integriert, sondern zu umschiffen und auszublenden versucht. Havemann mag mit einem Vorschlaghammer auf die Stele losgegangen sein, mit dem Versuch, den Diskurs zu übertönen oder zu verhindern, ging die eigentliche Zerlegung jedoch vom ZPS selbst aus. Für Sucht nach uns! bedeutet das neben einem (gedenk-) politischen auch ein dramaturgisches Scheitern, denn die evozierten Reaktionen sind konstituierender Bestandteil künstlerischer Interventionen. Allein der Versuch, die Reaktionen zu nivellieren, demontiert also Form und Anspruch der künstlerischen Intervention. Die somit gescheiterte Intervention zeigt, dass das ZPS seine Arbeiten nicht als ergebnisoffene Prozesse versteht, die eine interventionistische Eigendynamik entwickeln. Den reagierenden Akteur:innen wird innerhalb der Intervention nur ein sehr begrenzter Handlungsspielraum zugestanden und Reaktionen werden entweder vereinnahmt oder – wie in diesem Fall – aus der abschließenden Gesamtdarstellung ausgeblendet. Dadurch wird der Eindruck vermittelt, das ZPS halte an einem vor Interventionsbeginn ausgearbeiteten Narrativ, zu einem gewissen Grad sogar an einer Dramaturgie fest. Das Zentrum versucht also bestimmte, vorab kalkulierte Reaktionen dramaturgisch zu erzwingen. Ganz im Sinne eines engen, völkerrechtlich (miss)verstandenen Interventionsbegriffs verkennt es dabei allerdings die Komplexität von Interventionen als Reaktionsverkettungen, wie sie die Interventionssoziologie bestimmt hat. Damit hat das Zentrum seinem künstlerischen wie politischen Wirkungspotenzial massiv geschadet und ironischerweise den unerwünschten Diskurs weiter befeuert.

Fazit

Sucht nach uns! ist übergriffig, grenzüberschreitend und verletzend, was in moralischer, aber nicht in künstlerisch-dramaturgischer Hinsicht ein Kritikpunkt sein kann. Die Kritik von progressiver und jüdischer Seite bedeutet ›nur‹ ein Scheitern der ostentativ moralischen Mission des Künstler:innenkollektivs. Das analysierte Beispiel erfüllt zahlreiche Merkmale der völkerrechtlichen Begriffsbestimmung von

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Interventionen und zeigt damit die Problematik und Ambivalenz des Konzepts. Völkerrechtlich betrachtet sind Interventionen Eingriffe in die Souveränitätsrechte Anderer, das Agieren jenseits des eigenen legitimen Hoheitsgebiets, das Ausüben von Druck und das Erzwingen von Reaktionen. Auch theatrale Interventionen wie die des Zentrums für Politische Schönheit agieren jenseits des konventionellen Kunstfelds, müssen sich Legitimitätsdebatten stellen und erzwingen Reaktionen. Der Versuch des ZPS, sich gegen die Reaktionen auf Sucht nach uns! zu stellen, untergräbt die Dynamik und Prozesshaftigkeit, die jeder Intervention inhärent ist. Interventionen realisieren sich in komplexen Reaktionsverkettungen, sie sind auf Reaktionen oder – kunstwissenschaftlich gesprochen – auf Partizipation angewiesen. In der Negierung dieser partizipativen Prozesshaftigkeit von Interventionen durch das ZPS liegt also das künstlerische Scheitern von Sucht nach uns!. Als inhärent übergriffigen Akten wohnt allen künstlerischen Interventionen ein Risiko inne, als aggressive Praxis wahrgenommen zu werden. Dies gilt nicht nur für provokante, in ihrem Gestus dem Agitprop nahestehende Interventionen wie die des Zentrums für Politische Schönheit. Es trifft ebenso auf ko-operative Interventionen, beispielsweise in den Bereichen Theater for Development oder Social Art zu. Auch hier besteht immer die Möglichkeit, dass der interventionistische Gestus übergriffig wird: Reaktionen und Beiträge können übergangen oder ausgeschlossen werden, affiliierte Gruppen instrumentalisiert oder Methoden oktroyiert. Künstlerische Interventionen sind also nicht per se eine kritische, subversive, gegenhegemoniale Praxis, sondern laufen stets Gefahr, ins Gegenteil umzuschlagen. 1 Zentrum für Politische Schönheit: »Sucht nach uns«, Video, in: Youtube, 1. D ­ ezember 2020. bit.ly/3dneJjU, 00:02:08 (Zugriff am 9. Oktober 2020). 2 Der Ablauf von Sucht nach uns kann mithilfe der Homepage des ZPS, der Facebook- und Twitter-Posts der Gruppe im Dezember 2019 und Januar 2020 sowie der in den weiteren Anmerkungen genannten Presseberichte nachvollzogen werden. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die vom ZPS selbst editierten Quellen die Kritik an Sucht nach uns nicht angemessen wiedergeben. Zentrum für Politische Schönheit: »Sucht nach uns«. https://politicalbeauty.de/ sucht-nach-uns.html (Zugriff am 23. September 2020), Zentrum für Politische Schönheit, in: Facebook. https://de-de.facebook.com/politische.schoenheit (Zugriff am 23. September 2020), Zentrum für Politische Schönheit (@politicalbeauty), in: twitter. https://twitter.com/politicalbeauty (Zugriff am 11. Oktober 2020). 3 Einen Überblick über die erste Welle jüdischer Reaktionen gibt ag/ppe: »­Skandalöse Störung der Totenruhe«, in: Jüdische Allgemeine, 3. Dezember 2019. bit.ly/312e6am (Zugriff am 20. September 2020). 4 Riese, Dinah: »Wozu die Lebenden fragen?«, in: taz, 3. Dezember 2019. bit.ly/2SQH8VY (Zugriff am 21. September 2020). 5 Vgl. Wildermann, Patrick: »Weitere Installationen zu umstrittener Kunstaktion aufgetaucht«, in: Der Tagesspiegel, 5. Dezember 2019. bit.ly/2SMFNiS (Zugriff am 12. Oktober 2020).

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6 Zentrum für Politische Schönheit: »Stellungnahme«. bit.ly/2H2Vf8g (Zugriff am 11. Oktober 2020). 7 Das ZPS bedankt sich über Twitter bei der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD), vgl. Zentrum für Politische Schönheit (@political beauty): »Wir danken der orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland für ihre Hilfe«, 6. Dezember 2019. bit.ly/3nKkM6U (Zugriff am 11. Oktober 2020). Die ORD, die das ZPS öffentlich kritisiert und dazu aufgefordert hatte, einen Rabbiner hinzuzuziehen, widersprach nicht. Vgl. Jüdische Allgemeine: »Missbrauch unserer Toten«, 4. Dezember 2019. bit.ly/33TH6CY (Zugriff am 11. Oktober 2020). 8 Vattel, Emer de: Le Droit Des Gens. Ou Principes De La Loi Naturelle, Appliqués à la conduite & aux affaires des Nations & des Souverains, Bd. 1 [2 Bde.], Londres 1758, note 208, Liv. I, § 37, S. 38, übers. SN. Leider liegt keine aktuelle Übersetzung dieses Textes vor, der zuletzt 1959 ins Deutsche übertragen wurde (Vattel, Emer de: Le droit des gens ou principes de la loi naturelle: appliqués à la conduite et aux affaires des nations et des souverains. Das Völkerrecht oder Grundsätze des Natur­ rechts, angewandt auf die Angelegenheiten der Staaten und Staatsoberhäupter, übers. von Wilhelm Euler, Tübingen 1959). 9 Gray, Christine: International Law and the Use of Force, New York 2008. 10 Twickel, Christoph: »Zentrum für Politische Schönheit. Diktatur der Anständigen«, in: Zeit Online, 17. Dezember 2019. bit.ly/3jT7qmv (Zugriff am 21. September 2020). 11 Riese, Dinah: »Wozu die Lebenden fragen?« 12 Havemann, Eliyah: »Die Asche meines Großvaters«, in: Jüdische Allgemeine, 8. Januar 2020. bit.ly/2H0AN7G (Zugriff am 21. September 2020). 13 Vgl. z.B. Wolf, Friedrich: »Kunst ist Waffe!«, in: Hoffmann, Ludwig/­HoffmannOstwald, Daniel: Deutsches Arbeitertheater 1918 – 1983. Berlin 1961, S. 303 – 304. 14 Zentrum für Politische Schönheit: »Über das ZPS«. bit.ly/2SO6xQb (Zugriff am 11. Oktober 2020). 15 Zur Generierung von Öffentlichkeit durch die Interventionen des ZPS vgl. meine Dissertation Von Agitprop bis Artivismus. Theatrale Interventionen und agonale Öffentlichkeiten, Dissertation, LMU München: Fakultät für Geschichtsund Kunstwissenschaften 2017. 16 Fotos des Grabsteins vor der Parteizentrale werden in zahlreichen Medien veröffentlicht. Die Welt zeigt zusätzlich ein Foto davon, wie die Berliner Polizei den Stein entfernt. Das Luxemburger Wort publiziert ein Foto des Grabs mit fehlender Platte (vgl. Gaschke, Susanne: »Erst Störung der Totenruhe – dann Grabschändung«, in: Welt, 7. Dezember 2019. bit.ly/3iBMt1z und Rüddell, Tom: »Aktivisten klauen Grabstein von Nazi-Wegbereiter von Papen«, in: Luxemburger Wort, 3. Dezember 2019. bit.ly/3czgTNZ (Zugriff jeweils am 12. Juni 2021). Es könnte sich dennoch – wie bei den Weißen Kreuzen – um eine Replik handeln. 17 Fischer, Leo: »Hämisches Gedenken. Leo Fischer über die neue Schamlosigkeit des Zentrums für Politische Schönheit«, in: Neues Deutschland, 7. Dezember 2019. bit.ly/3lF6ouJ (Zugriff am 22. September 2020). 18 Zentrum für Politische Schönheit: »Stellungnahme«. 19 Vgl. Bachner, Frank/Hofmann, Laura: »Polizei stoppt Abbau der Säule vor dem Reichstag«, in: Der Tagesspiegel, 5. Januar 2020. bit.ly/2SPfitu (Zugriff am 11. ­Oktober 2020). 20 Riese: »Wozu die Lebenden fragen?« 21 Jüdische Allgemeine: »Missbrauch unserer Toten«. 22 Höfling, Hinnerk: Die Wege der Asche. Eine quellenkritische Chronologie für das Interessengebiet Auschwitz. bit.ly/3iSpUSR (Zugriff am 9. Oktober 2020). 23 Zentrum für Politische Schönheit: An die Nachwelt. Letzte Nachrichten & Zeitzeug­ nisse von NS-Opfern gegen das Vergessen, 2. überarb. und erw. Aufl., Berlin 2020. 24 Zentrum für Politische Schönheit: »Sucht nach uns«, Video, 00:02:08. 25 Zentrum für Politische Schönheit: »Sucht nach uns«, Homepage, und dies.: An die Nachwelt, S. 9. 26 Welty, Ute: »Philipp Ruch vom ZPS über die Anti-Corona-Demo. ›Solange sie nur demonstrieren, müssen wir uns keine Sorgen machen‹«, in: Deutschlandfunk Kultur, 29. August 2020. bit.ly/34RsVh9 (Zugriff am 21. September 2020). 27 ZPS: »Sucht nach uns!«, Homepage.

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28 Eine Dokumentation der Zitatmanipulationen und Fälschungen findet sich im Blogeintrag 0X8000: »ZPS – Nachweise zur Verfälschung des Zitats von Salmen Gradowski und zur Dekontextualisierung weiterer Zitate«, 19. Januar 2020. bit.ly/2GWdRXt (Zugriff am 11. Oktober 2020). Ich habe die Zitate überprüft und gebe im Folgenden die Primärquellen an, um dem Verfallen des Links vorzubeugen: Lewenthal, Salmen: »Kommentar«, in: Bezwińska, Jadwiga/Świebocka, Teresa: Inmitten des Grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos, Oświęcim 1996, S. 192 – 197, hier S. 197 und Claude Lanzmann Shoah Collection: »Interview with Filip Müller«, Event: Spring 1979, Production: 1985, 02:28:20-40, United States Holocaust Memorial Museum, Accession Number 1996.166, RG Number: RG-60-5012, Film ID: 3207. 29 Zentrum für Politische Schönheit: »Sucht nach uns«, Video, 00:01:16 (Zitat ­Lewenthal) und 00:01:29 (Zitat Müller). 30 Im Folgenden gebe ich die originale Textstelle bei Gradowski wieder; die vom ZPS ausgelassenen Passagen sind durchgestrichen, die Ergänzung ist in eckigen Klammern hinzugefügt: »Teurer Finder, suche überall, auf jedem Zollbreit Erde. Unter ihr sind zehnerlei Dokumente eingegraben, von mir und von anderen, die ein Licht auf alles werfen, was hier geschehen ist. Auch eine Menge Zähne sind hier vergraben. [Sucht in der Asche.] Die haben wir, die Arbeiter der Kommandos, speziell auf dem Terrain verstreut, so viel man nur konnte, damit die Welt sachliche Beweisstücke von Millionen Menschen finden kann.« Gradowski, Salmen: »Der Brief«, in: Bezwińska/Świebocka; Inmitten des G ­ rauenvollen Verbrechens, S. 137 – 139, hier S. 138. Die Ergänzung »Sucht in der Asche« ist die deutsche Übersetzung des Titels der ersten polnischen Ausgabe von Aufzeichnungen des Sonderkommandos: Datner, Szymon/ Gumkowski, Janusz/Rutkowski, Adam: Szukajcie w popiołach. papiery znalezione w Oświęcimiu : zdjęcia ze zbiorów Glownej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce i Żydowskiego Instytutu ­Historycznego w Warszawie, Łódź 1965. 31 In der Süddeutschen wird die Fälschung des ZPS folgendermaßen reproduziert: »Das ZPS kann sich, trotz eventueller Vorwürfe der Pietätlosigkeit, darauf berufen, dass es Opfern des Holocausts und Widerstandskämpfern wie dem 1944 ermordeten Salmen Gradowski, zu Lebzeiten noch gelang, Notizen zu hinterlassen, in denen sie die Nachwelt instruierten, nach ihrer Asche zu suchen und mit ihr das Gedenken an die Millionen Ermordeten wachzuhalten.« Kedves, Jan: »Hier liegt die deutsche Diktatur im Frieden«, in: Süddeutsche Zeitung, 2. Dezember 2019. bit.ly/3jRUux6 (Zugriff am 10. Oktober 2020). 32 Lea Rosh zitiert nach Frank, Arno: »Kunstaktivisten errichten Gedenkstätte für Holocaust-Opfer«, in: Der Spiegel, 2. Dezember 2019. bit.ly/2IllN53 (Zugriff am 21. September 2020). 33 Den Hinweis verdanke ich Hindemith, Stella: »Skrupelloses Spiel mit Emotionen«, in: Jüdische Allgemeine, 21. Januar 2020. bit.ly/2IgARkm (Zugriff am 9. Oktober 2020). Rosh zitiert sich selbst aus der Erinnerung in Der Spiegel: »›Keine Denkpause‹. Interview mit Lea Rosh über die Kritik am Holocaust-Mahnmal«, in: Der Spiegel, 28/1995, S. 55. 34 Simon Wiesenthals Kritik am von ihr favorisierten – letztlich nicht realisierten – Denkmalentwurf der Künstlerin Christine Jakob-Marcks wies Rosh mit den Worten »Wir brauchen seine historische Belehrung nicht« zurück. An die Adresse des damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland gerichtet, erklärte Rosh: »Wenn Herrn Bubis der Siegerentwurf nicht passt […] ist das sein Problem«, zitiert nach: Mika, Bascha: »Lea Rosh wütet gegen Mahnmal-Kritiker«, in: taz, 8. Juli 1995. bit.ly/3iFA90e (Zugriff am 12. Juni 2021). 35 Der Spiegel: »Mahnmal-Streit. Lea Rosh gibt Backenzahn an Belzec zurück«, 13. Mai 2005. bit.ly/36XvwZw (Zugriff am 9. Oktober 2020). 36 Betschka, Julius: »Deshalb wird es keine Aktionen zum Holocaust mehr geben«, Interview mit Philipp Ruch, in: Der Tagesspiegel, 9. Januar 2020. bit.ly/2GQo9bO (Zugriff am 21. September 2020). 37 Heinemann, Ronald: »›Roshs Vorhaben ist äußerst pietätlos‹«, Interview mit Paul Spiegel, in: Der Spiegel, 11. Mai 2005. bit.ly/3nE5qAV (Zugriff am 21. September 2020). 38 Der Spiegel: »Mahnmal-Streit«.

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39 Vgl. z.B. Willke, Helmut: Systemtheorie II: Interventionstheorie. Einführung in die Theorie der Intervention in komplexe Sozialsysteme, 4., bearb. Aufl., Stuttgart 2005, S. 1 – 10 und 68 – 74 und Bonacker, Thorsten u.a. (Hrsg.): Interventionskultur. Zur Soziologie von Interventionsgesellschaften, Wiesbaden 2010. 40 Die FAQs finden sich nicht mehr länger auf der Seite des ZPS, sind aber als Bildanhang hier nachzulesen: Zentrum für Politische Schönheit (@politicalbeauty): »IN EIGENER SACHE …«, in: twitter, 3. Dezember 2019. bit.ly/2SNOytb (Zugriff am 12. Oktober 2020). 41 Kedves: »Hier liegt die deutsche Diktatur im Frieden«. 42 Zentrum für Politische Schönheit: »Stellungnahme«. 43 Die Inschrift auf der umgestalteten Säule lautet: »Ich schwöre Tod durch Wort und Tat, Wahl und eigne Hand – wenn ich kann – jedem der die Demokratie zerstört.«, Zentrum für Politische Schönheit: Sucht nach uns, Homepage. 44 Leister, Annika: »Der Holocaust ist immer unser Ankerpunkt«, Interview mit Philipp Ruch, in: Berliner Zeitung, 13. Januar 2020. bit.ly/3dj9qSC (Zugriff am 20. September 2020). 45 Zentrum für Politische Schönheit: »Sucht nach uns!«, Homepage. 46 Auf der Homepage und der Facebookseite des ZPS wurde der Begriff zu Sondereinsatzkommando geändert, im Twitter-Feed findet sich jedoch noch die ursprüngliche Formulierung: Zentrum für Politische Schönheit (@politicalbeauty): »Vergangene Nacht …«, in: twitter, 9. Dezember 2019. bit.ly/2SLmvuo (­Zugriff am 13. Oktober 2020). 47 Zentrum für Politische Schönheit (@politicalbeauty): »Ob Sie es glauben …«, in: twitter, 9. Dezember 2019. bit.ly/33SiJWn (Zugriff am 13. Oktober 2020). 48 Zit. n. Fischer, Benny (@bennympfischer): »Kleine Rechnung …«, in: twitter, 3. Dezember 2019. bit.ly/3iQDvKb (Zugriff am 13. Oktober 2020). 49 Dies berichten übereinstimmend Funk, Mirna: »Stellt euch nicht so an«, in: Süddeutsche Zeitung, 5. Dezember 2019, S. 11 und Feldhaus, Timo: »Einnerungsbombenleger«, in: der Freitag 49/2019, 4. Dezember 2019. bit.ly/3iS4zJ6 (Zugriff am 13. Oktober 2020). 50 Dies bestätigt Hermlins Enkelin nochmals Ende Januar 2021. Stella Hindemith: »Skrupelloses Spiel mit Emotionen«. 51 Zentrum für Politische Schönheit: »Über das ZPS«. 52 Vgl. Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«. bit. ly/3jYe4b6 und Diesselhorst, Sophie: »Wer schön sein will, muss leiden?«, in: nachtkritik.de, 11. November 2014. bit.ly/2FtHTS0 (Zugriff jeweils am 13. Oktober 2020). 53 Zentrum für Politische Schönheit (@politicalbeauty): »#Fail: 20 „Aktionskünstler“ versuchen …«, in: twitter, 6. Januar 2020. bit.ly/33PSDDy (Zugriff am 12. ­Oktober 2020). 54 Balzer, Vladimir/Havemann, Eliyah: »›Ein brutales Kunstwerk muss auch brutal entfernt werden‹«, in: Deutschlandfunk Kultur, 5. Januar 2020. bit.ly/36ZTkfm (Zugriff am 12. Oktober 2020). Das Akronym AKK entspricht den Initialen der damaligen CDU-Bundesvorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, die in den Medien häufig als Abkürzung verwendet wurden. 55 Ruch selbst vergleicht die Gegeninterventionen bei Bitte liebt Österreich und Sucht nach uns, nicht jedoch die Reaktion des ZPS mit der Schlingensiefs, vgl. Betschka: »Deshalb wird es keine Aktionen zum Holocaust mehr geben«. 56 Leister: »Der Holocaust ist immer unser Ankerpunkt«. 57 rbb24: »Aktivisten bauen umstrittene Gedenksäule für Nazi-Opfer ab«, 16. Januar 2020. bit.ly/34QqfjV (Zugriff am 13. Oktober 2020).

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Lars Koch Performing Artivism Relevanzanspruch und ­Popularitätsmanagement beim Zentrum für Politische Schönheit, bei Milo Rau und Friedrich von Borries Die politische Dimension von Kunst wird in den letzten Jahren wieder verstärkt im Anspruch auf direkte soziale Wirksamkeit verortet.1 Als Teil einer grassierenden Eventisierung des kulturellen Feldes ist zu beobachten, wie auch der zeitgenössische Artivismus2 – die Verbindung von Kunst und sozialer Aktion – seine Interventionsprogramme spektakulär in Szene setzt. Die lautstark artikulierte Bezugnahme auf konkrete gesellschaftliche Asymmetrien und Konflikte fungiert in diesem Kontext als Ausweis der eigenen künstlerischen Relevanz. Künstler:innen, die sich selbst proaktiv zu einer politischen Agenda des Widerstands relationieren, sind dabei mit einer sich verändernden medialen Aufmerksamkeitsökonomie konfrontiert, die auch im Bereich der »konfliktuellen Ästhetik«3 Beachtung und Popularität als Kriterien von Daseinsberechtigung ausweist. Massive öffentliche Sichtbarkeit erscheint in dieser Perspektive als notwendige Bedingung von Wirksamkeit. Neben die für Kunst konstitutive Auseinandersetzung mit Fragen der Form tritt damit die Notwendigkeit eines medialen Resonanzkalküls, das selbst wiederum Rückkopplungseffekte für das Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit nach sich zieht. Auf öffentlichen Impact abzielende politische Kunst sieht sich angesichts der »unerbittlich waltende[n] Logik«4 einer rasanten Aufmerksamkeitsverknappung zu einem Image- und Identifikationsmanagement aufgerufen, das mit Blick auf Offline- und Online-Öffentlichkeiten Wiedererkennbarkeit herstellen, Thematisierungsbereitschaft bündeln und Shareability garantieren soll. Mit Philipp Ruch, Milo Rau und Friedrich von Borries werden im Folgenden drei Vertreter artivistischer Gegenwartskunst in den Fokus gerückt, anhand derer exemplarisch nachvollzogen werden soll, wie zentral unter gegenwartskulturellen Aufmerksamkeitsbedingungen die »Aufrechterhaltung und Ausweitung der Autor/innen-Funktion«5 für die eigene Platzierungspraxis ist. Sie alle verstehen es, über einzelne Aktionen hinaus mit ihrer Arbeit verbundene, kohärente Erwartungsstrukturen zu konsolidieren und einen eigenen M ­ arkencharakter

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auszubilden. Die Fragen, die vor diesem Hintergrund exemplarisch diskutiert werden, tangieren die Dimension des Ästhetischen, sind aber primär theater- und literatursoziologisch situiert. Es soll darum gehen, die Techniken des Relevanz- und Popularitätsmanagements genauer zu beschreiben, die hier in unterschiedlichen Set-ups zum Einsatz kommen. Diese sind niemals von den künstlerisch verhandelten Themen, ihrer ästhetischen Bearbeitung und den entsprechenden politischen Positionierungen zu trennen, im Vordergrund sollen aber die jeweiligen Funktionslogiken der Resonanz- und Relevanzerzeugung stehen, die sich in spezifischen Verfahren der Öffentlichkeitsarbeit und der Publikumsadressierung abbilden. Für alle drei Akteure gilt, dass sie mit je spezifischen Strategien der Erwartungsstrukturierung und entsprechenden Praktiken des »Audiencing«6 daran arbeiten, zu einem kulturellen Brand zu werden, mit dem sich Feldpositionen besetzen und ausbauen lassen. Ruch ebenso wie Rau und von Borries treffen sich in einem Medienhandeln, das als Praxis eines doing authorship beschrieben werden kann. Ihre jeweilige Autorenkonstruktion ist das Ergebnis von internen Inszenierungs- und externen Zuschreibungspraktiken, die selbst wiederum in ein »dichte[s] Beziehungsgeflecht aus […] medialen, sozialen, ökonomischen, politischen und ästhetischen Faktoren«7 eingebunden sind. Die Art und Weise, wie sie von Publikum und Medien wahrgenommen werden, entspringt demnach einem fortgesetzten Zusammenspiel von »performative[r] Funktion, Geste und künstlerisch-theatrale[r] Inszenierung«8, in das konkrete paratextuelle Aspekte ihrer Performances, Aktionen und Theaterinszenierungen ebenso einfließen wie spezifische Themenselektionen, Identifikationsangebote und Affizierungsstrategien. Von entscheidender Bedeutung für die Frage der kontinuierlichen Sichtbarkeit politischer Kunst ist heute – das kann man an Ruch, Rau und von Borries exemplarisch beobachten – ihr Mediengebrauch, der die grundsätzliche Bindung künstlerischer Aktionen an ein »lokales Hier und Jetzt«9 durch die Bereitstellung neuer digitaler Beteiligungsmöglichkeiten mit den politischen Diskursräumen der Gesellschaft verschaltet. Galt schon immer, dass Medien als »Grammatik des Performativen«10 fungieren, so lässt sich an den im Folgenden zu betrachtenden Beispielen nachvollziehen, wie wichtig heute für die Resonanz zeitgenössischer Aktionskunst neben der Herstellung spektakulärer Präsenz-Ereignisse deren umfassende Medienmigration geworden ist. Neben der Zweitverwertung in Form von Begleitbüchern und Dokumentarfilmen wird die digitale Kommunikation für die Herstellung

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von Reichweite immer wichtiger. Insbesondere die sozialen Medien mit ihren spezifischen Affordanzen und ihren mediatisierten Möglichkeiten von Rückkopplung und Feedbackschleife werden dabei zu einer zweiten Arena der Herstellung kultureller »Singularität«11, sowohl für die Performer:innen wie auch für die Partizipierenden, die sich über Blogs, Kommentare und geteilte Bilder und Videos in die Verdopplung und Entgrenzung der Aktionen inkorporieren können. Mehr und mehr werden die sozialen Medien zum eigentlichen Erscheinungsraum zeitgenössischer Aktionskunst: Hier werden die jeweiligen ästhetischen Interventionen vorbereitet, zu Kampagnen erweitert und in ihrer situativen Flüchtigkeit für den retrospektiven Nachvollzug aufbereitet. Eine Praxis kontinuierlicher Selbstkommentierung fungiert dabei als Instrument der »Werkpolitik«12, die im kommunikativen Austausch mit den User:innen dem in marketingtauglichen Akronymen verdichteten Brand – IIPM, ZPS, RLF – zu Kohäsion und Bekanntheit verhelfen soll. Auffällig ist, dass Philipp Ruch wie auch Milo Rau der sich aus der ästhetischen Form speisenden »Kraft der Kunst«13 zur nachhaltigen Emanzipation ihres Publikums nicht zu trauen scheinen. Wozu sonst bedarf es so umfänglicher, mit großem Autoritätsanspruch verfasster Interpretationsmanuale, die ihre Aktionen und Inszenierungen in Form von digitalen Epitexten, Manifesten und Materialbänden rahmen, kommentieren und auf Eindeutigkeit festlegen sollen? Bei Friedrich von Borries liegt der Fall anders. Die ästhetische Konstellation, die er rund um seinen Roman RLF (2013) errichtet, arbeitet ebenfalls mit einer ganzen Reihe von über verschiedene mediale Kanäle gestreuten Appell- und Einbindungsstrategien, in denen sich ein Amalgam aus Autorschaftskonstruktion, Agenda-Setting und Rezeptionslenkung zu einer profilierten Marke verdichtet. Indem er aber im Changieren zwischen Fakt und Fiktion in ironischer Brechung Konsumtion als Unterwanderung der Konsumgesellschaft ausgibt, macht er zugleich zum Problem, dass es fast unmöglich geworden ist, sich den aufmerksamkeitsökonomischen Dispositiven und Verwertungslogiken der Gegenwartskultur zu entziehen. Damit trägt er eine konstitutive Ambivalenz in die Praxis ästhetischer Interventionen ein, die zwar aus der spektakulär inszenierten Konfrontation mit dem globalisierten Kapitalismus und seinen Funktionseliten ihre Legitimation herleitet, zeitgleich aber hinterrücks mit dessen medientechnologischen Angeboten kooperieren muss. Wo Ruch und Rau viel kommunikative Arbeit darauf verwenden, als kritische, politisch eindeutig positionierte Intellektuelle mit einem unverwechselbaren, authentischen Kern wahrgenommen zu werden, bleibt von Borries im Kontext seiner Aktion

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immer eine zwischen Bekenntnis und Ironie oszillierende Kunstfigur, die sich einer substanziellen Einordnung – von Kunst oder Politik, Authentizität oder Fake, Kritik oder Affirmation – verweigert.

I.

Philipp Ruch: Moralisch werden14

Das 2009 gegründete Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) setzt in seiner Aktionskunst voll und ganz auf die Forcierung von Moralkommunikation. Wie der Frontmann des ZPS, Philipp Ruch, nicht zu betonen müde wird, ist ein »aggressiver Humanismus«15 die Grundlage von Aktionen wie Die Säule der Schande (2010), Die Toten kommen (2015) oder Flüchtlinge Fressen (2016). Das ZPS versteht sich als e ine Verschmelzung der Macht der Phantasie und der Macht der Geschichte. Grundüberzeugung ist, dass die Lehren des Holocaust durch die Wiederholung politischer Teilnahmslosigkeit, Flüchtlingsabwehr und Feigheit annulliert werden und dass Deutschland aus der Geschichte nicht nur lernen, sondern auch handeln muss.16 Ziel der provokativen ZPS-Aktionen, die sich vor allem mit den für das deutsche Selbstverständnis hoch affektiv besetzten Themen NS-Vergangenheit, Migration und Rechtextremismus auseinandersetzen, ist es demnach, »die Wirklichkeit mit moralischer Phantasie«17 zu bewaffnen. Aus einer im Wechselspiel von aktivistischem Impuls, netzbasierter Zustimmungskommunikation und medialer Berichterstattung heraus erzeugten Empörung soll massiver Druck auf politische Verantwortungsträger:innen entfaltet werden. Das ZPS-Erfolgsrezept basiert auf Kampagnenvideos, Blog- und Facebook-Beiträgen, Live-Veranstaltungen und Tweets, die mit der Realpräsenz der eigentlichen Aktion verschaltet, eine Dramaturgie der moralischen Inklusion erzeugen. Diese honoriert die Partizipierenden für ihre Bereitschaft zur Mitwirkung mit der Möglichkeit der positiven Selbstidentifikation, insofern sie sich als Teil einer politischen Bewegung im Kampf gegen das Schlechte in der Welt sehen dürfen. Dementsprechend appelliert die Homepage des ZPS unter der Überschrift »Komplize werden« an das parasoziale Beziehungsbegehren seines Publikums: nterstützen Sie uns jetzt! Als Komplize leisten Sie einen U unschätzbaren Beitrag zur Erregung öffentlicher Unruhe – für den

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radikalen Humanismus. Werden Sie jetzt konkret und machen Eskalation möglich. Jeder Beitrag hilft. Komplizin werden Sie mit einer jährlichen Unterstützung ab 100 €, also 8,33 € im Monat, 28 Cent am Tag. Sie erhalten nirgendwo so viel Aufruhr und Dissens für jeden gespendeten Euro wie bei uns.18 Moralkommunikation, das hat Niklas Luhmann in aller Deutlichkeit herausgestellt, wird von einem problematischen Dualismus informiert, der alles und jeden unter der Maßgabe einer zweiwertigen Logik beobachtet.19 Wer über gesellschaftliche Konfliktkonstellationen im Register der Moral kommuniziert, behauptet eine klare Unterscheidbarkeit zwischen zwei Alternativen: zwischen Gut und Böse, Freund und Feind, Like und Dislike. Die damit verbundene Reduktion von Komplexität entlastet vom Orientierungsdruck einer immer unüberschaubarer werdenden Welt. Die Aktionen des ZPS beziehen genau aus diesem Mechanismus einen Teil ihrer Attraktivität: Sie bieten in der Verbindung von Pathos und Style die Erfahrung, sich für eine moralisch unzweifelhaft richtige Sache – die Rettung von Geflüchteten, den Widerstand gegen den Rechtsextremismus – einsetzen zu können. Das ZPS entwirft damit intensive Erlebnisszenarios, die den Partizipierenden eine Transaktion von Engagement in moralische Aufwertung offerieren und ihnen ein kollektiv geteiltes – und dadurch intensiviertes – Gefühl von Handlungsmacht verschaffen. Die unter der Maxime »Haltung als Handlung«20 produzierte Vergemeinschaftung im Dienste von »moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit«21 speist seine Affizierungsimpulse aus einer »Dialektik des Herzens«22, von der sich gerade solche jungen Erwachsenen angesprochen fühlen, für deren Selbstbild als mündige Bürger:innen ein systemkritischer Idealismus eine wichtige Rolle spielt.23 Dieser muss allerdings – um wirklich genossen werden zu können – hohen aufmerksamkeitsökonomischen Ansprüchen genügen und entsprechende »Affektkaskaden«24 bieten. Daher betreiben die Aktionen, für deren Wirkungsabsicht ein »Kippen der Ästhetik in die Ethik«25 charakteristisch ist, einen großen medialen Mobilisierungsaufwand, um auf Missstände hinzuweisen, Politik und Öffentlichkeit gegenüber einen moralischen Imperativ spektakulär in Szene zu setzen. In gezielter Empörungskommunikation geht es ihnen in einer Verschaltung von On- und Offline-Publika um intensive Erlebnisse gewissheitsstiftender Beteiligung. Weil das ZPS ästhetisch auf die Erzeugung von Mitleid und Entrüstung setzt, produzieren ihre Aktionen als Nebenfolge ihrer Affektpolitik einen

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­konsumierbaren »­Happeningeffekt«26, der Menschen als Teil einer vermeintlich integren Wertearistokratie27 zusammenbringt und ihnen in den Arenen von »tweets and the streets«28 einen Genuss der gemeinsam performten Dissidenz erlaubt. Die Dramaturgie, mit Hilfe derer die ZPS-Aktionen im Dienste der Intensivierung von Brand Love daran arbeiten, »die großen Menschheitskatastrophen psychisch aus der Ecke der verdrängten Unlust, der Schmerzen und des Schreckens in die Mitte der öffentlichen Gefühlswelt zurückzuholen«29, produziert nicht nur Anteilnahme. Ganz im Gegenteil, es werden zugleich Schuldige ausgemacht, die unmissverständlich identifiziert, invektiv adressiert und selbstgerecht verurteilt werden können. Die so durch die Performanzen eines szenischen Otherings produzierte Homogenität der Aktionsgemeinschaft hat zur Konsequenz, dass das eigentliche politische Potenzial, das mit einer invektiven Ästhetik artivistischer Aufstörung verbunden sein könnte, verloren geht. Ambivalenzen, so Jakob Hayner, gelten in einer solchen ›Bekenntniskultur‹ ausschließlich als Störfaktoren. So verkümmert die Form und letztlich auch der Inhalt, denn eine zum Signal degradierte soziale Kritik kann unbekümmert und folgenlos im Modus von like und dislike konsumiert werden. [...] Künstlerisches Engagement, das nur auf Bekenntnisse zielt, verfehlt seinen Zweck, schlimmer noch: Es verkehrt diesen in sein Gegenteil. Es befördert eine unkritische Haltung statt einer kritischen.30 Genau in diesem Sinne – und das ist für die Popularität des ZPS ein nicht unwesentlicher Faktor – vermeiden die Beziehungspraktiken der ZPS-Aktionen es, ihr Publikum nachhaltig zu verunsichern. Ein Gefühl von »unease and discomfort rather than belonging«31, das die Kunsttheoretikerin Claire Bishop als produktiven Effekt der Partizipation für die relationale Ästhetik artivistischer Interventionen in Anschlag bringt, stellt sich in den Handlungs- und Begründungsarrangements des ZPS gerade nicht ein. Das Dispositiv der Aktionen ist immer so angelegt, dass die Schuldigen der kritisierten Misere – die Politik, die Konzerne etc. – klar benannt sind und die Teilnehmer:innen der damit benannten Kausalität gegenüber eine externe Position einnehmen können.32 Das bedeutet allerdings für die Affekt-Ökonomie der ZPS-Aktionen, dass für den Einlass ins Empörungskollektiv eine Normierung der eigenen Handlungsoptionen akzeptiert werden muss. Die Rolle

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der Partizipation ist durch das Design der Aktionen und ihrer digitalen Umwelten immer schon in spezifischer Weise präfiguriert. Zentralinstanz des Geschehens ist und bleibt Philipp Ruch, der als selbsterklärter »Chefunterhändler«33 des Zentrums die eigene Deutungsmacht nie aufs Spiel setzt und Partizipation nur dann zulässt, wenn die Akzeptanz der grundlegenden moralischen Vorannahmen außer Frage steht. Dieser Drang zur Personalisierung spiegelt sich auch in dem ZPS-Manifest Wenn nicht wir, wer dann? (2015), das mehrere Auflagen erreicht hat. Die potenziellen Zentrifugalkräfte der Aktionen werden hier – im Dienste einer gezielten Autorschaftskonstruktion ohne Scheu vor Pathos und in großer geschichtspolitischer Geste – auf das Zentrum der starken, selbst- und deutungssicheren Künstler- und Aktivisten-Persona Philipp Ruch zurückgelenkt.34 Wie bei den entsprechenden Selbstbeschreibungen im Web-Auftritt des ZPS ist auch für Ruchs in der intimen Ich-Form verfasste Bekenntnisschrift ein vehementer Katastrophismus kennzeichnend. Er verbindet die Schrecken der NS-Vergangenheit mit der Diagnose aktueller und kommender Tragödien zu einem dringenden Appell der Beteiligung und des politischen Engagements. Das Leistungsangebot moralischer Komplexitätsreduktion setzt sich auf der Ebene paratextueller Selbstheroisierung fort. Im Zuge seiner Selbstinszenierung präsentiert sich Ruch als promovierter Politikwissenschaftler und dementsprechend umfassend gebildeter Zeitdiagnostiker, der die Pathologien der Gegenwart souverän mit dem Instrumentarium der politischen Ideengeschichte zu sezieren versteht. Interessant – und in seiner Geschichtsvergessenheit sehr problematisch – ist dabei, wie er Denkfiguren traditioneller deutscher Kulturkritik35 als Deutungsmuster der Gegenwart aktualisiert. Raunend ist dann von einem »Zeitalter der moralischen Desorientierung« die Rede, in der es dringend eine neue »Unterscheidung zwischen Gut und Böse« brauche. Weiter führt Ruch aus: »All unseren ›Krisen‹ liegt ein Bildungsproblem zugrunde: Es mangelt an Bildung der Seele, Bildung der Gefühle, Bildung des Wissens.«36 Damit ist das Feld bereitet, um das ZPS als moralische Instanz zu installieren, die aus dem »Zustand des kulturellen Nihilismus, durch den wir von innen auskohlen«37, herausführen kann. Diese Werte-Kommunikation, die der Leser:innenschaft genügend Raum für projektive Selbstüberhöhung lässt, reichert eine zweite Programmschrift aus Ruchs Feder mit dem appellativen Titel Schluss mit der Geduld (2019) mit einer Rhetorik der Militanz an, die die Selbstbeschreibung als Agentur eines »aggressiven Humanismus« und als »Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit«38 weiter ausbuchstabiert:

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ir müssen uns für die Humanität entscheiden, sie verteidigen W und notfalls für sie sterben. Die ursprüngliche Losung der Französischen Revolution lautete: [...] Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – oder der Tod. […] Wir stehen in einer Zeit der Schlacht. Auf die Ausdauer kommt es an. Was wir momentan brauchen, ist die zivile Verteidigung unserer Humanität. Wir müssen unsere alte Kompromisslosigkeit wiederfinden. Wer sich fragt, ob das Zentrum für Politische Schönheit nicht zu radikal kämpft, dem sei gesagt, dass es jetzt die Zeit ist, gewaltlos, aber radikal zu sein.39 In der realitätswütigen Radikalität, die Ruch für das ZPS und seine Kompliz:innen unter einem Trommelfeuer von Sekundär-Imperativen40 in Anschlag bringt, artikuliert sich das Streben nach einer Aura der Unbedingtheit, die sich angesichts der zugrundeliegenden Diagnose sich forcierender gesellschaftlicher Antagonismen ästhetisch wie habituell von der verspielten Ambivalenz und Ambiguität der Postmoderne absetzen will. Ruch adressiert ein kulturelles Imaginäres, das sich Zukunft angesichts von Klimakrise und globalen Verteilungskonflikten nur noch als Katastrophe vorstellen kann. Für ästhetische Formspiele, deren mikropolitische Emanzipationsmomente den kollektiven Rettungssinn im »Kampf gegen die Barbarei«41 auf eine enorme Geduldsprobe stellen, hat das ZPS keine Verwendung mehr. Ihm geht es um die Generierung maximaler Mobilisierungseffekte. Die moralische Polarisierungsstrategie, der die Aktionen des ZPS strikt folgen, birgt Chancen und Risiken. Einerseits adaptiert sie eine unter digital natives eingeübte Affizierungsstruktur der sozialen Medien, die über kommunikative Verstärkungseffekte im Sinne ausschließender Einschließung auf die konfrontative Herstellung sozialer und moralischer Kohäsion hinausläuft. Insofern ist das ästhetische Angebot des ZPS in hohem Maße kompatibel mit einer zunehmend dominierenden »digitale[n] Affektkultur des Extremen«42, für die Positionen der ausgleichenden Vermittlung immer schon unter dem Ideologieverdacht neoliberaler Sedierung stehen. Andererseits läuft der Wille zur antagonistischen Konfrontation, der alle Aktionen des ZPS wie ein Protest-Leitfaden organisiert, allerdings Gefahr, sich angesichts seines impliziten Überbietungszwangs sukzessive abzunutzen. Spätestens seit der Aktion Sucht nach uns! (2019), bei der die Asche von Ermordeten des Holocausts in einer Säule vor dem Reichstag als Mahnmal aufgestellt wurde, sieht sich das ZPS zudem mit dem Vorwurf konfrontiert, sich eine paternalistische Sprecher:innenrolle

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anzumaßen, die um der resonanzstarken Skandalisierung willen Opfergruppen für die eigenen Zwecke funktionalisiert.43 Genau gegen eine solche Form der skandalisierungsorientierten Aufregungsbewirtschaftung wendet sich Milo Rau, indem er – mit Blick auf das ZPS – die mit Distinktionsgewinnen rechnende Invektivformel eines »zynischen Humanismus« prägte.

II.

Milo Rau: Realistisch sein

Milo Rau ist neben dem ZPS sicherlich der resonanzstärkste Vertreter politischer Gegenwartskunst im deutschsprachigen Kontext. Sein Medienhandeln weist, was die Strategien der »Markenbildung«44 angeht, Berührungspunkte zum ZPS auf, unterscheidet sich aber auch in wichtigen Aspekten hinsichtlich der Skalierung des eigenen Aktionsradius, der Publikumsansprache und der dispositiven Anlage seiner Aktionen. Mehr noch: In seinen kunstprogrammatischen Schriften nutzt er das ZPS als Beispiel eines schlechten ästhetischen Interventionismus, von dem er seinen eigenen Ansatz eines globalen Realismus aufwertend absetzt. Dabei teilt er zunächst einmal mit dem ZPS die Frontstellung gegenüber Postmoderne und formkonzentrierten Varianten des postdramatischen Theaters, insofern er in ähnlicher Weise öffentlichkeitswirksam eine Apotheose der notwendigen Tat in Szene setzt, die mehr sein will als »eine Form von Reeducation«45: ir diskutieren in Kunstkreisen immer noch über FormproW bleme, über unzählige Detailfragen, während die Globalisierung längst Tatsache ist. Für heutige Künstler geht es nicht mehr um private Befindlichkeiten, außer in der Hinsicht, dass sich in unseren Seelen der objektive Horror unseres Planeten wiederholt. Es geht um die Menschheit, so simpel ist das. Die Zukunft findet jeden Tag statt, die Klimakatastrophe ist Realität. Die aktuellen Migrationsbewegungen künden die gewaltigen Umwälzungen nur an.46 In seiner ausufernden Praxis der Selbstkommentierung unternimmt Rau immer wieder Anläufe, um die der eigenen Einschätzung nach eindeutige Insuffizienz postmoderner Kunst als Ausgangspunkt für eine politische Ästhetik der Gegenwart zu betonen. Der Postmoderne wirft er in einer »polemischen Wende gegen den Ästhetizismus«47 vor, sich unfähig erwiesen zu haben, Gesellschaft zu gestalten. So könne es

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nicht mehr darum gehen, ein falsches Bewusstsein über seine eigenen blinden Flecken aufzuklären. Vielmehr sieht Rau die Krise des Kapitalismus an einem Punkt angelangt, an dem es neue soziale und ökonomische Fantasien brauche, die die Hermetik des schlechten Jetzt aufzubrechen in der Lage sind:

F ür mich ist die Postmoderne vorbei, es gibt keinen Zustand, es gibt überhaupt nichts mehr, was dekonstruiert werden muss mit irgendwelchen Derrida- oder Adornotricks. Es hat sich auskritisiert, es hat sich ausdekonstruiert. Vielmehr muss etwas konstruiert werden aus dem ideologischen Trümmerfeld, vor dem wir stehen. Das ist der Zugriff, der mich interessiert.48 Das Programm eines globalen Realismus, das Rau verfolgt, entwickelt seine Strahlkraft aus einer entschiedenen Absetzungsbewegung gegen die »postmoderne Vernunft«49 und den in seinen Augen dominierenden Erscheinungsweisen engagierter Kunst, die er genealogisch in einem Spektrum durchschlagsarmer Dekonstruktion verortet sieht. An gegenwärtigen Spielformen des Artivismus kritisiert er, die systemstabilisierende Folgenlosigkeit moralischer Empörung nicht ausreichend zu reflektieren. Demgegenüber fordert er, die Konfliktualität der Gegenwart fernab aller umstürzlerischen Sozialromantik als einen globalen Kampf um Ressourcen zu verstehen, dessen (neo-koloniale) Gewaltförmigkeit nach wie vor aus den Zentren der westlichen Welt in die Peripherien des globalen Südens und an die Ränder der Gesellschaft verdrängt werde: enn ich den Schock betrachte, den das Foto des ertrunkenen W Jungen am Strand von Bodrum in den europäischen Medien ausgelöst hat, frage ich mich: Auf welchem Planeten leben wir eigentlich? Woher stammen unsere Bilder von dieser Welt? […] Die Wahrheit Europas liegt in Zentralafrika, in der Ukraine, in Syrien. […] Ich bin es so leid, diese europäischen Diskurse der Machbarkeit, der Toleranz, der innereuropäischen Gegenseitigkeit und Kameradschaftlichkeit. Dieser Rausch der Barmherzigkeit und des Mitleids, das ist Herren-Rhetorik. Es ist diese humanistische Rhetorik, die mich süchtig gemacht hat nach dem Terror. Deshalb arbeite ich in Zentralafrika: Dort sehe ich dieses gutwillige Europa in seiner bösartigen Nacktheit.50

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Realismus, so Rau, bedeute daher dieser »existenziellen Realität des Lebens auf Augenhöhe zu begegnen«51, was für seine Kunst zwei Konsequenzen hat: Zum einen – zu denken ist etwa an die dokumentarischen Arbeiten Hate Radio (2011/12), Breiviks Erklärung (2012) oder Five Easy Pieces (2016) – rückt er in retrospektiver Perspektive immer wieder die Genese und soziale Konsequenz exzessiver Gewalt in den Fokus. Dabei geht es ihm gerade nicht darum, diese zu pathologisieren, sondern sie in ihren gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen als einen Systemeffekt zu rekonstruieren. Ergänzend zu einer solchen »Enthüllung des Realen«52 mit den Mitteln des Theaters, arbeitet Rau zum anderen an der Errichtung von symbolischen Debatten-Räumen. Im Sinne einer Gegenöffentlichkeit können in ihnen alternative Prozesse der politischen Entscheidungsfindung, der Delegation von Handlungsmacht und der Zurechnung von Verantwortlichkeit durchgespielt werden. Gegen eine von ihm diagnostizierte Praxis des politischen Theaters, die in Widerstands- und Dissidenzposen stagniere, de facto aber gerade mit dieser Ästhetisierung von Nonkonformismus zur Perpetuierung des gesellschaftlichen Status quo beitrage, setzt er in Aktionen wie den Moskauer Prozessen (2013), dem Kongo-­Tribunal (2015) oder der General Assembly (2017) »eine[n] symbolischen Entwurf des Zukünftigen«53. Ziel dieser inszenatorischen Großveranstaltungen ist es, alternative Diskurs-Arenen zu errichten, in denen aus einer realitätsaufschließenden Wirklichkeitskenntnis ein subversiver Möglichkeitssinn entstehen kann. Auch wenn es bei der General Assembly beispielsweise um nichts weniger ging als die Erarbeitung einer »Charta für das 21. Jahrhundert«54, vermeidet Rau doch durch die vielstimmige Artikulation eines komplexen Problembewusstseins den Eindruck eines naiven Utopismus. Im Gegenteil: Seine Interventionen gewinnen Profil einerseits dadurch, dass sie sich in kunstexterner Orientierung der Öffentlichkeit gegenüber durch umfassende Recherche-Reisen, durch die Einbeziehung von Expert:innen und Akteur:innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sowie durch die Berücksichtigung von Laien als Darsteller:innen als Beitrag zu einer quasi-soziologischen Analyse der zentralen Gegenwartsfriktionen positionieren. Komplementär zu dieser Inszenierung informierter Unmittelbarkeit arbeitet Rau andererseits kunstintern mit einem Aufwertungsdiskurs, der den eigenen Ansatz im »Turnier[] um die Etablierung«55 künstlerischer Autorität56 als eine gegenüber konkurrierenden Formen von Artivismus viel radikalere Variante zu begreifen vorgibt. Anderen Spielformen politisch engagierter Kunst wirft er dementsprechend in einem invektiven Platzierungskalkül vor, eine

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Form von »zynischem Humanismus«57 zu realisieren, der sich in einem affektiv wirkungsvollen, aber politisch folgenlosen »Elendstransport in den Kunstraum« erschöpfe:

E s tut mir leid, das festhalten zu müssen, der realistische Künstler morpht aktuell zum Organisator von Gedenkmärschen oder zum Facebook-Administrator. […] Die bewusstseinsverändernde Kraft des Ästhetischen kommt dabei gar nicht mehr ins Spiel. Denn was bei dieser Transformation von Kunst in Moral verloren geht, ist die Zweideutigkeit der künstlerischen Selbstermächtigung.58 Rau reklamiert für sich einen solitären Status im Ensemble artivistischer Anstrengungen, insofern er in der Problemanamnese eine notwendigerweise globale Skalierung des Aufmerksamkeitsfokus einfordert, die die Peripherien der kapitalistischen Weltordnung ins Zentrum des Nachdenkens stellt. Daher geht es in seinen jüngeren Arbeiten darum, institutionelle Veränderungsszenarios mit krisenhaften Situationen der Urteils- und Entscheidungsnotwendigkeit zu kombinieren, in denen Ideen, Programme und Akteur:innen aufeinanderprallen und dabei alle Beteiligten – die Performer:innen wie auch die Zuschauenden im analogen und digitalen Raum59 – mit ihren eigenen kognitiven Dissonanzen konfrontieren. In einer Aktualisierung der Brecht’schen Einsicht, dass die Macht schon lange in die Funktionale gerutscht ist,60 operieren seine Arbeiten auf einem polyperspektivischen Komplexitätsniveau, das die Verwerfungen der Gegenwart systemisch, also in ihrer Verkopplung von lokalen und globalen Verwertungszusammenhängen, zu betrachten erlauben soll. Personalisierungen und die Adressierung der Verantwortung einzelner Akteur:innen für konkrete Gewaltereignisse spielt in der Affektpolitik seiner Interventionen durchaus eine Rolle. Anders als etwa beim ZPS ist damit aber keine klare Exit-Strategie verbunden, die es dem Publikum erlauben würde, Verantwortlichkeit zu delegieren und damit eine souveräne moralische Außenposition einzunehmen. Im besten Falle gelingt in Raus Arbeiten eine Ausweitung des Reflexionsraumes,61 der auch das Publikum in den politischen Ermöglichungszusammenhang von Gewalt, Ausbeutung und Profit inkludiert.62 Eine solche Praxis des Zu-sehen- und Zu-hören-Gebens, aus deren Erschütterungsqualität sich in der konzeptionellen Anlage der Aktionen ein konkreter Handlungsimpuls zum Aufbau neuer politischer Strukturen ergeben soll, vermisst er bei anderen Formen zeitgenössischer ­Aktionskunst. Mehr

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noch, wirft er den anderen Marktteilnehmer:innen auf dem Feld des politischen Theaters vor, nicht die Durchsetzung von sozialen oder politischen Veränderungen zum Ziel zu haben, sondern die Produktion von Aufmerksamkeit und Empörung vor allem für das eigene Popularitätsmanagement nutzen zu wollen: Politische Kunst heißt seit zwei Generationen: Der kleinbürgerliche Künstler wirft den Medien Empörungshäppchen hin, diese schnappen danach – und das war’s dann auch. Im Grunde spielt sich alles zwischen Presse-Ankündigung und Premiere ab, Gruppen wie zum Beispiel das Zentrum für politische Schönheit verzichten ja sogar auf das eigentliche Ereignis und begnügen sich mit der medial inszenierten Ankündigung.63 Angesichts dieser von ihm konstatierten Dualität von »Alarmismus« und »Moralismus«64, leitet Rau die Relevanz der eigenen Arbeit aus ihrer Zielstellung ab, mit Mitteln einer »antagonistische[n] Dramaturgie«65 solche diskursiven Ereignisse zu produzieren, die über eine nachhaltige Störung des gesellschaftlichen common sense hinaus die Entwicklung neuer institutioneller Formen denkbar werden lassen. So verstanden geht es ihm darum, in das Optisch-Unbewusste der Gesellschaft zu intervenieren, um über die »Ausweitung des Blickwinkels und dessen Politisierung«66 eine Arbeit an konkreten Alternativen zu erreichen: Der Protest oder der Widerstand, den ich hier meine, ist also ein Aufruf, die Dinge konkret zu sehen, und vielleicht habe ich als Theatermacher, der konkretesten aller Künste – man nennt sie auch die darstellende Kunst – einen kleinen Vorteil: Theater ist eine Kunst der Körper, der Begegnung, der Präsenz. Es ist schlichtweg unmöglich, Theater zu machen, das sich von diesen Grundlagen des humanen In-der-Welt-Seins emanzipieren würde. Es trifft aber sicherlich auf jene Situation zu, in der wir uns heute befinden, und die üblicherweise als ›postideologisch‹ bezeichnet wird: auf ein Handeln, das auf geisterhafte Weise von jeder Verantwortlichkeit abgekoppelt scheint; auf Zusammenhänge globaler und irreversibler Vernichtung, in die wir in tatsächlich extremer Phantasielosigkeit verwickelt sind. Kurz gesagt: Es fehlt uns, vielleicht mehr noch als früheren Generation, an Erfahrungsmöglichkeiten dessen, was wir tun, an einem Verständnis dafür, warum wir fast besessen

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am Untergang dieses Planeten arbeiten – und wie wir, vielleicht, gemeinsam etwas dagegen tun können.67 Begleitet wird der aus dem Agenda-Setting seiner Themenselektion (Gewalt, Trauma, Ausbeutung) abgeleitete Relevanzanspruch von einer komplexen paratextuellen und performativen Selbststilisierung, mittels derer sich Milo Rau als streitbarer Intellektueller präsentiert. Korrespondierend zu dem der Postmoderne gegenübergestellten Programmbegriff des Realismus geht es dabei um eine Herstellung von Authentizität als einer moralischen Kategorie, die die Konstruktion seiner Autoren-Persona ebenso betrifft wie die materiellen Strategien seiner Werkpolitik. Beispielhaft für die Selbstinszenierung als bedeutender politischer Autor und hellsichtiger Analyst der Gegenwart, der hinsichtlich der Vor-Ort-Recherchen in den Krisengebieten der Welt mit der Akzeptanz großer Risiken für die Wirklichkeitstreue seiner Arbeiten einsteht, kann etwa Raus Eröffnungsrede bei den Hannah Arendt Tagen 2018 herangezogen werden. Hier setzt er die eigene künstlerische Auseinandersetzung mit aktuellen Ausprägungen genozidaler Gewalt zum Zwecke einer poetologischen und politischen Positionsbestimmung in eine philosophiegeschichtliche Parallele zu Hannah Ahrendts Eichmann-Buch. Nachdem er zunächst dem Publikum in Erinnerung gerufen hat, dass seine Arbeiten nicht in der sicheren Distanz einer europäischen Theaterbühne verbleiben, sondern es zu seinem Arbeitsstil vielmehr dazugehört, als Rechercheur in die Räume der Gewalt einzutauchen, kommt er dann auf eine Begegnung mit Valérie Bemeriki zu sprechen, eine Radiomoderatorin, die bei der popkulturellen Mobilmachung für den Genozid in Ruanda eine wichtige Rolle gespielt hatte und deren Agitation in Hate Radio in ihren Effekten inszenatorisch verhandelt wird. Raus Rückerinnerung evoziert eine schaurig-banale Figur des Bösen, die ihrem Beobachter en passant den Nimbus eines kompromisslosen Denkers der Gewalt zuweist: Sie können sich also vorstellen, wie nervös ich war, als ich vor ziemlich genau 10 Jahren zum ersten Mal Valérie Bemeriki im Zentralgefängnis von Kigali traf, eine Frau, die zwei Generationen von Ruandern als die Verkörperung des Monströsen gilt. Sie ist eine fast mythische Figur, eine Hexe wie aus einem Grimmschen Märchen. Nur eben sehr real: Valérie Bemeriki war (und ist bis heute) die erste und einzige Radiosprecherin, die wegen Völkermords verurteilt worden ist, in ihrem Fall zu

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lebenslänglichem Gefängnis. Wie Eichmann wusste sie sehr genau, was sie tat, und sie tat es mit Genuss – so rief sie zum Beispiel immer wieder dazu auf, Frauen vor ihrer Ermordung zu vergewaltigen, am liebsten zu Tode zu vergewaltigen, ja, das war gewissermaßen ihr Markenzeichen. Als ich sie jedoch in Kigali traf, erging es mir wie 50 Jahre zuvor Hannah Arendt in Jerusalem: Bemeriki war kein Monster, sondern eine kleingewachsene, sympathische Dame, die meine Großmutter hätte sein können.68 Insgesamt ist für die öffentliche Autor-Persona Milo Rau kennzeichnend, dass in ihr zwei zunächst intuitiv gegeneinanderstehende Referenzsysteme des Politischen über die Kunst vermittelt werden. Zum einen verwendet er in seinen Peritexten große Sorgfalt darauf, sein ästhetisches Programm als Konsequenz und Weiterentwicklung einer politischen Praxis erscheinen zu lassen, die sich in jungen Jahren ganz der abenteuerlichen, riskanten Bekämpfung des Kapitalismus verschrieben hatte. Insofern kann es wenig überraschen, dass Rau in der Darlegung seines Programms des Globalen Realismus auf die eigene Herkunft als Aktivist zu sprechen kommt:

I ch bin ja erst mit Ende zwanzig sowas wie ein Künstler geworden. Zu Beginn meiner Arbeit als Regisseur in den späten 90ern war ich im Grunde reiner Aktivist. […] Die Fragen, die sich mir damals stellten, waren praktischer Art: Wie baut man einen Demonstrationszug aus 5000 Leuten? Wie organisiert man ein Meeting im Dschungel mit zapatistischen Milizionären? Wie formuliert man eine Petition oder ein Manifest, damit es Wirkung zeigt? […] Ich begann also, nach Afrika zu reisen, nach Südamerika, nach Russland, und an dem zu arbeiten, was ich heute den globalen Realismus nenne: an der Beschreibung dieses weltumspannenden Innenraums des Kapitals, seiner Alpträume und Hoffnungen, seiner Unter- und Gegenwelten.69 Zum anderen ist Rau immer darauf bedacht, zur Steigerung seines »Resonanzradius«70 die Anschlussfähigkeit der eigenen Arbeit für akademische Diskurse auszustellen. Diese Arbeit am öffentlichen Wahrnehmungsrahmen seiner eigentlichen Theater- und Aktionsarbeit gelingt ihm zunächst durch direkte Textsignale, die eine Kennerschaft aktueller Debatten anzeigen – im vorliegenden Zitat etwa durch die Anspielung auf Peter Sloterdijks Globalisierungstheorie.71 Zur

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Unterfütterung des Anspruchs auf diskursive Satisfaktionsfähigkeit bringt Rau zudem – darin der Selbstautorisierungsstrategie Philipp Ruchs nicht unähnlich – wiederholt die eigene Bildungsbiografie zur Sprache. Beispielsweise berichtet er leicht kokett von der Lektüre der Schriften von Trotzki und Lenin in Teenager-Jahren,72 erwähnt wie selbstverständlich ein Schüler-Lehrer-Verhältnis zu Pierre Bourdieu73 oder charakterisiert souverän die ästhetischen Eigenarten von David Lynchs Filmen.74 Fortgeführt wird diese Selbstsituierung des Denkens im Überblendungsbereich von Hochkultur, Pop, politischer Analyse und Theorie, die er seit 2017 als regelmäßiger Teilnehmer des Schweizer »Literaturclubs« (SRF) auch im Fernsehen vorführt,75 durch eine Werkpolitik, die um die aufmerksamkeitsökonomischen Erfordernisse des Kunstbetriebs weiß und diese selbstbewusst bedient. So arbeitet Rau durch regelmäßige Begleitpublikationen im Verbrecher-Verlag76 daran, dass mit jeder neuen künstlerischen Arbeit parallel zur digitalen Aufbereitung auf der IIPM-Website zugleich ein analoges Textarchiv77 der affirmativen Selbst- und kuratierten Fremdkommentierung beständig anwächst. Diese Einrichtung einer kontrolliert bespielten Übersetzungszone zwischen Aktion bzw. Aufführung und Öffentlichkeit wird ergänzt durch weitere Publikationen, die teils manifestartig, teils in Form programmatischer Samplings, die Profilierung der Marke Milo Rau/IIPM weiter vorantreiben. Mit der Übernahme der Intendanz des NTGent im Jahr 2018 hat diese Strategie einer gezielten Autorschaftskonstruktion noch einmal eine neue Qualität angenommen. Dem anlässlich der Arbeitsaufnahme veröffentlichten Genter Manifest (2018), einer programmatischen Festlegung der formalen Prinzipien von Raus kommender Theaterarbeit, widerfuhr entsprechend große Aufmerksamkeit in den Feuilletons und der kulturräsonierenden Öffentlichkeit. Gehalten im Stile von Dogma 2.0 zielt das Manifest zum »Stadttheater der Zukunft«78 einerseits im Stil größtmöglicher Verknappung darauf ab, einen maximalen Eindruck von entschlossener Wirklichkeitsorientierung zu erzeugen79 und trägt andererseits mittels einer Reihe von anlassbezogenen Interviews in Sinne verdeckter Personalisierung dazu bei, den Regisseur und politischen Aktivisten Milo Rau »aus dem Produktionskollektiv herauszuheben und zur Person zu stilisieren, die alle gestalterischen Fäden in der Hand hält.«80 Die einzelnen Punkte – Interventionismus, Transparenz des Produktionsvorgangs, Dezentrierung von Autorschaft, Distanz zum textzentrierten Klassiker-Spielplan, Entgrenzung des Theaterraums, Vervielfältigung der Sprachen und kulturellen Hintergründe,

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Entprofessionalisierung des Schauspiels, Reduktion des Bühnenbildes, Krisenreferenzialität und internationale Diversifizierung der Aufführungstätigkeit81 – umreißen zentrale Aspekte dessen, was Rau im Ringen um »das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien«82 als Quintessenz der eigenen Kunst verstanden wissen will. Das sich darin artikulierende Sendungsbewusstsein findet eine Entsprechung in der im Verbrecher-Verlag und in Kooperation mit dem NTGent neu gegründeten Reihe Die Goldenen Bücher, die auf dem Gebiet der Kunst- und Theatertheorie deutlich sichtbar ein eigenes Terrain abstecken soll. Diese Reihe, zu der neben der Dokumentation zweier Genter Theaterproduktionen mit den Programmschriften Globaler Realismus (2018), The Art of Resistance (2020) und Why Theatre? (2021) bislang insgesamt fünf Veröffentlichungen zählen, macht den Anspruch auf eine internationale Reichweite von Raus künstlerischen Arbeiten sinnfällig deutlich. Schließlich sind ihre Inhalte nicht nur auf Deutsch, sondern, der selbstgestellten Anforderung eines »­ unablässige[n], globale[n] Gespräch[s]«83 entsprechend, auch auf Englisch, Französisch und Niederländisch verfügbar. Wie dem Klappentext von Band 1 – Globaler Realismus – zu entnehmen ist, geht es der Reihe um die Dokumentation »programmatische[r] Texte zu Theater, Ästhetik und Politik«. Der Bezugsrahmen der in den Goldenen Büchern zu erwartenden Inhalte wird dann durch ein Vorwort von Rolf Bossart, dem langjährigen Stichwortgeber im Aufschreibe- und Kommentarsystem des IIPM, im Band Globaler Realismus abgesteckt: ilo Rau hat mit über 50 Aktionen, Theaterstücken und FilmM produktionen die Ästhetik des Theaters geprägt wie wohl kein anderer zeitgenössischer Künstler. […] Neben Fragen der Darstellbarkeit von Emotionen und Gewalt stehen immer historische Stoffe und Zeugnisse der europäischen Geschichte im Zentrum. […] Der Begriff des Globalen Realismus bezeichnet die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass globalisierte Gesellschaften und Ökonomien, eine Kunst gegenüberstehen muss, die ebenfalls mit diesen globalisierten Realitäten arbeiten kann: ›eine Kunst auf Augenhöhe der Globalisierung‹, um es mit Raus Worten zu sagen.84 Unterm Strich leitet sich der Relevanzanspruch Milo Raus aus der These ab, nur ein globaler Realismus sei als Kunstform realistischer Preenactments85 den globalisierten Herausforderungslagen der

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Gegenwart adäquat. Implizieren die Aktionen des ZPS das affektive Angebot einer moralischen Selbsterhöhung durch die Einwilligung zur Komplizenschaft, resultiert die Attraktivität der Kunst Raus aus der mit Verve formulierten Behauptung einer epistemologischen Ermächtigung, die aus der Konfrontation mit einer ästhetischen Disruption der Normalisierungs- und Verdrängungspraxis der westlichen Welt resultieren soll. An den Performances und Theaterinszenierungen Milo Raus teilzunehmen, bedeutet demnach, der »brutale[n] Integration ins kapitalistische System, das uns alle im Griff hat«86, mit einem entschlossenen Willen zur symbolischen Antizipation notwendiger Veränderung entgegenzutreten. Damit verbunden ist für das Publikum eine Rollenofferte, die weniger auf eine Dialektik des Herzens rechnet, als vielmehr eine Form von desillusionierter Intellektualität anspricht, die sich als eine erwachsene Form einer widerständigen und – dies ist entscheidend – zugleich konstruktiv-revolutionären politischen Praxis vorstellen kann.87

III.

Von Borries: Ironisch bleiben

Die Frage, inwieweit die eigene Variante politischer Kunst trotz der ostentativen Inszenierung kritischer Dissidenz zur notwendigen Adressierung von Öffentlichkeiten in die Verwertungslogiken des kommerziell ausgerichteten (Plattform-)Kapitalismus verflochten bleibt,88 findet sowohl beim ZPS wie auch bei Milo Rau ungeachtet ihrer ausufernden Praxis der Selbstkommentierung keine Beachtung. Mehr noch, ihre jeweiligen, über Facebook, Twitter und Instagram kommunizierten Interaktionsangebote an das Publikum sind ganz wesentlich davon bestimmt, dass sie die nicht weiter reflektierte Möglichkeit behaupten, einen artivistischen Zugang zu authentischer Kritik und nicht-korrumpiertem subversiven Handeln zu eröffnen. Dass in einer solchen kommunikativen Praxis, die implizit von der Möglichkeit einer den Kapitalisierungsverhältnissen der Gegenwartskultur gegenüber externen Position ausgeht, ein performativer Selbstwiderspruch liegen könnte, ist dagegen der Ausgangspunkt für die Aktionskunst des Autors, Kurators und Architekten Friedrich von Borries. Von Borries, der als Professor für Designtheorie an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg lehrt, erkennt in dem aus dem Anspruch auf direkte Wirksamkeit erwachsenden Zwang zum resonanzkalkulierenden Selbst-Marketing eine Schwierigkeit des Artivismus, der konzeptionell auf der Ebene der Produktion authentischer Widerstän-

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digkeit kaum zu entkommen ist. Konsequenterweise realisiert er eine Form politischer Kunst, die sich performativ als Meta-Artivismus mit den aufmerksamkeitsökonomischen Bedingungen der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit eines kritischen ästhetischen Interventionismus auseinandersetzt. Wo ZPS, IIPM und andere artivistische Akteur:innen mit dem Anspruch politischer Relevanz als realitätswütige Brands um die knappe Ressource Aufmerksamkeit konkurrieren, inszeniert er ein kontraintuitives Spiel mit der Adaptionsfähigkeit des Marktes, deren systemstabilisierende Funktion er darin sieht, Formen von Kritik und Widerspruch in Ressourcen von Distinktion und Lifestyle zu verwandeln und anschließend in die Kreisläufe der Konsumption zu reinvestieren. Anders als Rau, der in seinem ersten Manifest Was tun? (2013) gegen die »postmoderne Diktatur des Nicht-Jetzt«89 eine kollektive politische Subjektivität gefordert hatte, »so humanistisch-totalitär [...] wie Lenins Utopie in Staat und Gesellschaft und so wuterfüllt und hysterisch wie seine Aprilthesen«90, entwirft von Borries ausgehend von seinen beiden ersten Romanen 1WTC (2011) und RLF (2013) ein transmediales Kunstprojekt, das als Experimentalraum zweiter Ordnung die Bedingungen und Strukturen ästhetischer Interventionen zugleich bedient und infrage stellt. Instruktiv ist, wie sich von Borries dabei durch Strategien der ironischen Entgrenzung der Fiktion einer Tendenz zur eindeutigen politischen Positionierung verweigert, wie sie die Wirkungsabsicht der meisten Spielformen des zeitgenössischen Artivismus anleitet. Auch wenn seine Aktion auf der narrativen Ebene eine Revolution der neoliberalen Verhältnisse anzustreben vorgibt, arbeitet sie durch ein komplexes Spiel mit Wahrheit und Lüge, Authentizität und Simulation oder auch Kunst und Leben an der Produktion einer Unterscheidungskonfusion, deren disruptives Potenzial sich selbstreflexiv auf die politischen Selbstbeschreibungen der Gegenwartskunst und ihre Praktiken des Popularitätsmanagements richtet. Indem er über mehrere Monate hinweg, ausgehend von der initialen narrativen Intervention, vorführt, wie eine artivistische Marke den aufmerksamkeitsökonomischen Erfordernissen des gegenwärtig herrschenden »hybriden Mediensystems«91 entsprechend vom Storytelling über intensive Social-Media-Aktivitäten bis hin zu Eventgestaltung, Merchandising und massenmedialer Berichterstattung zu etablieren ist, zeigt von Borries, dass es keine Position außerhalb des spätmodernen Kapitalismus geben kann. Ästhetische Kritik kann immer nur immanent operieren, sie bleibt den herrschenden Bedingungen ihrer medialen und ökonomischen Umwelt unterworfen. In der Entfaltung

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dieser Prämisse entwirft RLF ein Mehr-Ebenen-Dispositiv, das mit den bekannten Ingredienzien artivistischer Markenbildung arbeitet, diese aber so in ein selbstreferenzielles Vexierbild integriert, dass sukzessive immer unklarer wird, was das eigentliche Ziel der Aktion sein soll. Vordergründig situiert von Borries seine Arbeit in einer Tradition der künstlerischen Subversion, wie sie die Avantgarden – und allen voran die Situationistische Internationale der 1960er Jahre – in Form von Rekuperation und Détournement als Widerstand gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung propagiert hatten. Er behauptet diese aber gleichzeitig auch zu überschreiten, weil sich das avantgardistisch-subversive Kunsthandeln – man denke auch an Strategien wie das Happening, die Besetzung und Umcodierung öffentlicher Räume oder die Verfahren der Kommunikationsguerilla – letztlich als wenig geeignet erwiesen hat, um die politischen und kulturellen Normalisierungsdynamiken der westlichen Konsumgesellschaften nachhaltig zu stören. Als Autor einer wissenschaftlichen Studie über Markenpolitik und Werbestrategien des Sportartikelherstellers Nike hat von Borries die Techniken der parasitären Aneignung von C ­ ounter-Culture zum Zwecke der Bereitstellung von konsumkompatiblen Identifikationsangeboten, die er im Plot des Romans RLF zum Ansatzpunkt eines Angriffs auf das System macht, zuvor im Detail studiert.92 Im Sinne einer Überaffirmation und gleichzeitigen Re-Funktionalisierung der kulturindustriellen Aneignungspraxis von antikapitalistischer Subkultur entwirft RLF ein fiktionales Szenario, das das kapitalistische »Murketing« zur Kippfigur einer Subversionsphantasie macht, die den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen vorgibt. Der gegenwartskulturellen Marktstrategie des »Murketing«, so Philipp Mirowski, geht es darum, gelebte Erfahrung durch vorgefertigte ›Lifestyles‹ zu ersetzen, wobei es den darin angelegten Widerspruch zwischen Zugehörigkeitsgefühl und Individualität abzuschütteln versucht. M ­ urketing verspricht das aufregende Erlebnis einer Rebellion gegen die Konformität, aber innerhalb der sicheren Grenzen eines gesellschaftlichen akzeptierten Drehbuchs. Apostase gewinnt eine behagliche Note; Aufbegehren ist kaum unterscheidbar von Freizeitvergnügen. Was der Funke sein könnte, an dem sich politischen Engagement entzündet, mutiert zu einer weiteren Gelegenheit zum Shopping. Deshalb bildet Murketing in der heutigen Gesellschaft einen der mächtigsten Schutzwälle gegen tatsächliche politische Mobilisierung.93

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RLF überführt genau diese Praxis der Inklusion von Alterität, die »die Grenze zwischen Marken und Alltagsleben zu verwischen und so den Konsumenten für eben jene kommerzielle Markenkultur einzuspannen«94 versucht, in eine Experimentalanordnung. Diese gibt zunächst vor, die Verwertungslogik des Marktes im Dienste der Revolution der Verhältnisse invertieren zu wollen. In einer überaffirmativen Reinszenierung artivistischer Performanz entstellt sie dabei aber zugleich bis zur Kenntlichkeit, wie stark heutige Protest- und Widerstandsformen – von Borries selbst rekurriert in Interviews wiederholt auf Occupy und Femen95 – aufmerksamkeitsökonomisch mit gängigen Marketing­strategien verflochten sind. Das titelgebende Akronym des Romans, das einerseits innerdiegetisch als Abkürzung für Real Life Fiction gelesen werden kann, zugleich aber auf die Adorno-Sentenz von der Unmöglichkeit eines »richtige[n] Leben im falschen«96 verweist, gibt dabei nicht nur den Reflexionshorizont der Romanhandlung vor, sondern markiert zudem eine kritische Perspektive auf die Möglichkeiten des Artivismus und seine medientechnologischen Determinanten insgesamt. Erzählt wird in RLF von dem Marketingexperten Jan, der während der Londoner riots von 2011, fasziniert von Gewalt und Abenteuer, aus seinem gutbürgerlichen Leben ausbricht. Auf der Suche nach Sinn und Intensität wechselt er, nachdem er zuvor noch erfolgreich eine Kampagne für den Adidas-Sneaker »Urban Force« präsentiert hatte, die Seiten. Er wird zum Polit-Aktivisten und Werber der Revolution, der eine neue Form der Subversion erproben will. Deren grundlegende Idee ist es, den Wunsch nach Exzeptionalität, Ausbruch und Widerstand in Konsum zu verwandeln und so durch eine Invertierung von »Guerilla-Marketing«97 die Techniken der kapitalistischen Wertschöpfung für die eigenen subversiven Zwecke zu funktionalisieren: »Unser politisches System [...]«, so heißt es in einem entsprechenden Manifest, das auf der Website zum Roman veröffentlicht wurde, ist Fassade für Kommerzialisierung und Überwachung. Aber auch der kulturelle und politische Protest der jüngeren Vergangenheit ist gescheitert. Er hat zu keiner gesellschaftlichen Veränderung geführt. Im Gegenteil: Im Kapitalismus wird jede Form von Protest in neue Marketingstrategien übersetzt, Kritik wird zur Optimierung des Systems genutzt. RLF geht deshalb einen anderen Weg. Umsturz durch Überaffirmation. Das richtige Leben im falschen bedeutet Shoppen für die Revolution! Der Slogan ist Programm, Widerstand wird zum kapitalisti-

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schen Produkt, Protest zum konsumierbaren Lifestyle. Im kapitalistischen Revolutions-Realismus werden die akkumulierten Gewinne direkt in Systemalternativen investiert. Die Devise lautet: Den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln überwinden. Show you are not afraid, oder einfach: Werde Shareholder der Revolution.98 Jan, der sich im Fortgang der Handlung mit der Aktivistin Slavia und dem schon aus 1WTC bekannten Künstler Mikael Mikael99 zu einer revolutionären Zelle zusammenschließt, entwickelt eine Marketingstrategie des Widerstands, die mit solchen Interpellationspraktiken arbeitet, wie sie im spätkapitalistischen Subjektivitätsmanagement erfolgreich zum Einsatz kommen.100 Durch den Verkauf von teuren Designprodukten, so der Plan, der sich die »Mechanismen des Erlebnisfunktionalismus«101 gegenwärtiger Konsumpraxen zunutze machen will, sollen Gewinne erwirtschaftet werden, die zum Aufbau einer freien Mikro-Nation genutzt werden können. Die Käufer exklusiver Möbel und anderer Lifestyle-Gegenstände würden damit in einer Umcodierung ihres »persönliche[n] Tun[s] zu Rebellion und Widerstand«102 als »Shareholder der Revolution« daran mitwirken, die Mechanismen des kapitalistischen Warenfetischismus zu nutzen, um an seiner Abschaffung zu arbeiten. Was zunächst als ein paradoxales Spiel mit antikapitalistischen Ausbruchsphantasien erscheint, wird im Kontext der hier angestellten Überlegungen vor allem dann interessant, wenn die Konsequenz in den Blick rückt, mit der von Borries den Roman und die in ihm erzählte Widerstandsgeschichte als ein transmediales Medienereignis inszeniert, das passgenau auf die aufmerksamkeitsökonomischen Anforderungen der Gegenwartsöffentlichkeiten ausgerichtet ist. Über den medial kommunizierten Vorschlag einer Invertierung kulturindustrieller Aneignungspraktiken hinaus geht es bei RLF im Kern um eine Performance, die ihr eigenes aktionistisches Dispositiv zum Gegenstand hat. Die Aktion RLF führt vor, auf welche Strategien des Produktmarketings artivistische Kunst angewiesen ist, um Resonanz zu erzeugen. Dadurch, dass dieser Bezug immer auf die Frage der Konsumierbarkeit von Subversion zurückgebunden bleibt, wird RLF aus der Distanz als eine Blaupause lesbar, die angibt, wie sich Artivismus erfolgreich, das heißt resonanzstark und mit hohem medialem Impact-Faktor zu einem Brand mit Wiedererkennungswert machen lässt.103 Ablesen lässt sich diese Meta-Perspektive zunächst an der Performanz der Aktivisten-Persona von Borries, die – in öffent-

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lichen Auftritten in ihrer Artifizialität durch eine Brille mit Goldrand markiert – »die Autor/innen-Funktion zum Gegenstand künstlerischer Reflexion und Produktion macht«104. Sie betrifft darüber hinaus aber auch die materielle105 und narrative Gestaltung des Romans selbst. Dessen Storytelling, das eine flache Figurenzeichnung und klischeehafte Sprache mit pornographischen Elementen und einem erwartbaren Thriller-Plot kombiniert,106 ist durch eine zweite, im Schriftsatz abgehobene Ebene unterbrochen, auf der neben lexikonartigen Einträgen zu realen Protestereignissen, Kunstprojekten und kritischen Intellektuellen (neben Jeff Koons tauchen Zygmunt Bauman, Michel de Certeau, Theodor Adorno, Pierre Bourdieu, Guy Debord, Andreas Baader, Das unsichtbare Komitee und viele andere auf) auch Interview-Transkriptionen mit bekannten Kritiker:innen, Aktivist:innen und Forscher:innen abgedruckt sind (u. a. Hakim Bey, Judith Butler, Kalle Lasn und Harald Welzer), die zum Verhältnis von Kunst, Kapitalismus und Widerstand befragt werden. Diese Strategie der Metakommentierung, die in Milo Raus Materialbänden prominent zum Einsatz kommt, gehört genauso zur in RLF ausgestellten Akkumulation von symbolischem Kapital wie der Umstand, dass der Text bei Suhrkamp beheimatet ist. Korrespondierend zum Erscheinen des Romans initiiert von Borries, der sich in seinen vorausliegenden wissenschaftlichen Publikationen mit kommunikativen Guerillataktiken und Instrumenten der Counter-Camouflage und des Fake beschäftigt hatte, eine umfassende Social-Media-Strategie, die ihren Reiz aus der Hybridisierung von Fakt und Fiktion gewinnt. So wird ein Twitter-Account aktiv, der aus der Sicht der Roman-Aktivistin Slavia politische Kommentare artikuliert. Darüber hinaus geht auch eine Facebook-Seite online, die einzelne Teilaktionen vorstellt und terminiert und die Diskussion über RLF moderiert. Eine weitere wichtige Arena ist die Projekt-Website, die das Manifest der Aktion verbreitet, die im Roman edierten Interviews als Video- und Audiodateien zur Verfügung stellt und die zum Kauf angebotenen Konsumgüter – Möbel, ein Tee-Service, ein Armband, und, als Highlight, einen re-designten Nike-Sneaker mit dem pointieren Namen »Urban Force«– in Form überbetonter Warenfetischisierung vorführt.107 Während Roman und soziale Medien sich um die Adressierung eines medial verstreuten Publikums bemühen, führt die Teilnahme von RLF an der Berliner 1.-Mai-Demonstration ein offlineEvent in die Kampagne ein, die der präsentierten Widerstandserzählung einen heroischen Anstrich gibt und entsprechende tumultartige Bewegungsbilder von Straßenkampf, martialisch auftretender Polizei etc. bereitstellt. Dass diese wiederum medial oszillieren, dafür sorgt

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neben den Social-Media-Kanälen auch die zeitnahe mediale Berichterstattung, etwa im Kulturmagazin von 3sat, und eine die Romanerzählung fortführende Mockumentary (Arte, gesendet am 10. Februar 2014), die auf die Popularität der Aktion reagiert und diese ihrerseits steigert. Abschließend ist festzustellen, dass RLF in ostentativer Deutlichkeit den gesamten Kreislauf öffentlichkeitsbezogener Inszenierungsstrategien, der einer artivistischen Performance zu Verfügung steht, in einem Reenactment verdoppelt. Der Umstand, dass sich die politische Positionierung des Projekts trotz aller Pathosformeln der Affirmation von Dissidenz ironisch an dem Umstand bricht, dass nie klar wird, wer hier wen parasitiert – die kritische Kunstaktion den Komplex von konsumistischer und aufmerksamkeitsökonomischer Verwertungspraxis oder umgekehrt – rückt von Borries dabei sehr viel näher an eine ästhetische Politik der Form, wie sie etwa für Christoph Schlingensief kennzeichnend war,108 als dies bei Rau oder dem ZPS der Fall ist. Während letztere in ihrem Ringen um politische Wirksamkeit ihr Handeln letztlich in einem Register der Fremdreferenz situieren, verbleibt von Borries’ Intervention im Spektrum der ästhetischen Selbstreferenz verhaftet. Dort, wo die einen auf Widerspruch und eine symbolische Vorwegnahme einer alternativen politischen Praxis setzen und dafür die Ressource »Authentizität« investieren, bleibt jener einem ironischen Spiel mit doppeltem Boden verpflichtet, das vorführt, wie umfassend auch interventionistische Kunst den Vorgaben der Event-affinen Erlebnisgesellschaft unterworfen ist. Vielleicht hat von Borries’ Spiel mit Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen heute, knapp zehn Jahre später, vor dem Hintergrund einer grassierenden Krise der Aufklärung, die zugleich die Krise einer konsensuellen Epistemologie ist, etwas an reflexiver Irritationskraft eingebüßt. Dieser Eindruck drängt sich zumindest auf, wenn man das Feld aktivistischer Kunst betrachtet. Während das ZPS und insbesondere das IIMP dauerhaft zu Marken mit hohen Popularitätswerten und starken Relevanzzuschreibungen geworden sind, hat Friedrich von Borries nach der medialen Hochkonjunktur der Aktion RLF in den Jahren 2013/14 Abstand von einer primär auf die Produktion von Ambiguitätserfahrungen abzielenden Interventionsagenda genommen. Sein 2021 veröffentlichter, dritter Roman mit dem Titel Fest der Folgenlosigkeit109 nimmt zunächst auf der Handlungsebene die von RLF aufgeworfene Frage nach den interventionistischen Möglichkeiten der Kunst wieder auf, insofern er auf der diegetischen Ebene von dem friktionsreichen Geflecht von Klimawandel, Protest, Kunst, Kapital und ­Greenwashing erzählt. Und

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auch hinsichtlich der transmedialen Ausfaltung seiner Grundidee steht der Roman in der Kontinuität früherer Projekte: Ergänzt wird Fest der Folgenlosigkeit etwa von einem – selbst wiederum im Text thematisierten – Dokumentarfilm, einer Ausstellung an der HfbK Hamburg und einer Lern-App, mittels derer sich User:innen in einer „Schule der Folgenlosigkeit“ darin unterweisen lassen können, ein möglichst klimafreundliches, konsumistisch enthaltsames Leben zu führen.110 Anders als in RLF liegt in Fest der Folgenlosigkeit der Akzent aber nicht auf einem verunsichernden Spiel mit Erwartungserwartungen und Deutungsaporien. Zwar spielt auch im aktuellen Projekt das Performative als Möglichkeit der Übersetzung der Narration in den Resonanzraum der Gesellschaft eine tragende Rolle. Allerdings hat das dispositive Arrangement, das verschiedene Diskussions- und Vortragsformate, App, Ausstellung und Dokumentarfilm verschaltet, vor allem die Funktion, den gesellschaftlichen common sense der ökologischen Verantwortungsdelegation an Wirtschaft und Politik in Frage zu stellen. Ausgehend von der Beobachtung, dass die derzeit gesellschaftlich dominanten Selbst- und Fremderzählungen über den Umgang mit dem Klimawandel in die Stagnation führen, fragt von Borries danach, ob, und wenn ja, welche anderen Erzählungen möglich wären. Unter dieser Perspektive nutzt der Autor die romaninterne Thematisierung der eigenen Textgenese, um vorzuführen, dass homogene Narrative und die ihnen zugrundeliegenden Weltmodelle das Ergebnis von zuvor getroffenen Entscheidungen und normativen Setzungen sind. Indem von Borries parallel zur narrativen Entfaltung des Plots eine extradiegetische Autorenstimme einführt, die über Figurengestaltung, Handlungsführung etc. reflektiert, realisiert sich im performativen (Nach-)vollzug der auktorialen Entscheidung und ihrer narrativen Wirkungen ein Kontingenzbewusstsein dafür, dass jenseits der Evidenz der dargestellten Handlung immer auch ganz andere Erzählungen möglich wären. Damit ist eine doppelte Unterbrechung von Selbstverständlichkeit verbunden: Indem von Borries als Antwort auf das Anthropozän das Streben nach der größtmöglichen Folgenlosigkeit des eigenen Tuns als Paradigma nachhaltigen Handelns ausruft, adressiert er einerseits die Aufmerksamkeitsökonomie einer aktivistischen Kunst, die ihr Wirkungskalkül gemeinhin am größtmöglichen Impact ausrichtet, also gerade nicht folgenlos bleiben will. Andererseits stellt die Reflexivität seines Romans auf einer Metaebene die Plausibilität einer postpolitischen Alternativlosigkeitserzählung in Frage, für die der Rekurs auf Nachhaltigkeit oftmals einzig die Funktion hat, den an einer Logik des Wachstums orientierten ­Reproduktionsmodus

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des kapitalistischen Modells weitestgehend unbeschadet aufrechterhalten zu können. Schlussendlich zielt Fest der Folgenlosigkeit damit auf eine Form des Erzählens ab, die in das gesellschaftliche Imaginäre intervenieren und der Zukunft den Status eines Möglichkeitsraums zurückgeben will. Eine solche Adressierung der individuellen wie kollektiven Vorstellungskraft ist angesichts der »posthumen Kondition«111 des Anthropozäns, in dem von der Zukunft scheinbar nur noch in Form einer unumkehrbaren Zerstörung erzählt werden kann, ein durchaus radikaler Ansatz.

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1 Vgl. Hierzu als Materialsammlung Van den Berg, Karen/Jordan, Cara M./Kleinmichel, Philipp (Hrsg.): The Art of Direct Action. Social Sculpture and Beyond, Berlin 2019. 2 Vgl. hierzu Malzacher, Florian: Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute, Berlin 2020. Kritisch demgegenüber: Ullrich, Wolfgang/Bieling, Tom: »Die Kunst als fünfte Gewalt im Staat? Ein Gespräch über Artivismus«, online unter: https://designabilities.files.wordpress.com/2017/09/designabilities_wolfgang­ ullrich_tombieling_artivismus_sept2016-17.pdf (Zugriff am 30. Dezember 2020). 3 Vgl. hierzu Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere, Berlin 2019. 4 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 2001, S. 343. 5 Holert, Tom: »Zwingende Systeme. Die Funktion der Gegenwartskunst (vor und nach ihrem Ende)«, in: Eusterschulte, Birgit/Krüger, Christian/Siegmund, Judith (Hrsg.): Funktionen der Künste. Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken, Stuttgart 2020, S. 61 – 74, hier S. 63. Vgl. zur Autor-Funktion grundlegend Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. 1 (1954 – 1969), Frankfurt a. M. 2001, S. 1001 – 1043. 6 Knava, Irene (Hrsg.): Audiencing, Besucherbindung und Stammpublikum für Theater, Oper, Tanz und Orchester, Wien 2009. 7 Schaffrick, Matthias/Willand, Marcus: »Autorschaft im 21. Jahrhundert. Bestandsaufnahme und Positionsbestimmung«, in: dies. (Hrsg.): Theorien und Praktiken der Autorschaft, Berlin/Boston 2014, S. 3 – 148, hier S. 85. Theaterwissenschaftliche Untersuchungen zur Konstruktion von Autorschaft sind weitestgehend ein Desiderat. Es erscheint daher hilfreich, Fragen und Kategorien der sehr viel weiter gediehenen literaturwissenschaftlichen Autorschaftsforschung behutsam zu adaptieren. 8 Wagner-Egelhaaf, Martina: »Auf der Intensivstation. Oder: Die Autormaschine. Zu John von Düffels ›Missing Müller (Müllermaschine)‹«, in: Hellmond, Martina u. a. (Hrsg.): Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, 195 – 211, hier S. 211. 9 Warstat, Matthias: »Politische Dynamiken des Gegenwartstheaters. Funktionen einer Selbstmobilisierung«, in: Eusterschulte, Birgit/Krüger, Christian/Siegmund, Judith (Hrsg.): Funktionen der Künste. Transformatorische Potentiale künst­ lerischer Praktiken, Stuttgart 2020, S. 75 – 91, hier S. 75. 10 Krämer, Sybille: »Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz: Zwischen Sprachphilo­ sophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 323 – 346, hier S. 345. 11 Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 12 Vgl. Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommuni­ kation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin/New York 2007, S. 5ff. 13 Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Berlin 2013. 14 Vgl. zu den folgenden Ausführungen zum ZPS auch Koch, Lars: »Über artivistische Interventionen. Invektivität, Medien, Moral«, in: Zeitschrift für Kultur­ wissenschaften 1 (2021): Invektive Gattungen, hg. v. Marina Münkler und Antje Sablotny, S. 248 – 267. 15 Ruch, Philipp: »Aggressiver Humanismus. Von der Unfähigkeit der Demokratie große Menschenrechtler hervorzubringen«, in: Bierdel, Elias/Lakitsch, Maximilian (Hrsg.): Wege aus der Krise. Ideen und Konzepte für Morgen, Wien/Münster 2013, S. 105 – 119. 16 So die Selbstbeschreibung des ZPS auf der Homepage https://politicalbeauty. de/ueber–das-ZPS.html (Zugriff am 3. Januar 2021). 17 Ebd. 18 https://politicalbeauty.de/Komplizenschaft.html (Zugriff am 3. Januar 2021). 19 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2008. 20 So der Titel einer Werkschau von 2018. Vgl. Stange, Raimar/Hummel, Miriam/ Waldvogel, Florian (Hrsg.): Haltung als Handlung. Das Zentrum für Politische Schönheit, München 2018. 21 So die programmatische Selbstbeschreibung auf der ZPS-Homepage, https:// politicalbeauty.de/ueber–das-ZPS.html (Zugriff am 28. April 2020).

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22 Unter der Formel »Dialektik des Herzens« fasste Helmuth Plessner 1924 die kulturkritische Affektpolitik der Jugendbewegung, die ganz auf das Sozialmodell der Gemeinschaft ausgerichtet war. Irritationsaversion nach innen und moralische Überhöhungsbereitschaft nach außen liefen dabei parallel. Vgl. Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radika­ lismus, Frankfurt a. M. 2001, S. 12. 23 Vgl. zur Rolle affektiver Ansprache auch Jasper, James: The Emotion of Protest, Chicago/London 2018. 24 Eder, Jens/Hartmann, Britta/Tedjasukama, Chris: Bewegungsbilder. Politische Videos in Sozialen Medien, Berlin 2020, S. 26. 25 Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2016, S. 133. 26 Brook, Peter: Der leere Raum, Berlin 1985, S. 94. 27 So im Kern die Kritik von Ullrich, Wolfgang: Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur, Berlin 2017, S. 136ff. 28 Vgl. Gerbaudo, Paolo: Tweets and the Streets. Social Media and Contemporary Acti­ vism, London 2012. 29 Ruch, Philipp: Schluss mit der Geduld. Jeder kann etwas bewirken. Eine Anleitung für kompromisslose Demokraten, München 2019, S. 180f. 30 Hayner, Jakob: Warum Theater?, Berlin 2020, S. 83f. 31 Bishop, Claire: »Antagonism and relational aesthetics«, in: October 110 (2004), S. 51 – 79, hier S. 54. 32 In paradigmatischer Weise ist diese Strategie der Publikumsinklusion bei der Aktion Die Toten kommen zu beobachten, wo bei der Beerdigung einer auf der Flucht über das Mittelmeer zu Tode gekommenen Frau auf einem Berliner Friedhof namentlich gekennzeichnete Stuhlreihen für die Mitglieder der Bundesregierung aufgestellt wurden. Diese personelle Adressierung von Verantwortung gewährt den Zuschauenden eine Möglichkeit zur Externalisierung von Unbehagen, insofern die Anerkennung systemischer Mitverantwortung für die prekäre Situation im Mittelmeer in der Reklamation von Solidarität vermieden werden kann. Vgl. hierzu auch Koch, Lars/Prokic, Tanja: »Die Weißen der Kritik. Zur Ästhetik der Grenze in den Aktionen Die Toten kommen und Flüchtlinge fressen. Not und Spiele des Zentrums für Politische Schönheit«, in: Böhm, Roswitha/Tiller, Elisabeth (Hrsg.): Die mediale Umwelt der Migration. Kulturelle Aushandlung im 20. und 21. Jahrhundert, Bielefeld 2022. 33 Vgl. ZPS: »Komplize werden«, https://politicalbeauty.de/Komplizenschaft.html (Zugriff am 3. Januar 2021). 34 Nicht der Autor als Person, sondern als Funktion ist also hier von Interesse, insofern diese bestimmte kommunikative Zwecke erfüllt. In diesem Sinne ist der Autor nicht als »feststehende Gegebenheit […]« zu verstehen, sondern als Effekt »aus paratextuellen Verhältnissen und Transaktionen zwischen biografischen Angaben, Vorworten und Epitexten.« Vgl. Schaffrick/Willand: »Autorschaft im 21. Jahrhundert«, S. 90. 35 Vgl. Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. 36 Ruch, Philipp: Wenn nicht wir, wer dann? Ein politisches Manifest, München 2015, S. 110. Wie sehr dieser neuhumanistische Bildungsbegriff im 19. und frühen 20. Jahrhundert selbst in die Mentalitäts- und Sozialgeschichte des deutschen Nationalismus verwoben war, spart Ruch freilich aus. Vgl. hierzu Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1993. 37 Ruch: Wenn nicht wir, wer dann?, S. 119. 38 Selbstbeschreibung des ZPS, https://politicalbeauty.de (Zugriff am 20. Januar 2021). 39 Ruch: Schluss mit der Geduld, S. 59 und S. 135. 40 So tritt der Klappentext von »Schluss mit lustig!« den Leser:innen mit dem vierfachen Imperativ »Denke!«, »Kämpfe!«, »Ächte!« und »Humanisiere!« entgegen. 41 Ebd., S. 182. 42 Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 270. 43 Vgl. hierzu den Kommentar von Christoph Twickel: »Die Diktatur der Anständigen. Das ›Zentrum für Politische Schönheit‹ tarnt Ideologie als Humanismus«, in: Zeit-Online, 17. Dezember 2019, https://www.zeit.de/2019/53/zentrum-fu-

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er-politische-schoenheit-aktivismus-humanismus-ideologie (Zugriff am 27. April 2020) sowie Colleck, Max: Gegenwartsbewältigung, München 2020, S. 150f. 44 Vgl. Marke hier verstanden als publikumsbildende Relation von Erwartungsstruktur und Selektionskriterium, vgl. Bünsch, Nicola: »Markenbildung für Theaterbetriebe. Forschungsstand und Perspektiven«, in: Höhne, Stefan/ Bünsch, Nicola/Ziegler Philipp (Hrsg.): Kulturbranding III, Leipzig 2011, S. 101 – 123. 45 Rau, Milo/Bossart, Rolf: »Was ist globaler Realismus?«, in: Rau, Milo (Hrsg.): Globaler Realismus. Goldenes Buch I, Berlin 2019, S. 33 – 42, hier S. 39. 46 Ebd., S. 36. 47 Bossart, Rolf: »Symbolisierungsakt und heroische Öffentlichkeit. Thesen zur politischen Wirksamkeit von Milo Raus Theaterarbeiten«, in: ders. (Hrsg.): Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013, S. 78 – 89, hier S. 84. 48 Rau, Milo/Bossart, Rolf: »Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt«, in: Bossart, Rolf (Hrsg.): Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013, S. 14 – 35, hier S. 27. 49 Vgl. hierzu auch sein Manifest Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft, Zürich 2013. 50 Rau/Bossart: »Was ist globaler Realismus?«, S. 37. 51 Rau/Bossart: »Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt«, S. 35. 52 So der Titel eines programmatischen Essay-Bandes von 2013. Vgl. Bossart, Rolf (Hrsg.): Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Poli­ tical Murder, Berlin 2013. 53 Rau, Milo/Welzer, Harald: »Man muss neue, utopische Institutionen vorbereiten«, in: Rau, Milo/IIPM (Hrsg.): General Assembly, Berlin 2017, S. 10 – 43, hier S. 12. 54 Rau, Milo/IIPM (Hrsg.): General Assembly, Berlin 2017, S. 8. 55 Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1997, S. 112. 56 Vgl. zur Produktion von Autorität auch Gelshorn, Julia (Hrsg.): Legitimationen. Künstlerinnen und Künstler als Autoritäten der Gegenwart, Berlin u. a. 2005. 57 Rau, Milo/Bossart, Rolf: »Was ist zynischer Humanismus?«, in: Rau, Milo (Hrsg.): Globaler Realismus. Goldenes Buch I, Berlin 2018, S. 43 – 57, hier S. 49. 58 Rau/Bossart: »Was ist Globaler Realismus?«, S. 41. 59 So wurde beispielsweise die General Assembly aus den Räumen der Berliner Schaubühne live über die Facebook-Seite des IIMP gestreamt. Vgl. https://www. facebook.com/verlag.diaphanes/photos/live-stream-dt-engl-frgerade-läuft-inder-schaubühne-berlin-die-general-assembly/1881843441843747/ (Zugriff am 21. Januar 2021). 60 Brecht, Bertolt: »Der Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment«, in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Schriften 1, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 2001. S. 448 – 514, hier S. 469. 61 Diese Einschätzung trifft vor allem auf aktuelle Arbeiten wie das Kongo-Tribunal (2015), Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (2016), General Assembly (2017) oder aktuell auch Das Neue Evangelium (2020) zu. Demgegenüber ist etwa das Stück Die 120 Tage von Sodom (2017) von einer Affektpolitik dominiert, die gerade nicht auf Ambivalenz und Verunsicherung abzielt, sondern die Konsumption moralischer Betroffenheit ermöglicht. Vgl. hierzu Koch, Lars: »Staging Disability (Christoph Schlingensief, Milo Rau)«, in: Häusler, Anna/ Heyne, Elisabeth/Koch, Lars/Prokic, Tanja: Verletzen und Beleidigen. Versuche einer theatralen Kritik der Herabsetzung, Berlin 2020, S. 193 – 258, vor allem S. 239ff. 62 Dass dieser Raum immer prekär bleibt und zur beruhigenden Schließung tendiert, stellen Anna Häusler und Tanja Prokic mit Blick auf Raus Inszenierung Die Wiederholung fest: »Verwandt einer Subkultur herrscht in der Blase des Theaters ein exklusiver Diskurs des Einverständnisses, der den Kontakt zum Außen verloren bzw. unterlaufen hat. Mit seinem Realismus des Sehens und speziell mit dem Genter Manifest versucht Milo Rau, diese Blase platzen zu lassen und eine realistische, inklusive Sicht auf ihr Außen zu gewinnen. Ob er die Blase

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dabei lediglich ausweitet oder gar reproduziert, wird zu diskutieren sein. Denn mit dem Platzen der Blase zerplatzt auch das Bild von einem Außen, das durch die Imagination der Blase bedingt war. So wenig das theatrale Publikum von außen auf etwas schauen kann, sondern von innen her an dessen Hervorbringung beteiligt ist, so wenig generiert die theatrale Öffentlichkeit eine Offenheit, sondern im Gegenteil eine diskursive Schließung. Das gilt ganz besonders für die Inszenierung einer idealen Öffentlichkeit, als die das Theaterpublikum eingesetzt wird.« Häusler, Anna/Prokic, Tanja: »Nach dem Theater – vor dem Palast. Zum Theater als Schnittstelle von Publikum und Öffentlichkeit«, in: Kruse, Jan-Philipp/Müller-Mall, Sabine (Hrsg.): Digitale Transformationen der Öffentlichkeit, Weilerswist 2020, S. 193 – 206, hier S. 199. 63 Rau, Milo: »Wie war das denn, als der erste Proletarier auf der Bühne erschien?«, in: ders. (Hrsg.): Globaler Realismus. Das Goldene Buch I, Berlin 2018, S. 72 – 74, hier S. 72. Interessant ist in diesem Kontext auch ein Vergleich der Gestaltung der Internetauftritte von ZPS und IIMP. Ihrer Funktion nach fungieren beide als Archiv und Super-Epitext, der ergänzende Materialien offeriert, öffentliche Reaktionen archiviert und einzelne Aktionen und Inszenierungen dokumentiert. Während aber die ZPS-Seite ästhetisch einem Hochglanzmagazin entspricht, dass auf visuelle Affizierung ausgerichtet ist, präsentiert sich die IIPM dezidiert nüchtern und textlastig. Parallel zu ihrem Webauftritt sind ZPS und IIMP auch auf allen gängigen sozialen Plattformen aktiv, wobei Rau hier zielgruppengerecht deutlich stärker auf Facebook präsent ist, während das ZPS mit über 700 Beiträgen bei Instagram und knapp 140.000 Followern bei Twitter vor allem die tendenziell etwas jüngeren Adressat:innenkreise bedient (Stand Januar 2021). 64 Rau/Welzer: »Man muss neue, utopische Institutionen vorbereiten«, S. 18. 65 Wihstutz, Benjamin: »Antagonistische Dramaturgie: Ein Gespräch mit Milo Rau«, in: Umathum, Sandra/Deck, Jan (Hrsg.): Postdramaturgien, Berlin 2020, S. 57 – 66. 66 Rau/Welzer: »Man muss neue, utopische Institutionen vorbereiten«, S. 34. 67 Rau, Milo: »Die Kunst des Widerstands – eine Rede«, in: Martinsen, Franziska (Hrsg.): Protest! Die 21. Hannah Arendt-Tage, Weilerswist 2019, S. 68 – 88, hier S. 72. 68 Ebd., S. 70. Diese Autorkonstruktion wird an anderen Stellen immer wieder durch die Versammlungspolitik der aktionsbegleitenden Materialbücher unterstrichen. So spricht Rau u. a. im Band zur General Assembly mit dem Transformationsforscher Harald Welzer, fügt seiner Publikation Die 120 Tage von Sodom einen Essay des linken Gewaltforschers Klaus Theweleit hinzu oder debattiert im Ausstellungsband Die Enthüllung des Realen mit der Slawistin Sylvia Sasse, dem Soziologen Heinz Bude und dem Medientheoretiker Friedrich Kittler. 69 Rau/Bossart: »Was ist globaler Realismus?«, S. 33. 70 Jürgensen/Kaiser: »Inszenierungspraktiken«, S. 12. 71 Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Berlin 2005. 72 Rau, Milo/Bossart, Rolf: »Ich bin ein Postmoderner ohne postmodernen Gestus«, in: Rau, Milo (Hrsg.): Globaler Realismus. Goldenes Buch I, Berlin 2018, S. 11 – 21, hier, S. 11. 73 Rau/Bossart: »Was ist zynischer Humanismus?«, S. 47. 74 Rau, Milo: »Was mit ›Lynch‹ gemeint ist«, in: ders.: Althussers Hände. Essays und Kommentare, Berlin 2015, S. 177 – 188. 75 So gehört zur Intellektuellenperformance über einen entsprechenden Kleidungsstil hinaus natürlich auch, die eigene Bücherliebe zu betonen: »Es sind ziemlich genau 5000, je zur Hälfte Belletristik und Sachbücher, aufgeteilt auf drei Regalwände, gestapelt in meinem Büro, unseren Schlafzimmern, auf den Treppen. Ich habe Literatur studiert und eine Weile als Kritiker gearbeitet.« Vgl. Rau, Milo: »Ich schleppe riesige Büchertaschen mit mir rum«, Interview im Tagblatt, 19. Oktober 2019, https://www.tagblatt.ch/kultur/ gebucht-rubrik-mit-regisseur-milo-rau-ich-schleppe-riesige-buechertaschen-rum-ld.1160877 (Zugriff am 10. Januar 2021) 76 Zur Produktion der Marke »Milo Rau« trägt die Verlags-Kontinuität bei, insofern sich alle Materialbände in Typografie, Format etc. gleichen und damit sukzessive einen wiedererkennbaren Text- und Gedankenkörper ausbilden.

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77 Der antagonistische Stil seiner Inszenierungen kommt hierbei gerade nicht zum Tragen. Die analytischen Textbeiträge, die die Dokumentation von ­Material-Recherchen und Theatertexten ergänzen, sind durch die Bank weg sehr wohlwollend gehalten. 78 Rau, Milo: »Das Genter Manifest«, in: ders. (Hrsg.): Globaler Realismus. Das Goldene Buch I, Berlin 2018, S. 142 – 145, hier S. 142. 79 Wie Ruch bewegt sich Rau mit dem »Genter Manifest« in einer Generaltendenz aktivistischer Kunst, die über den polemisch artikulierten Anspruch, die Welt verändern zu wollen, immer auch eine auf öffentliche Resonanz abzielende Selbstaufwertung betreibt. Vgl. Puchner, Martin: Poetry of the Revolution: Marx, Manifestos, and the Avant-gardes, Princeton 2006. 80 Ruchatz, Jens: »Interview-Authentizität für die literarische Celebrity. Das Autoreninterview in der Gattungsgeschichte des Interviews«, in: Hoffmann, Torsten/ Kaiser, Gerhard (Hrsg.): Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbe­ trieb, Paderborn 2014, S. 45 – 62, hier S. 56. 81 Rau: »Das Genter Manifest«, S. 144f. 82 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 2001, S. 253. 83 Rau, Milo: »Was ist Welttheater?«, in: ders. (Hrsg.): Globaler Realismus. Das Goldene Buch I, Berlin 2018, S. 126-129, hier S. 127. 84 Bossart, Rolf: »Vorwort«, in: Rau, Milo (Hrsg.): Globaler Realismus. Das Goldene Buch I, Berlin 2018, S. 7 – 8, hier S. 7. 85 Vgl. hierzu auch Walter-Jochum, Robert: »(P)Reenacting Justice: Milo Raus Tribunale als Theater der Empörung«, in: Themengruppe (P)Reenactment (Hrsg.): Performance zwischen den Zeiten: Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft, Bielefeld 2019, S. 159 – 176. 86 O.A.: »Theaterextremist Milo Rau: ›Das ist eine epochale Erfahrung‹. Interview«, in: Wiener Zeitung, 20. Mai 2020, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/buehne/2060799-Theaterextremist-Milo-Rau-Das-ist-eine-epochale-Erfahrung.html (Zugriff am 21. Januar 2021). 87 Interessant ist, dass die artivistische Kritik an den bestehenden Verfahren und Institutionen der repräsentativen Demokratie hinsichtlich ihrer ästhetischen Formen in eine unheimliche Nachbarschaft zur Affektpolitik der radikalen Rechten gerät. Auf eine entsprechende Korrespondenz zwischen ZPS und Identitärer Bewegung vgl. Ullrich, Wolfgang: »Die Wiederkehr der Schönheit: Über einige unangenehme Begegnungen«, in: Pop-Zeitschrift, 07. November 2017, https://pop-zeitschrift.de/2017/11/07/die-wiederkehr-der-schoenheit-ueber-einige-unangenehme-begegnungenvon-wolfgang-ullrich07-11-2017/ (Zugriff am 09. Januar 2021). Die Abschlussveranstaltung zur General Assembly, der »Sturm auf den Reichstag«, erscheint nach der Eskalation der Corona-Proteste am 29. August 2020 in Berlin und dem Angriff auf das Capitol am 06. Januar 2021 in einem ähnlich prekären Licht. 88 Insofern etwa, als die Facebook- und Instagram-Seiten von IIMP bzw. ZPS nicht aufhören, im Back-End User-Daten zu sammeln und zu verwerten, nur weil sich ihr Content auf dem Front-End gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit wendet. Vgl. Pasquale, Frank: »The Automated Public Sphere«, in: Rudinow Saetan, Ann/ Schneider, Ingrid/Green, Nicola (Hrsg.): The Politics of Big Data. Big Data, Big Brother?, London/New York 2018, S. 110 – 128; Simanowski, Roberto/Reichert, Ramon: Sozialmaschine Facebook. Dialog über das politisch Unverbindliche, Berlin 2020, insbesondere S. 33ff. 89 Rau: Was tun?, S. 54. 90 Ebd. S. 67. 91 Vgl. Chadwick, Bruce: The Hybrid Media System: Politics and Power, Oxford 2017, der zeigt, dass Resonanz heute wesentlich von den wechselseitigen Resignifizierungen von sozialen und klassischen Nachrichtenmedien ausgeht. 92 Vgl. von Borries, Friedrich: Wer hat Angst vor Niketown? Nike-Urbanismus, B ­ randing und die Marketing-Stadt von morgen, Rotterdam 2004. 93 Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2019, S. 144f. 94 Ebd., S. 144. 95 Von Borries, Friedrich: »Ich hoffe auf Risse im System«, in taz-online, 23. Dezember 2013, https://taz.de/Kapitalismuskritik/!5052067/ (Zugriff am 23. Januar 2021).

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96 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus einem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 2016, S. 43. 97 von Borries, Friedrich: RLF. Das richtige Leben im falschen, Berlin 2013, S. 95. 98 Vgl. die mittlerweile nur noch bedingt funktionsfähige Homepage zu RLF, https://rlf-propaganda.tumblr.com (Zugriff am 22. Januar 2021). 99 Dieses alter ego des Autors und Kurators von Borries trägt weiter zur Hybridisierung von Fiktion und Wirklichkeit bei, insofern er in der ›realen‹ Berliner Szene aktiv ist, Kunstobjekte ausstellt und selbst zwei Bände bei Merve (mit den programmatischen Titeln Whiteout, 2012 und Blackout, 2015) veröffentlicht, in denen es um die zeitgenössische Camouflage-Techniken unter den Bedingungen digitaler Medialisierung geht. 100 In seiner Nike-Studie kommt von Borries auf einen Werbespot der Jeans-Marke Levi’s zu sprechen, die paradigmatisch für diese Strategie des Murketings steht. Der Spot Go Forth (2002) versammelt, unterlegt vom Bukowski-Gedicht The Laughing Heart und sphärischen Synthesizer-Klängen, affektiv übercodierte Bildsequenzen von Strand und Lagerfeuer mit solchen einer Erster-Mai-Demonstration in Berlin. 101 von Borries: Wer hat Angst vor Niketown?, S. 87. 102 Mirowski: Untote leben länger, S. 144. 103 Es gehört zum Spiel mit der Unterscheidung von Fakt und Fiktion, dass Friedrich Borries die Aktion RLF selbst zum DFG-geförderten Forschungsprojekt macht. In diesem Kontext ist auch ein zusammen mit Anne Levy verfasster Beitrag entstanden, der die einzelnen Elemente der Aktion als Teil einer resonanzkalkulierenden Gesamtstrategie zusammenträgt. Vgl. von Borries, Friedrich/Levy, Anne: »Zum Beispiel RLF. Kritik, Kunst und die Wirklichkeit heute«, in: Everst, Lotte/Lang, Johannes/Lüthy, Michael/Schnieder, Bernhard (Hrsg.): Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation, Bielefeld 2015, S. 159 – 175; in eine ähnliche Richtung zielt von Borries, Friedrich/Recklies, Mara: »Der intervenierende Forscher und seine Selbstreflexion«, in: Benthien, Claudia/Klein, Gabriele (Hrsg.): Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformation, Paderborn 2017, S. 349 – 356. Vgl. auch von Borries’ theoretische Annäherungen an das Programm ästhetischer Interventionen in den Merve-Bänden von Borries, Friedrich/Hiller, Christian/Herber, Daniel/Wegner, Friederike/Wenzel, Anna Lena: Glossar der Interventionen. Annäherung an einen überverwendeten, aber unbestimmten Begriff, Berlin 2012 und von Borries, Friedrich/Recklies, Mara: IUI. Propädeutik der Intervention, Berlin 2018. 104 Holert, »Zwingende Systeme«, S. 67. 105 Das Cover des Romans ist – wie dann die Lifestyle-Design-Gegenstände, die Projekt-Website, entsprechende Flyer etc. auch – in Schwarz, Weiß und Gold gehalten, was einen direkten Wiedererkennungswert garantiert. 106 Was nicht dem literarischen Unvermögen des Autors anzulasten ist, sondern Teil der Rekuperationsstrategie der Aktion ist, insofern hier der populäre Roman in den Dienst der Subversion gestellt wird. Vgl. zur ästhetischen Strategie auch Peeters, Wim: »Literatur als Teil von Big Data. Friedrich von Borries’ Romane 1WTC und RLF«, in: Jung, Werner/Schüller, Liane (Hrsg.): Orwells Erbe. Überwachungsnarrative, Bielefeld 2019, S. 165 – 181. 107 Auch diese Form des Merchandising ist mittlerweile anzutreffen, etwa bei ZPS, das unter dem Titel »Revolutionarien« u. a. T-Shirts vertreibt. Im Kontext der Aktion Sucht nach uns! wurden für 75€ eine Zeit lang auch »Schwurwürfel« angeboten, die in einem Glaskubus Bodenproben aus den Gebieten enthielten, in denen das Kollektiv nach der Asche der ermordeten Juden gesucht hatte. 108 Koch, Lars: »Performance als Bilderstörungsmaschine bei Christoph Schlingensief«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014): Krisen, Katastrophen, Störungen, S. 116 – 134. 109 von Borries, Friedrich: Fest der Folgenlosigkeit, Berlin 2021. 110 Neben kleinen Video-Essays und Geschicklichkeitsspielen enthält die App Interviews mit führenden Expert:innen des Postkolonialismus und der Postwachstumsforschung Vgl. https://www.hfbk-hamburg.de/de/projekte/schule-der-folgenlosigkeit/ (Zugriff am 20.12.2021). 111 Vgl. Garcés, Marina: Neue radikale Aufklärung, Wien 2019, S. 19 – 48, insbes. S. 33.

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Johanna Zorn Inframinimale Spiele der Differenz Ein kunsttheoretisches Abtasten des Modells ›Intervention‹ »Ich sag euch, was ihr selbst wißt …«: Vom Verbergen der Kunst

Mit seinem Julius Cäsar hat Shakespeare der rhetorischen Figur der Ironie ein dramatisches Denkmal gesetzt. Nach der Ermordung Cäsars durch Brutus und seine Männer lässt der Autor am Höhepunkt der Tragödie zwei Reden an das Volk direkt aufeinander folgen. Zunächst ist es Brutus, der die Tötung seines Freundes im Zeichen der Verantwortung für Volk und Staat rechtfertigt. Dann gibt Marc Anton, unter der Maske einer Grabrede, ein demagogisches Glanzstück der Rhetorik. Vorderhand wird darin die Frage verhandelt, wer der bessere, der aufrichtigere Freund sowohl Cäsars als auch des Staates sei, im Zentrum des dramatischen Geschehens steht jedoch die Performanz geschickter Rede und mit ihr die Überbietungstechnik politischer Verführungspraktiken selbst: Die Kritik am Gegner Brutus, die Marc Anton geschmeidig in das Gewand der Komplizenschaft einhüllt, erfolgt ebenso subtil wie augenscheinlich und gerät dadurch effektvoll. Schlagkraft entfaltet vor allem Marc Antons strategische Unterwerfung vor dem ›Wortkünstler‹ Brutus, die mit dem eigenen Nichtkönnen kokettiert: I ch komm nicht, Freunde, euch das Herz zu stehlen. / Ich bin kein Redner, so wie Brutus, nur / (Wie ihr mich kennt) ein schlichter, grader Mann, / Der seinen Freund liebt; was die sehr wohl wissen, / Die mir erlaubten, hier von ihm zu reden. / Denn mir gebricht’s an Weisheit, Wort und Würde, / An Gestik, Sprechkunst und an Sprachgewalt, / Um’s Blut des Volks zu reizen; ich sprech nur / Ganz schlicht. Ich sag euch, was ihr selbst wißt […].1 Marc Anton, wissend um das enge Korsett seiner Möglichkeiten in Anbetracht der dominanten Gegnerschaft Brutus’ und dessen Gefolgsleuten, wählt mit der sorgfältigen Inszenierung von Unmittelbarkeit und Authentizität die passende manipulative Strategie, um die Einstellung des Publikums zu seinen Gunsten zu drehen. So gibt er vor, weder über eine Technik des wirkungsvollen Sprechens zu verfügen,

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noch mit seiner Rede überhaupt einen Effekt erzielen zu wollen. Diese Botschaft agiert er offensichtlich im performativen Selbstwiderspruch aus. Denn Marc Antons Ausarbeitung der Rede zeugt, entgegen seiner Behauptung, selbstverständlich von einer geradezu lehrbuchhaften Beherrschung rhetorischer Überzeugungskunst und liefert bereits im zitierten Textausschnitt ein beträchtliches Repertoire an Stilmitteln mit –, von der Captatio benevolentiae (»Ich bin kein Redner«) über die Meiosis (»Denn mir gebricht’s«) bis hin zur unmittelbar darauffolgenden Alliteration (»Weisheit, Wort und Würde«), die zugleich eine energische Klimax präsentiert. Besondere Signifikanz erlangen dabei zwei übergeordnete komplementäre Mittel der Verstellung, auf denen der Redner sein Maskenspiel aufbaut: die Täuschung (simulatio) einerseits und das Verbergen oder Unkenntlichmachen der eigenen Haltung (dissimu­ latio) andererseits. Beide Strategien sind eng verknüpft mit der Gedankenfigur der Ironie (eironeia), wobei vor allem die Dissimulation im Kontext kanonischer Rhetorikschulen als Instrument für eine subtile, d. h. nicht zweifelsfrei dechiffrierbare Form der Ironie hervorgehoben wird. In seiner Ausbildung des Redners bezeichnet Quintilian die Gedankenfigur der Ironie dementsprechend als »Verstellung der Gesamtabsicht, die eher durchscheint als zugegeben wird«2. Als Redefigur der Uneindeutigkeit steht die Ironie kommunikationstheoretisch offenkundig quer zum selbsttransparenten Phantasma von unmissverständlicher Aussage und zweifelsfreiem Verstehen. Als verbergendes Entbergen gehört sie gerade dadurch zum festen Inventar rhetorisch geschulter Politik. In Marc Antons Rede gerät das uneindeutige Sprechen der Ironie umso komplexer, als dass er es aus der Fertigkeit eines ›Verbergens der Kunst‹, der dissimulatio artis entstehen lässt. Die resultierende Natürlichkeit der Rede ist eine Illusion, die planvoll inszeniert ist. Als solcherart »Natürlichkeit zweiter Stufe«3 erzielt sie nichtsdestoweniger einen Authentizitätseffekt, der als »die summa ars des Orators«4 gilt. Nun beruht die ironische Gedankenfigur des doppelten Verbergens – also der Absicht (dissimulatio) wie der Mittel, diese Absicht zu erreichen (dissimulatio artis) – auf einem komplexen Wechselspiel von Mehrdeutigkeiten, von Wiederholung und Differenz, von Affirmation und Subversion. Im fiktionalen Spiel Shakespeares, das mit einer konkreten politischen Redesituation einen Machtpolitiker zeigt, der einen Plan verfolgt, um etwas ganz Bestimmtes zu bewirken, bleibt letztlich vieles unentschieden: ob das Glücken der Rede auf dem Nicht-Erkennen der rhetorischen Dissimulation durch die Zuhörer:innen

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beruht oder ob das Volk zwar erkennt, aber schlicht an die Eigentlichkeit des Gesprochenen glauben möchte oder ob es gar unter dem Eindruck einer starken Affizierung dem überwältigenden Wirkungsversprechen von illusionistischer Technik erliegt. Möglicherweise, und das zeigt erst die ganze Komplexität des ironischen Sprechens, ist es sogar ein Oszillieren zwischen allen genannten Verstehensalternativen, die die Wirkung dieser Rede prägt. Dieses wahrnehmbare und zugleich kaum benennbare Spiel mit den Differenzen im Verstehen selbst, das mit der uneindeutigen Rede Marc Antons thematisch wird, benennt modellhaft die Funktion von künstlerischer Intervention: das Weder-noch der divergierenden Sinnangebote. Nun scheint es auf den ersten Blick keineswegs naheliegend, die (dis-)simulierende Formel des Weder-noch als Beschreibungskategorie für ästhetische Interventionen einzusetzen. Denn diese stehen mit ihren expliziten Handlungs- und Haltungsdirektiven geradezu paradigmatisch für eine Abkehr vom dekonstruktivistischen Dispositiv der Streuung von Sinn und tauschen die Überzeugung, dass Politizität im künstlerischen Kontext lediglich »indirekt […], in einem schrägen Winkel«5 erscheinen könne, gegen eine konkrete Agenda von Engagement ein. Das einstmals wirksame postdramatische Modell der Unterbrechung weicht auf diese Weise einem Ideal umfassender »Formen des künstlerischen Widerstands«, die unter dem radikaldemokratischen Blick von Chantal Mouffe einzig als »agonistische Interventionen im Kontext des gegenhegemonialen Kampfes«6 realisiert werden können. Sichtbar ist diese zeitgenössische Tendenz nicht nur am aktivistischen Zugriff auf theatrale Formen, wie er etwa von Milo Rau oder dem Zentrum für Politische Schönheit realisiert wird. Ebenso offenkundig ist die Transformation kultureller Elfenbeintürme hin zu diversen gesellschaftlichen Versuchsanordnungen in Neuformatierungen von Konzepten des Labors und Diskurses über Visionen künstlerisch-­ politischer Praxis, mit denen Theaterhäuser und Festivals seit geraumer Zeit neue soziokulturelle Betätigungsfelder entdecken und »temporäre Aktionsräume«7 stiften wollen. Beispielhaft dafür steht etwa die Verortung von Institutionen »an der Schnittstelle von Theater und Aktivismus«8, wie jüngst bei Shermin Langhoff. Trotz der unverkennbaren politischen Stoßrichtung haben derartige performative Praktiken unter dem Label der ›Intervention‹ den Charme darin entdeckt, ›in Zungen zu sprechen‹9, und arbeiten, ähnlich wie Antonius, mit dem strategischen Einsatz der dissimulatio: Sie betreiben ein gegenwendiges Spiel um Botschaft und Irritation,

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um Effekte von Authentizität und Inszenierung, um Einlassung und Distanzierung. Denn auch in Interventionen geht es darum, ein Hinund Hergleiten zwischen Klarheit und Verdeckung, zwischen Politik und Kunst, aber auch zwischen Aussagegehalten und deren Konfusion zu kreieren, um sich im metaphorischen Sinn auf mehreren Seiten – derjenigen der ›eigentlichen‹ und derjenigen der ›uneigentlichen‹ Rede10 – gleichzeitig aufzuhalten und diese im performativen Widerspruch offensiv auszuagieren. Der Blick auf die rhetorische Technik des mehrdeutigen Agierens eröffnet insofern eine heuristisch wertvolle Vergleichskonstellation, als dass das mit Interventionen prinzipiell einhergehende Versprechen eines spezifischen Eingreifens in eine konkrete Situation auf seine konstitutiven Ambivalenzen hin befragt werden kann. Und so liefert Marc Antons Kunststück aus dem zwiespältigen Bereich rhetorischer Manipulationskunst mit ihren Erscheinungsqualitäten von Maskierung und (Vor-)Täuschung einerseits, den Wirkungsmechaniken von Irritation und komplizenhafter Annäherung andererseits kritische Anknüpfungspunkte für ein kunsttheoretisches Abtasten jener ästhetischen Strategie, deren Programmatik per definitionem in Handlungen des Übertretens und somit in der mehrfachen Codierung von Intentionen liegt. Diese mehrfache Codierung, d. h. die Haltung des (Selbst-) Widerspruchs, wird von ästhetischen Interventionen im Sinne des Bedeutungshorizonts des lateinischen Verbs intervenire, das von den politischen, militärischen oder pädagogischen Tätigkeiten des Dazwischen- und Hinzukommens bis hin zum Entgegentreten, Unterbrechen und Stören reicht, auf das Kunsthandeln übertragen. Dessen allzu klare ästhetische, institutionelle, soziale und ökonomische Grenzlinien werden so selbst gesprengt. Mit dieser über die Dimension des Ästhetischen aus- und in das Terrain des Politischen eingreifenden Geste ist ein scheinbar fest umrissenes Feld – die Sphäre des Ästhetischen – aufgestört. Die Transgression einer traditionell dualistischen Setzung mit den Polen der ›Kunst‹ auf der einen und der ›Politik‹ auf der anderen Seite scheint zwar als Impuls oder gar als Zielvorstellung ästhetischer Ein- und Übergriffe zentral, ihr Einsatz zugleich aber auch genau jene Trennung zu markieren, die sie zu überwinden trachten. Die interventionistische Haltung des Dazwischenkommens im Feld der Kunst vermag dadurch sogar eine metaästhetische Offenbarungsgeste zu lancieren: die Verhandlung ebenjener labilen Grenzziehungen von ästhetischer Erfahrung und politischer Aktivität, die, zumindest der Idee nach, überschritten werden (sollen). Hinter den

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zunächst diffusen Wirkungsdimensionen einer irgendwie gearteten Heftigkeit, Nachdrücklichkeit oder Wirksamkeit, ohne die der Begriff der Intervention mit seiner medial distribuierten Aufmerksamkeitsökonomie als konfliktuelles Event nicht zu haben zu sein scheint, wird Kritik nämlich in erster Linie als Kritik an den Politiken der Repräsentation und den Grenzziehungen von ästhetischen und institutionellen Kategorien sichtbar. Ich möchte diese sichtbare Tendenz interventionistischer Praktiken insofern als ironisches Spiel zweiter Ordnung benennen, als dass es die Pole von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit in mehrdeutige Spannungsverhältnisse verdichtet, die geradezu daraufhin angelegt sind, nicht aufgelöst zu werden. Im Gegenteil, die performative Ambivalenz von eigentlichem und uneigentlichem Agieren wird im kalkulierten Spiel um die Wirksamkeit und Effektivität theatraler Inszenierungen erst erfahrbar gemacht. Damit verstehe ich Interventionen als eine spezifische Inszenierungstechnik, die Kritik am gesellschaftlich und künstlerisch Bestehenden vorderhand als konkretes Dazwischentreten zwischen verschiedene Ordnungen betreibt, durch diese ›ziellose‹ Unterbrechung allerdings erst Kritik als ästhetische Praxis des Politischen hervortreten lässt. Im Unterschied zur Politik ist das hier in Rede stehende Moment der Überschreitung ein politisches, in dem grundlegenden Sinn, in dem es Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy Anfang der 1980er Jahre in die philosophische Diskussion eingebracht haben.11 Dieses Politische ist von vornherein als »Intervention in das Sichtbare und Sagbare«12 präsent. Solche Störung der herkömmlichen »Aufteilung des Sinnlichen«13, die für die Trennung der Bereiche von Politik14 und Kunst sorgt, lässt mit Jacques Rancière erst die Verkopplung der ästhetischen und politischen Sphären zu. Anders allerdings als Rancière, der in seinem philosophischen Œuvre den Aufschub und die Nichteinlösbarkeit von Zielen romantisiert, indem er betont, dass eine wechselseitige Umklammerung von Kunst und Politik in »unaufgelöste[r] Spannung zwischen zwei Widerständen bleiben«15 muss, beide also »nicht zusammenkommen können, ohne sich gegenseitig zu unterdrücken«16, sehe ich bei Interventionen folgenden Gedanken thematisch werden: Ästhetische Ein- und Übergriffe bedienen sich technisch äußerst versiert der Trope der dissimulatio, also des Offenlegens und Verbergens einer vermeintlich vorgängigen Intention zugleich. Ihr Gelingen, ihre Wirksamkeit erfahren sie aufgrund dieser Technik nicht in konkret festgelegten Folgen, sondern eröffnen aufgrund ihrer verdeckten Angebote unweigerlich ein Spiel der Selbstdifferenz, das auch und vor allem in die selbst auferlegten Vorgaben eingreift, eingreifen muss, um überhaupt Intervention zu sein. 143


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»Ich sag euch, was ihr selbst wißt«, wirft Antonius seinem Publikum zu, und will ihm damit wohl zu verstehen geben, dass er lediglich dasjenige wiederholend ins Bewusstsein bringt, was (noch) verdeckt ist. Es handelt sich dabei um dieselbe appellative Wiederholungsstrategie, die performative Interventionen funktionalisieren, insofern diese sich als Eingriffe in eine Realität und nicht als deren romantische Neuschöpfung verstehen. Eine Erkenntnisfunktion wird in Interventionen in Aussicht gestellt, die durch das Wortteil »inter« offenkundig gar nicht erfüllt werden soll oder kann. Diese doppelte Maskierung der Intentionen bewirkt eine komplexe ›Anrufung‹ der Partizipierenden als Subjekte, die zugleich enttäuscht wird.17 Wenn dieses strategische Verhältnis von Anrufung und Enttäuschung eine zentrale Funktion von ästhetischen Eingriffen ist, welche Konsequenzen hat diese Funktion für eine vermeintlich überkommene Kategorie des Verstehens? Ist diese im Fall von Interventionen nicht eher ex negativo nach wie vor zentral, und, vermitteln interventionistische Praktiken auf die eine oder andere Weise gar zwischen den beiden ästhetischen Mythen der Klarheit und Verworrenheit?

Graduelle Unterschiede

Dass Kunst generell weniger Aussagen vermittelt als ihre Qualitäten aus dem Umstand zieht, Widersprüche zu produzieren, semiotische Leerstellen entstehen zu lassen, Mehrdeutigkeiten zu lancieren und sinnlichen Überschuss zu bilden, hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in ein ästhetisches Dispositiv verwandelt, das mittlerweile selbst normative Züge trägt. Spätestens mit Umberto Ecos Rede vom »offenen Kunstwerk«18 wurde zugleich die historische Dimension dieser Losung beleuchtet. Das Distinktionsmerkmal der Offenheit von avancierter Kunst im Gegensatz zum Verdikt der traditionellen Geschlossenheit wich unterdessen einem differenzierteren Bewusstsein darüber, dass diese Grenze weit weniger kategorisch als einzig graduell gezogen werden kann. Eindeutige Sinnangebote, sofern es solche denn im Kommunikationsprozess künstlerischer Gesten jemals gegeben haben sollte, traten jedenfalls sowohl durch die tonangebenden Institutionen der »Kunstwelt«19 mit deren Gatekeepern als auch in der wissenschaftlichen Betrachtung zunehmend zurück hinter die Qualitäten des Rätselhaften, Vieldeutigen und Paradoxen. Im Rückgriff auf Kants Kritik der Urteilskraft hat Rüdiger Bubner die ästhetische Erfahrung in diesem Sinne vom hermeneutischen

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Wahrheitsdenken entkoppelt. Im Versuch, »den empfundenen Überschuß als das Etwas zu bestimmen, als das sie ihn zu sehen und zu vernehmen meinte«20, muss die ästhetische Erfahrung scheitern. Darin liegt ihre Produktivität. Auf die Suggestion eines greif- und verstehbaren ästhetischen Gegenstandes kann die Antwort demnach nur in der »Unmöglichkeit endgültigen Zugriffs«21 liegen: »Ästhetische Erfahrung sieht etwas, das sie nicht festmachen kann und das deshalb immer wieder da ist.«22 Die mit dem Etikett der Moderne, mehr noch der Postmoderne verbundene, zweifelsohne wichtige Emanzipationsbewegung sowohl von der Behauptung einer eindeutigen Auffindbarkeit von Sinn wie von der damit einhergehenden Vereinnahmung durch hegemoniale Ideologie- und Glaubenssysteme hat allerdings einen neuen ästhetischen Mythos mit Vorschriftcharakter hervorgebracht, mit dem Interventionen gewissermaßen vor ihrem inneren Konflikt angekommen sind. Vor allem Kunst, die konkrete politische Aussagen tätigen will, hat es unter der dominanten Vorgabe von Ambiguität23, Unermesslichkeit und Unfassbarkeit mit der Schwierigkeit zu tun, sich selbst zu legitimieren. Dem Widerstreit zwischen Selbstidentität und Nicht-Identischem hat auch Theodor W. Adorno in Variationen den Großteil seines kunstphilosophischen Outputs gewidmet. Adorno beschreibt das Handeln von Kunst in der Ästhetischen Theorie als »Rebellion gegen den Schein«, als »das Ungenügen der Kunst an sich selber«, das »als Moment ihres Anspruchs auf Wahrheit intermittierend seit unvordenklichen Zeiten in ihr enthalten gewesen«24 ist. Kunst lebt, was ihr Meinen anbelangt, mit Adorno von ihrem »Rätselcharakter«25. Damit hat der Philosoph die künstlerische Praxis relativ explizit auf einem Kampfplatz der nicht eindeutigen Intentionen verortet. Zwar befindet er sich mit diesem Befund nach wie vor auf subtile Weise in einer Traditionslinie, die sich der Suche nach der ›Wahrheit‹ im Kunstwerk selbst verschrieben hat, der es im Inneren des Werkes, in seinem ›Wesen‹ auf die Spur zu kommen gilt. Doch der agonale Charakter, der Konflikt mit sich selbst, den der Dialektiker im Kunstwerk auffindet, wirft zugleich die Frage nach jenem ›Rest‹ auf, der sich nicht ins Identische einhegen lässt und in Widerstreit bleiben muss, soll das ästhetische Spiel zwischen Kunst und Leben überhaupt am Laufen gehalten werden. Diese elitäre Dimension eines Kunstgeschehens, das sich auf mindestens doppelte Weise – dem Leben und sich selbst gegenüber – negativ artikulieren soll und lange Zeit den Ort für dessen kritisches Potential absteckte, hat sich inzwischen erheblich verwandelt. Neben der Fokussierung auf Diskurse der Materialität und S ­innlichkeit

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haben besonders die Schlüsselbegriffe der Interaktion und Partizipation im intermedialen Spielfeld performativer Künste das Versprechen einer direkten Einbindung der wahrnehmenden und erfahrenden Akteure ausgegeben. Die Maßgabe einer »art of action, interfacing with reality«26, wie Claire Bishop es formuliert, tauscht die Modi von Erkenntnis und Wissen bereits seit Längerem gegen die transitorisch-relationalen Verben ›handeln mit‹ und ›erfahren durch‹. So setzen unter dem Schirmbegriff des social turns ästhetische Praktiken wesentlich auf die Verheißung einer wie auch immer gearteten agency, die Sichtbarkeit von und Austausch mit unterschiedlichen (marginalisierten) gesellschaftlichen Gruppen befördert und so eine grundlegende Akzentverschiebung von der Monade ›Kunst‹ hin zu komplexen sozialen Systemen von Arbeitsbedingungen und Teilhabe fokussiert. Ein ästhetisches Erfahrungs- und Interaktionsideal wiederum, das »geradezu definitionsgemäß den Betrachter mit umfaßt«27, wie Michael Fried dies in seiner scharfzüngigen Kritik an der von ihm als ›­Theatralität‹ bezeichneten Aufdringlichkeit der Minimal Art formulierte, nobilitiert vice versa offenkundig die Affektion, das Angesprochen-werden gegenüber der Erkenntnis. Dem facettenreichen Stereotyp ambiguer Kunst gegenüber scheint der nicht in klare Gattungsgrenzen zu pressende Paratext ›Intervention‹ – ganz gleich ob als auktoriale Selbstdeklaration oder rezeptive Zuschreibung – jedoch wie selbstverständlich für eine zeitgenössisch augenscheinliche Performanz und Neuperspektivierung von ästhetischen impact-Bestrebungen zu bürgen. Wenn gegenwärtige performative Praktiken politischen und sozialen Eingreifens sich dezidiert gegen einen ästhetizistischen Rückzug künstlerischer Praxis in eine mittlerweile schon sprichwörtlich gewordene »Verklärung des Gewöhnlichen«28 wenden, deren primäres Interesse einer innerästhetischen, gleichsam vergeistigten Verwandlung von Welt gilt, dann liegt darin zunächst ein strategisches Übergreifen in und ein dezidiertes Ausgreifen auf ein als distinkt hypostasiertes Feld der Politik. Semantischen Sinn erhält der funktionale Begriff der Intervention im ästhetischen Kontext allerdings nur durch Rekurs auf eine Grenze, die verschiedene Sphären und mit ihnen unterschiedliche Gebrauchsweisen von Welt normativ voneinander trennt. Ein implizit vorhandener und meistens unausgesprochener dualistischer Blick auf idealisierten Schein (Ästhetik) einerseits und tatsächliches Sein (Politik) andererseits, der durch eine programmatische wechselseitige Verkoppelung von Kunst und Leben, aber auch in der Qualifizierung von Kunst als Haltung oder Politik der Programmatik nach eigentlich

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aufgehoben werden sollte, tritt also gerade im interventionistischen Gestus zutage. Beobachten lässt sich dieses Zwei-Welten-Modell zum Beispiel in der Proklamation eines ›neuen Realismus‹, der zugleich mit einem seiner einflussreichsten Protagonisten Milo Rau die »Enthüllung des Realen«29 in der Kunst so selbstbewusst wie intrikat in Aussicht stellt.30 Den in jüngerer Zeit vielerorts wieder aufkommenden Kampfbegriff des ›Realismus‹ versieht er in seinem Programm des »Globalen Realismus«31 mit einem weltumspannenden Eigentlichkeitsanspruch, der nicht nur den Schleier zu den Verhältnissen, wie sie wirklich sind, lüften will, sondern dem es um nichts weniger als »die Menschheit«32 geht, die in den großen globalen Problemen und Katastrophen untrennbar miteinander verstrickt ist. Der Wendung liegt die Überzeugung zugrunde, dass Theater sich nicht in autoreferentielle Selbstbespiegelungen zurückziehen kann, wie es das einflussreiche Dispositiv postdramatischen Theaters vorgab, sondern, »dass globalisierten Gesellschaften und Ökonomien […] eine Kunst gegenüberstehen muss, die ebenfalls mit diesen globalisierten Realitäten arbeiten kann«33. Das passende theoretische Organon liefert Rau gleich selbst, darin in der Tradition Brechts, als Bemessungsgrundlage seiner Ästhetik mit und belebt u. a. mit seinem Genter Manifest (2018) den mit der Textgattung des Manifests intrinsisch verbundenen interventionistischen Impetus avantgardistischer Proklamation wieder. In regelrechter Umkehrung eines ästhetischen Ambiguitätsparadigmas versteht sich das seit 2009 tätige Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) um den Protagonisten Philipp Ruch als »Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit«34. Dem politischen Jargon nach zu urteilen, zielt das ZPS nicht auf Mehrdeutigkeit, die rezeptiv zu moderieren ist, sondern stellt, wie es auf der Homepage heißt, ganz konkret Komplizenschaft in Aussicht.35 Auf Basis einer solch vertraulichen Rhetorik erzielt das ZPS mit Aktionen wie Erster europäischer Mauerfall (2014), Die Toten kommen (2015) oder Flüchtlinge Fressen (2016) nicht nur ein hohes Maß an medialer Resonanz, sondern ersetzt das »freie Spiel der Erkenntniskräfte«36 ästhetischer Erfahrung selbstbewusst durch das Prinzip moralischer Eindeutigkeit, dem man sich als Verbündete:r anschließen kann. Die provokativ zugespitzte aktivistische Engführung von künstlerischem und politischem Handeln des ZPS verkürzt unterdessen die klassi(zisti)sche ästhetische Vorschrift von Schönheit unter dem Vorzeichen des Politischen in eine moralische oder gar moralisierende Qualität.37 Mit gänzlich verschiedenen Ansätzen und in

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unterschiedlichen Formaten knüpfen also beide Beispiele – Milo Rau und das ZPS – an einen ästhetisch-moralischen Diskurs an, der mit der Valorisation von Uneindeutigkeiten im Dissens zu stehen scheint.

Mimetische Praktiken – Paradoxien im Indifferenten

Lässt man solche programmatisch moralischen Zuschreibungen für den Moment beiseite, so besteht das Verbindungsglied zwischen derartigen interventionistischen Strategien auf der Ebene der téchne des Sprechens in der künstlerischen Klaviatur des paradoxen eigentlich-uneigentlichen Agierens. Für das grundlegende, forcierte Ausagieren einer Paradoxie im Indifferenten, das in mannigfachen Formen die performative Landschaft prägt, hält insbesondere auch die ästhetische Theorie passendes Vokabular bereit, das mit den Begriffen der »subversiven Affirmation«38 oder der »Überidentifikation«39 weit nicht ausgeschöpft ist. Die Begrifflichkeiten laufen in einem speziellen Vorgang des maskierten Zitierens, Nachahmens, Kopierens, Wiederholens zusammen, dessen spezifischer Reiz und Problematik gleichermaßen darin liegen, möglicherweise gerade nicht erkannt, nicht verstanden zu werden. Die Maskierung ist letztlich nie dingfest zu machen. Obwohl Interventionen vielfach mit dem Anspruch gesellschaftspolitischer Wirksamkeit auftreten, und damit auch mit dem Ansinnen, die nebulose Kategorie ›Sinn‹ in Praxis aufzulösen, die von den Subjekten notwendigerweise als knowing how40 verstanden werden müsste, um Veränderungen herbeizuführen, verbleiben die Aneignungen in der eigentlichen Uneigentlichkeit der Kunst, in der Unabschließbarkeit ästhetischer Erfahrung. So verhandeln interventionistische Strategien, trotz oder vielleicht gerade wegen der Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit ihrer Sinnangebote, immer mit einer problematischen Kategorie des Kunstverstehens, das der Diskurs ästhetischer Erfahrung seit dem 18. Jahrhundert zu reglementieren und regulieren versuchte. Einigkeit besteht in der Theorie der ästhetischen Erfahrung von Immanuel Kant bis hin zu Ursula Brandstätter darin, dass es ein freies und gerade keiner Seite ganz zugehöriges Spiel der Erkenntniskräfte ist, das Kunst immer als eine Maskierte erscheinen lässt: Sie ist weder Sinnlichkeit noch Verstand, weder Nicht-Sinn noch Sinn, weder Praxis noch Theorie.41 Selbst im Fall von Interventionen scheint es die von Arthur Danto in den Diskurs eingebrachte Vorstellung einer angemessenen Einstellung zu sein, die dafür sorgt, dass ihre Erfahrbarkeit permanent

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zwischen den Bezirken des Verstehens und Nicht-Verstehens zirkuliert. Wenn es ein Wissen gibt, das im Gebrauch interventionistischer Kunst von Seiten der Rezipierenden zu funktionalisieren ist, dann ist es dasjenige über die angemessene Einstellung gegenüber der Kunst. Und wenn es ein Gebot zum Verstehen gibt, dann soll vor allem der Vorgang der Überlagerung der Welten der Kunst und des Politischen verstanden werden. Auch auf jenem performativen Terrain also, das sich die dissi­ mulatio als Inszenierungsmodus aneignet, wird die angemessene Einstellung zum entscheidenden Faktor der Bedeutungsgenerierung zwischen werkhaften Prozessen und deren Rezeption. Ich spreche über Interventionen an dieser Stelle deshalb als von werkhaften Prozessen, weil sie den skizzierten, anhand des historischen Werkbegriffs sich entfaltenden Diskurs ästhetischer Erfahrung aufzugreifen scheinen. Richtiges Verstehen in der Tradition des Werkes bedeutete einmal, zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sowie der sinnlichen Maske der Kunst und den maskentragenden Ideen und Konzepten zu vermitteln. Wem dieser Schlüssel der Interpretation von Kunstwerken nicht mitgegeben war, der hatte die Werke, wofür es außer den Schriften Adornos zahlreiche Beispiele aus der Diskursgeschichte gibt, schlicht nicht ›verstanden‹. Mit der eigentlich-uneigentlichen ästhetischen Erfahrung kommt auch in Interventionen der vielzitierte »Klassen- und Theoriecharakter«42 ins Spiel, den Wilhelm Seidel in der Geschichte der großen symphonischen Musik des 19. Jahrhunderts wirksam werden sah: Wer die interpretativ-ästhetische Haltung des Dazwischen, zwischen konkretem Eingriff in die Medienwirklichkeit und einem Rückzug in die Sphäre der Kunst, nicht einzunehmen vermag, lebt in der Gefahr eines Ausschlusses vom richtigen Verstehen gesellschaftspolitisch wirksamer Kunstwerk-Interventionen. Betrachtet man andererseits die Interventionen charakterisierende ausschreitende Bewegung aus dem Repräsentationsraum der Kunst, so wird neben der Maskierung ein zweites Darstellungsmittel allzu offensichtlich: Die paradoxe Idee, ›dasselbe noch einmal‹ zu erzeugen, aber dieses Selbe doch anders zu machen und zwar in einem Sinn, der das Sich-selbst-unähnlich-Werden ins Zentrum mimetischer Aneignungen rückt. Das Erscheinen des Nicht-Identischen im Prozess des Wiederholens zeigt sich gerade mit Blick auf die im Medium der Fotografie und des Videos Ende der 1970er Jahre aufgekommene Praxis der Appropriation Art. Diese macht deutlich, dass es insbesondere die Wiederholung von Originalen war, die mit einer dezidiert identitätspolitischen Verweisungsgeste ­aufgetragen wurde. Das Verhältnis von

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Kopie und Original, zweier vermeintlich ontologischer Kategorien, die unterdessen unvermittelt jeweils in das Gegenteil invertieren, legte den Schwerpunkt auf ihre historischen und gesellschaftlichen Kontexte, die nunmehr zu den Zeichenträgern des ästhetischen Geschehens wurden. Hinter einer solchen repräsentationskritischen Sinngenerierungsmaschinerie stehen die marxistische Begriffstradition von Aneignung und Enteignung und die Verweigerungshaltung gegenüber einer vorrangig männlichen, künstlerischen Originalität. Dabei entwickelte nicht nur die aneignende Tätigkeit, sondern auch das angeeignete Material einen politischen Eigensinn,43 und zudem wurde unterdessen auch die Kunstwerkbetrachtung selbst politisiert. Die unterschiedlichen Ausdifferenzierungen des ironischen Wiederholens mit explizit offenen Deutungsangeboten haben heute längst in den unterschiedlichen Kunstsparten den Begriff der Kritik, also der Problematisierung von gesellschaftlichen Umständen, die ein Nicht-Identisches zur Sprache bringt, erfolgreich ersetzt. Das geschah deshalb, weil jene Kritik, die von Adorno in das Kunstwerk selbst verlagert wurde, durch ihre Verwicklung in die Frontstellung von Autonomie- und Heteronomiediskursen der Kunst unattraktiv wurde, und, weil die ihr traditionell zugehörige, oppositionelle Terminologie von Kunst und Nichtkunst, Fiktion und Realität anachronistisch erscheint. Anachronistisch ist sie, weil sie klimatisch auf einen Wahrheitsbegriff von Kunst hinausläuft, der in Anbetracht der mittlerweile selbst historischen Entgrenzungstendenzen, die die wechselseitigen Einschreibungsorte von Kunst und Wirklichkeit füreinander durchlässig macht, obsolet geworden ist. Jene interventionistischen Techniken, die sich wiederholend einschreiben in unterschiedliche Diskursfelder, um dort ein Höchstmaß an Selbstdifferenz zu hinterlassen, mögen deshalb wirksamer als die selbstkritische Komponente im Kunstwerk selbst erscheinen, weil sie die Voraussetzungen, die Haltungen des künstlerischen Eingriffs offensiv unterminieren und die »Selbstprovokation«, die mit Christoph Schlingensief in Kauf nimmt, dass »sich die Bilder gegen sich selbst kehren«44, ganz offen und eben nicht mehr als Rätsel ausagieren. Letztlich jedoch ist die Selbstprovokation schon in Shakespeares Julius Caesar enthalten, aber gänzlich eine Sache der Betrachtung, des Publikums. Marc Anton ist aus dieser Perspektive ein (unfreiwillig) interventionistisch ambitionierter Performer, der seine eigentlichen Absichten mit uneigentlichen rhetorischen Strategien verbindet, wobei letztlich gar nicht mehr klar ist, was eigentlich und uneigentlich

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ist. Das Spiel um die Entlarvung der verschleierten Strategie ist dabei offensichtlich eines, das getrennte Positionen vorsieht: die dramatisch-fiktionale Zuhörposition kann von der außenstehenden Betrachtung des Werkes als naiv entlarvt werden. Diese Teilung der Perspektive allerdings lässt sich im eingreifenden Spiel von Interventionen schwerlich aufrechterhalten, da die politische Zielsetzung geradezu exzessiv gerät und beides ist: das Lancieren und Zurücknehmen von Eingriffen. Die Frage bleibt bei all der Feststellung über die eindeutige Uneindeutigkeit von Interventionen letztlich immer die: Erfüllt sich damit die semantische Übertragung des Begriffs »Intervention« aus dem staatspolitischen, militärischen, medizinischen oder pädagogischen Bereich, der das Einschreiten in einen kompetenzfremden Raum oder das Überschreiten von sicht- wie unsichtbaren Grenzen meint, oder nicht? Bringt die Kunst, im Sinne einer problematischen Aktualisierung eines materialistisch geprägten Realismus-Begriffs nur zur Anschauung, was zuvor bereits erkannt worden ist, oder stellt sie sich tatsächlich selbst, stellt sie ihre Identität, wie fluid diese auch immer sein mag, ebenfalls zur Disposition? Deutlich geworden ist jedenfalls, dass die Bedeutung des intermittierenden Eingriffs von performativen Interventionen schwerlich im konkreten Übergriff in einen als anderen markierten Bereich aufgehen kann, und zwar deshalb nicht, da diesem Vorgang die eindeutige Ermittlung von ›innen‹ und ›außen‹ ebenso zugrunde liegen müsste wie die Selbstgewissheit tätigen Handelns. Dahingegen könnte der Begriff der Intervention im Feld des Ästhetischen aber für ein fortwährendes Eingreifen in eigene Motive und Haltungen einstehen, und zwar sowohl auf Seiten der Produktion als auch der Rezeption, wenn man vom ästhetischen Geschehen überhaupt noch als von einem differenten Akt der zwei Seiten sprechen will. In diesem fortwährenden Übereinanderschichten des Eingreifens ist zugleich auch eine Repräsentationskritik ausagiert, die keinen festen Grund und Boden mehr hat, den sie repräsentieren kann, und daher auch kein Fundament dessen, was wir konkret erfahren können: das Politische, das Künstlerische, das Künstlerische des Politischen, oder die politisch wirksame Reflexion des Künstlerischen? Stattdessen dringt der Aspekt des Forschens ins Zentrum der ästhetischen Erfahrung, verstanden als fortwährendes Hin- und Hergleiten zwischen unterschiedlichen, von den erfahrenden Subjekten selbst gesetzten Vorannahmen. Vor dem Hintergrund von Adornos Behauptung, wonach nur jene Gedanken wahr sind, die sich selber nicht verstehen, können Interventionen als Selbstbefragung

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von Kunst und ihren jeweiligen Praktiken erscheinen.45 Deren Folgen können sie aber selbstredend nicht intentional abstecken. Die performative Praxis des eigentlich-uneigentlichen Redens, die mit sich selbst nicht zur Deckung gelangen kann, selbst wenn sie es will, erzeugt also nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein ästhetisches Spiel zwischen konkreter Aufforderung und konfuser Erregung. Alle an diesem Spiel Beteiligten sind im umfassenden Sinne »Götter, die keine sind«46, da sich die Selbstbefragung schlicht nicht von einem Ort außerhalb vollziehen lässt. Wir haben es also mit einer Art von ›unmöglicher‹ P ­ osition, mit einer Art von Unmöglichkeit zu tun, die in Interventionen der Idee nach wirksam wird und die Christoph Schlingensief vor über 20 Jahren in Bitte liebt Österreich modellhaft ausarbeitete.

Das inframince von Christoph Schlingensiefs Container (Bitte liebt Österreich, 2000)

Während Alexander Gottlieb Baumgarten in seinen Meditationes von 1735 und schließlich dann in der Aesthetica von 1750 die auf Aristoteles zurückgehende hierarchische Unterscheidung zwischen cognitio distincta und cognitio confusa in ein Spannungsverhältnis der sinnlich-verworrenen Erkenntnis überführt (»cognitio clara et confusa«)47, der sinnlichen Erkenntnis ihren Platz im Verworrenen, also im Konfusen einräumt und genau diese Erfahrung des Konfusen anstelle des distinkten, analytischen Erfassens im Ästhetischen wirken sieht, stellt sich die Sache mit dem Begriff der Intervention reichlich komplexer dar: ihr konstitutives Charakteristikum ist ja der Vorgang des Überschreitens von einer Redesituation in eine andere. Sie ist also immer beides, Konfusion und Distinktion, Kunst und politisches Statement. Die Implikationen dieser Verquickung von Konfusion und Distinktion zeigen sich paradigmatisch an Schlingensiefs kanonischer Container-Aktion Bitte liebt Österreich aus dem Jahr 2000. Es handelt sich nicht nur um eine Arbeit, die zu einer überwältigenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung angeregt hat, sondern um einen künstlerischen ›once in a lifetime‹-Einfall, der im Bereich der performativen Intervention so etwas wie einen zwar mittlerweile historischen, doch immer wiederkehrenden Bezugspunkt darstellt. Diesen Modellfall möchte ich im Sinne einer interventionistischen Praxis noch einmal schlaglichtartig daraufhin befragen, welche Implikationen das Zusammentreffen von Konfusion und Distinktion für die Frage

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der Erkenntnisfunktion und Erkenntnisfähigkeit von künstlerischer Intervention haben kann: Überschritten oder vielmehr hin- und hergeglitten wurde zwischen einer konkreten Affordanz (etwa der Auffor­ derung, über das Bleiben oder Abschieben von Asylbewerber:innen zu entscheiden) und deren Unterminierung (die mit der Entfernung des Plakates »Ausländer raus« durch eine aktivistische Gruppe ›gegen den Willen‹ Schlingensiefs erfolgte). Dieser Ambiguität entspricht die Unmöglichkeit, einer Auf­for­ derung im Setting Schlingensiefs sinnvoll nachzukommen. Die ubiquitäre mediale Distribution, die die Aufführungen nicht nur in die verschiedenen öffentlichen Sphären transferierte, sondern offensichtlich unterschiedliche, antagonistische Publikumsgruppen konstruierte und adressierte, intensivierte den Umstand, dass die Erfahrungsdimension des Konfusen ihrerseits selbst thematisch wurde. Die Konfusion rückte die Erkenntnisfunktion der ästhetischen Inszenierung ex negativo ins Zentrum. Konfusion entstand maßgeblich aufgrund der Mehrphasigkeit, in der jede Aktion wiederum zum Material neuer Aktionen wurde. Die Angebotsbestimmungen von ­Schlingensiefs interventionistischer Aneignung waren notwendigerweise mehrphasig, da sich der Prozess des Eingreifens nicht von Seiten der Partizipierenden, aber auch nicht von Schlingensief steuern ließ. In diesem Prozess setzte sich die Intervention negativ auch zu ihrer eigenen Potenzialität von Wirksamkeit und Partizipation. Der mehrphasige Prozess im Ganzen hat immer mehr Autorität als ein Subjekt, das partizipativ darin eingreift. Einem solchen aleatorischen Werk – also dem im Sinne Ecos offenen Kunstwerk par excellence – sind wie im Fall von Mallarmés Livre oder Cages Würfel-Stücken alle erdenklichen Handlungen und Eingriffe auch gegen den Willen Schlingensiefs ab ovo einkomponiert. Die Mehrphasigkeit interventionistischer Ästhetik bringt mich schließlich auch zur Frage, ob nicht genau sie sich letztlich auf einen Werkbegriff beruft, der sich im entscheidenden Moment, nämlich demjenigen, in dem das Erfassen des Werkbegriffes wie des Paratextes Intervention selbst auf dem Spiel steht, in den von Adorno vielbeschriebenen »Rätselcharakter« zurückzieht. Konkomitant erscheint mit der ›aleatorischen‹ Container-Aktion Schlingensiefs offensichtlich das Arcanum, in dem das Rätsel der Kunst sein Dasein fristet: Das Geheimnis codiert eine unkontrollierbare Transformation, die schließlich sogar noch für ihre eigene Kritik verantwortlich ist. Welche gegenüber einer rätselhaften kritischen Komponente des Kunstwerks zusätzliche Dimensionen können interventionistische

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Modelle in den Diskurs des Ästhetischen einbringen, die nicht schon in Adornos Manifest für die unumstößliche ästhetische Differenz, in seiner Rede vom Schein- oder Rätselcharakter der Kunst angelegt sind? Welches Surplus entsteht dabei gegenüber einem von Ruth Sonderegger an der ästhetischen Erfahrung im Allgemeinen beobachteten unendlichen Spiel mit Sinn und Nicht-Sinn, das nicht mit dem Moment des Erlebens abgeschlossen ist, sondern prinzipiell in die Nachträglichkeit hinein bis hin zu Kommentar und Kunst-Kritik reicht?48 Wie lässt sich das spezifische darstellungsästhetische Moment von Interventionen fassen, eingedenk Rancières Argument, wonach das Regime des Ästhetischen insofern immer schon als politisches erfahrbar ist, als dass sich in ihm fundamentaler Dissens und damit die Möglichkeit des Entstehens von Politischem jenseits polizeilicher Ein- und Ausschlussprozeduren zeigt? Gegenüber dieser post-romantischen Vorstellung von der Kunst als großem ›Durcheinander‹ also, wo ist da der eigentümliche Ort der Intervention? Was Interventionen aus meiner Perspektive in ästhetischer Hinsicht auszeichnet, das Schibboleth einer nicht entscheidbaren Differenz zwischen zwei Momenten, dem werkhaften Wahrheitsbegriff auf der einen Seite und dem dissensualen Politischen im Ästhetischen auf der anderen, veranlasst mich dazu, abschließend Marcel Duchamps Metapher des inframince ins Spiel zu bringen. Der Begriff inframince bezeichnet in den Worten des Künstlers etwas, das »weniger-als-dünn« ist, weniger als minimal, aber doch entscheidend und für den Künstler deshalb die »Allegorie auf’s ›Vergessene‹«49 chiffriert. Es handelt sich offensichtlich um ein sinnliches und zugleich sinnhaftes Konzept, um ein Wahrnehmen des Minimalen, das in seiner Tragweite weit über das Erleben hinausgeht, um eine materiell-immaterielle Verbindungsform. Silke Feldhof beschreibt den Bereich des inframince als einen Raum, der gefüllt ist von »mentale[n] Abdrücken in der Imagination der Betrachter«.50 Duchamps anschauliches Bild für dieses das Sinnliche reflektierende Zwischenreich lautet: »Wenn der Tabakrauch auch nach dem Mund riecht, der ihn ausbläst, vermählen sich die zwei Gerüche durch INFRA-dünn.«51 Vor der Folie dieses inframince frage ich mich, wo der distinkte Ort der Interventionen sein kann? Welches ist dieser minimale ­Differenzbereich, der sich nicht besonders von anderen künstlerischen Praktiken der Kritik, gar der Praxis des Werkes unterscheidet, um doch gerade aufgrund einer paradigmatischen Bezogenheit auf institutionalisierte Diskurse des Kunstwerkes und der ästhetischen Erfahrung seine Besonderheit zu erhalten? Wo liegt der weniger als

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minimale und doch entscheidende Unterschied? Dieser kleinste Unterschied, der Interventionen als Interventionen auszeichnet, liegt in meinen Augen in der proklamierten politischen Artikulation, die sich gegenwendig zu sich selbst verhält. Wie jene berühmte Formel Bartlebys ›I would prefer not to‹, ist sie mit Deleuze deshalb »verheerend«52, da sie »unabgeschlossen läßt, was sie zurückweist«53, mithin einen Bewegungsimpuls aufruft, der sein eigenes Ziel nicht kennt, sich ihm widersetzt. Interventionen, wenn sie im Zwischenbereich von Kunst und Politik mit der Figur der dissimulatio operieren, wenn sie sich der ironischen Rede au second degré bedienen, können ihr selbsterklärtes Programm, in das Feld der Politik einzudringen, nicht erfüllen. Gegen die Eindeutigkeit einer politischen Rede, mit der das Versprechen gesellschaftspolitischer Wirksamkeit verknüpft wäre, opponieren interventionistische Praktiken aufgrund ihrer Poetik des uneindeutigen Redens selbst. Die Figur des Politischen ist ihnen in Form einer Unmöglichkeit gegeben. Im Vermögen, dieses Verhältnis von Kunst und Politik als »Ver-trenn-bindung«54 sichtbar zu machen, liegt ihre Produktivität.

1 Shakespeare, William: Julius Cäsar, übers. von Frank Günther, München 1998, S. 133 (III, 2). 2 Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Zweiter Teil, Buch VII-XII, hrsg. u übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 1988, S. 289 [IX, 2, 46]. 3 Till, Dietmar: »Verbergen der Kunst«, in: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9, Tübingen 2009, S. 1034 – 1042, hier S. 1034. 4 Ebd. 5 Lehman, Hans-Thies: »Wie politisch ist postdramatisches Theater?«, in: ders.: Das Politische Schreiben, Berlin 2002, S. 11 – 22, hier S. 16. 6 Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt a. M. 2014, S. 136. 7 Vgl. hierzu die Absichtserklärung von Kampnagel Hamburg auf der entsprechenden Homepage: https://www.kampnagel.de/de/programm/migrantpolitan/ (Zugriff am 20. Juni 2021). 8 Langhoff, Shermin zit. auf: https://www.zeit.de/news/2021-02/24/gorki-schnittstelle-von-theater-und-aktivismus (Zugriff am 20. Juni 2021). 9 Zur Formulierung vom ›Sprechen in Zungen‹ vgl. grundlegend das im ersten Korintherbrief erwähnte Phänomen der Glossolalie, von dem es heißt: »So ist es auch mit euch, wenn ihr in Zungen redet, aber kein verständliches Wort hervorbringt. Wer soll dann das Gesprochene verstehen? Ihr redet nur in den Wind.« (1Kor 14, 1–25EU, hier 9EU). 10 Mit dem Hinweis auf die Verkopplung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit liegt die Assoziation zu Adornos ideologiekritischer Auseinandersetzung mit der deutschen Sprachpolitik der Nachkriegszeit nicht weit. Der sogenannte »Jargon der Eigentlichkeit«, den Adorno v. a. in der Rhetorik Heideggers beobachtet, produziert rhetorische Naturalisierungseffekte und arbeitet so einer gefährlichen Unhinterfagbarkeit von bestimmten Begriffen zu. Indem sie wirken, »wie wenn sie etwas Höheres sagten, als was sie bedeuten«, sind sie unterdessen selbst Produkte einer komplexen sprachlichen Inszenierungsstrategie. Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6: Negative Dialektik, Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a. M. 1996, S. 419.

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11 Mit dem Begriff des Politischen im Gegensatz zur Politik wird auf die entsprechende französische Unterscheidung zwischen le politique und la politique rekurriert, die Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy 1981 im Vorwort zum Sammelband Rejouer le politique vornehmen. Darin geht es den beiden um nichts weniger als die Frage, was und wo das Politische des Politischen tatsächlich und wo dessen Essenz zu finden sei. Vgl. Lacou-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc: »Ouverture«, in: Balibar, Etienne/Ferry, Luc/Lyotard, Jean-François (Hrsg.): rejouer le politique, Paris 1981, S. 11 – 28. 12 Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik, Berlin 2008, S. 32. 13 Vgl. hierzu Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. 14 Rancières Begriffsverwendung unterscheidet sich grundlegend von derjenigen Lacoue-Labarthes und Nancys, ist in ihren Gehalten allerdings äquivalent. Das ›Politische‹ entspricht bei Rancière der ›Politik‹, während die ›Politik‹ bei ­Rancière als ›Polizei‹ gefasst wird. 15 Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig?, hrsg. u. übers. v. Frank Ruda und Jan Völker, Berlin 2008, S. 35. 16 Ebd., S. 35. 17 Die Anrufung, die »Individuen in Subjekte ›transformiert‹«, hat Louis Althusser folgendermaßen erklärt: Wenn ein Polizist auf der Straße »He, Sie da« ruft, vollzieht sich an der Person, die sich angesprochen fühlt und diese Ansprache durch eine Bewegung des Umdrehens realisiert, eine Anrufung. Sie wird zum Subjekt. Vgl. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Erster Halbband. Gesammelte Schriften, Hamburg 2010, S. 88f. 18 Vgl. hierzu die 1962 zuerst im Italienischen erschienene, gleichnamige einflussreiche Schrift Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973. 19 Zum Begriff der Kunstwelt vgl. grundlegend Danto, Arthur: »The Artworld«, in: The Journal of Philosophy, Nr. 61/19, 1964, S. 571 – 584 sowie dessen reduktionistische Rezeption als institutionelle Kunsttheorie, derzufolge einzig die ­Institutionen der Kunstwelt über den Status von Kunst entscheiden, bei Dickie, George: Art and the Aesthetic. An Institutional Analysis, Ithaka, New York 1974. 20 Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989, S. 42. 21 Ebd., S. 43. 22 Ebd. 23 Zum Status der Ambiguität als ästhetisches Paradigma vgl. exemplarisch Krieger, Verena/Mader, Rachel/Jesberger, Katharina (Hrsg.): Ambiguität in der Kunst- Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Wien 2010. 24 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von Rolf Tiedemann, Darmstadt 1997, S. 168. 25 Ebd., S. 185. 26 Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Arts and the Politics of Spectatorship, London; New York 2012, S. 11. 27 Fried, Michael: »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 334 – 374, hier S. 342. 28 Vgl. das gleichnamige Buch von Danto, Arthur: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a. M. 1991. 29 Vgl. hierzu die gleichnamige Publikation von Bossart, Rolf (Hrsg.): Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013. 30 Für eine eingehende Auseinandersetzung mit Milo Rau vgl. die entsprechenden Beiträge von Benjamin Wihstutz und Lars Koch in diesem Band. 31 Vgl. Rau, Milo (Hrsg.): Globaler Realismus. Goldenes Buch I, Berlin 2019. 32 Rau, Milo/Bossart, Rolf: »Was ist globaler Realismus?«, in: Rau, Milo (Hrsg.): Globaler Realismus. Goldenes Buch I, Berlin 2019, S. 33 – 42, hier S. 36. 33 Bossart, Rolf: »Vorwort«, in: Rau, Milo (Hrsg.): Globaler Realismus. Das Goldene Buch I, Berlin 2019, S. 7 – 8, hier S. 7. 34 Vgl. Homepage des ZPS: https://politicalbeauty.de/ueber%E2%80%93das-ZPS. html (Zugriff am 20. Juni 2021). 35 Vgl. Homepage des ZPS: https://politicalbeauty.de/Komplizenschaft.html (­Zugriff am 20. Juni 2021). 36 Bei Kant heißt es: »Die Erkenntniskräfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hiebei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff

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sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt.« Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974, S. 132. 37 Für eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem ZPS vgl. die entsprechenden Beiträge von Lars Koch, Simone Niehoff, Anna Raisich, Sandra Umathum und Matthias Warstat in diesem Band. 38 Krieger, Verena: »Strategische Uneindeutigkeit. Ambiguisierungstendenzen ›engagierter‹ Kunst im 20. und 21. Jahrhundert«, in: Mader, Rachel (Hrsg.): ­Radikal ambivalent. Engagement und Verantwortung in den Künsten heute, Zürich 2014, S. 29 – 54, hier S. 46. 39 Žižek, Slavoj: »Da Capo senza Fine«. In: Butler, Judith/Laclau, Ernesto/ders. (Hrsg.): Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London 2000, S. 213 – 262, hier S. 220. 40 Vgl. Ryle, Gilbert: »Knowing How and Knowing That: The Presidential Address«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, 46 (1945/1946), S. 1 – 16. 41 Ich lasse hier bewusst die rein auf Materialität basierenden Theorien, wie etwa diejenige von Dieter Mersch außen vor, nicht nur weil sie eine Sonderposition darstellen, sondern weil ihre dezidiert unpolitische Implikation im Fall von Interventionen nicht zu halten ist. 42 Seidel, Wilhelm: Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte, Darmstadt 1987 (= Erträge der Forschung 246), S. 37; vgl. dazu Eggebrecht, Hans Heinrich: »Opusmusik« (1975), in: ders.: Musikalisches Denken: Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik, Wilhelmshaven 1977, S. 219 – 242. 43 Der Begriff des Eigensinns referiert u. a. auf die im feministischen Kontext wichtige Ausstellung Kunst mit Eigen-Sinn. Aktuelle Kunst von Frauen, die 1985 im Museum moderner Kunst/ Museum des 20. Jahrhunderts in Wien zu sehen war. 44 Schlingensief, Christoph: Ausländer raus. Bitte liebt Österreich. Dokumentation, hrsg. v. Matthias Lilienthal und Claus Philipp, Frankfurt a. M. 2000, S. 100. 45 Vgl. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Frankfurt a. M. 1951, S. 364. 46 Vgl. Said, Edward W.: Götter, die keine sind: Der Ort der Intellektuellen, Regensburg 1997. 47 Vgl. hierzu Knebel, Sven K./Gabriel, Gottfried: »Verworrenheit«, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie online, Basel 2001; DOI: 10.24894/HWPh.5527. 48 Vgl. Sonderegger, Ruth: Für eine Ästhetik des Spiels: Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt a. M. 2000. 49 »La possibilité de plusieurs tubes de devenir un Seurat est l’explication concrète du possible comme infra mince. / Le possible impliquant le devenir – le passage de l’un à l’autre a lieu dans l’infra mince. / allégorie sur l’›oubli‹«. Marcel Duchamp zit. in Zanetti, Sandro: »Handschrift, Typographie, Faksimile. Marcel Duchamps frühe Notizen – ›Possible‹ (1913)«, in: Giuriato, Davide/Kammer, Stephan (Hrsg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Basel; Frankfurt a. M. 2006, S. 203 – 238, hier S. 236f. 50 Feldhof, Silke: »Inframince – ein Konzept, eine Fantasie, ein Ort der Kunst? Über die neueren Raumzeichnungen von Harriet Groß«, in: http://www.harrietgross.com/?page_id=292 (Zugriff am 20. Juni 2021). 51 »Quand la fumée de tabac sent aussi de la bouche qui l’exhale, les deux odeurs s’épuesent par INFRA-mince.« Duchamp, Marcel: Die Schriften, Bd. 1: Zu Lebzeiten veröffentlichte Texte, hrsg. und übers. von Serge Stauffer, Zürich 1981, S. 210. 52 Deleuze, Gilles: Bartleby oder die Formel, Berlin 1994, S. 12. 53 Ebd., S. 8. 54 Vgl. Zorn, Johanna: »Keine Einigkeit, nirgends. Von der (ästhetischen) Notwendigkeit der Selbstprovokation«, in: Höving, Vanessa/Holweck, Katja/Wortmann, Thomas (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Resonanzen, München 2020, S. 59 – 68, hier S. 63.

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Benjamin Wihstutz Kippmomente Über Aktivismus, Theater und Politik Als im Sommer 2020 die Black Lives Matter-Bewegung ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte und sich tausende Menschen in den USA sowie in vielen europäischen Ländern auf die Straße begaben, um gemeinsam gegen institutionellen Rassismus und Polizeigewalt zu protestieren, gingen unter anderem Bilder von gestürzten Denkmälern um die Welt. Eine ganze Reihe kolonialistischer Statuen – seien diese von Führern der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg wie Robert Lee oder Jefferson Davies, von in den Sklavenhandel verstrickten Staatsoberhäuptern wie dem belgischen König Leopold II. oder kolonialen ›Entdeckern‹ wie Christoph Kolumbus – wurde von Demonstrierenden zu Fall gebracht. An der politischen Debatte, welche Art von Denkmal man anstelle der gestürzten oder geköpften Statuen wieder aufstellen könnte, beteiligte sich auch der britische Street-Art-Künstler Banksy mit einem Entwurf für seine Heimatstadt Bristol, wo die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston im Juni 2020 spektakulär von ihrem Sockel ins Hafenbecken gestürzt worden war (Abb. 1). Banksys gesprühter und anschließend in den sozialen Medien verbreiteter Entwurf (Abb. 2) zeigt die sich in einem Winkel von 30 Grad neigende, im Kippen befindliche Skulptur, die von vier an einem Seil ziehenden Demonstrant:innen zu Fall gebracht wird.1 Er dokumentiert damit ein Bild des Protests, das eine Kraft und Dynamik repräsentiert, auf die aktivistischer Protest generell zielt: darauf nämlich, ein Kippmoment zu erzeugen, das sowohl eine politische Stimmung als auch normative Ordnungen zum Umsturz bringt, in diesem Fall die Tradition des Gedenkens an weiße Männer der Kolonialzeit, die sich rassistischer Taten schuldig gemacht haben. Das Kippen der Statue steht damit symbolisch auch für das Kippen von Geschichte, für den Umsturz traditioneller Normen und Gewissheiten. Kippmomente, so möchte ich im Folgenden vorschlagen, sind Teil aktivistischer und interventionistischer Kunstpraxis. Kippmomente sind dynamisch, politisch polarisierend, und sie sind kontingent. Die Kontingenz betrifft dabei nicht allein den Zeitpunkt des Kippens, d. h. den Moment im temporalen Sinne, in dem die Kräfte eine Ordnung zum Einsturz bringen, sondern auch die Verlagerung des Schwerpunkts, die Richtung und Dynamik des Kippens und damit

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Abb. 1: Aktivist:innen kippen Statue von Edward Colston in das Hafenbecken von ­Bristol, Juni 2020 © Guilia Spadafora 2020

das Moment im physikalischen Sinne. Ausgehend von Banksys ikonischem Kippmoment, das hier zum Einstieg meiner Überlegungen dienen kann, widmet sich der vorliegende Beitrag Interventionen aktivistischen Theaters, in denen nicht allein die politische Stimmung, sondern vor allem auch die Rezeption der Situation selbst kippt. Meine Beispiele werfen mithin auch die Frage auf, wann Interventionen als Theater wahrgenommen werden und inwiefern dabei das Kippen von Theater in Politik oder umgekehrt von Politik in (bloßes) Theater eine besondere Dynamik ins Rollen bringt, die mit realen Risiken und Konsequenzen für die Beteiligten einhergeht. Der Text gliedert sich in vier Abschnitte: Eingangs gehe ich von drei allgemeinen Beobachtungen zum Aktivismus im politischen Gegenwartstheater und dem damit verbundenen institutionellen Wandel aus. Anschließend wende ich mich der Begriffsgeschichte des Aktivismus und seiner Beziehung zum Theater zu. Drittens werde ich mit Bezug auf eine Aktion des Zentrums für Politische Schönheit sowie auf eine Arbeit Milo Raus exemplarisch darlegen, was ich unter Kippmomenten von Interventionen aktivistischen Theaters verstehe. Und viertens komme ich zum Abschluss auf einen Skandal aus dem Feld der Politik zu sprechen, bei dem ebenfalls das durch eine theatrale Intervention ausgelöste Kippmoment die zentrale Rolle spielt und einen Politiker zu Fall bringt.

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I. Drei Beobachtungen zum Aktivismus im politischen ­Gegenwartstheater

»Der Ruf nach Intervention«2 geht häufig einher mit einer aktivistischen Haltung von Künstler:innen und Theaterschaffenden, denen es nicht mehr ausreicht, die Bühne lediglich als Spiegel der Gesellschaft oder als Ort ästhetischer Kritik und Reflexion aufzufassen, sondern die es vielmehr darauf anlegen, mit künstlerischen und theatralen Mitteln politisch und gesellschaftlich tatsächlich etwas zu bewegen und mit der Adressierung eines Publikums Verbündete für ihren politischen Kampf zu gewinnen. Interventionen, d. h. Aktionen und Arbeiten, die auf eine Unterbrechung und Transformation soziopolitischer Räume, Situationen und Öffentlichkeiten zielen, bezeichnen dabei nur eine von mehreren Strategien, aktivistische Kunst respektive aktivistisches Theater zu machen. Bevor ich exemplarisch auf konkrete theatrale Interventionen zu sprechen komme, möchte ich daher drei allgemeinere Beobachtungen an den Anfang meiner Überlegungen stellen, die versuchen, den aktuellen Wandel des politischen Gegenwartstheaters grob zu skizzieren und die Bedeutung jener aktivistischen Haltung für diesen Wandel hervorzuheben.

Abb. 2: Entwurf von Banksy für neue Statue in Bristol, veröffentlicht auf Instagram, Juni 2020 © Banksy 2020

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Erstens: Aktivismus hat im Gegenwartstheater Konjunktur. Während politische Stoffe im Theater mehr oder weniger dauerhaft aktuell sind, ist seit circa zehn Jahren im europäischen Theater eine erneute Hinwendung zu direktem politischem Engagement zu beobachten. Das betrifft nicht nur die freie Szene, sondern auch die Leitung großer Häuser: 2013 übernahm Shermin Langhoff die Intendanz am Maxim Gorki Theater in Berlin, das seitdem gezielt Schauspieler:innen, Autor:innen und Regisseur:innen mit Migrationshintergrund einstellt, mit aktivistischen Künstlergruppen wie dem Zentrum für Politische Schönheit kooperiert und den Spielplan nach explizit linken und postmigrantischen Themen ausrichtet. 2018 trat Milo Rau als neuer Intendant am NT Gent mit einem Manifest an, das unter anderem vorschreibt, jedes Jahr ein Theaterprojekt in einem Krisengebiet zu realisieren und mit dem Satz beginnt: »Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern.«3 Auch auf der Bühne selbst werden politische Inhalte seit einigen Jahren auffallend häufig mit direktem politischem Engagement verknüpft. Während Hans-Thies Lehmann 2002 in einem viel zitierten Aufsatz noch konstatierte: »Das Politische kann im postdramatischen Theater nur indirekt erscheinen, in einem schrägen Winkel, modo obliquo«4, scheint heute eine neue Generation von Theaterschaffenden genau jener indirekten Politizität der Dekonstruktion und Unterbrechung eine klare Absage zu erteilen. Sie setzt dagegen den Anspruch, Theater mit einem Commitment für eine klar definierte und nicht selten identitätspolitisch aufgeladene Agenda zu verbinden. Die Produktion von Theater mit dieser Haltung ist es, die ich unter dem Begriff des aktivistischen Theaters fassen möchte. Zweitens: Mit aktivistischem Theater geht heute oftmals eine neue Art der Adressierung des Publikums einher, die sich deutlicher als in der Tradition des bürgerlichen Stadttheaters und analog zur Filter Bubble in den sozialen Netzwerken auf eine Gruppe von Gleichgesinnten bezieht. Die theatrical public sphere5 – um einen Begriff von Christopher Balme aufzugreifen – impliziert heute eine ausgeprägte Diversifizierung, die gleichsam Gegenöffentlichkeiten im Sinne von Nancy Fraser beansprucht. Institutionalisierte Strukturen, Normen und Kategorien werden durch Akteur:innen solcher counterpublics zur Disposition gestellt und subvertiert mit dem Ziel »to formulate oppositional interpretations of their identities, interests, and needs«6. ­Postmigrantisches Theater, Disability Arts, Queer Performance, dekoloniales Theater und nicht zuletzt Interventionen im öffentlichen Raum zielen auf ein digital bereits vernetztes Publikum, das über

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einzelne Aufführungen hinaus als Peergroup und Komplize fungiert und sich gegen hegemoniale Ordnungen und Politiken stellt,7 sich über aktivistische Praktiken, zugleich aber auch als Community mit den je eigenen »identities, interests und needs« verständigt und definiert. Die Diversifizierung von Öffentlichkeiten, die sich hier am Theater beobachten lässt, steht damit zugleich in einem größeren historischen Zusammenhang, den der Soziologe Andreas Reckwitz in Die Gesellschaft der Singularitäten als Entwicklung von einer Politik des Allgemeinen zu einer Politik des Besonderen beschrieben hat.8 Die Diversität und Partikularität kultureller Gemeinschaften und Publika rückt in den Vordergrund, der universelle Anspruch – etwa von Theater als Vermittlung eines Bildungskanons – rückt in den Hintergrund. Drittens: Aktivistisches Theater kann ganz unterschiedliche Ästhetiken und Arbeitsweisen ausbilden, von denen einige als Interventionen bezeichnet werden können und andere nicht. Wenn am Schauspiel Köln ein Wochenende lang das Tribunal NSU-Komplex auflösen! eigene Ermittlungen über die Anschläge der neonazistischen Terrorvereinigung NSU anstellt, so handelt es sich um eine aktivistische Veranstaltung und um eine Intervention innerhalb der Institution Stadttheater. Wenn die britische Performerin Jess Thom alias Touretteshero in ihrer Beckett-Interpretation Not I ihre Ticks als das kreative Potenzial ihrer Performance bezeichnet und sich im Rahmen einer »relaxed performance«9 explizit an ein Publikum der Disability Community richtet, so kann dies als aktivistisches Theater verstanden werden, aber kaum als Intervention gelten. Und wenn die Regisseurin Anta Helena Recke Sepp Bierbichlers Mittelreich als detailgetreues Reenactment der ein Jahr älteren Musiktheater-Inszenierung von Anna Sophie Mahler auf die Bühne bringt,10 das sich von dieser lediglich durch den Cast unterscheidet, bei dem nun alle Rollen mit Schauspieler:innen of Colour besetzt sind, dann kann hier weniger von einer interventionistischen als von einer institutionskritischen, in jedem Fall aber auch von einer Theaterarbeit mit aktivistischer Haltung gesprochen werden. Diese drei Beobachtungen haben weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch möchte ich den Begriff »aktivistisches Theater« als Genre definieren. Allerdings stelle ich fest, dass gegenwärtig im Theater eine Vielzahl einflussreicher Entwicklungen zu beobachten ist, die mit einer Diversifizierung des Politischen und einer aktivistischen Haltung vieler Theaterschaffenden einhergeht. Um diese neuere Entwicklung zu verstehen, wende ich mich im Folgenden zunächst der Begriffsgeschichte des Aktivismus und seiner Beziehung zum Theater zu.

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II. Zur Geschichte aktivistischen Theaters

Zunächst taucht der Begriff Aktivismus im politischen Kontext nicht als linker oder identitätspolitischer Begriff, sondern im Zusammenhang mit einer rechtsnationalistischen Bewegung zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf. 1915 veröffentlicht der schwedische Publizist und bekennende Antisemit Adrian Molin anonym das sogenannte Aktivistenbuch,11 das gegen die politische Neutralität und für den Kampf Schwedens an der Seite von Deutschland im Ersten Weltkrieg wirbt. Auch während der 1920er und 1930er Jahre bleibt der Begriff von rechts besetzt. So schlägt der spätere Reichswalter des Nationalsozialistischen Lehrerbunds Walter Schemm 1929 vor, eine »aktivistische Kerntruppe« zu bilden, die sich für die Ideologie der Nazis in den Schulen einsetzt.12 Das linke Pendant zum Aktivismus ist in dieser Zeit der leninistisch geprägte Begriff der Agitation, der schnell in die Künste gelangt.13 Im deutschsprachigen Theater ist es bekanntlich Erwin Piscator, der sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs für Theaterformen des Agitprop zu interessieren beginnt. Nachdem er in einer Fronttheatertruppe bereits politisiert worden ist, wendet er sich einem dezidiert agitatorischen – heute würde man sagen – aktivistischen Theater zu. Ich zitiere Piscator: ange Zeit, bis in das Jahr 1919 hinein, waren Kunst und Politik L zwei Wege, die nebeneinander herliefen. Im Gefühl war zwar ein Umschwung erfolgt. Kunst als Selbstzweck war nicht mehr imstande, mich zu befriedigen. Andererseits sah ich immer noch nicht den Schnittpunkt, an dem ein neuer Begriff der Kunst entstehen mußte, aktiv, kämpferisch, politisch. […] Diese Erkenntnis brachte für mich die Revolution.14 Politische Neutralität in der Kunst war für Piscator nach der gescheiterten Revolution von 1919 nicht mehr denkbar, an der Volksbühne und später der Piscator-Bühne inszenierte er mit Agitprop und neuesten Projektionstechniken ein multimediales Theater für den Klassenkampf. Aus dem Theater wurde auf diese Weise seiner Ansicht nach »ein einziger großer Versammlungssaal, ein einziges großes Schlachtfeld, eine einzige große Demonstration.«15 Von der Revue Roter Rummel ist überliefert, dass sich direkt im Anschluss an die Aufführungen spontan neue Agitpropgruppen bildeten, die selbst die Mittel des Theaters nutzen wollten, um agitatorische Politik für eine kommende Revolution zu machen.16 Matthias Warstat hat darauf

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hingewiesen, dass das Agitproptheater vor allem auf eine unmittelbare Mobilisierung des Publikums zielte: I m Agitproptheater werden politische Handlungsoptionen nicht repräsentiert, sondern ad hoc ermöglicht. Noch in der Aufführung selbst gilt: Der Anfang ist gemacht – das Handeln kann sofort beginnen. Agitproprevuen fordern vom Publikum Leistungen, die umgehend erbracht werden können: einen Mitgliedsantrag unterschreiben, eine Spende entrichten, eine Zeitung abonnieren. Teil der Bewegung werden.17 Dass der Begriff Aktivismus heute überwiegend in linken und identitätspolitischen Kontexten Verwendung findet, hat nun aber nichts mit dem Agitprop zu tun, dessen revolutionäre Ziele stets auf eine Politik des Allgemeinen ausgerichtet blieben. Das Verständnis eines politischen Aktivismus wandelt sich vielmehr mit der Geschichte von Protestbewegungen in den USA wie dem Civil Rights Movement in den 1960er Jahren, der Entstehung von aktivistischen Umweltorganisationen wie Greenpeace in den 1970er Jahren oder der Act-Up-­Bewegung von AIDS-Aktivist:innen in den 1980er Jahren. Diese Protestbewegungen prägten den Begriff Activism neu, indem sie weniger für eine politische Ideologie als vielmehr für bestimmte Rechte und gegen die Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen eintraten und dies durch publikumswirksame Aktionen öffentlich machten. Zur gleichen Zeit, in der auch Augusto Boal in Lateinamerika erstmals seine Methoden des »Theaters der Unterdrückten«18 entwickelt, nutzen bereits in den USA afro-amerikanische Aktivist:innen verschiedene performative Strategien der sogenannten »Direct Action«, um auf ihre Diskriminierung im öffentlichen Raum aufmerksam zu machen.19 In seinem Buch Tactical Performance: Serious Play and Social M ­ ovements weist der amerikanische Theaterwissenschaftler Larry Bogad darauf hin, dass diese Strategien ein theatrales Als-ob involvieren, das in den Aktionen und Interventionen zu politisch riskanten und polarisierenden Situationen führt. Das Buch beginnt mit der Beschreibung eines der Nashville-Sit-Ins, die es lohnt zu zitieren: Nashville 1960: A white’s only lunch counter in a department store. A group of African-Americans, dressed formally, sits at the counter. They are quiet, polite, and when refused service, they sit calmly, read books, and wait patiently. They behave as if the change they want to see in the world has already been enacted, as if they have

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equal rights. A racist mob forms behind the sitting group, and begins to taunt, jeer, and finally to attack them. The white police arrive… and arrest the victims of the violence, not the mob.20 Bogads Beschreibung legt nahe, über die politische Dimension eines Handeln-als-ob nachzudenken und danach zu fragen, inwiefern Emanzipation, so behauptet es der französische Philosoph Jacques Rancière, immer die Dimension eines Als-ob benötigt, um die angestrebte Gleichheit in actu vorwegzunehmen.21 Emanzipation, so Rancière, besteht nämlich gerade nicht in der Forderung nach etwas Unerfülltem, etwa nach Gleichheit oder Gerechtigkeit, sondern vielmehr im Als-ob der Annahme bereits durchgesetzter Gleichheit, die sich in der Aktion, d. h. in der emanzipatorischen Handlung (in actu) selbst offenbart. Die Bürgerrechtler:innen handeln in diesem Fall emanzipatorisch, weil sie gerade nicht im üblichen Sinne demonstrieren, etwa mit Sprechchören oder indem sie den Lunch Counter stürmen, vielmehr liegt das Emanzipatorische bereits im Modus des Handeln-als-ob22 – »as if the change they want to see in the world has already been enacted, as if they have equal rights. « (Zitat s.o., Herv. von mir). Matthias Warstat betont das Handeln-als-ob wiederum als eine von drei Dimensionen sozialer Theatralität, d. h. als eine Möglichkeit, wie Gesellschaft qua Theatralität entsteht und dargestellt wird23. Wenn im Folgenden von politischen Kippmomenten qua theatralem Handeln die Rede ist, so zielt dieses Handeln immer auch auf einen gesellschaftlichen Wandel, der durch den vom theatralen Handeln ausgelösten Kipppunkt vorangetrieben werden soll, dessen Eintreten aber nie ganz voraussehbar ist und der auch paradoxale Effekte hervorrufen kann. Neben der emanzipatorischen Dimension ist im hier erörterten Kontext daher ebenso entscheidend, den Fokus auf den Umschwung der geschilderten Situation selbst zu lenken, der auch für heutige interventionistische Kunst-Aktionen häufig noch kennzeichnend ist: Die Polizei verhaftet nicht selten die Falschen, die Situation dreht sich um. Natürlich wissen die Aktivist:innen, dass sie ein Risiko eingehen, indem sie in einem rein ›weißen‹ Kaufhaus der Südstaaten demonstrativ sitzen bleiben, um mit ihrem Verhalten und ihrer Kleidung Gleichheit zu beanspruchen. Dennoch ist erst die Festnahme durch die Polizei das Moment, mit dem das passive Theater der ­Aktivist:innen in eine evident politische Situation kippt, die reale Konsequenzen für die Beteiligten nach sich zieht. Es ist auch jenes Kippmoment, das mit der Zirkulation von Fotografien der Aktion eine maximale Öffentlichkeitswirkung erzielt und zu solidarischem Protest von Verbündeten führt.24 165


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III.

Kippmomente aktivistischen Theaters

Ein Kippmoment bezeichnet in der Mechanik das Drehmoment, das ausreicht, um ein Objekt umzukippen. Eine Wippe wippt, ein Kran fällt um, eine Statue kippt. In der Ökologie und Klimaforschung verwendet man den Begriff wiederum in Bezug auf Veränderungen, nach denen eine bestimmte Entwicklung nicht mehr aufzuhalten ist und ein funktionierendes System zum Kippen gebracht wird: das Umkippen eines Sees, das Versiegen des Golfstroms, das Schmelzen der Gletscher. Ein Punkt wird überschritten und es gibt kein Zurück mehr. Als Kippmoment aktivistischen Theaters möchte ich entsprechend ein dramaturgisches Moment bezeichnen, in dem das theatrale Spiel so weit gedreht wird, dass die Stimmung des Publikums oder sogar darüber hinaus die öffentliche Rezeption des Theaters in einer Weise kippt, dass dies zu ernsten Konsequenzen für die Beteiligten führt und sich gegebenenfalls gegen die Spielenden selbst wendet. Dabei führt ein Handeln-als-ob die Akteur:innen des Theaters in jene ernste und folgenreiche Situation, die für sie nicht mehr vollständig zu kontrollieren ist. Schlaglichtartig widme ich mich im Folgenden dreier Kippmomente theatraler Interventionen der Gegenwart, die auf diese Kontingenz und auf die realen Konsequenzen solcher Situationen verweisen. Ähnlich wie bei den Bürgerrechtler:innen wendet sich das Blatt auch in diesen drei Fällen gegen die theatral Handelnden, sie sind es, die sich plötzlich rechtfertigen müssen oder gegen die Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln. Erstes Kippmoment: Björn Höcke und das Zentrum für ­Politische ­Schönheit

Am 21. November 2017 wurde vom Zentrum für Politische Schönheit ein Video mit dem Titel »Bau das Holocaust-Mahnmal direkt vor Höckes Haus!« auf Youtube veröffentlicht.25 Laut Video hatten die Aktionskünstler:innen ein Nachbargrundstück von Höckes Haus in Thüringen angemietet, um dort die Stelen des Berliner Mahnmals nachzubauen (Abb. 3) und den rechtsradikalen Politiker der AfD rund um die Uhr zu überwachen. Die Aktion reagierte damit auf eine Rede Höckes, in der er das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas als »Denkmal der Schande inmitten unserer Hauptstadt« bezeichnet hatte. Das Video ist schon allein ästhetisch bemerkenswert: Musikunterlegung, Splitscreen und Schnitte erinnern an zeitgenössische Werbevideos, ein Aufruf zur Komplizenschaft und zu Spenden auf der Website ­ deine-stele.de erinnert an die von Warstat beschrie-

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benen Agitprop-­Strategien, die hier digital umgesetzt werden und sich gegen eine Einzelperson als politischen Gegner richten. Gezeigt werden außerdem Bilder von Höckes Rede, Luftbilder seines Hauses in Thüringen, von den Arbeiten am Nachbau des Mahnmals auf dem Nachbargrundstück und schließlich Szenen einer angeblichen Überwachung durch den neu gegründeten »Zivilgesellschaftlichen Verfassungsschutz Thüringen«, dem man sich jederzeit anschließen dürfe. Zu pathetischer Musik zeigt das Video an dieser Stelle klischeehafte Szenen zweier vermeintlicher Hobby-Detektive im Trenchcoat (Abb. 4), die mit Ferngläsern und Abhörgerät scheinbar Höckes Haus ausspionieren: »Sind Sie Student und haben Sie Zeit für eine Rund-um-dieUhr-Überwachung, sind Sie erprobter Hacker oder Toningenieur oder Detektiv?«, sagt eine männliche Stimme aus dem Off, »Wir brauchen Sie!«. Die Überwachung würde erst beendet, wenn Höcke vor dem Thüringer Mahnmal auf die Knie sinke und um Vergebung bitte. An der offensiven Theatralik und Inszeniertheit des Videos bestehen kaum Zweifel. Und doch, oder vielleicht gerade deswegen, vermochte

Abb. 3: Wohnhaus von Björn Höcke (AfD) mit Stelen des nachgebildeten ­Holocaust-Mahnmals, Zentrum für Politische Schönheit, 2017 © Patryk Witt / Zentrum für Politische Schönheit

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dieses Video die Situation zum Kippen zu bringen und Ermittlungen der Justiz und des Verfassungsschutzes gegen die Künstler:innen in Gang zu setzen. In Bezug auf eine ältere Aktion des ›Zentrums‹ äußert sich der Theaterwissenschaftler Peter Marx entsprechend: as sind sehr berechenbare Tabus in unserer Gesellschaft, und D diese Tabus zu brechen, provoziert natürlich die entsprechende Reaktion, in der Regel durch Polizei und Staatsanwaltschaft. Kaltblütig dramaturgisch könnte man sagen: Genau darauf wird spekuliert.26 Das politische und juristische Nachspiel begann unmittelbar nach der Bekanntmachung der Aktion. So forderte der Präsident des Thüringer Landtags, Christian Karius von der konservativen CDU, ein sofortiges Ende der Überwachung mit den Worten: »Die Gesamtaktion des ›Zentrums für Politische Schönheit‹ hat nichts mit Kunst zu tun. Das Abhören und Ausspionieren von Abgeordneten und ihren Familien gleicht den Zersetzungsmethoden der Staatssicherheit.«27 AfD-Landessprecher Stefan Möller konstatierte, »Höckes Familie ist monatelang nachgestellt, ausgespäht und fotografiert worden. [...] Wie wollen Sie die Angst dieser Kinder wieder einfangen?“28 und Björn Höcke selbst sprach bereits zwei Tage später vom Zentrum für Politische Schönheit als »krimineller, ja terroristischer Vereinigung«29. Wie erst Anfang April 2019 bekannt wurde, nahm die Staatsanwaltschaft Gera bereits am 24. November 2017 ihre Ermittlungen gegen das Zentrum auf. Als Straftatbestand wurde in der Akte die »Bildung einer kriminellen Vereinigung« nach § 129 StGB angegeben. Ans Tageslicht kamen die Ermittlungen rein zufällig durch die Anfrage eines Abgeordneten der Linken an das Thüringer Justizministerium, in der dieser sich erkundigte, gegen welche Gruppierungen derzeit nach § 129 StGB ermittelt würde. Die Auflistung des Ministeriums führte neben Hooligans, rechtsextremen Jugendlichen und Mitgliedern des Islamischen Staates auch eine »Gruppierung von Aktionskünstlern« auf. Dass die Ermittlungen zu diesem Zeitpunkt schon seit 16 Monaten liefen und immer noch nicht eingestellt worden waren, ist insofern bemerkenswert, als Höcke bereits ein Jahr zuvor, im März 2018, mit einer Klage gegen die Aktion vor dem Landgericht Köln scheiterte. Ich zitiere aus dem Urteil vom 14. März 2018: s spricht viel dafür, dass diese Darstellung eines Denkmals E schon das geformte Ergebnis einer freien schöpferischen Gestal-

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Abb. 4: Snapshot des Youtube-Videos »Bau das Holocaust-Mahnmal direkt vor Höckes Haus!« © Zentrum für Politische Schönheit, 2017

tung ist und aufgrund der klassischen künstlerischen Darstellungsform schon Kunst darstellt. […] Auch das zweite Kern­ element – die »Überwachung« des Verfügungsklägers – ist als solche anzusehen. […] Unabhängig davon, ob die Überwachung tatsächlich stattgefunden hat oder ob sie nur vorgetäuscht war, wofür die in den Videos satirisch übertriebene Kostümierung der »Spione« spricht, entfaltet die diesbezügliche Ankündigung des Verfügungsbeklagten eine künstlerische Wirkung […].30 Dass es sich bei der Überwachungsaktion in der Tat um ein Fake handelte, war in der Zwischenzeit in einem zweiten Video der Gruppe aufgedeckt worden. »Sollen wir sagen, wie es wirklich war?«, heißt es darin: »Billigstes Überwachungsspielzeug und zwei Trenchcoats von Penny«31. Die Polizei hatte zudem bei der Inspizierung des Grundstücks zu Protokoll gegeben, dass es sich beim Werkstoff des nachgebauten Denkmals keineswegs um Beton, sondern um Pappmaché handelte.32 Offenbar ging es dem Zentrum für Politische Schönheit um das gezielte Platzieren von Fake News als digitaler Guerilla-Taktik mit anschließender Auflösung.33 Es war alles nur Theater. Doch es war zu spät. Die Ermittlungen waren bereits eingeleitet. Die besondere Ironie der Geschichte besteht nun darin, dass mit Ermittlungen nach §129 StGB umfassende Befugnisse des Abhörens und der Überwachung einhergehen. Wäre dies eine antike Tragödie, könnte man von einer Peripetie, von einem Wendepunkt, sprechen. Die Situation kippt und dreht sich um. Nicht Höcke, sondern die Aktivist:innen werden ­abgehört und überwacht.

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Auf die Veröffentlichung der Ermittlungen folgte eine Welle der Solidarisierung. Hunderte Künstler:innen und Intellektuelle forderten in einem offenen Brief ein Ende der Ermittlungen.34 Als dann auch noch die Wochenzeitung Die Zeit ans Licht brachte, dass der leitende Staatsanwalt in der Vergangenheit der AfD gespendet hatte, wurde das Verfahren am 8. April 2019 eingestellt und der Staatsanwalt versetzt. Zweites Kippmoment: Milo Raus General Assembly und der Auftritt eines Genozidleugners

Das zweite Beispiel eines Kippmoments geht nicht von einem Video, sondern von einer Aufführungssituation im Theater aus. Allerdings konnte man auch das dreitägige General Assembly von Milo Rau (Abb. 5), das in der Berliner Schaubühne ebenfalls im November 2017 stattfand, live im Internet anschauen. Außerdem wurden die Sitzungen in fünf andere europäische Theatersäle live übertragen. In Struktur, Ablauf und Bühnenbild ähnelte die Generalversammlung den von Rau inszenierten Theatertribunalen, so etwa dem Kongo Tribunal von 2015 oder den Zürcher Prozessen von 2013, als Rau am Theater am Neumarkt mit realen Zeug:innen und Rechtsexpert:innen einen fiktiven Prozess gegen die Weltwoche führte.35 Im General Assembly wurde zwar niemand angeklagt, aber mit einer »Charta für das 21. Jahrhundert« am Ende auch eine Art Urteil gesprochen, das in diesem Fall die Positionen der insgesamt sechzig Repräsentant:innen in einer utopischen Verfassung unter dem Motto »Demokratie für alle und alles« zusammenbringen sollte.36 Diese Zielsetzung erwies sich jedoch als kaum realisierbar, trafen im Weltparlament teilweise doch vollkommen konträre Positionen und partikulare Interessen aufeinander. Katholische Lebensrechtlerinnen und belgische Antinatalisten, vegane Tierrechtler und polnische Drag Queens, radikale Muslime und Anhänger:innen eines demokratischen Kurdistans debattierten fünf Sitzungen lang über ihre Anliegen. Was jedoch zunächst nach einem rein politischen Forum aussah, folgte bei genauerer Betrachtung einer festgelegten Dramaturgie, die auf einigen Grundprinzipien von Raus Arbeit basierte. In einem Interview, das ich mit Rau über seine Theatertribunale geführt habe, äußert sich der Schweizer Regisseur zu diesen Prinzipien: enn man sich das Kongo Tribunal anschaut, haben wir fünf W Sitzungen, fünf Akte. Das hat etwas mit der Gleichursprünglichkeit von Theater und Gerichtsprozess zu tun: beide sind in der Form des Antagonismus begründet. Das klassische Drama führt zwei Figuren zusammen, so wie Hegel das anhand von Kreon und

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Abb. 5: General Assembly von Milo Rau, Schaubühne am Lehniner Platz © Daniel Seiffert

Antigone beschreibt. Eine repräsentiert das traditionelle Recht, die andere das moderne Recht, doch es gibt keine Einigung, weil es nicht geht. […] Genauso ist es bei meinen Prozessen. Im Kongo Tribunal lasse ich ebenfalls das traditionelle Recht, also die Minenarbeiter, die Landarbeiter usw. gegen das moderne Recht der Weltbank und der UNO antreten. Ich schaue dann, was passiert.37 Raus politisches Konzept folgt somit einer spezifischen Form, einer antagonistischen Dramaturgie. Entsprechend richtet sich auch das Casting der Expert:innen bei Rau nicht allein nach der Verfügbarkeit oder dem Charisma der Performer:innen. Vielmehr geht es darum, über die Auswahl der Zeug:innen und Repräsentant:innen gezielt Figuren zu finden, die als Antagonist:innen wie Kreon und Antigone gegeneinander antreten: Wenn Rau beispielsweise den SVP-Kantonsrat Claudio Zanetti in Zürich die Weltwoche gegen muslimische Zeug:innen verteidigen lässt; oder wenn im General Assembly erst der Historiker Mihran Dahbag über den Völkermord an den Armeniern berichtet und direkt im Anschluss der deutschtürkische Netzaktivist Tugrul Selmanoğlu genau jenen Genozid leugnet, so stehen diese Antagonisten aus Raus Sicht symbolisch immer auch für die Protagonisten einer Tragödie, die sich mit grundsätzlichen Fragen des Rechts und der Politik auseinandersetzt.

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Dass diese Dramaturgie riskant ist, zeigte ein Eklat am dritten Tag des General Assembly, bei dem Selmanoğlu vom Leiter der Sitzung, Diego Costa, nach Rücksprache mit dem Regisseur vom Parlament ausgeschlossen und des Saales verwiesen wurde. Er hatte zuvor auf die von Costa gestellte Frage, ob er den Völkermord leugne, nach einem Moment des Zögerns mit »Ja« geantwortet. Doch Rau hatte sich offenbar mit diesem dramaturgischen Kniff des Ausschlusses verkalkuliert: Obwohl kaum jemand im Saal auf der Seite von Selmanoğlu stand, regten sich im Plenum heftige Proteste ob dieses Vorgehens. Mehrere Abgeordnete äußerten, dass der Ausschluss eines Andersgesinnten dem demokratischen Anspruch der Versammlung fundamental widerspreche. Die Lebensrechtlerin Cornelia Kaminski reagierte spontan mit den Worten »Das ist jetzt aber eine Inszenierung!«. Besonders heftig äußerte sich der linke Netz-Aktivist Aral Balkan, der Rau vorwarf, aus der Veranstaltung eine Farce zu machen, schließlich hätte er die Veranstalter doch bereits vor Wochen darauf hingewiesen, dass Selmanoğlu den Völkermord an den Armeniern leugnen werde. Als daraufhin aus dem Publikum eine Stimme »It’s theatre! It’s theatre!« ruft, entgegnet Balkan entrüstet: »You know, for some of us this is not theatre. For some of us, this is something that impacts our lives. And we are not here to be your actors!«38 Das Kippmoment, das in dieser Szene evident wird, betrifft die Aufführungssituation selbst. Die Aktivisten im Saal verbünden sich plötzlich gegen den Regisseur und sein Theater, indem sie ihren eigenen politischen Anspruch geltend machen. Das Kippmoment betrifft aber auch die Wahrnehmung dieses Theaters: Was der französische Aktivist Balkan in diesem Moment erkennen muss, ist, dass Raus radikaldemokratisches Parlament eben nicht allein eine politische Veranstaltung darstellt, sondern zugleich, dramaturgisch betrachtet, lediglich Theater ist. Wenn die Szene tatsächlich von Seiten der Regie geplant war und sein Antagonist und politischer Gegner Selmanoğlu sich mit dem inszenierten Rausschmiss in eine Bühnenfigur verwandelt hat, macht dies dann nicht aus allen anderen Abgeordneten ebenfalls Figuren und Schauspieler:innen dieser Bühne? Genau gegen diese Ansicht wehrt sich Balkan mit den Worten: »We are not your actors!« Gabriele Brandstetter hat das Umspringen theatraler Wahrnehmung einmal als Kippfigur beschrieben. Sie fasst die Kippfigur als ein Moment der Figuration: I n dieser Sicht formiert sich die Doppel-Bühne in einen performativen Raum, der durch Inversion nicht mehr klar in eine

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Innen-Außen-Konfiguration differenziert ist, sondern im Deund Refigurationsvorgang eine andere An-Sicht gewinnt. Diese andere Sicht entspricht einem anderen Zustand, der zwischen einer offenen und einer verborgenen Bühne vermittelt.39 Das Bild kippt und gibt eine verborgene Bühne frei, die Bühne des Theaters. Verzweifelt stemmt sich der Aktivist mit seinem Protest gegen das Theater, um es doch wieder in eine politische Versammlung umzumünzen. Eine halbe Stunde lang diskutierte das Plenum über den Ausschluss des Abgeordneten, wobei immer wieder von verschiedenen Akteuren darauf eingegangen wurde, ob und inwiefern es sich nun um ein Parlament oder um Theater handelte. Gekippt war nicht allein die Wahrnehmung der Aufführung, sondern auch die Rahmung der Veranstaltung durch Rau, der in allen Presse- und Begleittexten immer wieder seine aktivistisch-politische Haltung betont hatte. Als Formel kann der Ausspruch »For some of us, this is not theatre!« womöglich aber auch für das Berechnen des Kippmoments im aktivistischen Theater allgemein gelten – denn die Tatsache, dass einige das Theater eben gerade nicht als Theater betrachten, sondern als reale Politik mit ernsten Konsequenzen, ist genau das Moment, das den Kipphergang und die Kollision zwischen Theater und Politik herbeiführt. Aktivist:innen werden zu Figuren und Figuren werden zu Aktivist:innen, die eine Bühne kippt in die andere, was bisweilen zu Festnahmen oder Ermittlungen der Staatsanwaltschaft führt. In seltenen Fällen können Kippmomente sogar politische Karrieren beenden, womit ich zu meinem letzten und kürzesten Beispiel kommen möchte, obwohl es sich hierbei vielleicht weniger um eine Intervention aktivistischen Theaters als vielmehr um eine theatrale Intervention im Feld der Politik handelt, die die Mittel des Schauspiels als Falle und Täuschung einsetzt, um letztlich die Lügenhaftigkeit eines Politikers aufzudecken. Drittes Kippmoment: Ibizagate – Die Entlarvung der Politik als Theater

Im August 2017 mieten Unbekannte eine Limousine sowie eine Villa auf der Baleareninsel Ibiza als Kulisse für ein Kammerspiel an, das auf Video festgehalten wird. Als Protagonisten treten auf: zwei österreichische Politiker der rechtsnationalen Partei FPÖ sowie die Nichte eines russischen Oligarchen, der offenbar an einer langfristigen Zusammenarbeit mit der österreichischen Regierung interessiert ist. Es wird geraucht und getrunken, dubiose Angebote werden gemacht und Spekulationen über zukünftige Wahlergebnisse und die

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­ bernahme der einflussreichen Kronenzeitung angestellt. Zwei Jahre Ü später, im Mai 2019, wird das Video der Presse zugespielt und schließlich in Teilen veröffentlicht. Erst jetzt – die Szene ist für die Beteiligten vermutlich nur noch eine neblige Erinnerung – kippt die Situation, das falsche Spiel der Russin und die korrupte Haltung der Politiker werden entlarvt. Doch es gibt kein Zurück mehr, der Film ist im Kasten und auch das Publikum kann nur noch zuschauen. Am 18. Mai 2019 tritt Heinz-Christian Strache als österreichischer Vizekanzler und FPÖ-­ Bundesparteiobmann zurück, spätestens nach der Nationalratswahl im September 2019, die mit zehn Prozent Verlust für die FPÖ ausgeht, ist die politische Karriere von Strache vorerst beendet.40 Dabei hatte auch er, ähnlich wie der Aktivist in Raus General Assembly, das Schauspiel für einen kurzen Moment durschaut. In einer vermeintlich unbeachteten Situation, die nicht Teil der veröffentlichten Szenen ist, von der jedoch in der Presse berichtet wurde, schöpft Strache Verdacht: »Wenn du in dieser Liga spielst«, sagt er zu seinem Parteifreund Johann Gudenus über die russische Oligarchennichte, »dann hast du doch keine schmutzigen Ränder an den Fußnägeln.«41 Doch der Verdacht reicht nicht aus, um die Nichte als Schauspielerin und die Begegnung als Theater zu entlarven. Weder wird hier der Regisseur auf der Bühne mit dem Vorwurf falschen Spiels konfrontiert noch wendet sich Strache an die Staatsanwaltschaft. Vielmehr bringt das Kammerspiel erst mit einer zweijährigen Verspätung die politische Situation zum Kippen. Die Theatralität dieses Kammerspiels liegt vielleicht noch deutlicher als bei den beiden vorangehenden Beispielen in einer Dimension von Täuschung und Entlarvung, von Verstecken und Zeigen, die der russische Theaterregisseur und -theoretiker Nikolai Evreinov 1914 in seinem Buch Theater für sich beschrieben hat. Demnach sei Theater als anthropologischer Trieb mit der Lüge und dem Verbrechen verwandt, könne jedoch zugleich dazu dienen, die Unaufrichtigkeit und Falschheit gesellschaftlichen und politischen Lebens aufzudecken. Gegen die korrupten Bankiers und Politiker, schreibt Evreinov, müsse sich das Spiel der Verwandlung richten.42 Dabei operiere Theater grenzüberschreitend, bisweilen auch illegal. Evreinov fragt rhetorisch: »Wille zum Theater und Wille zum Verbrechen – muss da nicht ein Gleichheitszeichen hin?«43 Der Skandal um das Ibiza-Video ist in dieser Hinsicht auch deshalb so spannend, weil das Schauspiel der falschen Oligarchennichte wiederum Strache selbst eines falschen Spiels überführt. Wie oft hat sich gerade Strache in den österreichischen Medien als Saubermann des Landes im Kampf gegen eine angeblich

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korrupte Elite inszeniert? Das Video offenbarte nun: Er ist der wahre Verbrecher in diesem Spiel, oder sollte man mit Evreinov womöglich sagen, der wahre Schauspieler? Am 10. Dezember 2020 wurde der Privatdetektiv Julian H. mit einem österreichischen Haftbefehl wegen Missbrauchs von Abhörgeräten sowie versuchter Erpressung in Berlin festgenommen. In einem Interview mit dem Magazin Der Spiegel vom 27. Januar 2021 gab H. zu, das Video gemeinsam mit seinen Komplizen gedreht und es der ­deutschen Presse zugespielt zu haben, leugnete jedoch die Erpressungsvorwürfe. Seiner Aussage nach ging es von Anfang an einzig und allein darum, einen korrupten Politiker zu Fall zu bringen.44

Schluss

Ich habe anhand von verschiedenen Beispielen gezeigt, dass theatrale Interventionen als aktivistische Strategie auf besondere Weise dazu in der Lage sind, Kippmomente zu erzeugen, die sich durch eine Kontingenz und Unkontrollierbarkeit auszeichnen, die unter anderem dazu führen kann, dass sich das Blatt gegen die Protagonist:innen selbst wendet. Ein Stück weit wird dieses Risiko von Aktivist:innen in der Regel immer einkalkuliert, etwa auch wenn ein Denkmal der Stadt von Demonstrierenden unter den Augen der Polizei in ein Hafenbecken geworfen wird. Interessant ist an den künstlerisch-theatralen Interventionen jedoch, dass hier, anders als bei den Black Lives Matter-Protesten in Bristol, nicht allein mit einer Protestaktion ein Denkmal oder die politische Stimmung zum Umsturz gebracht wird, sondern paradoxerweise gerade das Als-ob theatralen Handelns dazu führt, Theater in eine politische Situation mit realen Konsequenzen zu verwandeln. Theater kippt in Politik und Politik kippt in Theater – was nach einer binären Logik klingt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als prekärer transformativer Prozess, der wie eine Wippe auch hin- und herwippen kann, aber auch bisweilen auf dem Kipppunkt verharrt oder weitere Refigurationen und Kippmomente ermöglicht. So wie das szenische Aufdecken der Lüge in der Politik einen Vizekanzler als Lügner und ›Schauspieler‹ entlarven kann, ist Theater als künstlerische Praxis zugleich in der Lage, den Schwindel selbst als Strategie zu reflektieren und dabei realpolitische Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Als Kippfigur kann dieses Theater selbst dann noch als ästhetisches Spiel der Rahmungen und Refigurationen rezipiert werden, wenn es sich um politisch-aktivistische Interventionen oder, wie im

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Fall Strache, um einen theatralen Hitjob mit womöglich erpresserischen Motiven handelt. Das Zusammenspiel einer Als-ob-Handlung und einer Als-ob-Haltung trifft in diesem Fall auf ein theatrales Wahrnehmungsereignis,45 bei dem die Szene von außen als solche erkannt und ästhetisch-reflexiv gewendet wird. Von Seiten der Aktivist:innen und der Polizei wird hingegen häufig gerade die Ernsthaftigkeit des Kippmoments hervorgehoben und entsprechend betont, dass es um die Durchsetzung realer ­politischer oder justizieller Konsequenzen geht: »For some of us, this is not theatre!« Politische Ziele zu setzen und dennoch das Kippmoment zu fokussieren und mithin wie Banksy als dynamischen Moment des Wandels und der Unsicherheit festzuhalten, ist daher vielleicht die große Kunst einer Ästhetik der Intervention.

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1 Ich danke Florian Malzacher für den Hinweis auf dieses Bild. 2 Siehe Ankündigungstext der Tagung »Ästhetiken der Intervention. Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters«, 22.-23. November 2019, Münchner Kammerspiele. 3 »Stadttheater der Zukunft. Das Genter Manifest« veröffentlicht auf www.nachtkritik.de am 18. Mai 2018. https://nachtkritik.de/index.php?option=com_ content&view=article&layout=edit&id=15410&Itemid=100190 (Zugriff am 5. Feb­ruar 2021). 4 Lehmann, Hans-Thies: »Wie politisch ist postdramatisches Theater?«, in: Ders.: Das Politische Schreiben, Berlin 2002, S. 11 – 22, hier S. 16. 5 Balme, Christopher: The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014. 6 Fraser, Nancy: »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Social Text 25/26 (1990), S. 56 – 80, hier S. 67. 7 Die Tendenz hin zu einer Diversifizierung verschiedener, getrennter Publika ist damit eher Ansätzen entgegengesetzt, die eine diskursive Kritik hegemonialer Ordnungen mittels antagonistischer Kunstpraxen anstreben, so etwa Chantal Mouffes Ansatz agonistischer öffentlicher Räume der Kunst, die dissensuelle Begegnungen und Debatten ermöglichen. Vgl. Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014, S. 140ff. 8 Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, insbes. S. 371 – 423. 9 Zum Konzept der relaxed performance siehe Fletcher-Watson, Ben: »Relaxed performance. Audiences with Autism in Mainstream Theatre«, in: The Scottish Journal of Performance 2, (2015), S. 61 – 89. 10 Vgl. hierzu den Beitrag von Azadeh Sharifi in diesem Band. 11 Molin, Adrian: Sveriges Utrikespolitik [Aktivistboken], Stockholm 1915 (anonym veröffentlicht). 12 Vgl. Heske, Henning: und morgen die ganze Welt. Erdkundeunterricht im National­ sozialismus, Krefeld 2008, S. 63. 13 Vgl. die Beiträge von Simone Niehoff und Matthias Warstat in diesem Band. 14 Piscator, Erwin: »Das Politische Theater«, in: ders.: Zeittheater. »Das politische Theater« und andere Schriften, Reinbek 1986, S. 25. 15 Ebd., S. 66. 16 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen und Basel 1999, S. 285. 17 Warstat, Matthias: »Wie man Revolutionen anfängt. Lenin und das Agitproptheater«, in: Czirak, Adam/Egert, Gerko (Hrsg.): Dramaturgien des Anfangens, Berlin 2016, S. 185 – 202, hier S. 200. 18 Vgl. Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt am Main 1989. 19 Als direct action bezeichnete man ausgehend von der Amerikanischen Bürgerrechtsbewegung verschiedene Strategien des gewaltlosen Protests und zivilen Ungehorsams wie Sit-Ins, Protestmärsche, Boykott, Freedom Rides. Im Gegensatz zum (indirekten) Erstreiten der Bürgerrechte vor Gericht, stand die direct action dafür, die politischen Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit auf der Straße im öffentlichen Raum zu artikulieren. Stark beeinflusst waren die Methoden der direct action unter anderem auch von Mahatma Gandhis passivem Widerstand (Satyagraha) in Indien. 20 Bogad, Larry M.: Tactical Performance. The theory and practice of serious play, London und New York 2016, S. 1f. 21 Vgl. Rancière, Jacques: »Gibt es eine politische Philosophie?«, in: Badiou, Alain/ Rancière, Jacques (Hrsg.): Politik der Wahrheit, Wien 2010 [1996], S. 79 – 118, hier: S. 83. 22 Zum Als-ob der Emanzipation bei Rancière vgl. auch meinen Aufsatz: Wihstutz, Benjamin: »Der Streit um die Bühne: Theatralität im Politischen Denken Jacques Rancières« in: Doll, Martin/Kohns, Oliver (Hrsg.): Die imaginäre Dimen­ sion der Politik, Paderborn 2014, S. 229 – 256. 23 Matthias Warstat betont in seinem Buch Soziale Theatralität die Dimension des Als-ob als konstitutiv für die Begriffe theatrales Handeln, theatrale Haltungen und theatrale Ereignisse. Er grenzt damit den Begriff Theatralität entschieden gegen den Begriff der Performativität (als aufführungsbezogen) ab. Vgl. Warstat,

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Matthias: Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft, Paderborn 2018, S. 227 – 264. 24 David E. Sumner betont, dass die Erfolge der Bürgerrechtsbewegungen in den 1960er Jahren ohne einige Verbündete in der Presse und den Massenmedien undenkbar gewesen wären. So hat etwa John Lewis, einer der Protagonisten der Bewegung in Interviews mehrfach die Bedeutung von Fotografien und Fernsehübertragungen für die Proteste hervorgehoben. Aktivist:innen wussten, wen sie vor einer Aktion informieren mussten, um mit der Berichterstattung in Presse und Fernsehen eine größere Öffentlichkeit zu erreichen, die insbesondere über die Lokalnachrichten in den Städten der Südstaaten hinausreichte. Vgl. Sumner, David E.: »Mass Media and the Civil Rights Movement« in: Margaret Blanchard (Hrsg.): History of the Mass Media in the United States. An Encyclopedia. Chicago 1998, S. 373 – 376, hier 374. 25 »Bau das Holocaust-Mahnmal direkt vor Höckes Haus!«, veröffentlicht von Zentrum für Politische Schönheit, https://www.youtube.com/watch?v=nZaCmu-cc3Q&t=41s (Zugriff am 28. Oktober 2020). 26 »Sehnsucht nach einer großen Geste«, Interview von Elena Philipp mit Peter Marx, 3. August 2017. https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=14284:interview-ueber-theater-tyrannenmord-und-die-aktion-scholl-2017-des-zentrums-fuer-politische-schoenheit-mit-dem-koelner-theaterwissenschaftler-und-shakespeare-forscher-peter-w-marx&catid=101&Itemid=84 (Zugriff am 28. Oktober 2020). 27 Zitiert nach einem Facebook-Post des Thüringer Landtags vom 22. November 2017 sowie des FAZ-Artikels »Denkmal der Schande neben Höckes Haus«, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bjoern-hoecke-bekommt-holocaustmahnmal-vor-die-nase-gesetzt-15304541.html (Zugriff am 28. Oktober 2020). 28 Ebd., 22. November 2017. 29 Vgl. Meldung der dpa: »Höcke nennt Mahnmal-Aktivisten Terroristen«, in: Der Tagesspiegel, 25. November 2017 https://www.tagesspiegel.de/politik/ zentrum-fuer-politische-schoenheit-hoecke-nennt-mahnmal-aktivisten-terroristen/20631946.html (Zugriff am 29. Oktober 2020). 30 Urteil des Landgerichts Köln vom 14. März 2018, publiziert auf der Website des Zentrums für Politische Schönheit https://politicalbeauty.de/Media/mahnmal/ ZPS_URTEILE.pdf. (Zugriff am 5. Februar 2021). 31 »Die Sendung mit dem Höcke: Opfer und Überwachungsgeschichten!« Video des Zentrums für Politische Schönheit, veröffentlicht am 1. Dezember 2017. https://www.youtube.com/watch?v=kCatPwK42EI&t=110s (Zugriff am 28. Okt­ober 2020). 32 Vgl. »Denkmal der Schande neben Höckes Wohnhaus«, in: Frankfurter Allge­ meine Zeitung, 22. November 2017. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ bjoern-hoecke-bekommt-holocaust-mahnmal-vor-die-nase-gesetzt-15304541. html (Zugriff am 29. Oktober 2020). 33 Zum Fake als künstlerischer und medialer Strategie (u.a. bei den Yes-Men) siehe: Doll, Martin: Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens, Berlin 2012, S. 391 – 416. 34 Langhoff, Shermin et al.: »Keine Kriminalisierung kritischer Kunst! Für die Kunstfreiheit. Offener Brief aus der Zivilgesellschaft anlässlich der Verfahren gegen das Zentrum für Politische Schönheit«, zuerst veröffentlich auf der Website des Maxim Gorki Theater am 11. April 2019: https://www.gorki.de/ de/keine-kriminalisierung-kritischer-kunst-fuer-die-kunstfreiheit (Zugriff am 29. Oktober 2020). 35 Zur Dramaturgie und Ästhetik der Theatertribunale Raus vgl. auch: Wihstutz, Benjamin: »Zur Dramaturgie von Milo Raus Theatertribunalen«, in: Münkler, Laura/Stenzel, Julia (Hrsg.): Inszenierung von Recht. Funktionen – Modi – Interak­ tionen. Weilerswist 2019, S. 164 – 186. 36 Vgl. die Charta in der verabschiedeten Fassung vom 25. Januar 2018: http://www. general-assembly.net/charta-fur-das-21-jahrhundert/ Der Slogan »Demokratie für alle und alles« war im Vorfeld des Sturms auf den Reichstag zur Verkündung der Charta auf Plakaten gedruckt und in Berlin als Werbung für das General Assembly aufgehängt worden.

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Kippmomente 37 Wihstutz, Benjamin /Rau, Milo: »Antagonistische Dramaturgie. Ein Gespräch«, in: Umathum, Sandra/Deck, Jan (Hrsg.): Postdramaturgien, Berlin 2020, S. 73 – 83, hier S. 74. 38 Die Szene lässt sich online im Videoarchiv auf http://www.general-assembly.net anschauen (Zugriff am 7. Februar 2020). Es handelt sich um die vierte Plenarsitzung vom Sonntag, den 5. November von 10 bis 13 Uhr, ab ca. 2h30 des Videos. 39 Brandstetter, Gabriele: »Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung«, in: Brandl-Risi, Bettina/Ernst, Wolf-Dieter/Wagner, Meike (Hrsg.): Figuration – Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge. München 2000, S. 189 – 212, hier S. 194. 40 Strache trat anschließend bei der Wiener Landtagswahl 2020 noch einmal mit der von ihm neu gegründeten Partei »Team HC Strache« an, scheiterte jedoch deutlich an der Fünfprozenthürde. 41 Vgl. »Rätselraten um Strachevideo: ›Es war jemand, der mit Deutschen sprechen wollte‹«, in: Die Welt, 22. Mai 2019, https://www.welt.de/politik/ausland/ article193934687/Strache-Video-Es-war-jemand-der-mit-Deutschen-sprechenwollte.html sowie https://kurier.at/politik/inland/ibiza-video-strache-witterte-falle-wegen-schmutziger-fuesse/400500109 (Zugriff am 5. Februar 2021). 42 Evreinov, Nikolai: Theater für sich [1909], hg. von Sylvia Sasse, Zürich und Berlin 2017, S. 44. 43 Ebd., S. 51. 44 Kahlweit, Cathrin/Röbel, Sven: »Dieses Video hat mein Leben gefressen. Macher des Ibiza-Videos im Interview«, Interview auf spiegel online vom 27. Januar 2021, https://www.spiegel.de/politik/ausland/macher-des-ibiza-videos-im-interview-dieses-video-hat-mein-leben-gefressen-a-c139b3db-9cde-47ce-a60f-fac3ac164ae8 (Zugriff am 5. Februar 2021). 45 Vgl. Warstat: Soziale Theatralität, S. 252. Im Gegensatz zu Warstat, der das theatrale Als-ob explizit von Täuschungsmanövern abgrenzt, indem er das Ausweisen, Markieren und Erkennen einer »Ver-stellung« als konstitutiv für theatrales Handeln fasst (ebd., S. 236), legen die hier von mir analysierten Beispiele theatraler Interventionen nahe, Täuschung als Möglichkeit theatralen Handelns prinzipiell einzuschließen. So zeigen bereits Techniken des Unsichtbaren Theaters bei Augusto Boal oder des künstlerischen Fakes bei den Yes-Men (Vgl. Doll: Fälschung und Fake, S. 391 – 416), auf welche Weise theatrales Handeln mit Täuschungen einhergehen kann. Auch Warstats eigene Alltagsbeispiele – der Bankberater, der ein bestimmtes Anlagemodell verkaufen will oder der selbst nach einer Krebsdiagnose Zuversicht ausstrahlende Arzt (Warstat, Soziale ­Theatralität, S. 237) – deuten an, dass theatrales Handeln bisweilen in einer Grauzone stattfindet, in der Täuschung und Aufrichtigkeit manchmal auffallend nah beieinander liegen.

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Anna Raisich Vom Glauben an die Macht der Bilder Wie man die Aktionen des Zentrums für ­Politische Schönheit kritisiert »Wir sind Künstler, wir machen Aktionskunst. Wir machen keinen Polit-Aktivismus.«1 So eindeutig wie Cesy Leonard, ihres Zeichens »Chefin des Planungsstabs«2 beim Zentrum für Politische Schönheit (ZPS), es in diesem Statement auf der Website des Kollektivs formuliert, scheint es um dessen Tun keineswegs bestellt zu sein. Schon das Erfordernis der Abgrenzung künstlerischen Handelns von aktivistischer Praxis, die der deklarativen Aussage vorausgeht, ist ein Indiz dafür, dass das ZPS es den Beobachter:innen seiner Aktionen offenbar schwer macht, diese eindeutig der einen oder der anderen Seite zuzuschlagen. Eine Unbestimmtheit, die teils heftige Reaktionen seitens verschiedenster Akteur:innen provoziert, die sich unter anderem in öffentlich geführten Auseinandersetzungen um die Frage »Ist das nun Kunst oder Politik?« entladen und etliche Spalten der medialen Berichterstattung füllen. Versuche seitens des ZPS, Klarheit bezüglich des Kunststatus seiner Aktionen zu schaffen, werden von Gegner:innen häufig als strategische Behauptungen abgetan, die es ermöglichen sollen, unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit fragliche politische Ziele zu verfolgen. Indessen beklagen Sympathisant:innen nicht selten die künstlerische Ungebildetheit einiger Kommentator:innen, die blind für den wahren Charakter des zur Diskussion stehenden Gegenstands seien. Die hitzig geführte Debatte zeigt, dass die Versuche, Eindeutigkeit in Bezug auf den Status der Aktionen herzustellen, ihre ›reale‹ Wirkmacht oder -ohnmacht und die ›eigentliche‹ Natur des Handelns der darin verwickelten Akteure aufzudecken, einen wesentlichen Bestandteil dieser Aktionen ausmachen. Daher bilden eben diese kontroversen Abgrenzungsversuche den Ausgangspunkt des vorliegenden Essays. Sie nicht als bloße diskursive Begleiterscheinungen zu behandeln, sondern als Einstieg in eine (kunstwissenschaftliche) Betrachtung der vom ZPS durchgeführten Aktionen, soll dabei helfen, besser zu verstehen, wie diese vielfältigen und unübersichtlichen Ereignisse ihre Wirkung entfalten. Eine solche Herangehensweise, die die Unterscheidung zwischen Kunst und Politik bzw. Wirklichkeit nicht zur Voraussetzung, sondern zum Gegenstand der Untersuchung macht, stellt nicht zuletzt einen Versuch dar,

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sich kritisch gegenüber den Aktionen des ZPS zu positionieren, ohne sich den dichotomen Zuweisungen (und den damit einhergehenden vorschnellen Moralisierungen) unterzuordnen, die von den Aktionen selbst diktiert scheinen und die dazu zwingen, sich entweder auf die Seite der Sympathisant:innen zu schlagen oder in den Empörungschor der Gegner:innen einzustimmen. Die Grundthese lautet, dass nicht im Vorhinein darüber entschieden werden muss, ob es sich bei den Aktionen um Kunst oder Politik handelt, um anschließend ihre Wirkung erklären zu können. Die Frage, was diese als ›politisch‹ etikettierten Ereignisse zu Kunst und was diese Kunst politisch macht, geht den Aktionen nicht voraus. Vielmehr ist diese Unterscheidung selbst Bestandteil ihrer Wirkung. Um zu verdeutlichen, auf welche Weise im Zuge der Aktionen des ZPS zwischen (bloßer) Kunst und (echter) Politik geschieden und damit über die reale Wirkmacht der Kunst entschieden wird, soll zunächst ein gängiges Argumentationsmuster in Augenschein genommen werden, von dem Gebrauch gemacht wird, um die Aktionen des ZPS als Kunst und den Handlungsspielraum der an ihnen Beteiligten zu definieren. Dieses Muster findet Einsatz in einem Essay der Publizistin Mely Kiyak und soll im folgenden Abschnitt in einer eingehenderen Lektüre herausgearbeitet werden. Anschließend greife ich auf die Theorie Bruno Latours zurück, um eine alternative Herangehensweise an die Aktionen des ZPS vorzuschlagen, die nicht im Vorhinein zu definieren sucht, wo ihre Grenzen verlaufen und wodurch und auf welche Weise sie ihre Wirkung entfalten. Dabei soll den Bildern, die stets Bestandteil der Aktionen sind, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, statt sie, wie häufig der Fall, zum Nebenprodukt dieser ereignishaften Aktionskunst zu erklären oder sie als Beweis dafür ins Feld zu führen, dass es sich bei den Aktionen um reine Medienspektakel, um bloßen Schein handle.3 Es geht, mit anderen Worten, darum, die Bilderskepsis zu überwinden, die den Blick auf die Wirkweise dieser Kunst verstellt, die sich die Kraft von Bildern, Symbolen und Ikonen zunutze macht, um einen Angriff auf die Bilder, Symbole und Ikonen politischer Akteur:innen zu vollführen und dadurch nicht nur das Handeln letzterer zu kritisieren, sondern sie in Zugzwang zu versetzen. Mit Latour lassen sich die Aktionen des ZPS als ikonoklastische Akte beschreiben und Ziel dieser Akte ist, wie abschließend am Beispiel der Aktion Erster Europäischer Mauerfall (2014) nachvollzogen werden soll, die nationale Identität Deutschlands. Es ist seine Version einer deutschen Identität, der das ZPS im Rahmen des Ersten Europäischen Mauerfalls mithilfe von 14 weißen Kreuzen Gestalt und Legitimität zu

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verleihen sucht. Entscheidend für die Wirkung dieser Attacke auf das herrschende nationale Selbstverständnis ist der ontologische Status jener Kreuze, die nicht, wie Kiyak argumentiert, bloß künstlerische Mittel zum Überbringen politischer Botschaften sind, die den eigentlichen Gehalt der Kunst des ZPS darstellen würden, sondern wichtige Mittler, die Verbindungen knüpfen und jener Vorstellung des ZPS von der deutschen Identität die Festigkeit verleihen, die es braucht, um Akteur:innen zum Handeln zu bewegen.

I.

Die Macht der Bilder

2014 wurde in Deutschland gefeiert. Anlass bot der 25. Jahrestag der Ereignisse rund um die deutsche Wiedervereinigung. Ein Vierteljahrhundert war es nun her, dass Menschen aus der DDR auf die Straße gegangen waren, um einen fundamentalen Wandel in Gang zu bringen, der zum Sturz der SED-Diktatur führen und als friedliche Revolution in die Geschichtsbücher der fortan geeinten Nation eingehen sollte. Auf dem Höhepunkt der unzähligen Jubiläumsveranstaltungen und Gedenkfeiern zu Ehren der Opfer des Unrechtsregimes brach jedoch eine Welle der Empörung los, ausgelöst von einer Gruppe von Aktionskünstler:innen, die die Legitimität der offiziellen Gedenkpraktiken in Zweifel zogen, mehr noch, ihre Illegitimität öffentlich anprangerten. Beteiligt am Geschehen waren neben den Künstler:innen selbst unter anderen eine Reihe freiwilliger Unterstützer:innen, hochrangige Politiker:innen, diverse Medienvertreter:innen, eine Berliner Theaterinstitution sowie allen voran 14 weiße Holzkreuze. Diese bildeten im wörtlichen Sinne die Gegenstände der Auseinandersetzung, die sich an ihrem Verbleib entzündete. Am 3. November 2014 nämlich entfernte das ZPS die besagten Kreuze, die Teil der Gedenkstätte »Weiße Kreuze« am Reichstagsufer sind und, angebracht an dem Ort, wo die ehemalige Berliner Mauer verlief, an die Mauertoten erinnern sollen, vom Zaun, an dem sie befestigt waren. Zugleich gab es bekannt, sie an die europäische Außengrenze zu Nordafrika gebracht zu haben, wo »seit dem Fall des Eisernen Vorhangs« bis heute zigtausende Menschen an den »EU-Außenmauern« zu Tode kämen.4 Das Ganze bildete den Auftakt der Aktion Erster Europäischer Mauerfall, die im Rahmen des vom Maxim Gorki Theater veranstalteten Festivals »Voicing Resistance« stattfand. Einige Tage später, am 11. November 2014, sollte sich eine Gruppe von Freiwilligen, die das ZPS rekrutiert hatte, mit Bolzenschneidern und

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DIY-Anleitungen im Gepäck in Reisebussen an die europäische Außengrenze in Bulgarien aufmachen, um sie zu Fall zu ›zwicken‹.5 Doch bevor sich die vom ZPS sogenannten »friedlichen Revolutionäre«6 auf die Reise begaben, um ihre Mission eines neuerlichen Mauerfalls zu vollstrecken, kursierten bereits Bilder von den vorangereisten Weißen Kreuzen, die an spanischen Grenzzäunen hingen und von Männern mit schwarzer Hautfarbe in die Kamera gehalten wurden, sowie Bilder, die die Abwesenheit der Kreuze in der Gedenkstätte bezeugten, und sorgten für Empörung. Es entspann sich eine Debatte darum, ob die Künstler:innen in ihrem Bestreben, auf Gewalt gegenüber Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen hinzuweisen, zu weit gegangen waren, ob es sich bei der Entwendung der Mauerkreuze noch um Kunst handle oder ob hier nicht vielmehr den Mauertoten und ihren Hinterbliebenen Gewalt angetan werde. Die Kreuze abzuschrauben und nach Nordafrika zu verfrachten, so die Ansicht einiger Kommentator:innen, sei nicht länger Kunst, sondern ein Verbrechen. Geführt wurde diese Auseinandersetzung nicht nur unter den vom Verschwinden der Kreuze unmittelbar Betroffenen, es meldeten sich, da die Angelegenheit schließlich als Kunstaktion deklariert war, auch etliche Kunstkritiker:innen zu Wort und diskutierten in den Feuilletons, ob das Vorgehen des ZPS als unmoralisch zu verurteilen sei. Kurz, es entspann sich das übliche Durcheinander, das die Aktionen der Gruppe gemeinhin begleitet und in dem allerlei heterogene Akteur:innen sich darüber uneinig sind, wie diese Ereignisse nun einzuordnen seien – ein Durcheinander, das Mely Kiyak zufolge keinerlei Berechtigung habe. In einem Essay, der in der ersten eigenständigen, sich der Dokumentation und Reflexion der Arbeiten des ZPS widmenden Publikation enthalten ist und in dem sie sich unter anderem auch auf das hier diskutierte Beispiel bezieht, legt sie dar, dass das geschilderte Durcheinander auf einem grundsätzlichen Missverständnis beruht. Einem Missverständnis, das die Wirkweise der Kunst und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit und, damit einhergehend, die Haltung betrifft, die die Kunstkritik gegenüber der Kunst einzunehmen habe. Schon in der Überschrift fragt Kiyak: »Warum fällt es der Kunstkritik so schwer, das Zentrum für Politische Schönheit als das zu betrachten, was es ist«, um sogleich die Antwort zu liefern, die da nur lauten könne: »als Kunstwerk«7. Schließlich stünden alle Zeichen unübersehbar auf Theater, angefangen bei der Maske (die Künstler:innen würden in der Öffentlichkeit beispielsweise mit rußverschmierten Gesichtern auftreten), über die Dramaturgie (die Aktionen folgten einem im Voraus vom ZPS

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bestimmten Ablauf) bis hin zur institutionellen und raum-zeitlichen Rahmung (die Aktionen seien Teil von Theaterspielplänen und es gebe stets einen Moment, an dem sich der Vorhang hebt und das Geschehen seinen Lauf nimmt), kurz: »Wir haben es beim Zentrum für Politische Schönheit […] mit Elementen einer klassischen Inszenierung zu tun. Alles was stattfindet, findet als Aufführung statt.« Und, so Kiyak weiter, »Thema des Stückes ist die Vorführung der Verhältnisse.«8 Dies bleibe aber allzu häufig unerkannt, das Anliegen der Künstler:innen infolgedessen ungehört, und schuld daran seien nicht zuletzt Kunstkritiker:innen. Statt die Aktionen als das auszuweisen und zu behandeln, was sie sind, nämlich Kunstwerke, in denen mit künstlerischen Mitteln auf reale Verhältnisse hingewiesen und auf politische Missstände gedeutet werde, ließen sich die Kolleg:innen zu ahnungslosen Mitspieler:innen der von ihnen zu kritisierenden Kunstaufführungen machen und vom ZPS vorführen. Als Ursache dafür vermutet Kiyak zunächst einen Mangel an Kompetenz und Expertise seitens der Branche, die häufig nicht einmal Kunstkritiker:innen auf diese künstlerischen Ereignisse ansetze, sondern ftmals Kommentator/-innen aus der dritten Riege irgendeiner o Lokalredaktion. Damit fängt es schon an. Man schickt zu einem Kunsthappening einen Lokalreporter, der normalerweise über Straßenumbenennungen berichtet. Und der Lokalreporter tut das, was er gelernt hat. Er sucht Kronzeugen, Gegenstimmen, er versucht herauszufinden, wo die Story ist.9 Der Lokalreporter zieht also los und interviewt entrüstete Vertreter:innen von Opferverbänden, aufgebrachte Parlamentsabgeordnete und ermittelnde Anwält:innen, die zu den Ereignissen Stellung nehmen, und schreibt ihre Meinung in seinem Bericht nieder, der das allgemeine Entsetzen wiedergibt und seinerseits weitere empörte Reaktionen hervorruft und den Teufelskreis des Entsetzens in Gang hält. Der Bericht des Lokalreporters aber gebe, wie Kiyak argumentiert, nicht den Inhalt der Kunstaktionen wieder, sondern bloß die öffentliche Reaktion auf diese. Er sei, anders ausgedrückt, nur ober­ flächliches Abbild des Geschehens, vermöge es aber nicht, den Sinn hinter den Handlungen und Äußerungen der darin verstrickten Akteure aufzudecken. Mit den Worten Kiyaks: »Gegenstand der Betrachtung ist am Anfang einer jeden Berichterstattung über die Aktionen des ZPS niemals das Geschehen«10, das ist die Aktion als Theaterstück, in dem

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etwas mithilfe von Symbolen, Requisiten und Spieler:innen auf- und vorgeführt wird, »sondern die Mittel, mit denen das Geschehen abge­ bildet wurde«11, das sind die öffentlichen Reaktionen auf die Aktionen, und diese seien Kiyak zufolge Bestandteil der Kunst, die hier eigentlich nüchtern beschrieben und kritisch reflektiert werden soll. ie Empörung ist Teil des Kunstwerks, das Entsetzen des einfaD chen Journalisten, dem das Genre ›Politische Aktionskunst‹ skandalös erscheint, weil zu seiner Normalität gehört, dass er jeden Morgen aufschreibt, was er im Fernsehen sah, ist im Kunstwerk bereits einkalkuliert. Dieser Furor, die Schnappatmung gewordene Herummeinerei in Form von überhitzten Überschriften und Nichtexpertise ist genreimmanent. Denn politische Kunst ohne Rezeption, ohne das Zusammenspiel zwischen Staatsanwaltschaften, Parlament und Lokalredaktion, zwischen Öffentlichkeit und Künstler wäre ja bloß Malerei oder irgendwas anderes, aber eben nicht politische Aktionskunst.12 Vom ZPS dazu provoziert, agieren die genannten Akteur:innen ganz im Sinne der Künstler:innen, denen der allgemeine Aufruhr um die Kunstaktion als Nachweis dafür dient, dass sich die moralische Entrüstung an ein paar Kreuzen in einem Theaterstück entzündet, während ein ähnlicher Effekt angesichts massenhaften Sterbens geflüchteter Menschen ausbleibt. Politik, Behörden und Medien würden so zu Marionetten in jenem Stück, dessen Thema die Vorführung der Verhältnisse ist, und der Bericht des Lokalreporters zur Figurenrede. Unwissentlich lasse er sich instrumentalisieren und werde zum Teil des Kunstwerks, anstelle sich diesem gegenüber zu positionieren; er nimmt die Rolle an, die ihm vom ZPS zugedacht ist, und führt sich so auf, wie es die Regisseure vorgesehen haben. Aufgrund seiner unfreiwilligen Involviertheit ist er unfähig dazu, eine äußere Beobachterposition einzunehmen und seinen eigenen Standpunkt inmitten des Schauspiels zu erkennen. Damit aber verkenne der Lokalreporter (wie auch zahlreiche Kolleg:innen aus dem eigentlich zuständigen Ressort, wie Kiyak später ausführt) die elementarsten Wirkgesetze politischer Aktionskunst und versage als Kunstkritiker. Das Versagen der Kunstkritik beruht somit aber weniger auf einer handwerklichen Inkompetenz, sondern reicht tiefer. Denn das Missverständnis, dem der Lokalreporter erliegt, betrifft nicht einzig die Funktionsweise politischer Aktionskunst, sondern das Wesen künstlerischen Handelns überhaupt. Der von ihm begangene Fehler

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besteht darin, dass er den Taten und Äußerungen der in die Aktionen verstrickten Akteur:innen mit demselben naiven Glauben begegnet wie den Fernsehbildern und sie behandelt, als seien sie getreue Repräsentationen der Wirklichkeit. Dabei verkennt er, dass jene Taten und Äußerungen, die, wie Kiyak argumentiert, Bestandteil der Kunstaktion sind, lediglich auf eine der Kunst äußere (soziale, politische) Wirklichkeit verweisen. Künstlerisches Handeln ist, so ließe sich das Argument paraphrasieren, symbolisches Handeln und als solches niemals identisch mit der Wirklichkeit, die es zur Anschauung bringt. Deshalb ist die ästhetische Dimension dieses Handelns, die Art und Weise, wie Mittel – und das schließt den Bericht des Lokalreporters ebenso ein wie die Rußschlieren in den Gesichtern der ZPS-Mitglieder oder die abmontierten Kreuze – von den Künstler:innen eingesetzt werden, um eine bestimmte Wirklichkeit aufzuzeigen, sekundär. Sie ist nicht der eigentliche Gehalt der politischen Aktionskunst, die, wie einleitend erwähnt, niemals vorgebe, etwas anderes als Kunst zu sein. Um zum eigentlichen Gehalt der gesellschaftskritischen politischen Aktionskunst des ZPS vorzudringen, muss man sich darauf konzentrieren, was sie mit diesen Mitteln aussagt. Dort, wo dies nicht der Fall ist, laufe etwas schief. So auch dann, wenn s ich eigentlich jeglicher Groll und jegliche Klage nie gegen das richtet, worauf das ZPS aufmerksam machen will, sondern immer gegen das Künstlerkollektiv. Dabei ist die am häufigsten formulierte Kritik eine, die sich gegen die Mittel richtet. Mittel sind, wie der Name schon sagt, Brücken zur Sichtbarmachung von Unrecht. Und überall da, wo in einem künstlerischen Projekt Mittel verwendet werden, um Botschaften zu transportieren, ist es erschreckend wie sehr der Diskurs im Rezensieren der Mittel steckenbleibt. Man richtet das Augenmerk nicht auf die Gesetzeslage, die ja immer Grundlage der politischen Kunst der Berliner Künstler/-innen ist, sondern gegen ihre Ästhetik.13 Die Aufgabe der Kunstkritik sei es Kiyak zufolge aber, »die Merkmale politischer Kunst zu dechiffrieren«14, um ihre Bedeutung aufzudecken und die sozio-politische Wirklichkeit zu beschreiben, auf die das Kunstwerk verweist. Voraussetzung hierfür ist die Fähigkeit, zwischen bloßen Mitteln zum Transportieren von Botschaften und ihrem eigentlichen Gehalt, der dahinter stehenden Wirklichkeit, unterscheiden, zwischen Kunst und Wirklichkeit trennen zu können. Etwas, das einzig von einem Standpunkt außerhalb der Aktionen möglich ist,

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weshalb es zu den größten Fehlleistungen des Kritiker:innen-Standes gehört, wenn sich dessen Vertreter:innen als nicht dazu in der Lage erweisen, einen solchen Standpunkt zu beziehen. So wie im Fall des Lokalreporters, der dem Irrglauben verfällt, die Aktionen seien nicht Kunst, sondern Wirklichkeit. »Das Seltsame ist,« stellt Kiyak verständnislos fest, »dass die Mittel nicht als Inszenierung begriffen werden, sondern als etwas, dass [sic!] ›in echt etwas meint.‹«15 In der Folge bleibe unerkannt, dass »[d]as ZPS […] nicht Unrecht [schafft], sondern […] auf Unrecht [zeigt].«16 Weshalb es schließlich »als Überbringer der Nachricht als pietätlos«17 gelte und nicht die von ihm bekundeten menschenunwürdigen Zustände an den europäischen Außengrenzen. »Wenn schon das Theater nicht mehr als Theater, also als Ort einer Inszenierung, das Verhältnisse abbildet und nicht herausbildet – was ja ein bedeutender Unterschied ist –, wahrgenommen wird,« so Kiyaks vernichtendes Fazit, »dann sieht es für den Aufklärungsstandort Deutschland echt düster aus.«18 Um das von ihr aufgedeckte Missverständnis aus der Welt zu schaffen und der aufklärerischen Pflicht nachzukommen, schließt Kiyak ihren Essay mit einer Geste der Entzauberung und stellt den Glauben an die Echtheit der Mittel nochmals nachdrücklich als Irrglauben dar. um Abschluss noch ein Detail am Rande: Bei den Kreuzen, die an Z die Außengrenzen Europas gebracht wurden, handelte es sich um Replika [sic!], die in den Werkstätten des Gorki Theaters in Berlin hergestellt wurden. […] Na klar, will man rufen, was sonst!? …19 Dass sich über ein paar zusammengenagelte, weiß lackierte Bretter eine derart heftige gesellschaftliche Auseinandersetzung entfachen konnte, wie es im Nachgang des Auftakts zum Ersten Europäischen Mauerfall der Fall war, scheint in den Augen der Publizistin angesichts der offensichtlichen Künstlichkeit der Kreuze im Grunde nur des Spotts würdig und zeuge von einer Öffentlichkeit, die dem Kunstbegriff des ZPS ganz offensichtlich nicht gewachsen sei.20 Und doch folgt sogleich eine kuriose Wendung, die angesichts der vorausgehenden harschen Kritik beinahe wie eine Kehrtwende anmutet. Aber – und das ist die gute Nachricht, bei alledem – sollte noch … irgendwer behaupten, das Theater sei tot und hätte keine Wirkung, so kann man an dieser Stelle sagen: schlagt die Zeitungen auf, und lest selbst: das Theater, das das ZPS veranstaltet, ist vital.21

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Ein Gutes hat das Ganze also doch: Der hartnäckige Irrglaube ihrer Kolleg:innen bezeugt die Wirkkraft des Theaters, mehr noch, seine Vitalität. An dieser Stelle zeichnet sich das Muster, das Mely Kiyaks paradoxer Argumentation zugrunde liegt, am deutlichsten ab. Diese basiert auf einer Trennung zwischen bloßen Mitteln (den Kreuzen) einerseits und eigentlichem Gehalt (dem Unrecht) andererseits. In einem ersten Schritt wird das Geschehen als Inszenierung entlarvt, um den naiven Glauben des Lokalreporters an die Echtheit der Mittel als solchen zu denunzieren, nur um dann im zweiten Schritt auf diesen Glauben und die Produktivkraft der ästhetischen Mittel zu verweisen, um die lebendige, reale Wirkung des Theaters zu behaupten. Aufgrund der absoluten Trennung zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Politik und Kunst, kann Kiyak die Profanität der Kreuze, ihre Gemachtheit offenbaren, ohne die Wirksamkeit der Kunst oder den Wahrheitsgehalt ihrer Botschaft zu beeinträchtigen, da die Abbildungen zu zerstören der Sache selbst nichts anhaben kann. Sie kann darauf bestehen, dass alles Kunst, also nicht ›echt‹ ist, ohne die Wirksamkeit dieser Kunst preiszugeben.

II.

»Der Trick, den Trick aufzudecken«

Im Gegensatz zum Lokalreporter, der sich vom ZPS in die Irre führen lässt und nicht in der Lage ist, zwischen Kunst und Wirklichkeit zu unterscheiden, kann Kiyak die Aktionen von einem äußeren Standpunkt aus betrachten, da sie die ästhetischen Mittel als Abbildungen der Wirklichkeit und die hinter ihnen liegende Botschaft zu erkennen vermag. Die Unterscheidung ist die Voraussetzung ihres kritischen Blicks und befähigt sie dazu, die Dinge so zu sehen, wie sie ›wirklich sind‹. Gleichzeitig aber beruft sie sich auf die Abbildungen, um einen Bezug zwischen Kunst und Wirklichkeit herzustellen, die sie zuvor strikt voneinander getrennt hat. Das wiederum ermöglicht es ihr, die reale Wirkkraft dieser Kunst und die Objektivität ihres eigenen kritischen Urteils zu untermauern. Mit Bruno Latour lässt sich Mely Kiyaks kritische Intervention in den Mediendiskurs als ikonoklastische Geste begreifen. In seinem einleitenden Essay zum Katalog zur Ausstellung »Iconoclash – Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art«22 beschreibt Latour ein Dilemma, in dem sich die Menschheit seit alttestamentlichen Zeiten befinde und das die Fähigkeit von Bildern betrifft, Macht auf die

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Betrachtenden auszuüben und teils heftige Leidenschaften hervorzurufen, die sich nicht selten in Form hasserfüllter ikonoklastischer Akte entladen würden. [ W]ir forschen nach dem Ursprung einer absoluten – nicht relativen – Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit, zwischen einer reinen Welt, vollständig entleert von künstlichen, von Menschenhand geschaffenen Vermittlungen, und einer widerlichen Welt voller unreiner, künstlicher, doch faszinierender Mittler von Menschenhand. ›Könnten wir doch nur‹, sagen manche, ›ohne jegliches Bild auskommen. Um wieviel reiner, besser, schneller erhielten wir dann Zugang zu Gott, Natur, Wahrheit und Wissenschaft.‹ Worauf andere Stimmen (manchmal auch dieselben) antworten: ›Leider (oder zum Glück) können wir nicht ohne Bilder auskommen, nicht ohne Vermittlungen, Mittler in jeglicher Form und Gestalt, denn nur so gewinnen wir Zugang zu Gott, Natur, Wahrheit und Wissenschaft.‹23 Wahre Erkenntnis werde an Unmittelbarkeit und die Abwesenheit von menschlichem Hinzutun geknüpft. Damit gerate jegliche Art von Bildern, womit »jede Einschreibung, Abbildung, jedes Zeichen, Kunstwerk« gemeint sei, »das als Vermittlung dient, um Zugang zu etwas anderem zu gewinnen«24, unter Verdacht, falsch, manipulativ, etc. zu sein, da sie den Zugang zur Wahrheit verstellten. Aus diesem Grund werde die Zerstörung der von Menschenhand geschaffenen Mittler zum Grundstein einer jeden Kritik, die auf die Enthüllung der dahinterliegenden Wahrheit aus ist; zum »letzte[n] Prüfstein […], um die Gültigkeit des eigenen Glaubens, der eigenen Wissenschaft, des eigenen kritischen Scharfsinns, der eignen künstlerischen Kreativität zu beweisen«.25 Auch Kiyaks Überlegungen basieren letztlich auf solch einer Unterscheidung und einem ikonoklastischen Misstrauen gegen die Macht der Bilder. Sie richtet sich gegen den als naiv denunzierten Glauben an die Wirklichkeit der ästhetischen Mittel, die den Zugang zum objektiven Gehalt der Kunst verstellen, zu dem, was sie die »Botschaft« der politischen Aktionskunst nennt. Dabei gilt ihre Kritik nicht den Bildern selbst; ihre Polemik richtet sich gegen diejenigen, die an die Wirklichkeit jener Bilder glauben. Es gilt, die Kreuze als leere Zeichen zu entlarven, um den Gegner:innen dieser politischen Aktionskunst den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Kreuze, die

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das ZPS an Europas Außengrenzen gebracht hat, seien nur ein paar weiße Bretter, die nichts mit den Mauertoten zu tun hätten. Und diejenigen, die sich über die Demontage der Weißen Kreuze und die vom ZPS lancierten Bilder empörten als seien die Toten selbst exhumiert und nach Spanien verschleppt worden, seien auf einen einfachen Theatertrick hereingefallen. Deshalb ist das Echtheitskriterium, das in der Debatte rund um die in den Aktionen des ZPS eingesetzten ›Requisiten‹ immer wieder eine zentrale Rolle spielt, ausschlaggebend, steht hier doch nicht nur der Zeichencharakter dieser Requisiten infrage, sondern vielmehr ihr ontologischer Status. Nicht nur für Kiyaks Argumentation ist es relevant, dass die Kreuze nicht ›echt‹, sondern im Auftrag der Künstler:innen von Handwerkern des Gorki Theaters fabriziert worden sind. Jedoch nicht, weil dies ihren Beitrag zur Wirksamkeit dieser Kunst oder deren Wahrheitsgehalt schmälern würde – dass sie wirkt, zeigt ja der Glaube des Lokalreporters –, sondern weil der Verweis auf ihre Gemachtheit zugleich dazu dient, jedes kritische Urteil, das sich auf sie beruft, als bloßen Glauben zu brandmarken und für nichtig zu erklären. »Dem Bild die Hand hinzuzufügen«, so Latour, »ist […] gleichbedeutend damit, die Bilder zu verderben, zu kritisieren.«26 J e mehr demonstriert werden kann, dass Menschen am Bild gearbeitet haben, desto schwächer sein Wahrheitsanspruch. […] Der Trick, den Trick aufzudecken, besteht immer darin, den ordinären Ursprung des Werks aufzuzeigen, den hinter den Kulissen auf frischer Tat ertappten Manipulator, Heuchler, Betrüger.27 Nur, dass es sich im vorliegenden Fall um Künstler:innen handelt, die für alle Augen sichtbar ihrer Arbeit nachgehen und Bilder produzieren, was diejenigen, die diesen Bildern ihren moralischen Eifer entgegenbringen, in umso schlechterem Lichte dastehen lässt, begeben sie sich doch sozusagen sehenden Auges auf den Holzweg. An dieser Stelle lässt sich also festhalten: Es sind Bilder, die ins Feld geführt werden, um einen Standpunkt zu delegitimieren, und umgekehrt wird durch Berufung auf Bilder der eigenen Position Legitimität verliehen. Entgegen dieser Auffassung von Kritik betont Latour jedoch, dass Bilder gerade nicht den Blick auf eine objektive Wirklichkeit verstellten. Sie seien auch kein neutrales Zwischenglied, das zwischen einer wahren Welt (der Politik) und einer fiktiven (Kunstwelt) hin und her zu wechseln erlaubte. Vielmehr seien sie von

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Menschenhand geschaffene Mittler, die Wirklichkeiten zum Sein verhelfen.28 Und auch Kiyak beruft sich letztlich auf ihre Produktivkraft, die dem ­politischen Theater des ZPS Vitalität verleiht, sodass es mehr sei als »bloß Malerei oder irgendwas«, deren toten Bildern es ihrer Auffassung nach offenbar an lebendigem Bezug zur Wirklichkeit mangelt. Die kategoriale Trennung von Kunst und Wirklichkeit unterstellt einerseits also, dass die Mittler der Kunst eben nur Mittel, also nichts weiter als Zeichen seien, und gesteht ihnen andererseits die Macht zu, allerlei Akteure zu mobilisieren und zum Handeln zu bewegen. Statt dieser widersprüchlichen Argumentationsweise und der ihr zugrunde gelegten Unterscheidung a priori treu zu bleiben, ließe sich mit Latour alternativ danach fragen, wie die Macht dieser Mittler zustande kommt und wie der Glaube an sie beschaffen ist. Das hieße, keine Bildkritik zu betreiben, sondern »die Verehrung des Bilderstroms selbst« zu befragen und zu beurteilen.29 In dieser Herangehensweise will ich mich im letzten Abschnitt versuchen und anhand der Aktion Erster Europäischer Mauerfall exemplarisch den Weg der Weißen Kreuze nachverfolgen. Dabei wird deutlich, dass sie in der Tat als »Brücken zur Sichtbarmachung von Unrecht«30 fungieren, jedoch nicht in der vorhersagbaren Form, die die Vorstellung von ästhetischen Mitteln als transparenten Medien, die eindeutig definierte Botschaften und Intentionen transportieren, nahelegt. Als Mittler stellen sie konkrete Verbindungen zwischen heterogenen Elementen her, transformieren dabei mitunter die Bedeutungen, die sie übermitteln sollen, und spielen auf diese Weise einen aktiven Part in einem Geschehen, dessen Wirklichkeit nun näher betrachtet werden soll.

III.

Vom falschen Glauben ans Richtige

Zum Aktionsauftakt des Ersten Europäischen Mauerfalls am 3. November 2014 veröffentlichte das ZPS auf seiner Website einen Ankündigungstext. Darin heißt es: ie Installation ›Weiße Kreuze‹ ergriff vor den Gedenkfeiern zum D 25. Jahrestag des Mauerfalls kollektiv die Flucht aus dem Regierungsviertel in Berlin. Die Mauertoten flüchteten in einem Akt der Solidarität zu ihren Brüdern und Schwestern über die Außengrenzen der Europäischen Union, genauer: zu den zukünftigen Mauertoten.31

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Und weiter: ie Gedenkkreuze flüchteten vor dem Oktoberfestgedenken D zu Menschen, deren Leben durch die EU-Außenmauern akut bedroht ist und erweiterten dadurch das selbstbezogene deutsche Gedenken um einen entscheidenden Gedanken: die Gegenwart.32 Es fällt auf, dass die Künstler:innen selbst nicht als Akteur:innen auftreten. In Aktion treten hier stattdessen die Weißen Kreuze. Die ›Magie‹, durch die sie gewissermaßen animiert werden, findet im zweiten Satz statt, in dem die Weißen Kreuze scheinbar selbstverständlich durch die Mauertoten ersetzt werden. Dabei handelt es sich um mehr als eine rhetorische Volte. Hinter diesem beiläufig erfolgenden Kunstgriff verbirgt sich eine lange Repräsentationskette, die sich nachzuverfolgen lohnt. Ansatzpunkt der Kritik des ZPS ist die Funktion der Kreuze im staatlichen Gedenkakt. Darin fungieren sie als Denk- und Mahnmal, das der Vergegenwärtigung eines Abwesenden und Vergangenen dient: der Mauertoten und, damit einhergehend, der deutsch-deutschen Trennung. Diese präsenzerzeugende Funktion sei ihnen abhandengekommen. Wie das Zentrum nicht ohne Häme betont, sei ihr Verschwinden zunächst gar unbemerkt geblieben; wie sollten sie dann noch die Kraft besitzen, Abwesendes im kollektiven Bewusstsein zu erhalten? Ohne lebendigen Bezug zur Vergangenheit aber handle es sich um leere Zeichen, die auf nichts anderes verweisen als auf sich selbst. So sei auch das »selbstbezogene deutsche Gedenken«, wie dessen pejorative Bezeichnung als »Oktoberfestgedenken« suggeriert, zur allenfalls folkloristischen Veranstaltung verkommen, der jeglicher Bezug zum lebendigen Brauchtum abgehe. Kurz, der ikonoklastische Angriff des ZPS richtet sich gegen die Ikonen des staatlichen Gedenkakts und entlarvt dieses identitäts- und gemeinschaftsstiftende politische Ereignis als sinnentleerte Täuschung. Entscheidend ist, dass die Kritik gemäß dem oben beschriebenen Muster auch im Falle des ZPS bei näherem Hinsehen nicht den Ikonen selbst gilt. Die Notwendigkeit der Bilder wird nicht in Frage gestellt, vielmehr ist es die Art und Weise ihrer Verwendung bzw. Verehrung, die zum Gegenstand der Auseinandersetzung um die legitime Form der Glaubensausübung wird. Es wird nicht etwa das öffentliche Gedenken in Frage gestellt, sondern die erstarrte Gedenkpraxis kritisiert. Mit Latour gesprochen haben wir es hier mit einem Typus

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von Bilderstürmern zu tun, für den die wahre Form der Bildverehrung darin bestehe, »sich von einem zum anderen Bild zu bewegen«, und dessen kritische Angriffe daher jenen gelten, die »bei der faszinierten Betrachtung eines isolierten, eingefrorenen Bildes stehenbleiben.«33 Und so macht sich das ZPS daran, die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart neu zu beleben. Es kurbelt den Bilderstrom an, indem es die Kreuze entführt und auf diese Weise buchstäblich Bewegung in die Sache bringt. Wie genau dies vonstatten geht, lässt sich beispielsweise anhand des folgenden Bildes nachvollziehen, das auf der Aktionswebsite zu finden ist. (Vgl. Abb. 1)

Abb. 1: Replikat eines Weißen Kreuzes an der EU-Außengrenze zu Nordafrika © ­Zentrum für Politische Schönheit

Darauf zu sehen ist eines der Weißen Kreuze, genauer eines der Replikate, das an der NATO-Drahtanlage in Melilla, einer spanischen Exklave an der Grenze zu Marokko, oder, wie das ZPS es ausdrückt, am »Todesstreifen von Melilla«34 prangt. Wie nun kommt die hier geknüpfte Verbindung zwischen dem deutschen Gedenkritual und der gegenwärtigen Situation an der europäischen Außengrenze zustande? Auf welche Weise wird (räumliche, historische, affektive) Distanz überbrückt? Ausschlaggebend ist zunächst die Dinglichkeit des Kreuzes, die Tatsache, dass dieser konkrete Gegenstand die Entfernung zwischen der Gedenkstätte im Regierungsviertel, wo einst die Berliner Mauer verlief, nach Melilla, wo laut ZPS eine neue Mauer errichtet wurde,

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zurückgelegt hat. Hier wird territoriale Distanz nicht nur symbolisch, sondern auch logistisch überbrückt, um die europäische ›Abschottungspolitik‹ zu einer dezidiert deutschen Angelegenheit zu machen. Darüber hinaus ist der Reliquien-Charakter der Weißen Kreuze entscheidend. Dieser tritt beispielsweise zutage, wenn der damalige Innensenator Frank Henkel (CDU) in einer öffentlichen Stellungnahme zur Entwendung der 14 Mauerkreuze von einer »Entehrung der Mauertoten« spricht und urteilt, das ZPS habe sich »am Opfergedenken versündigt«.35 Henkels Wortwahl impliziert, dass es sich um eine Art Grabschändung gehandelt habe, die sich nicht nur am Opfergedenken, sondern an den Opfern selbst vergriffen habe. Die Kreuze fungieren also nicht nur als Stellvertreter für Abwesendes und damit als Denk-, sondern werden in ihrer Funktion als Grabmal aufgerufen, als etwas, das substantielle Präsenz (der physischen Überreste der Toten) sozusagen leibhaftig bezeugt, weil es eine gemeinsame Verbindung aufrechterhält und eben nicht bloß für etwas einsteht, das sich dem unmittelbaren Zugriff entzieht. Hier werden geradezu die heilbringenden Kräfte von Märtyrern heraufbeschworen, von Menschen, die aufgrund ihres Strebens nach Freiheit und Demokratie ihr Leben gelassen haben. Dabei hat die Szenerie etwas Epiphaniehaftes. Das lichtdurchflutete Gebiet erscheint erfüllt von der Präsenz des Weißen Kreuzes, in dem sich der Geist der Mauertoten manifestiert. Und ihr Erscheinen bringt die Hoffnung auf Erlösung: Diese liegt in der Überwindung der in der Mauer materialisierten Trennung und der Wiederherstellung einer rechtmäßigen Einheit, wobei hier in einem geographisch neuen Kontext einem historischen Ereignis eine neue Bedeutung zugewiesen wird. Es wird eine Überblendung von deutscher Einheit und Einheit aller Menschen vollzogen, wenn von »Brüdern und Schwestern« die Rede ist, zu denen die Mauertoten »in einem Akt der Solidarität« flüchteten. Das folgende Bild zeigt einen dieser vom ZPS sogenannten »zukünftigen Mauertoten«.36 (Vgl. Abb. 2) Während die Mauertoten vermittels der zuvor beschriebenen Referenzkette sozusagen reanimiert werden, wird der abgebildete junge Mann durch Gleichsetzung mit den Mauertoten in umgekehrter Weise für schon tot erklärt. Auf das Merkmal seiner Hautfarbe reduziert, das als vermeintliches Authentizitätszeugnis dient und auf seinen Geflüchtetenstatus verweist, verschwindet er hinter dem Stereotyp des hilfebedürftigen Schwarzafrikaners – dass er in Deutschland geboren und Besitzer der deutschen Staatsbürgerschaft sein könnte, scheint hier keine Option zu sein: Der lebendige Mensch wird zum Zeichen. Dieses Bild ist Anklage

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Abb. 2: Ein »zukünftiger Mauertoter« © Patryk Witt / Zentrum für Politische Schönheit

und Handlungsaufforderung zugleich: »Durch unser Verschulden ist dieser Mensch in Not geraten«, kündet es, »und es Bedarf unserer Hilfe zu seiner Errettung.« Während das Kreuz, das strahlend weiß ins Zentrum des Bildes retuschiert ist und wie ein gewaltsamer Einschnitt wirkt, den Namenszug eines ›Märtyrers‹ trägt, bleibt derjenige, der es in Händen hält, namenlos. Auf diese Weise werden zweierlei Arten von Opfern konstituiert: einerseits diejenigen aus den Reihen des Kollektivs, dessen Identität hier zur Disposition steht und bei dem es sich keineswegs um ›die Menschheit‹, sondern vielmehr um ›die Deutschen‹ handelt. Diese Opfer sind der Garant für das gemeinschaftsstiftende Band, das das Leiden an den EU-Außengrenzen zum gemeinsamen Leiden werden lässt, und die Basis für die Wirksamkeit des Handlungsappells, geht es doch allem voran auch um das eigene Schicksal. Sie stehen für den aktiven Part, für die Fähigkeit, aus eigener Kraft zur Erlösung zu gelangen. Hingegen ist die Funktion, die das ZPS dem abgebildeten jungen Mann zuweist, die des passiven Opfers, das schweigend sein Leid erduldet und der aktiven Zuwendung bedarf, um seinem zwingenden Schicksal zu entkommen; dem Tod. Immer wieder muss es geopfert werden, um das Phantasma der Erlösung aufrechtzuerhalten, denn es bedarf dazu nicht nur seiner Errettung, sondern zuallererst der begangenen Schuld. Wollte man es ähnlich zuspitzen, wie es die rhetorische Strategie des ZPS meist vorsieht, ließe sich zynisch behaupten, dass der junge Mann dem ZPS und seiner Version von der deutschen Identität nur solange nützt, wie sein Leben durch das Handeln der Bundesregierung bedroht ist. Wie die Mauertoten nur als Tote ihre gemeinschaftsstiftende Wirkung entfalten und

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überlebende ehemalige DDR- und BRD-Bürger:innen in einem Akt der gemeinsamen Trauer um die Opfer eines Unrechtsregimes vereinen können, dessen Untergang im selben Akt als kollektive Leistung gefeiert und zum Gründungsmoment einer gemeinsamen Geschichte wird, so kann dieses Deutschland seinen aktiven Part bei der Bekämpfung von Unrecht nur an- und einnehmen, wenn es dieses Unrecht zuallererst begangen hat, während der abgebildete junge Mann dabei nur als (baldiger) Toter einen Platz in dem sich solchermaßen konstituierenden Kollektiv hat. Und so wird er zur Projektionsfläche für die Erlösungsphantasien eines ›deutschen Volkes‹, das an seine in der historischen Schuld gründende Mission erinnert werden soll. Oder wie es in der Selbstbeschreibung des ZPS heißt: rundüberzeugung ist, dass die Lehren des Holocaust durch die G Wiederholung politischer Teilnahmslosigkeit, Flüchtlingsabwehr und Feigheit annulliert werden und dass Deutschland aus der Geschichte nicht nur lernen, sondern auch handeln muss.37 Um Deutschland zum Handeln zu bewegen, mobilisiert das ZPS Objekte und Vorstellungen und schafft Bilder. Diese verleihen seiner Version von einer deutschen Identität Konsistenz, indem sie an Bestehendes anknüpfen und Altes neu arrangieren. Im Fall des Ersten Europäischen Mauerfalls sind die Weißen Kreuze wichtige Mittler im Dienste eines zeitgemäß interpretierten ›Gedächtnistheaters‹. Wie der Soziologe Y. Michal Bodemann in seiner Analyse der deutschen Erinnerungskultur nach dem Holocaust anhand von Fallstudien aufgezeigt hat, basiert diese auf der Identifikation mit den Opfern und setzt stark auf die Sühne vermittels öffentlich aufgeführtem Schuldbekenntnis.38 Angesichts der in den letzten Jahren aus dem rechts-populistischen und -extremen politischen Lager aufkommenden Diffamierung der in Deutschland nach 1945 entstandenen Erinnerungskultur als »Schuldkult«, muss an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass Bodemanns kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Rolle jüdischer Menschen im deutschen Gedenken nach dem Zweiten Weltkrieg in striktem Gegensatz zu derlei geschichtsrevisionistischen und schlicht holocaustleugnenden Positionen steht. Ein wesentliches Charakteristikum des Gedächtnistheaters nach Bodemann ist seine Teleologie: Häufig werde ein religiöses ­Vokabular verwendet, um Erlösung durch Versöhnung und Wiedervereinigung einer gewaltsam getrennten Einheit heraufzubeschwören. Als

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Beispiel dafür zitiert Bodemann Richard Weizsäckers Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten ­Weltkrieges: »Die Erinnerung«, ließ der damalige Bundespräsident in der historisch gewordenen Ansprache verlautbaren, i st die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.39 In Anbetracht dessen reiht sich Frank Henkel in eine bewährte Tradition ein, wenn er in seiner Stellungnahme einen pastoralen Tonfall anschlägt und die Entwendung der Weißen Kreuze durch das ZPS als Sakrileg verdammt. Auf den ersten Blick erscheint dies wie eine Strategie seitens der Politik, den Angriff des ZPS abzuwehren und die unliebsam gewordene Künstler:innengruppe in ihre Schranken zu weisen, indem man ihr den Kunststatus abspricht, um die Aktion als Straftat ahnden zu können.40 Bei näherer Betrachtung aber erweist sich die Aktion des ZPS wie auch Henkels Reaktion als ein und derselben Logik zugehörig. Das moralisierende Vokabular ist dabei ein Indiz dafür, dass der Streitgegenstand – die deutsche Identität – keine juristische bzw. politische Angelegenheit im rein administrativen Sinne darstellt, bei deren Aushandlung sich auf ein vorhandenes normatives Regelwerk berufen werden könnte. Skandalös ist die vom ZPS begangene Tat eher in einem etymologisch ursprünglicheren Sinne: als Verstoß gegen das göttliche Gesetz, als dessen irdischer Fürsprecher der CDU-Politiker hier auftritt, um seinem Standpunkt die nötige Autorität zu verleihen. Gerade weil das ZPS öffentlich und mit künstlerischen Mitteln gegen die Bilder und Symbole des staatlichen Gedenkkults vorgeht, statt beispielsweise in einer Stellungnahme die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu kritisieren, wird es zur Gefahr. Denn es rührt mit seiner Aktion nicht nur an ein nationales Selbstverständnis, eine abstrakte Idee, sondern an eine damit einhergehende konkrete Herrschaftspraxis, die unter anderem durch Monumente wie die Weißen Kreuze aufrechterhalten wird. Bodemann zufolge dient die öffentliche (staatliche) Inszenierung einer vermeintlich gemeinsam erlittenen Bluttat und die Identifikation mit den Opfern dazu, die eigene Vormachtstellung zu erhalten. Voraussetzung und Folge davon ist, dass Jüdinnen und Juden auf den Opferstatus festgeschrieben werden.41 Im

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neu interpretierten Gedächtnistheater des ZPS scheint es, als widerfahre Ähnliches nun Geflüchteten. Diese werden als Opfer in den identitätsstiftenden Gedenkkult integriert und von diesem absorbiert. Liegt der Fokus im Falle des Holocaust-Gedenkens darauf, die Täterrolle in eine ferne Vergangenheit zu entrücken und einer entpersonalisierten, monströsen Macht zuzuschreiben, geht es bei den Bildern des ZPS vor allem darum, das Leiden spürbar und auf die Präsenz der Täter in den eigenen Reihen aufmerksam zu machen, um dessen heroische Überwindung zu glorifizieren. Die Anerkennung der Täterrolle bedeutet nicht die Aufgabe der Opferidentifikation. Das ZPS rüttelt nicht an der Auffassung, dass Deutschland in Sünde geraten sei; es ergänzt das Skript des Gedächtnistheaters um eine aktive Täterrolle, um mit der Selbstbeschuldigung den Sühneeffekt zu verstärken und, wichtiger noch, nicht passiv der Erlösung zu harren, sondern aktiv als Retter seiner selbst und der in Not geratenen Menschheit aufzutreten. Darin liegt die Bedeutung des Vorgangs, das »selbstbezogene deutsche Gedenken um einen entscheidenden Gedanken: die Gegenwart« zu erweitern. Mehr als um den Aufruf zur aktiven Verhinderung jenes Leidens, scheint es in dieser Aktion, die sich, wie ich nochmals betonen möchte, nicht gegen eine politische Agenda, sondern gegen eine Praxis, ein Ritual und dessen Symbole richtet, insgesamt darum zu gehen, einem durch falsche Gedenkpraxis verminderten Läuterungseffekt neue Kraft zu verleihen. Die Bilder, die dazu ins Feld geführt werden, als bloße Mittel zur Überbringung von politischen Botschaften zu betrachten, trägt dazu bei, ihre Tragweite zu unterschätzen und die herausgearbeitete Komplizenschaft zu übersehen. Das ZPS ist mehr als »Überbringer der Nachricht«42 vom Unrecht, das Geflüchtete an den Außengrenzen Europas erleiden. Mit seiner bildmächtigen Neuinszenierung des Gedächtnistheaters trägt es aktiv einen Teil zu diesem Unrecht bei. Die Wirkmacht der Bilder anzuerkennen bedeutet, die Verantwortung für sie zu übernehmen, statt sich mit Verweis auf ihre ›Unechtheit‹ aus der Affäre zu ziehen. Den Bildern dieser sogenannten politischen Aktionskunst eine Macht und Wirklichkeit zuzugestehen, ist nicht gleichbedeutend damit, ihren Kunstcharakter oder ihre politische Botschaft zu verkennen. Beides ist hier nicht unabhängig voneinander zu haben. Deshalb ist es meiner Ansicht nach produktiver und auch interessanter, die Bilder zu befragen, die das ZPS schafft, als mit ­ikonoklastischem Eifer zu ­ versuchen, es ungefügig zu machen, indem man es als bloße Kunst denunziert, oder umgekehrt, seine Gegner ungefügig zu machen, indem man es als bloße Kunst denunziert.

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1 Zentrum für Politische Schönheit: »Cesy Leonhard«, auf: https://politicalbeauty. de/Cesy_Leonard.html (Zugriff am 8. April 2020). 2 Ebd. 3 So äußerten bspw. die Teilnehmer:innen der Aktion Erster Europäischer Mauer­ fall, die vom ZPS an die europäische Außengrenze gebracht wurden, um diese kurzerhand einzureißen, in einem schriftlichen Statement ihre Enttäuschung darüber, als »Statist*innen in einem Kunstprojekt« agiert zu haben, »das sich vornehmlich als Medienspiel an eine deutsche Öffentlichkeit richtete.« (Vgl. Diesselhorst, Sophie et al.: »An die Grenzen Europas«, auf: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10194:2014-1107-13-38-48&catid=315:blog-k2&Itemid=100078 (Zugriff am 8. April 2020). Matthias Warstat spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ästhetik der leeren Ankündigung« und weist auf die Enttäuschung hin, die sich in dem Moment einstellen kann, da unausweichlich der Kunstcharakter des Geschehens zutage tritt und klar wird, dass nicht wirklich Grenzzäune eingerissen, Flüchtlingsleichen vor dem Reichstag verbuddelt und Menschen von Tigern gefressen werden, etc. – eine Enttäuschung, die darin resultiert, die politische Folgenlosigkeit von Kunst zu beklagen oder ihren Scheincharakter anzuprangern. (Vgl. Warstat, Matthias: »Postmigrantisches Theater? Das Theater und die Situation von Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa«, in: Bloch, Natalie/ Heimböckel, Dieter/Tropper, Elisabeth (Hrsg.): Vorstellung Europa – Perfor­ ming Europe. Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart, Berlin 2017, S. 26 – 42, hier S. 40.) Insgesamt haften dem Begriff der politischen Aktionskunst – insbesondere in der theaterwissenschaftlich informierten Debatte – vielfach immer noch Konnotationen an, die der Privilegierung des Live-Ereignisses und einer medienfeindlichen Attitüde Vorschub leisten. So spricht aus den Kommentaren vieler Beobachter:innen eine unverhohlene Skepsis gegenüber der ›Scheinwelt‹ der medialen Berichterstattung und insbesondere des Web 2.0, dem, wie ich behaupten würde, primären Operationsfeld des ZPS. Eine Kunst, die wirklich etwas bewirken wolle, müsse im ›echten Leben‹ agieren. Raimar Stange bspw. verwurzelt die Ästhetik des ZPS in der 68er-Bewegung und arbeitet enge Parallelen zur Arbeit der Guerilla Action Group heraus, einem New Yorker Kollektiv, das sich ganz im Einklang mit der Debord’schen Kritik an der ›Gesellschaft des Spektakels‹ gegen passiven Konsum, ökonomische Vereinnahmung des Kunstbetriebs und aktive gesellschaftliche und moralische Anteilnahme einsetzte. (Vgl. Stange, Raimar: »Appropriativ, agitatorisch, anständig. Zur Ästhetik des Zentrums für Politische Schönheit«, in: Rummel, Miriam/Stange, Raimar/Waldvogel, Florian (Hrsg): Haltung als Handlung. Das Zentrum für Politische Schönheit, München 2018, S. 288 – 304.) In dieselbe Richtung weisen auch Frauke Surmanns Überlegungen zu den »Grundzüge[n] einer politischen Ästhetik«, die sie auf den Begriff der »ästhetischen In(ter)vention« bringt. Diese vollziehe sich als ereignishafter »Einbruch in die symbolische Ordnung des öffentlichen Raums« einerseits und als »wirklichkeitskonstituierender Gründungsakt« andererseits und sei vor allem eines: Aufführung. Das kollektiv und im Hier und Jetzt erzeugte »utopische[] Performativ« könne dann zwar in Form von Bildern und Videos geteilt und weiterentwickelt werden, dies geschehe allerdings im »Modus des Zuschauens zweiter Ordnung« und sei somit der ursprünglichen Live-Erfahrung, d. h. der eigentlichen In(ter)vention, untergeordnet. (Vgl. Surmann, Frauke: Ästhetische In(ter)ventionen im öffent­ lichen Raum. Grundzüge einer politischen Ästhetik, Paderborn 2014, hier S. 13, S. 20, S. 179 u. 180.) Dass selbst Philipp Ruch, Kopf des ZPS, in seinem »politischen Manifest« das Bild einer medial sedierten Spektakelgesellschaft zeichnet, deren politisches Handlungsvermögen es zu revitalisieren gelte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. (Vgl. Ruch, Philipp: Wenn nicht wir, wer dann? Ein poli­ tisches Manifest, München 2015.) Dieser Skepsis gegenüber dem Mittelbaren skeptisch gegenüberzutreten, ist Ziel der folgenden Ausführungen. 4 Vgl. Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, auf: https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (Zugriff am 8. April 2020). 5 Mit fraglichem Erfolg, wie Kritikerin Sophie Diesselhorst, die in ihrer Funktion als Beobachterin und Journalistin an der Busreise teilgenommen hat, in Einklang mit zahlreichen Kommentator:innen feststellt. Ihr vollständiger

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Bericht von der Aktion findet sich online unter: Diesselhorst, Sophie: »Wer schön sein will, muss leiden? Erster Europäischer Mauerfall – Das Zentrum für Politische Schönheit fährt an die Außengrenze der Europäischen Union, um Grenzzäune aufzuschneiden«, auf: https://nachtkritik.de/index.php?option=com_ content&view=article&id=10218:2014-11-11-15-05-49&catid=38&Itemid=40 (Zugriff am 8. April 2020). 6 Vgl. Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, auf: https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (Zugriff am 8. April 2020). 7 Kiyak, Mely: »Warum fällt es der Kunstkritik so schwer, das Zentrum für Politische Schönheit als das zu betrachten, was es ist: als Kunstwerk. Lautes Nachdenken über den eigenen Stand«, in: Rummel, Miriam/Stange, Raimar/Waldvogel, Florian (Hrsg.): Haltung als Handlung. Das Zentrum für Politische Schönheit, München 2018, S. 332 – 336, S. 332. 8 Ebd., S. 333. 9 Ebd., Hervorh. i. O. 10 Ebd. 11 Ebd., Hervorh. i. O. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 334. 14 Vgl. ebd., S. 336. 15 Ebd., S. 334. 16 Ebd., S. 335. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 336. 20 Vgl. ebd., S. 335. 21 Ebd., S. 336, Hervorh. der Verf. 22 Diese fand 2002 im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe statt. Latour, Bruno: »What is Iconoclash? or Is there a world beyond the image wars?«, in: Iconoclash, Kat. zur Ausst. »Iconoclash – Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art«, ZKM Karlsruhe, hrsg. v. Latour, Bruno/Weibel, Peter, Cambridge u. a. 2002, S. 14 – 37. Hier aus der ins Deutsche übersetzten, leicht veränderten Fassung zitiert: Latour, Bruno: Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges, aus dem Engl. von Gustav Roßler, Berlin 2002. 23 Latour: Iconoclash, S. 9f., Hervorh. i. O. Vgl. dazu auch: Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 62017 [2008]; ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 62017 [2002]. 24 Vgl. Latour: Iconoclash, S. 10. 25 Ebd., S. 10. 26 Ebd., S. 15f., Hervorh. i. O. 27 Ebd., S. 17, Hervorh. i. O. 28 Eine systematische Unterscheidung zwischen Mittlern und Zwischengliedern, wie sie in dem hier hauptsächlich referierten Essay nicht erfolgt, findet sich beispielsweise in: Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 66 – 75. 29 Vgl. Latour: Iconoclash, S. 14f. 30 Ebd. 31 Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, auf: https:// politicalbeauty.de/mauerfall.html (Zugriff am 8. April 2020). 32 Ebd. 33 Latour: Iconoclash, S. 50. 34 So lautet die Überschrift zu einer Serie von Videos, in denen die »zukünftigen Mauertoten« zu Wort kommen. Vgl. Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, a. a. O. 35 Vgl. Henkel, Frank: »Verabscheuungswürdige Tat. Gestohlene Mauerkreuze und das Gorki-Theater«, in: Der Tagesspiegel, 8. November 2014, auf: https:// www.tagesspiegel.de/berlin/gestohlene-mauerkreuze-und-das-gorki-theater-frank-henkel-verabscheuungswuerdige-tat/10953356.html (Zugriff am 8. April 2020), Hervorh. d. Verf. 36 Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, a. a. O.

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37 Zentrum für Politische Schönheit: »Über das ZPS«, auf: https://politicalbeauty. de/index.html (Zugriff am 8. April 2020). 38 Vgl. Bodemann, Y. Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996. Zum offiziellen deutschen Umgang mit dem Holocaustgedenken vgl. u. a. auch: Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Bonn 2010. 39 Weizsäcker, Richard: Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, Bonn, 8. Mai 1985, auf: http://www.bundespraesident.de/ SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_ Rede.html (Zugriff am 8. April 2020). 40 Henkels Reaktion, die durchaus im Einklang mit der von der Bundesregierung vertretenen Position steht, ließe sich in diesem Sinne mit Christopher Balme als Form der Zensur zur »Absicherung der Schwellen der Toleranz« deuten. Balme zufolge übe »jedes politische Gemeinwesen zum Zwecke der Aufrechterhaltung bestimmter kultureller und religiöser Grundwerte und um sie vor Übergriffen zu schützen, die ein oder andere Form der Zensur« aus. Die kontrovers geführte Debatte um die Grenzen der Kunstfreiheit, die sich im Zuge der Aktion entspann und im Rahmen derer sich ranghohe deutsche Politiker zu öffentlichen Stellungnahmen gezwungen sahen (vgl. z. B. das Statement des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, einsehbar auf der Aktionswebsite, a. a. O.), zeugt insofern von einer ständigen Überwachung der »Schwellen der Toleranz« und gibt Aufschluss über herrschende Wertesysteme. Besonders schwierig wird es dort, wo gesetzlich verankerte Freiheiten gegeneinander abgewogen werden müssen (im vorliegenden Fall die Freiheit der Kunst gegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde). Wesentlich für die verunsichernde und zugleich offenbarende Wirkung sei die räumliche Anordnung: die Tatsache, dass der geschützte Raum des Theaters und damit die moderne ästhetische Erfahrung hinter sich gelassen werde. (Vgl. Balme, Christopher: »Schwellen der Toleranz: Künstlerische Freiheit und das Theater des öffentlichen Raums«, in: FischerLichte, Erika/Wihstutz, Benjamin (Hrsg.): Politik des Raumes. Theater und Topo­ logie, München 2010, S. 121 – 130, hier S. 122 u. 128) Dies ist auch beim ZPS der Fall, das im öffentlichen Raum zur Tat schreitet und einen Übergriff auf ein Terrain vollzieht, das in den Zuständigkeitsbereich des Staates fällt, von diesem kontrolliert und gesetzlich reguliert wird. Wichtiger noch ist meines Erachtens nach, dass der Übergriff nicht nur öffentlich, sondern zunächst an konkreten Gegenständen – den Weißen Kreuzen – vollzogen wurde, was der beschriebenen Repräsentationskette an Wirkkraft verleiht. Auch wenn es sich bei den Kreuzen um Symbole handelt, die wiederum in den Theaterwerkstätten nach- und anschließend digital abgebildet wurden, sind sie das Verbindungsglied zu den Mauertoten. Das ist ein Grund für die Heftigkeit der Reaktion und die Voraussetzung dafür, dass die Tat als obszön empfunden werden kann. 41 Vgl. dazu auch Max Czolleks Polemik Desintegriert Euch!, die sich als Gegenstück zu Ruchs Manifest lesen ließe. Statt Erlösungsphantasien und Heldenpathos zu kultivieren, spricht sich Czollek für die Legitimität jüdischer Rachephantasien aus, die eine Möglichkeit darstellten, sich aus der Fixierung auf die Opferrolle durch das Gedächtnistheater zu befreien. Vgl. Czollek, Max: Desintegriert Euch!, München 2018. 42 A. a. O.

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Ulf Otto Die Kunst der Umbesetzung Intervention als Artikulation in Mittelreich (2017) Mittelreich (2017) ist eine Inszenierung von Anta Helena Recke nach einer gleichnamigen Inszenierung von Anna Sophie Mahler nach einem gleichnamigen Roman von Josef Bierbichler. Der Roman aus dem Jahr 2011 erzählt die Geschichte einer bayerischen Seewirtsfamilie über drei Generationen und zwei Kriege hinweg. Mahlers Inszenierung von 2015 ist ein Stück Musiktheater, das das Gesellschaftliche und die Zeitläufe in den Erblasten und Verwerfungen einer alltäglichen Familiengeschichte aufspürt. Recke schließlich, zuvor an den Münchner Kammerspielen und in Mahlers Inszenierung als Regieassistentin tätig, zeigt 2017 eine Reinszenierung der Produktion, die im selben Bühnenbild und Kostümbild spielt und die szenischen Arrangements und Vorgänge bis ins Detail nachstellt. Nur die Besetzung hat sich geändert. Diese »Schwarzkopie«1, wie sie von der Regisseurin genannt wurde, hat das deutschsprachige Theater mit Strategien der zeitgenössischen Kunst konfrontiert, rassistische Ressentiments des Feuilletons hervorgetrieben und wurde 2018 als eine der ›herausragendsten‹ Inszenierungen des Jahres zum Theatertreffen eingeladen. Die folgenden Überlegungen fragen, was dieser Erfolg bedeutet, wie er zustande gekommen ist und was aus ihm folgt. Wurde nur etwas sichtbar gemacht oder hat sich auch etwas verändert? Es wird vorgeschlagen, die Aufführung als eine Versuchsanordnung zu beschreiben, die nicht nur etwas zeigt, als vielmehr artikuliert: nämlich die Weißheit2 des (deutschsprachigen) Theaters. Aufbauend auf diesen Grundüberlegungen nähert sich der zweite Abschnitt der Arbeit aufführungsanalytisch an, beschreibt das Oszillieren der Wahrnehmung als dominante ästhetische Erfahrung und zeigt zugleich die Grenzen dieses Ansatzes auf. Daran anschließend nimmt der dritte Abschnitt das diskursive Geschehen in den Blick, welches sich im Umfeld der Arbeit entfaltet hat und in diese selbst hineinragt. Dabei zeigt sich, dass es gerade die Verknüpfung von ästhetischen Erfahrungen und diskursiven Einordnungen ist, anhand derer die Bewertung und Bedeutung der Arbeit verhandelt werden. Mittelreich, so wird abschließend argumentiert, lässt sich mit STS und ANT als ein ästhetisches Experiment beschreiben, das die rassistischen Fundamente des bürgerlichen Theaters zur Evidenz bringt und damit notwendig auch die Position der Wissenschaft herausfordert.3

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Artikulation

Mittelreich liegt inzwischen einige Jahre zurück, gehört der Vergangenheit an und ist Teil der Theatergeschichte geworden: ein Ereignis, das stattgefunden hat und auf das beispielhaft verwiesen wird, wenn es um die künstlerische Adressierung von strukturellen Rassismus im Theater geht.4 Dass es sich bei Mittelreich um ein Ereignis gehandelt hat, wie hier behauptet wird, könnte sich dabei schlicht auf das thea­ trale Ereignis beziehen, auf die Aufführung, also das, was sich vor Ort im Theater abgespielt hat.5 Es könnte aber auch das mediale Ereignis meinen, die sich entfaltende Nachrichtenlage, das Diskursgeschehen, dem die Inszenierung überhaupt erst ein über sich selbst hinausweisendes Vorkommen zu verdanken hatte.6 Schließlich wäre aber auch denkbar, dass hier von einem historischen Ereignis die Rede sein soll. Damit wäre die Behauptung verbunden, dass die Aufführung tatsächlich Geschichte gemacht hat und nicht nur geworden ist. Es würde nahelegen, dass nicht nur etwas passiert ist, als vielmehr, dass dieses Passieren auch etwas verändert hat, dass also die Dinge nachher nicht mehr so sind, wie sie vielleicht vorher waren und damit auch, dass sich das, was sich von ihnen erzählen lässt, neu geordnet werden müsste.7 Es würde ein Schnitt in der Zeit behauptet, sodass nicht nur das Nachfolgende als vielmehr auch das, was davor war, in Bezug auf Mittelreich neue Bedeutung bekäme. Es gäbe dann also eine Zeit vor und eine Zeit nach Mittelreich, zumindest im deutschsprachigen Theater. Ein starker Begriff von (ästhetischer) Intervention müsste auf eine solche historische Ereignishaftigkeit zielen, d. h. auf ein (künstlerisches) Tun, welches zu einem Ereignis wird, weil es die Welt, in der es sich abspielt, nicht nur verschieden interpretiert, sondern tatsächlich verändert – um es in Variation einer älteren These zu sagen. Was aber könnte es heißen, für eine Arbeit wie Mittelreich eine Ereignishaftigkeit zu reklamieren, die über die Kanonisierung durch die Bestenliste des Theatertreffens hinausgeht? Was wären also die Gelingensbedingungen solch einer (ästhetischen) Intervention, die es darauf angelegt hat, den Rahmen innerhalb dessen sie zum Ereignis wird, selbst zu verschieben? Woran ließe sich ablesen, dass nicht nur Bedeutsamkeit behauptet wurde, sondern sich wirklich etwas (und sei es nur im Theater) verändert hätte, dass ein Unterschied gemacht wurde? Eher selten noch wird in der ästhetischen Theorie der Kunst das Potential zugesprochen, Welt zu verändern, und ihr Wirken stattdessen zumeist in post-materialistischer Bescheidenheit auf das Feld der Wahrnehmung beschränkt – dieses jedoch im gleichen Atemzug

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entschieden aufgewertet.8 Nichts weniger als das, was überhaupt in der Gesellschaft sichtbar oder hörbar werden kann und wird, soll demnach in Künsten und Theatern zur Verhandlung stehen.9 Entsprechend erscheint dann das Feld der Kunst insgesamt als etwas Politisches, das sich daran messen lassen muss, ob es die jeweils herrschende Ordnung der Wahrnehmung zu bestätigen oder aber herauszufordern antritt.10 Denn, so der verbreitete theoretische Konsens, durch die Provokation der Rezeption würden habitualisierte und hegemoniale Wahrnehmungsmuster in Frage gestellt, die kritische Reflexionsprozesse nach sich zögen. Wobei meist implizit vorausgesetzt scheint, dass dies in der Konsequenz notwendig zu Folgehandlungen führe, die sich einem häufig betonten, doch nur selten explizierten Horizont der Emanzipation einordnen ließen.11 Das Modell hat seine theoretische Sollbruchstelle in der Exklusivität der (Theater-)Kunst. Denn dass die Performanzen des Populären (im Gegensatz zum Theater) allein aufgrund ihrer massiven Distribution, in ihren Sichtweisen auf das Seiende einen Unterscheid machen, ist leicht nachvollziehbar. Inwiefern aber jene (meist radikaleren) Wahrnehmungsversuche, die sich im kleinen Kreis von Performances abspielen, über diesen Kreis hinaus wirksam werden, braucht zumindest Begründung. Allerdings findet sich an deren Stelle häufig eher ein Glaube, der sich etwas bösartig als trickle-down aesthetics bezeichnen und als Erbschaft der Avantgarden deuten ließe: die kaum zu validierende noch zu widerlegende Überzeugung, dass sich die ästhetischen Erfahrungen ausgewählter Einzelner langfristig schon irgendwie auf den Fortgang der Geschichte durchschlagen würden, statt diesen im Rahmen tradierter Distinktionspolitiken (›Ich sehe was, was du nicht siehst‹) eher aufzuhalten. Auch Mittelreich wird in der theoretischen Reflexion meist als eine solche ästhetische Operation verstanden: als Versuch, das »Theater als einen traditionell Weißen Raum mit ästhetischen Mitteln sichtbar zu machen«12, beschreibt bspw. Andrea Geier, eine wichtige Stimme in der deutschsprachigen Genderforschung, die Arbeit auf nachtkritik. de. Am Exempel werde bislang Übersehenes sichtbar und damit auch anfechtbar, sodass »zum Nachdenken über Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen« angeregt würde. (»In diesem Fall über eine kulturell etablierte Farbsymbolik, in der das ›Eigene‹ mit ›Weißsein‹ und das ›Fremde‹ mit ›Schwarzsein‹ assoziiert wird.«13) Doch das, was auf dieses Nachdenken folgt oder folgen könnte, bleibt auch hier, wie anderswo, offen. Selbstverständlich, möchte man sagen, denn dass die Autorin konkrete Handlungsanweisungen aus dem Werk ableiten und

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mit auf den Weg geben würde, ist im Rahmen des zumindest in Europa herrschenden Kunstbegriffs nicht wirklich vorstellbar. Die Freiheit der Kunst, ohne die ein westlicher Begriff von ihr kaum auskommt, schöpft sich seit Kant und Schiller ja gerade daraus, dass dieselbe mit der Wahrnehmung beginnt und endet, keine notwendigen Anschlusshandlungen impliziert und dennoch oder gerade deshalb gesellschaftlich nicht ohne Folgen bleibt.14 Doch woher nehmen wir angesichts der zunehmenden Enttabuisierung neofaschistischer Positionen im Zuge des Aufstiegs der Neuen Rechten eigentlich diese Sicherheit, dass auf die Sichtbarmachung des Theaters als einer weißen Institution nicht auch schlicht die aggressive Verteidigung derselben als einer solchen folgen könnte? Und umgekehrt, begrenzen wir die Macht der Kunst nicht ohne Not und über die Maßen, wenn wir sie darauf beschränken, sichtbar zu machen, was die einen schon lange wussten und die anderen nur nicht wissen wollten? Anders gesagt, wenn Mittelreich sich in der indexikalischen Geste genügte und tatsächlich nur zeigte, was ist, würde das nicht gerade jener Kritik das Wort reden, die der Arbeit ohnehin ihre Kunsthaftigkeit in Abrede stellt? Braucht es daher nicht unter den Kunstgläubigen (und das bezieht die Kunstwissenschaften mit ein) nicht eine Theorie, die es dem einzelnen Werk zugesteht, tatsächlich einen Unterschied zu machen, der sich jenseits der ästhetischen Erfahrung Einzelner abspielt? Und die dann, vielleicht wichtiger noch, auch unterscheiden ließe, zwischen einem Theater, das nur behauptet, politisch zu sein, dabei aber aus den in mehrfachem Sinne idealistischen Begründungszusammenhängen nicht herauskommt, und eben jenem, das tatsächlich politisch ist, weil es tatsächlich auch pragmatisch einen Unterschied macht.15 Schließlich hat Mittelreich ja tatsächlich gleich mehrere solcher Unterschiede gemacht: Aus einer unbekannten Regieassistentin ist eine gefeierte Nachwuchsregisseurin geworden. Die Geschichte, die der Roman von Josef Bierbichler erzählt, hat an Bedeutungen gewonnen und erzählt nun noch mehr als zuvor. Und auch das deutschsprachige Theater hat sich verändert: Es hat jetzt auch dann noch ein Rassismusproblem, wenn ein weißes Ensemble auf schwarze Schminke verzichtet. Ist die Welt also nicht tatsächlich eine andere geworden? Der Einwand gegen eine solche Beschreibung liegt auf der Hand: Es hat sich doch nicht die Welt verändert, nur ihre Wahrnehmung ist eine andere geworden. Erst jetzt wurde die talentierte Regisseurin entdeckt, die Anta Helena Recke immer schon war. Nur die Sicht auf den Roman, in dem doch immer noch dasselbe drinsteht, hat sich

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verändert. Und die strukturellen Rassismen des Theaters, die sind ja beileibe dadurch entstanden, dass sie aufgedeckt wurden. – Es ist ein alter Realismus, der so argumentiert. Er trennt die Wirklichkeit (die Person der Regisseurin, das Artefakt des Romans, die Institution des Theaters) kategorial von ihrer Wahrnehmung und entzieht sie damit notwendig auch dem unmittelbaren Zugriff der Kunst. Diese braucht daher (im modernen Verständnis), um wirksam zu werden, eine externe Instanz, die im Stande ist, die Verbindung zwischen den im Inneren verhandelten Wahrnehmungen und der außerhalb liegenden Wirklichkeit (wieder) herzustellen: nämlich das ästhetische Urteil – und die Kritiker:innen und Kurator:innen, die es verkörpern. Ihnen nur obliegt die Macht, aus dem Erkennen der Kunst zur Handlung zu schreiten, zu erheben, zu erklären, zu vermitteln. Die Kunst als Kunst aber hat außerhalb ihrer selbst keine Spielräume, sie kann die Welt nur dann verändern, wenn sie aufhört Kunst zu sein. Ein neuer Realismus hingegen würde pragmatisch zeigen, dass die Welt doch in der Tat eine andere geworden ist, weil sich die Spielräume verändert und die Kompetenzen der Aktanten neu verteilt haben: das deutschsprachige Theater kann nicht mehr so tun als wäre das weiße Ensemble der Normalfall, der Roman kann jetzt für eine postkoloniale Diskussion stehen, die Regisseurin wird jetzt dafür bezahlt an großen Häusern zu arbeiten und auf Podiumsdiskussionen angehört. Der Erfolg der Inszenierung hat insofern eine ganze Reihe von Unterschieden gemacht, die nicht in die Welt gekommen wären, wenn er ausgeblieben wäre. Der Begriff, den ich vorschlagen möchte, um zu beschreiben, wie sich die Welt mit Mittelreich verändert hat, ist derjenige der Arti­ kulation, wie er in der Wissenschaftsforschung verwendet wird.16 Ein prominentes Beispiel ist Bruno Latours Auseinandersetzung mit der Entdeckung der Milchsäuregärung durch Louis Pasteur, der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt, dass diese entgegen der herrschenden Schulmeinung nicht auf chemischen Reaktionen beruht, sondern von Mikroben (einer Hefe) bewirkt wird.17 Diese Mikroben, das zeigt Latour in detailgenauer Analyse des Forschungsberichts von Pasteur, durchlaufen im Verlauf der Forschung verschiedene Stadien und gewinnen dabei zunehmend an ontologischer Stabilität: Was anfangs nur als »flottierende Sinnesdaten« beschrieben wird, gewinnt zunächst in konkreten Performanzen an Evidenz, die dann auf näher definierte Kompetenzen zurückgeführt werden, welche wiederum im nächsten Schritt einem Aktanten zugeschrieben werden, der schließlich über die Einordnung in eine bestehende Taxonomie seine finale Gestalt als

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Mikrobe erlangt: »Am Ende des Berichts ist die Hefe […] eine voll entwickelte, eigenständige Entität, die zu einer Klasse ähnlicher Phänomene gehört; sie ist zur alleinigen Ursache der Gärung geworden.« Sie spielt, vollständig artikuliert, nun die »Hauptrolle« wie es in Pasteurs von Latour zitierten Worten heißt.18 Die Artikulation stellt sich insofern als enges Wechselspiel von Dingen und Zeichen dar, ersetzt den Begriff der Referenz, der in der klassischen Wissenschaftstheorie den Graben zwischen stummen Dingen und sprachbegabten Wissenschaftler:innen überbrücken soll, und erlaubt der Hefe insofern mit eigener Stimme zu sprechen. Mit Mittelreich, so ließe sich insofern behaupten, wird das ­Weißsein des deutschen Theaters artikuliert, ganz ähnlich wie es mit der Hefe in Pasteurs Labor geschieht. D. h., es wird nicht einfach etwas sichtbar gemacht, was zuvor nur übersehen wurde, sondern ein Experiment aufgebaut, das vielfältige Situationen herstellt, in denen sich komplexe Reaktionen beobachten lassen, dabei unterschiedlichste Aktanten einbezieht, Verknüpfungen zwischen bislang Unverbundenem herstellt, und damit in einem konsekutiven Prozess, einem Unterschied zur Wirklichkeit verhilft, indem sich sehr viel mehr zeigt als nur die Handschrift der Regie. Die Wirklichkeit ist – um eine beliebte Formulierung Latours zu verwenden – mit Mittelreich ein Stück reicher geworden. Der Rede von der Versuchsanordnung aber, die im Theater zumeist metaphorisch als Verweis auf sein Innovationspotenzial verwendet wird, kommt hier wörtlicher, nämlich epistemologischer Sinn zu: Es wird einer Erkenntnis zur Wirklichkeit verholfen in einem Experiment, das mit seiner Finanzierung und Konzeptionierung beginnt, über die Beobachtung und Beschreibung seiner experimentellen Durchführung bis hin zur Diskussion und Evaluation durch eine Fachcommunity reicht.19 D. h. schließlich, dass auch die Wissenschaft und damit dieser Aufsatz selbst notwendig schon und noch Teil dieser Anordnung ist, weder darüber steht noch gegenübersitzt, selbst auch nur anknüpfen kann, die Ergebnisse aus einer partikularen Perspektive bestätigen und durch Hinzufügen weiterer Verbindungen zu konsolidieren versuchen kann.

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Opaleszenz

In der Premiere halte ich nach den Unterschieden Ausschau, welche die Umbesetzung macht, den Bedeutungen, die aus etwas hervorgehen, dessen Beschreibungen es erst zu beschreiben gilt. Aber da ich das Original nicht kenne, ist der Abgleich nicht ohne Weiteres zu haben: Ich muss mir das Vorbild vorstellen, die Vergangenheit vergegenwärtigen, um die Gegenwart dazu ins Verhältnis zu setzen. Dadurch macht die Kopie vor allem die Vorlage sichtbar (was auch sonst sollte man denken, zeigt eine Kopie, wenn nicht das Original), die dadurch weiß erscheint, noch bevor ich die richtigen Worte gefunden habe, um die Kopie zu erfassen. Denn nur weil er von einer Norm abweicht, wird der Auftritt dieses Ensembles auffällig (in einer besseren Welt wäre es schlicht eine Wiederaufnahme gewesen), markiert damit die Position, die diese Norm ihm zuweist, und fordert in der Markierung dieser Position die Norm zugleich heraus. Es handelt sich um eine »Schwarzkopie«, wie die Regisseurin sagt, und zwar im großgeschriebenen Sinne, d. h. als positive Selbstbezeichnung, die eine soziale Position benennt, die aus einem symbolischen Konstrukt (dem Rassismus) hervorgeht, sich gegen die kleingeschriebene Phänotypisierung wehrt.20 (Es handelt sich insofern um eine Umbesetzung auch im Sinne des Besetzens von Bedeutungen). Noch bevor ein Wort gesprochen ist, steht so mit dem Auftritt des Ensembles zu Beginn der Vorstellung die ästhetische Ordnung des Theaters mit auf der Bühne, genauer gesagt, der Rassismus, der dieser Ordnung innewohnt, d. h. schlicht gesagt, die Tatsache, dass hier eben nicht alle das Gleiche darstellen – und zwar nicht (nur) deshalb, weil Einzelne so besetzen, wie sie besetzen, sondern weil es eine Norm gibt, die herrscht. Auch als weißer Mensch lässt sich das Theater an diesem Abend daher als weißer Raum erleben, das Privileg der Ignoranz (Spivak) ist temporär suspendiert. Was sich entsprechend in meiner Erinnerung an die Vorstellung erhalten hat, spielt sich vielmals im Spannungsfeld neuer Besetzung und alter Ausstattung ab: Der »Federschmuck« der Faschingsszene beispielsweise löst bei mir eine verschachtelte Assoziationskette aus, die mit Hagenbecks Völkerschauen beginnt und mit den fröhlichen ›Indianern‹ auf dem Sommerfest im Kindergarten endet, die vor den Affen und nach den Elefanten auftraten. Immer wieder sind es solche Momente, die mich Situationen erinnern lassen, die nur deshalb erträglich waren, weil bestimmte Menschen dort nicht waren oder so getan wurde, als gäbe es sie einfach nicht.21 Es ist ein unangenehmer Rückblick in diese weißen Räume, notwendig

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mit Scham behaftet, weil man in sozialen Räumen ja nicht einfach nur drin sein kann, sondern immer schon an ihnen beteiligt ist. Fragen schließen sich an, die von der Handlung ablenken. Der Seewirtshof der Bierbichlers, die musikalischen Übersetzungen Anna-Sophie Mahlers rücken in den Hintergrund, wie auch die Frage, die sich aufzudrängen scheint, was sich da nun für ein Bild der deutschen Geschichte ergibt, mit diesem Ensemble, oder was passiert mit jenen Passagen, wenn im Wirtshof anno 1950 über die Flüchtlinge aus dem Osten geschimpft wird. Da aber andererseits gerade diese Suche nach den Bedeutungen, die aus der Umbesetzung hervorgehen, über weite Strecken erfolglos verläuft, und auch signifikante Objekte wie der klischierte ›Federschmuck‹ ausbleiben, an denen sich Assoziationsketten andocken könnten, beginne ich den selbst gestellten Beobachtungsauftrag wieder zu vernachlässigen, und die Aufmerksamkeit fällt – mehr als dass sie sich richtet – auf die mir nur in Umrissen bekannte Handlung des Romans. Langsam werde ich mehr und mehr in den Bann der Geschichte und ihrer Charaktere hineingezogen und vergesse die doch eigentlich zu beobachtenden Unterschiede, bis dann plötzlich wieder so ein Ding wie eben dieser ›Federschmuck‹ (den es im Übrigen im Roman nicht gibt) die Bühne betritt und mich aus der bayerischen Seewirtschaft im Wirtschaftswunderland der fünfziger Jahre wieder ins Jahr 2017 mit seinen Kinderbuch- und Restitutionsdebatten zurückholt (als diese noch als solche geführt werden konnten und noch nicht von einer neokonservativen Allianz zur illiberalen Identitätspolitik umgedeutet wurden). Während ich also brav und beflissen im mir vorgelegten Suchbild nach Bedeutungen Ausschau halte, verliere ich mich doch zugleich auch immer wieder in der Geschichte. In meiner Wahrnehmung beginnt das Ensemble dadurch zwischen Transparenz und Opazität zu oszillieren: Eine Durchsicht auf die Geschichte, in der es als Träger der Handlung in den Hintergrund tritt, wechselt sich mit einer Aufsicht ab, in der diese aus der erzählten Welt heraus- und vor diese hintreten. Damit aber richtet sich der Blick nicht nur auf die, die vor ihnen dort standen, als vielmehr auch auf die, die ihnen gegenübersitzen. Und gerade weil das Publikum an diesem Abend nicht ganz so weiß ist wie sonst, wird in diesem Moment evident, dass gerade dies ansonsten Bühne und Saal verbindet und vereint. Die Frage steht im Raum, ob nicht diese ganze Idee des freien Spiels, von dem das bürgerliche (und in diesem Sinne westliche) Theater bis heute ausgeht, nicht überhaupt nur möglich war, weil alle weiß waren, es aber niemand aussprach – so

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wie das ›Indianer‹-Spielen eben nur so lange Spaß bringt, wie keine first nations mitmachen. Es gibt in der Physik den Begriff der kritischen Opaleszenz. Er beschreibt ein Phänomen, das am Punkt des Übergangs einer Flüssigkeit ins Gasförmige auftreten kann: Die Teilchen oszillieren zwischen den Aggregatzuständen, dadurch kommt es zu einer Streuung des Lichts, und die Flüssigkeit verliert ihre optische Durchlässigkeit, sie wird milchig. Mit Mittelreich, so ließe sich dann vielleicht behaupten, ist das deutsche Theater milchig geworden, es hat den Aggregatzustand verändert und die Transparenz verloren, die behauptete Farblosigkeit denaturierte im Verlauf der Aufführung recht schnell zur Deckfarbe – anders gesagt, das Theater wird hier als weiß artikuliert, und das würde eben bedeuten, dass nicht einfach etwas sichtbar geworden ist, sondern dass sich tatsächlich, wenn vielleicht auch nur temporär, etwas verändert hat. Das aber, was sich mit der Umbesetzung verändert hat, betrifft, wie oben angedeutet, nicht nur Ensemble und Publikum, als vielmehr das Dispositiv des Theaters selbst, nämlich jene ästhetische Ordnung, in der die Wandelbarkeit der einen, nicht ohne die Exklusion von anderen auskommt. Damit tritt der Rassismus auch im deutschen Theater als ein Problem der weißen Majorität hervor, das sich nicht mehr – wie vielleicht noch im Rahmen der deutschen Blackfacing-Debatte – auf die Befindlichkeit der Herabgesetzten reduzieren und in deren Abwesenheit ignorieren lässt.22 Nicht nur in diesem einen Theater hat sich insofern an diesem Abend etwas getan, es sind vielmehr die Institution des Theaters selbst und seine Kategorien in Bewegung geraten: Aus den Leibern der liberalen Subjekte, die sich als anthropologische Konstanz und in sozialer Akzidenz erleben ließen, sind auf einmal ›Körper von Gewicht‹ (Butler) geworden, die sich nicht restlos von den Positionen abstrahieren lassen, die ihnen zugewiesen sind. Der künstlerische Freiraum, der gerade aufgrund der Distanz zur Politik in der ästhetischen Erfahrung eine gleichberechtigte Gemeinschaft erleben ließ, erweist sich als durchwachsen von Distinktionen und als idealer Ort zur Verhandlung eben dieser Distinktionen. Ein vormals homogenes Kollektiv von Individuen schließlich, das Publikum, findet sich als Pluralität partikularer Positionen wieder. Damit wird aber auch der Blick des Analytikers zurückgeworfen auf die eigene (weiße) Positionalität, die entsprechend zum methodischen Problem wird. Das ästhetische Experiment, das nach dem Prinzip funktioniert: ›Sag’ mir, was du siehst und ich sag dir, wo du stehst‹,

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lässt die Betrachterin bereits in der Beschreibung der Szene aus dem Dunkel des Zuschauerraums hervortreten (sieht sie ein Schwarzes oder ein schwarzes Ensemble?) Was in Mittelreich mit dem Theater passiert, hat daher auch Konsequenzen für die Theaterwissenschaft, die es sich im Wesentlichen als Gegenüber der Kunst im Zuschauerraum eingerichtet hat und dem Treiben von dort aus mit hermeneutischem, analytischem oder theoretischem Instrumentarium weiteren Sinn oder höhere Bedeutung abzugewinnen versucht. Und das, obwohl gerade die zeitgenössische Aufführungsanalyse die Inventur der Zeichen immer schon mit der Reflexion der eigenen Wahrnehmung verbindet, die in Ermangelung eines gottgleichen Blicks vom Schnürboden herab ja zwangsläufig standort- oder meist eher sitzplatz-gebunden ausfällt: Es würde eben einen Unterschied machen, ob die Vorstellung aus der ersten oder der letzten Reihe, zum ersten oder zum x-ten Mal, von einem Profi oder Laien betrachtet würde, stellen beispielsweise Christel Weiler und Jens Roselt in der einschlägigen Einführung zur Methode fest.23 Unterschiedliche »Mitbringsel« – es ist von »Erwartungen«, »Wissen«, »Interessen«, »Verfassung« die Rede – seien dafür verantwortlich, dass »unterschiedliche Erfahrungen« gemacht würden, aus denen dann unterschiedliche Bedeutungszuweisungen hervorgingen, auch wenn alle »das Gleiche sehen und hören«.24 Doch seien diese »Mitbringsel« eben nur Mitbringsel, also im Grunde akzidentiell, und daher ginge es eben nicht um diese selbst, fügen die Autor:innen hinzu, sondern nur um das Bewusstsein von ihnen: s wäre ein Irrtum zu glauben, es ginge in der AufführungsanaE lyse um uns und unsere persönlichen Befindlichkeiten [...]. Es geht um das, was im Zusammentreffen dessen, was gezeigt, getan und zu Gehör gebracht wird, mit uns Zuschauern entstehen kann, also um ein relationales Ereignis.25 In der Reflexion und letztlich Abstraktion von den eigenen »Mitbringseln« gelte es intersubjektive Nachvollziehbarkeit herzustellen, in einem analytischen Vorgehen, das der phänomenologischen Reduktion verpflichtet bleibt. Der Unterschied zwischen dem, was man aus der ersten und der letzten Reihe sieht, ist damit aber letztlich nur heuristisch interessant (d. h. es macht nicht wirklich einen Unterschied), weil (oder solange) eben alle das Gleiche sehen.26 Gesetzt den Fall aber, dass nicht alle das Gleiche sehen, dass die Voraussetzung also falsch ist, weil es nicht nur (akzidentelle) »Mitbringsel« sind, die mit den Leibern ins Theater getragen werden,

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als vielmehr soziale Markierungen, die nicht nur mitbestimmen, wie Körper wahrgenommen werden, sondern auch wie diese selbst (sich und andere) wahrnehmen (vgl. Fanon wie DuBois), dann lässt das die Aufführungsanalyse recht blass aussehen – im doppelten Sinne weißlich und begrenzt leistungsfähig. Denn es stellt grundsätzlich in Frage, wie sich aus der partikularen und damit limitierten Perspektive der eigenen ästhetischen Erfahrung (der in diesem Fall ganz konkret weißen Perspektive), d. h. ohne zu berücksichtigen, was andere gesehen haben, überhaupt noch ohne theoretische Taschenspielertricks, d. h. ohne die eigene Position als universell anzunehmen, zu einer Beurteilung kommen lässt, die Gültigkeit beanspruchen kann. Müsste die Theaterwissenschaft statt zu beschreiben, was zu sehen war (Semiotik) oder was sie selbst gesehen hat (Phänomenologie), nicht besser fragen, was alle anderen gesehen haben, oder vielleicht, konsequenter noch, im Foyer warten, sich des eigenen Blicks gleich ganz enthalten, um auf Augenhöhe mit der Kunst zu kommen?27

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Experiment

Bereits einen Tag vor der Premiere ist im Deutschlandfunk zu hören, was dann ganz ähnlich in der obigen Analyse beschrieben wurde. Schon die Regisseurin formulierte dort die Hoffnung, dass es ein bisschen »oszilliere« in der Wahrnehmung: ass man einerseits auch einfach eine Geschichte sieht und D erzählt bekommt und andererseits, dass sich dadurch, dass diese Geschichte durch [S]chwarze Körper hindurchgeht, vielleicht noch mal größere, weitere, nie gekannte Assoziationsräume ergeben könnten beim Zuschauen.28 Hat die Analyse hier also (unbewusst) von der Regie abgeschrieben oder ergibt sich die Koinzidenz des Vokabulars aus den geteilten ästhetischen Prämissen? – In jedem Fall zeigt sich hier die Regie als diskursive Akteurin, die immer schon an der diskursiven Verhandlung der ästhetischen Erfahrungen beteiligt ist. Bereits am Tag vor der Premiere schlägt sie in einem Zeitungsinterview den Begriff der ›Schwarzkopie‹ quasi als Genre-Bezeichnung vor, der die Rezeption entschieden prägen wird.29 Mit der ›Kopie‹ wird dabei auf Verfahren der technischen Reproduktion verwiesen, das dem Maßstab der Originalität, der das Kunstfeld traditionell beherrscht

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(d. h. dem hic-et-nunc im Theater) zuwiderläuft und damit indirekt die Verbindung zu künstlerischen Arbeiten der Nachahmung und Aneignung, wie beispielsweise denen Sherrie Levines, hergestellt.30 Dass Verfahren der Reproduktion immer auch mit Fragen der Autorisierung verbunden sind, drückt sich wiederum in der Erweiterung des Begriffs zur ›Schwarzkopie‹ aus, die als Synonym der ›Raubkopie‹ alltagssprachlich einen Verstoß gegen das Urheberrecht impliziert und im Kontext der Inszenierung zugleich eine Verbindung zu einer sozialen Markierung herstellt. Schon in dieser semantischen Assoziation von sozialer Position und Illegitimität, die der Begriff zitiert, klingt das Thema der Arbeit an. Zugleich aber, und wichtiger noch, insofern es nämlich das künstlerische Verfahren selbst sein soll, der Akt der Kopie, das den Sinn der Inszenierung macht, gibt der Begriff dem Publikum einen konkreten Wahrnehmungsauftrag mit. Es gilt, nach dem Ausschau zu halten, was sich durch die Umbesetzung verändert hat, nach dem Unterschied, den diese macht oder besser gesagt, was diese überhaupt als einen Unterschied erscheinen lässt. Die abhängige Variable dieser ästhetischen Versuchsanordnung ist die Wahrnehmung, sie gilt es im Verhältnis zur unabhängigen Variablen der Umbesetzung zu beobachten, so dass jede Regieidee nur Störvariable wäre. Was sieht das Publikum und in welchen Begriffen beschreibt es das Gesehene? Es sind die Reaktionen, die im Verlaufe des ästhetischen Experiments protokolliert und analysiert werden müssten, um das zu messen, was man in Anlehnung an die Physik vielleicht das rassistische Potential (die Fallhöhe) der Gesellschaft nennen könnten.31 Die Herleitung dieser Versuchsanordnung findet sich ebenfalls bereits vor der Premiere, und zwar im Oktoberheft des Branchenmagazins Theater Heute.32 Quasi als Vorstudie stellt die Regisseurin hier die Ergebnisse einer teilnehmenden Beobachtung (meine Worte) vor, die sie noch als Regieassistentin (und damit in einer idealen Beobachtungsposition) durchgeführt hat.33 Es geht um die schauspielerische Darstellung von Affen auf Theaterproben, die sie in ethnographischem Duktus beschreibt: uf zahlreichen Proben reifte in mir die Erkenntnis, dass viele A Situationen auf und abseits der Bühne nur funktionierten, weil alle Beteiligten entweder weiß waren oder ein potentielles Publikum imaginierten, das weiß war.34

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Aus der etischen Perspektive der Assistentin wird hier beobachtet, was aus der emischen Position der Feldakteur:innen nicht auffällig wird, dass nur weiße Schauspieler:innen »das Privileg besitzen, auf der Bühne die Körperlichkeit eines Affen anzunehmen« und nur weiße Zuschauer:innen das Privileg haben, den Affen als »Metapher der Menschheitsgeschichte« zu verstehen, weil es ihnen möglich ist, die rassistische Diskursgeschichte der Figur schlicht zu ignorieren.35 Grundsätzlicher aber noch, kann die Performanz der Primaten nur unter Bedingung dieser privilegierten Ignoranz gelingen, da sie auf einen weißen Sozial­ raum angewiesen ist, aus dem Menschen mit Rassismuserfahrung zumindest herausgedacht sind, so ließe sich Reckes anschließende Analyse zusammenfassen. Die Karl-May-Festspiele, um auf das obige Beispiel zurückzukommen, sind nur deshalb überhaupt möglich, solange von den Überlebenden des Genozids an der indigenen Bevölkerung Amerikas in Bad Segeberg keine Spur zu sehen ist. Die echten Menschen stünden den falschen im Weg, der Freiheit der Kunst oder semiotisch gesprochen der »Mobilität der Zeichen« und deshalb sind sie dort nicht willkommen. Denn mit ihnen wäre das Spiel von Cowboy und ›Indianer‹ eben nicht mehr möglich. (»Durch den Akt der Umbesetzung allein wäre es automatisch um Völkermord im frühen Amerika oder um die Sklaverei gegangen.«)36 Daher kommt es vor, dass Personen, die der Fiktion im Weg stehen, ihr weichen müssen. Eine weiße Institution ist das Theater also nicht nur deshalb, so ließe sich Reckes Ausgangsthese zuspitzen, weil es die Diversität der Gesellschaft sowohl auf als auch hinter der Bühne nur unzureichend abbildet, sondern weil die in ihm herrschenden Spielregeln eine symbolische Ungleichheit mit sich bringen, die Ersterem die Zufälligkeit nehmen. Diese These aber leitet sie, wie gezeigt, aus eigenen Beobachtungen her, die der Aufsatz zugleich jedoch, allein schon begrifflich, mit den Diskussionen antirassistischer Praxis und dekolonialen Diskursen verknüpft – es wird eine Verbindung der künstlerischen Arbeit mit sozio-politischen Zusammenhängen hergestellt, die durch das Rahmenprogramm, in welches die Inszenierung eingebettet ist, nochmals verstärkt wird.37 Als ästhetisches Experiment steht Mittel­ reich nicht allein und für sich, sondern schließt an Diskurse an, die vielleicht als Kontexte nur unzureichend beschrieben wären, und in Analogie zur wissenschaftlichen Praxis besser als Forschungsstände und Vorarbeiten aufzufassen sind. Das Experiment selbst gestaltet sich dann (wie oben beschrieben) als ein ästhetisches Krisenexperiment, das ähnlich wie das sozialwissenschaftliche Pendant der Ethnomethodologie durch die bewusste

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­ issachtung von (unausgesprochenen) Konventionen eine Störung der M sozialen Ordnung provoziert, um dann die Bemühungen um Wiederherstellung und Aufrechterhaltung dieser Ordnung beobachten zu können.38 Eben dies zeigt sich am deutlichsten im Medienhandeln der Kritik. Denn die Rezensionen, die unmittelbar auf die Premiere folgen, verweigern sich im Grunde ausnahmslos der ästhetischen Wahrnehmung und zielen stattdessen auf eine prinzipielle Disqualifizierung der Arbeit, die sich an einer Figur des Ungenügens der Schauspielkörper abarbeitet. In der FAZ sieht Teresa Grenzmann ein »gescheitertes Bühnenexperiment« und eine »vollkommen überflüssige Disziplin [...]: die Schauspielkunst der minutiösen Imitation«, die sich schon deshalb erübrigt habe, weil Theater nicht wiederholbar sei und das Anliegen, Rassismus und »fehlende Integration«, in den Hintergrund treten ließe.39 Auf nachtkritik.de stellt Sabine Leucht fest, die Inszenierung wolle »Geste« sein und erinnert an die schon bestehende Diversität der Ensembles von Ballett und Oper, um der Regisseurin schließlich die Verinnerlichung eines »weißen Blicks« vorzuwerfen.40 Bernd Noack in der NZZ beginnt seine Rezension mit der Erklärung, dass sich die »hellhäutige« Majorität an deutschen Theatern »naturgemäß« aus der geografischen Lage des Landes ergebe und sich durch Einwanderung ganz automatisch ändern werde. Hier aber sieht er eine gewollte Steigerung der Diversität durch eine »gedanklich überanstrengte Spielerei […] deren kulturpolitischer Anspruch und Protest als aufgepropfte engagierte Behauptung erscheint.«41 Noch aggressiver ist Alexander Altmanns Zurückweisung im Münchner Merkur.42 Nicht ­ »›richtig‹ schwarz« sei das Ensemble, heißt es dort, die »shoppenden Araber« auf der M ­ aximilianstraße wären dunkelhäutiger, und das, obwohl die Regisseurin »schwarze DarstellerInnen« versprochen hätte: Doch »wahrscheinlich waren keine Kongolesen verfügbar«. Entsprechend diskutiert er bei den einzelnen Darsteller:innen, ob sie noch als Südeuropäer »durchgingen« oder vielleicht »weiße Elternteile« hätten, und mutmaßt, die »Verfremdung«43 hätte mit Menschen »wirklich schwarzafrikanischer Herkunft [...] oder mit Chinesen« für einen »grelleren Effekt« gesorgt.44 Eva-Elisabeth Fischers Rezension schließlich titelt in der Süddeutschen Zeitung »Schwarz allein reicht nicht«45, erhofft sich »eine belebende Blutzufuhr« durch »dunkelhäutige« Darsteller und erklärt vorweg: Erstens habe sich das Thema Rassismus ja schon vor 60 Jahren mit dem Slogan »Black is beautiful« erledigt, zweitens sei das Thema »Hautfarbe« »für das Bühnengeschehen« »irrelevant«, denn die dargestellte Geschichte sei »wohl überall vorstellbar«.

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Drittens schließlich erübrige sich ohnehin »jede weitere Diskussion« aufgrund der »mangelnden Qualität« der Darsteller:innen, an der die Aufführung »kranke«. Ähnlich wie bei den anderen Rezensionen ist es nur ein einziger Satz der 376 Wörtern langen Rezension, der sich überhaupt auf das bezieht, was auf der Bühne passiert: »So schwarz sind sie dann ja auch wieder nicht, diese neuen sechs Körper und Gesichter.« Abschließend wird dann auch hier wieder der Rassismus der Regisseurin unterstellt: »Auf der ganzen Linie schlechtes Laientheater zu inszenieren, das nun aber ist wirklich diskriminierend.« 46 Auffällig (aber nicht überraschend) ist die affektive Vehemenz der Rezensionen.47 Es zeigt sich eine latente bis manifeste Wut, die eng verbunden scheint mit dem Unwillen, sich auf die Ästhetik einzulassen wie auch der kategorialen Disqualifikation der Arbeit: Dabei wird sowohl der Status negiert (›das ist doch keine Kunst‹) als auch das Thema (›das hat doch mit Rassismus nichts zu tun‹), darüber hinaus aber auch, und das ist auffällig, die Hautfarbe der Darsteller:innen (›die sind doch gar nicht richtig schwarz‹). Und dies ist zentral für die Rhetorik der Disqualifikation: Zuerst wird aus Schwarz schwarz gemacht, die selbstbewusste Adressierung des sozialpolitischen Konstrukts mit der phänotypischen Fremdzuschreibung überlagert, um sich so einer Definitionsmacht zu versichern, die dann im nächsten Schritt genutzt wird, um den Rassismus und mit ihm gleich auch noch die Kunst verschwinden zu lassen. Gerade die detaillierte Diskussion des Teints scheint dabei die Hoffnung zu beinhalten, auf diese Weise das Problem und damit auch gleich die Kunst verschwinden lassen zu können. ›I don’t see anything but color‹ tritt an die Stelle des sonst üblichen ›I don’t see color‹, vollführt aber die gleiche rhetorische Volte: Das Problem ist deins und ein Problem macht noch keine Kunst. Die rhetorische Strategie ist nicht sonderlich originell und auch diese Analyse findet nur wieder, was in emanzipativen Diskursen immer wieder herausgestellt wurde.48 Die Rezensionen, so ließe sich folgern, zielen gerade darauf, jene Verbindungen, die Mittelreich herstellt – zwischen den anwesenden und den abwesenden Körpern, den Rollen und den Menschen, der Bühne und dem Saal, der sozialen Ordnung und der symbolischen Praxis, der Theatertradition und dem Kunstdiskurs – zu verhindern, und zwar dadurch, dass einerseits jener Ort an dem sich diese Verbindungen herstellen, nämlich die ästhetische Erfahrung, tunlichst vermieden wird und dass andererseits jene, die diese Verbindungen herstellen, als ungenügend erklärt werden. Das Experiment, um auf den Vergleich mit der Wissenschaft zurückzukommen, ist aus Sicht

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der Kolleg:innen der Kritik nicht valide. Es zeigt sich nichts, es kann sich nichts zeigen, weil die Voraussetzungen nicht stimmen, weil nicht sauber gearbeitet wurde. Wie also kommt es, dass Mittelreich sich dennoch durchsetzt, in der Artikulation erfolgreich ist? Schließlich, das wäre zu betonen, stand am Tag nach der Premiere noch lange nicht fest, was Mittelreich gewesen sein würde, jene gefeierte Inszenierung der Nachwuchsregisseurin am Theater des Jahres oder die bemühte Kunstübung einer Assistentin der unglücklichen Münchener Intendanz Lilienthals. Die Festivaleinladungen stehen noch aus und selbst die Wiederaufnahme ist noch keine beschlossene Sache.49 Bedeutung und Wertung sind noch in der Schwebe, werden noch verhandelt, die Geschichtswürdigkeit, ja selbst die Kunsthaftigkeit sind noch nicht erwiesen. Erst die Einladung als eine der »herausragendsten« zum Theatertreffen verleiht dem Status der Inszenierung und damit der Regisseurin eine gewisse Stabilität. Weshalb also scheitern die Rezensionen? Einfach gesagt, weil es ihnen nicht gelingt, die Verbindungen, die Mittelreich knüpft, zu kappen. Diese erweisen sich als stärker als gedacht, und zwar deshalb, weil sie eben durch vielfältige Verknüpfungen in die Gesellschaft gestärkt und auf das Feuilleton nicht mehr angewiesen sind, um bestätigt zu werden. Die Gemeinschaft derer, die an diesem Experiment beteiligt sind, ist größer, und das liegt auch, aber beileibe nicht nur, an den sozialen Medien. So wird es möglich, von einem anderen Standpunkt aus, das Urteil des Theatergerichts nicht nur zu relativieren, sondern auch in seinem latenten bis manifes­ ­ten Rassismus kenntlich zu machen und damit wiederum als Qualität der Arbeit auszuweisen: Der Versuch, die Verbindungen zu kappen, schlägt ins Gegenteil um, weil er der Inszenierung neue Verknüpfungen hinzufügt, welche die Artikulation entschieden stärken. Doch auch dies vollzieht sich nicht von allein und bedarf diskursiver Arbeit, die zuerst in den sozialen Medien stattfindet und dann im Spiegel kulminiert, einer Illustrierten mit überregionaler Öffentlichkeit, in die es das Theater sonst nur im Fall des Skandals schafft. Hier findet sich am 23. Oktober, zeitnah zu den Rezensionen, eine Kritik der Kritiken von Matthias Dell, der bereits die Interviews mit der Regisseurin im Vorfeld der Premiere geführt hat. »Das Schlechteste an Mittelreich«, stellt Dell fest, seien eben diese Kritiken, die scheinbar weder verstehen wollten noch könnten, weil ihnen nicht nur das Verständnis der Inhalte, als vielmehr auch der ästhetischen Verfahren fehle. Auch Dell beschreibt wie später Andrea Geier und viele andere, die Arbeit als ein Projekt der Sichtbarmachung, die Rassismus und

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Whiteness adressiere und erklärt jene »schlechten« Kritiken kurzum zum Teil der Arbeit.50 ie [die Inszenierung, U. O.] müsste vielmehr als Gesamtdiskurs S betrachtet werden (›soziale Plastik‹, Joseph Beuys und so) – also inklusive der Kritiken und Publikumsgespräche, des Symposions, das nach der zweiten Aufführung veranstaltet wurde, den Szenen im Publikum, wo plötzlich Besucher of Colour sitzen und die weißen Stammgäste ihre leichte Unsicherheit in ›Superhöflichkeit‹ (Recke) übersetzen.51 Auf einer medialen Ebene höher (auflagenstärker, überregionaler und herausgehobener) wird hier die feuilletonistische Exkommunikation durch deren Deklassierung suspendiert – und zwar wiederum durch das Knüpfen neuer Verbindungen. 52 Neben derjenigen zum antirassistischen Diskurs ist das auch jene zur Kunstkritik, die es erlaubt, das Urteil der Theaterkritik mit dem Verweis auf fehlende Kompetenz und damit indirekt auch Zuständigkeit zu relativieren. Auf diese Weise der Definitionsmacht entledigt, lässt sich die Theaterkritik dann im zweiten Schritt der Inszenierung als Bestandteil ein- und damit unterordnen. Aus der Diagnose ist ein Symptom geworden, die Macht der Funktionäre ist geschwächt und die Inszenierung hat durch die Verbindung zur bildenden Kunst weiter an Wirklichkeit gewonnen, die auch auf die Regisseurin (die sich zur bildenden Kunst hin orientiert) und das Theater selbst (das sich mit ihr zur bildenden Kunst hin öffnet) abstrahlt. Was schließlich den Erfolg von Mittelreich ausmacht (und mit Erfolg ist hier weniger der Applaus als vielmehr die erfolgreiche Artikulation gemeint), ist nicht allein die Aufmerksamkeit, die der Inszenierung zuteil wird, noch spielt sich dieser allein in der Öffentlichkeit ab – als entscheidend dafür erweist sich vielmehr, dass es der Arbeit gelingt, erstens, eine Versuchsordnung aufzubauen, in der sich etwas wie von alleine zeigt, weil es ihr gelingt, eine Vielzahl von Aktant:innen zu inspirieren, von sich aus tätig zu werden, zweitens, eine Geschichte zu erzählen, die das zu verknüpfen und einzuordnen vermag, und, drittens, eine Gemeinschaft zu bilden, die diese Geschichte bestätigen kann. Es braucht also keine Expert:innen, um den Wert der Inszenierung und das Talent der Regie zu erkennen, und doch, oder gerade deshalb, setzen sich beide durch.

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Schluss

»Wieso wird ein Akteur durch Versuche definiert?«, fragt Latour in Hinblick auf die Rolle der Hefe bei der Milchgärung (gedanklich bitte mit Rassismus im Theater überlagern): eil es keinen anderen Weg gibt, einen Akteur zu definieren, als W durch seine Aktion, und keinen anderen Weg, eine Aktion zu bestimmen, als sich zu fragen, wie die jeweils interessierende Figur andere Akteure verändert, transformiert, stört oder hervorbringt.53 Ein Experiment setzt sich nach Latour daher aus drei miteinander verbundenen Versuchen zusammen: Der erste Versuch findet im Labor als »experimentelle[] Szenographie«54 statt und besteht aus dem »Entwerfen verzwickter Plots und ausgeklügelter Inszenierungen, durch die ein Aktant zur Mitwirkung in neuen und unerwarteten Situationen gebracht wird, die ihn in Aktion definieren werden.«55 Daran schließt ein zweiter Versuch an, der aus einer Geschichte besteht, die Pasteur seinen Kollegen von diesem ersten Versuch erzählt: as Experiment erzeugt zwei Ebenen: auf der einen ist der D Erzähler aktiv, und auf der zweiten wird die Aktion an eine andere Figur, und zwar eine nicht-menschliche delegiert. […] Pasteur schafft eine Bühne, auf der er nichts mehr zu schaffen hat.56 Schließlich besteht der dritte Versuch darin, die Kolleg:innen davon zu überzeugen, dass es in der Tat die Hefe war, die hier aus eigenen Stücken gehandelt hat, und Pasteur ihr nicht nur »souffliert« hat, dass also »seine Geschichte nicht bloß eine Geschichte ist, sondern sich unabhängig von seinen Wünschen und seiner Phantasie ereignet hat.«57 Nur wenn alle drei Versuche zusammenkommen, ist das Experiment erfolgreich. Selbstverständlich ist ein Experiment eine Geschichte, eine Erzählung und als solche erforschbar, doch als eine Geschichte, die an eine Situation gebunden ist, in der neue Aktanten furchtbaren Prüfungen unterzogen werden, die ein geschickter Bühneninspizient ersonnen hat. Woraufhin der Inspizient dann seinerseits wiederum schrecklichen Prüfungen seitens seiner Kollegen unterzogen wird, wenn sie testen, wie es um die

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Bindungen zwischen der (ersten) Geschichte und der (zweiten) Situation bestellt ist. Ein Experiment ist ein Text über eine nichttextuelle Situation, der später von anderen getestet wird, um zu entscheiden, ob es bloß ein Text war oder mehr ist.58 Gewöhnungsbedürftig an dem Modell der Wissenschaftsforschung ist der Gedanke, dass auch Naturwissenschaft niemals nur repräsentiert, sondern auch immer schon interveniert, d. h. Wirklichkeit verändert, sie reicher macht, indem sie Verbindungen herstellt und damit Aktanten artikuliert, die es vorher so noch nicht gab, wie es Latour in Bezug auf die Hefe ausführt. nstatt stumm, unbekannt, unbestimmt zu sein, wird es [das A Ferment, d. h. die Hefe, U. O.] zu etwas, das aus sehr viel mehr Einzelheiten, sehr viel mehr Artikeln besteht – einschließlich der bei der Akademie vorgelegten wissenschaftlichen Artikel! –, aus sehr viel mehr Reaktionen aus sehr viel mehr Situationen. Es gibt jetzt ganz einfach mehr und mehr Dinge über es zu sagen, und was von mehr und mehr Leuten gesagt wird, gewinnt an Glaubwürdigkeit. Das Feld der Biochemie wird, in jeder Bedeutung des Wortes, artikulierter – und so auch die Biochemiker. [...] Je mehr Pasteur arbeitet, desto unabhängiger wird das Milchsäureferment, denn es ist jetzt um so vieles artikulierter; und das verdankt es der künstlichen Laborumgebung, einer Proposition, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem Ferment aufweist. Das Milchsäureferment existiert jetzt als diskrete Entität, weil es zwischen so vielen anderen Entitäten in so vielen aktiven und artifiziellen Umgebungen artikuliert ist.59 Natürlich gibt es die Auswirkungen des Rassismus im Theater schon vorher, so wie ja auch die Milch vor Pasteur schon gärt – aber die Artikulation der Hefe in Pasteurs Labor bringt einen Aktanten hervor, den es so vorher noch nicht gab, und verändert damit die Welt: Es gibt nun etwas, das verantwortlich ist, das adressiert, kultiviert und inhibiert werden kann, und nicht mehr nur eine Chemie, die einfach automatisch abläuft: und ähnlich verhält es sich in der Artikulation des Theaters als weiß – auch das ist etwas, das (im Unterschied zur Benennung) Handlungsräume verändert. Gutes Theater ist (heute noch) epistemisch von Interesse, ließe sich abschließend verallgemeinern, und zwar im Sinne einer ­Epistemologie, die die Fabrikation der Fakten in Rechnung stellt: Bei

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Latour dient die Bühnenmetapher dazu, eine Praxis zu illustrieren, die künstliche Aktionsräume schafft, damit sich Dinge in ihrem Tun zeigen können, und hat ihre Grenzen, insofern die Dinge des Theaters, im Gegensatz zu denen der Wissenschaften, als bloßer Schein gelten. Kehrt man das Bild aber um, beschreibt die Bühne als Labor, das Theater als Verfahren der Erkenntnis, dann legt dies nahe, dass nicht nur die Dinge konstruiert, als vielmehr auch die ästhetischen Erscheinungen sehr viel realer sind als üblicherweise angenommen. Theater/ Kunst stellt Welt genauso wenig einfach nur dar, wie es die Wissenschaft tut, greift ähnlich in sie ein, zumindest im (zugegeben seltenen) Erfolgsfall, und sorgt damit dafür, dass sie reicher wird, und zwar nicht an Scheinbildern, sondern an realen, d. h. wirksamen Entitäten. Nicht weil es die Wahrnehmung der Anwesenden zu irritieren vermag, aber auch nicht, weil bisweilen kontrovers darüber diskutiert wird, wäre Theater also (noch) von Interesse, sondern weil es Erkenntnissen zur Wirklichkeit zu helfen vermag. Nicht in der Performativität liegt das Potential von Theater, als vielmehr in seiner Fähigkeit zur Artikulation.

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1 Recke im Gespräch mit Dell, Matthias: »Das wurde nie gemacht«, in: Der Freitag, Nr. 41 (12. Oktober 2017), S. 14. 2 Vgl. Eggers, Maureen Maisha: Mythen, Masken und Subjekte: kritische Weißseins­ forschung in Deutschland, Münster 2005. 3 Vgl. Azadeh Sharifis Beitrag in diesem Band für eine Einordnung der Arbeit in die Traditionen antirassistischen Theaterarbeit, – dort auch eine stärkere Einordnung in postkoloniale Diskurse, die hier nur angerissen wird. 4 Vgl. beispielhaft für eine solche Einordnung Malzacher, Florian: Gesellschafts­ spiele: Politisches Theater heute, Berlin 2020. Malzacher versteht Mittelreich als institutional critique, stellt es in die Tradition feministischer Appropriation Art in den USA (Elaine Sturtevant und Sherrie Levine) und bringt die Arbeit damit auf den Begriff der »Aneignung«. Die Aneignung »weißer Figuren [...] durch schwarze AkteurInnen« versteht er als Hinweis auf die Unterrepräsentation und »sehr klare Forderung nach mehr Sichtbarkeit nichtweißer Menschen«, die weiße über ihr Weißsein nachdenken lässt und nichtweißen Menschen sonst fehlende »Identifikationsmöglichkeiten« biete (S. 20). Entsprechend ordnet er die Arbeit in einen Zusammenhang mit der Blackfacing-Debatte, der post-migrantischen Ästhetik des Maxim Gorki Theaters und Künstler*innen of Colour wie Simone Dede Ayivi, aber auch Arbeiten von Julian Warner, dem Ensemble um Gintersdorfer/Klaßen oder der Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte von andcompany&Co ein – und stellt diesen schließlich in die Tradition der Repräsentationskritik des postdramatischen Theaters. Beide diskursiven Operationen scheinen mir nur begrenzt sinnvoll: wichtiger erschiene mir, einerseits gerade die künstlerische Eigenständigkeit der einzelnen Arbeiten in den Blick zu nehmen und andererseits den Bruch zur postdramatischen Tradition zu betonen. 5 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: »Aufführung«, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, 2. Auflage, Stuttgart/Weimar 2014, S. 15 – 26. 6 Vgl. Couldry, Nick/Hepp, Andreas/Krotz, Friedrich: Media events in a global age, London/New York 2010. 7 Vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 2010; Hölscher, Lucian: Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003. 8 Vgl. u.a. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahr­ nehmungslehre, München 2001. 9 Vgl. u. a. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, 2. Aufl., Berlin 2008. 10 Vgl. Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics: Artistic Activism and the Public Sphere, Berlin 2019. 11 Das Stichwort im Theater heißt in diesem Zusammenhang meist »Verfremdung« und so ließe sich in diesem Zusammenhang vielleicht auch von entkernten Brecht sprechen, insofern im postdramatischen Theater, das Mittel, des materialistischen Projekts beraubt zum Zweck eines nun mehr nur noch ›avancierten‹ statt ›avantgardistischen‹ Theaters wird. 12 Geier, Andrea: »Blackfacing revisited. Warum und wie das Theater mit der rassistischen Darstellungstradition des Blackfacing arbeiten könnte«, nacht­ kritik.de, 1. August 2018. 13 Ebd. 14 Was für ein ungeheures Privileg in einem solchen Kunstbegriff encodiert ist, erfährt schnell, wer abseits der europäischen und europäisierten Metropolen mit Kunstschaffenden über ihre Arbeit ins Gespräch kommt. 15 Eine verwandte Fragestellung, nämlich danach, welchen Unterschied das Theater jenseits seiner zunehmend intimen Interaktionen noch spielt, hat Christopher Balme prominent und wegweisend unter dem Begriff der Öffentlichkeit diskutiert. Die hier formulierte Perspektive schließt insofern daran an, als sie das, was Balme entgegen vorherrschenden Prämissen verteidigen musste, dass Theater sich wesentlich jenseits der Aufführung abspielt, hier schon als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Gleichzeitig unterscheidet sich das hier vorgeschlagene Modell, indem es dezidiert danach fragt, wie das ästhetische Geschehen vor Ort mit der öffentlichen Diskursivierung

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verbunden ist. Die Frage ist insofern weniger, wie und weshalb Theateraufführungen zum Anlass gesellschaftlicher Kommunikation werden, als vielmehr, wie es künstlerische Strategien schaffen können, über ihre mediale Diskursivierung mehr als nur Aufmerksamkeit zu generieren. Vgl. Balme, Christopher B.: The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014. 16 Der Begriff der Artikulation hat eine andere prominente Funktion in den Cultural Studies (Stuart Hall) und dem Postmarxismus von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe: Artikulation spricht nicht aus, was ist, sondern stellt Äquivalenzen durch die Verbindung von Unverbundenem erst her und spielt sich im entsprechend im Feld des Diskurses ab – eine weitere Ausarbeitung des Begriffes in Diskussionen der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Begriffsverwendung in Cultural und Science Studies ist wünschenswert, kann hier aber nicht geleistet werden. 17 Vgl. Latour, Bruno: »Von der Fabrikation zur Realität. Pasteur und sein Milchsäureferment«, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklich­ keit der Wissenschaft, 5. Aufl., Frankfurt am Main 2015. S. 137 – 174. 18 Ebd., S. 141. 19 Vgl. auch Otto, Ulf: »Unentschiedenheiten. Wie sich künstlerische Setzungen als ästhetische Artikulationsprozesse beschreiben lassen«, in: Elberfeld, Rolf/ Krankenhagen, Stefan (Hrsg.): Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung, Paderborn 2017. S. 43 – 60. Einen andersgelagerten Vorschlag für den Einsatz der ANT in der Aufführungsanalyse hat Wolf-Dieter Ernst gemacht. Vgl. Ernst, Wolf-Dieter: »Akteur-Netzwerk Theorie und Aufführungsanalyse«, in: Balme, Christopher/Szymanski-Düll, Berenika (Hrsg.): Methoden der Theaterwissenschaft. Tübingen 2020, S. 153 – 168. 20 Dell: »Das wurde nie gemacht«, S. 14. 21 Vgl. El-Tayeb, Fatima: Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigranti­ schen Gesellschaft, Bielefeld 2016. 22 Vgl. z. B. Dodua Otoo, Sharon. »(Ab)using Fadoul and Elisio: Unmasking Representations of Whiteness in German Theatre«, in: Textures – Online Platform for Interweaving Performance Cultures, Berlin 27. Mai 2014. Und Voss, Hannah: »Reflexion von ethnischer Identität(szuweisung) im deutschsprachigen Gegenwartstheater«, in: Marx, Peter/Röttger, Kati/Kreuder, Friedemann (Hrsg.): Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft, Bd. 26, Marburg 2014. 23 Vgl. Roselt, Jens/Weiler, Christel: Aufführungsanalyse. Eine Einführung, Tübingen 2017. 24 Ebd., S. 15f. 25 Ebd., S. 16, Kursivsetzung i. O. fett. 26 Vgl. auch Gernot Böhme, der in Bezug auf die Quasi-Objektivität von Atmosphären über die Voraussetzung der intersubjektiven Verständigung nachdenkt: »Ein Publikum, das ein Bühnenbild in ungefähr gleicher Weise erfahren soll, muß eine gewisse Homogenität haben, nämlich kulturell in bestimmte Wahrnehmungsweisen einsozialisiert sein.« (S. 104). Böhme, Gernot: »Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphären«, in: ebd. Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. 7. erw. u. bearb. Aufl., Berlin 2013, S. 101 – 111. 27 In eine ähnliche Richtung geht das Feld der Audience Research, vgl. Sedgman, Kirsty: Locating the Audience. How people found value in national theatre Wales, Bristol 2016. 28 Im Transkript des Senders klein geschrieben, wird in Anpassung an die Schreibweise der Autorin an andere Stelle hier »Schwarz« großgeschrieben. Recke im Gespräch mit Ufer, Gesa: »Münchner Kammerspiele. Josef Bierbichlers ›Mittelreich‹ als ›Schwarzkopie‹«, Kompressor. Deutschlandfunk Kultur (11. Oktober 2017). 29 Dell: »Das wurde nie gemacht«, S. 14. 30 Vgl. ebd. und Ufer: »Münchner Kammerspiele. Josef Bierbichlers ›Mittelreich‹ als ›Schwarzkopie‹«. 31 Vgl. »Potential (Physik)«, Wikipedia (letzte Bearb.: 17. Januar 2021): »Das Potential oder auch Potenzial (lat. potentia, ›Macht, Kraft, Leistung‹) ist in der Physik die Fähigkeit eines konservativen Kraftfeldes, eine Arbeit zu verrichten. Es beschreibt die Wirkung eines konservativen Feldes auf Massen oder Ladungen

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unabhängig von deren Größe und Vorzeichen. Damit wird eine Rückwirkung des Probekörpers zunächst ausgeschlossen, kann aber auch gesondert berücksichtigt werden.« 32 Recke: »Oh baby, it’s a white world«, in: Theater Heute (Oktober 2017), S. 49 – 51. 33 Ebd. S. 49f.: »Von 2015 bis 2017 arbeitete ich als Regie-Assistent*in an den Münchener Kammerspielen«, beginnt der Text und führt aus: »Mir wurde in der x-maligen Betrachtung dieser Szenen klar […]«– auch die Zeit und Muße, die Drögheit der Assistenztätigkeit, mithin die Positionalität der Beobachtung garantieren die Autorität der Regie und keine genialische Inspiration wie sie noch das Regietheater in der Selbstdarstellung meist auszeichnet. »Die Regieassistentin ist die Person, die alles mitkriegt, weil sie immer da ist. In dieser Zeit war irgendwann die Abwesenheit von allem, was da abwesend ist, sehr präsent für mich.«, heißt es im Interview mit Der Freitag (Dell: »Das wurde nie gemacht«, S. 14). 34 Recke: »Oh baby«, S. 49. 35 Ebd., S. 50. 36 Ebd. 37 Der zweiten Vorstellung am 21. Oktober 2017 war ein Einführungsvortrag von Dr. Joy Kristin Kalu, Kuratorin in den Sophiensaelen, vorangestellt, die dritte Vorstellung am 22. wurde von einem Symposium mit zwei Panels zu »Schwarzem Leben in Deutschland« mit Jovita Dos Santos, Shaheen Wacker, Hamado Dipama und René Aguigah und »Appropriate Representation« (im DLF am 11. Oktober als »Abweichende Wiederholung« angekündigt) mit Recke, Hanna Voss, Maria Muhle und Matthias Lilienthal, sowie einem Campus mit u. a. Julian Warner und Olivia Wenzel. 38 Vgl. u. a. Garfinkel, Harold: »Studien zu den Routinegrundlagen von Alltagstätigkeiten«, in: Studien zur Ethnomethodologie, aus dem Engl. von Brigitte Luchesi, Frankfurt/New York 2020. S. 77 – 126. Und Goffman, Erving: Interaktion im öffentlichen Raum. Aus dem Engl. von Hanne Herkommer, überarb. v. Hubert Knoblauch, Frankfurt a. M. 1985. 39 Grenzmann, Teresa: »Kurioser Theaterabend. Plagiatskunst«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, faz.net (14. Oktober 2017). 40 Leucht, Sabine: »Der einzige Unterschied. Mittelreich – An den Münchner Kammerspielen kopiert Anta Helena Recke Anna-Sophie Mahlers Inszenierung von Josef Bierbichlers Roman mit rein schwarzer Besetzung«, nachtkritik.de (12. Oktober 2017). 41 Noack, Bernd: »Aus Weiss mach Schwarz«, in: Neue Zürcher Zeitung, nzz.ch (14./15. Oktober 2017). 42 Altmann, Alexander: »Volksstück ohne Bratkartoffeln«, in: Münchner Merkur (14./15. Oktober 2017). 43 Der Begriff der »Verfremdung«, Vgl. Brecht, taucht auch im Programmheft auf, wird funktionalisiert und den Darstellenden wird die Eigenschaft »fremd« unterstellt. Sie werden verfremdet im Sinne von »zu Fremden gemacht«. 44 Altmann: »Volksstück ohne Bratkartoffeln«. 45 Fischer, Eva-Elisabeth: »Schwarz allein reicht nicht. Anta Helena Reckes ›Mittelreich‹ an den Münchner Kammerspielen«, in: Süddeutsche Zeitung, sueddeutsche. de (13. Oktober 2017). 46 Ebd. 47 Vgl. Ahmed, Sara: On Being Included: Racism and Diversity in Institutional Life, London 2012 und Living a Feminist Life. Durham 2017: »When you expose a problem you pose a problem« (S. 37). 48 Auch Recke selbst antizipiert diese Reaktion in den Interviews der Vorberichterstattung und analysiert deren Logik in dem o. g. Aufsatz in Theater Heute: »Wenn [ein, U.O.] weißer heterosexuelle[r] Mann sagen würde, etwas ist ein Problem, dann wäre es wirklich ein Problem. Und wenn ich sage, etwas ist ein Problem, dann ist es nur mein Problem.«, Recke, »Oh baby«, S. 51. 49 Die anfängliche Programmierung auf nur drei Vorstellungen in unmittelbarer zeitlicher Nähe – begründet von der Intendanz mit der Vielzahl der Gäste – verstärkt diesen Eindruck: Mittelreich ist Experiment, das sich nicht ohne weiteres ins Repertoire einfügen lässt und dessen Status erst verhandelt werden muss.

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Die Kunst der Umbesetzung 50 Dell: »Finde den Unterschied. Bierbichler-Stück nur mit Schwarzen«, in: Der Spiegel, spiegel.de (23. Oktober 2017). 51 Ebd. 52 Interessant ist, dass der bei Dell aufscheinende neue Inszenierungsbegriff auch mit einer neuen Idee von Regie verbunden ist: »Wie die ganze Arbeit von Recke nicht zu denken und zu verstehen ist ohne die sozio-kommunikative Energie, die sich mit ihr verbindet, die von ihr ausgeht, die auf sie zurückwirkt.« Dell: »…« Programmzeitschrift Radikal Jung 2018, S. 7. 53 Latour: Hoffnung der Pandora, S. 147f. 54 Ebd. S. 158. 55 Ebd. S. 148. 56 Ebd. S. 156f. 57 Ebd. S. 149. 58 Ebd. S. 149f. 59 Ebd. S. 174ff.

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Marita Tatari On the change of change Handlung und Bühne unter gegenwärtigen ­Bedingungen Die Weise, wie sich der Anspruch auf politische Intervention im Rahmen des Theaters und überhaupt der Gegenwartskünste heute ausdrückt, zeugt von einer Verwandlung der kulturellen und gesellschaftlichen Grundlage, die die Künste noch bis Ende des 20. Jahrhunderts formte und denkbar machte. Es kann in gewissem Sinn behauptet werden, dass die »Kunst«, diese Erfindung der Neuzeit, immer Intervention gewesen ist: Der Kunstbegriff stand für ein Gemeinsames ein, das keine Gegebenheit ist, sondern über das Gegebene hinausgeht, und zwar im Akt singulärer Werke. Bezeichnenderweise denkt Hegel die »Idee« der Kunst als »Handlung« und diese wiederum als die jeweils singuläre Form eines Kunstwerks.1 Form ist hier nicht als Gegensatz zu Inhalt gemeint, sondern als das singuläre Zusammenspiel aller beteiligten Elemente. Über Hegel hinaus – und trotz aller Kritik an der klassischen Ästhetik – ließ sich das Einstehen der Kunst für ein nie gegebenes Gemeinsames und damit für die Negation des Gegebenen noch bis Ende des 20. Jahrhunderts jeweils als neue Form verstehen. Die Kraft, mit der eine Kunstpraxis ins Reale aufbrechen konnte, die Kraft, mit der sie im öffentlichen Raum ein Ereignis in der Gegenwart über das Gegebene hinaus sein konnte, ließ sich auf der Grundlage der Form, genauer: auf der Grundlage der Überwindung, des Sprengens, des Unterlaufens älterer Formen verstehen. Dieser Diskurs hat die deutschsprachige Theaterwissenschaft mit ihren Theorien des Postdramatischen und des Performativen geprägt. Dieser Diskurs erfasst aber längst nicht mehr die Gegenwartssituation. Bis Ende des 20. Jahrhunderts, in Deutschland grob nach Heiner Müller, fand – mehr denn eine zeitgemäße Weiterentwicklung der Theaterformen – eher ein der Zeit entsprechendes Spiel mit den Konventionen und Grundbedingungen der bürgerlichen Theatertradition statt, die die Grenzen des Theaters in die eine oder andere Richtung durchlässig machte oder sogar auflöste. Die Rezeption dieser hybriden Performance-Formen, die umfangreiche Literatur dazu, überhaupt die Weise, wie die Theaterwissenschaft sich von der Literaturwissenschaft noch einmal abgrenzte und in einem noch größeren Ausmaß als unabhängige Wissenschaft etablierte – die Theorien, die epistemologisch

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ihre Werkzeuge bestimmen, dokumentieren, analysieren –, zeugen von der Wirkung dieser Entwicklung der Theaterformen als solche, die ins gesellschaftliche Miteinander eingreifen. In vielfältigem Gespräch mit der Theatertradition – auf der Ebene des dramatischen Stoffs, der Institutionen oder der Medien dieser Tradition – entstand so das Gefühl, dass sich die Teilnehmenden oder Zuschauer:innen eben durch Destabilisierung, Überwindung, Verfremdung, Sprengung oder schlicht Intensivierung der ihnen zugeschriebenen Rollen, der Realität ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit nunmehr anders aussetzten und sie anders erfuhren. Inwiefern diese Intensivierungen oder Destabilisierungen der gewohnten theatralen Verhältnisse als Aufbruch ins Reale und damit als politische, oder für manche als archi-politische Interventionen empfunden wurden (»archi-politisch« im Sinne dessen, was selbst nicht politisch ist, aber die Möglichkeit einer Politik bedingt), analysiert nicht zuletzt die exorbitante theaterwissenschaftliche Literatur, inspiriert unter anderen von Denker:innen, die von Jacques Rancière oder Judith Butler bis hin zu Jacques Lacan, Michel Foucault oder Gilles Deleuze reichen. Wenn diese Theaterformen oder diese aus der Theatertradition herkommenden hybriden Kunstpraktiken als politische Interventionen empfunden wurden, so geschah das aber immer noch auf der Grundlage der Form (und ich meine hier Form und Inhalt zusammen, ich meine also »Kunstform«): auf der Grundlage der Formen und der Tradition des Theaters.

Politizität der Theaterkunst

Diese Tradition ist deutlicher als andere Kunstformen geprägt von einer Verbindung zur Politik, die sich zuerst in der Antike, dann in der Neuzeit zeigt: das antike Theater, indem es die gegenwärtig versammelte Polis – das Publikum der Bürger – in einem zwar kultischen, aber vom Kult zugleich getrennten Rahmen adressierte; das bürgerliche Staatstheater als sich an die Bürger:innen richtende Repräsentationsversammlung. Schon das Setting erzeugte also Öffentlichkeit im politischen Sinn: Es setzte dem Publikum der Polis wie dem des Nationalstaates der Entfaltung einer sprechenden Handlung aus. Aber nicht nur das klassische bürgerliche Theater, sondern auch die nachfolgende Entwicklung der Theaterformen wurde vielfach auf der Ebene der Form – von den Modalitäten der Bühne bis zum affektiven Verhältnis zum Publikum – mit der Entwicklung der Politikauffassungen verbunden.

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Das Neue jeder historischen Theaterform, die Änderung, die jede neue Theaterform auf der Ebene der Form und damit auf der Ebene der ästhetischen Konstitution und Empfindung einführte, wurde als Änderung rezipiert, die sich potenziell auf einen politischen Horizont projizieren ließ, und zugleich als Aktualität in die Realität der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse eingriff. Ähnliches geschah auch noch mit jenem Neuen, das die Grundkonventionen dieser Kunst herausforderte und zu ihrer Auflösung führte: Seine Kraft wurde einerseits auf die Tradition des Theaters, andererseits auf einen politischen Horizont projiziert. Das Bündnis zwischen Theater und Politik kann aber heute nicht mehr auf dieser Grundlage funktionieren. Zunächst, weil die moderne Version der Polis, der Staat und seine Bürger:innen von der technoökonomischen Realität überholt wurden. Der Bereich der Politik ist weder die antike Polis und ihre versammelten Körper, noch der Staat und die Repräsentationsversammlung seiner Bürger:innen. Das Format, das Bühne, Publikum und Gegenwärtigkeit einer sich entfaltenden Handlung zusammenbündelte, ist anachronistisch.2 So ist es nicht nur die Politik, sondern auch das Theater, das seinen Zugriff auf die Gegenwart verloren hat. Die Technologie in ihrer Allianz mit der Ökonomie hat die Welt, aus der das bürgerliche Theater herkommt, radikal transformiert. Wenn in letzter Zeit Themen wie »Immersion« oder »Chor« und »Affektökologie« für die Theatertheorie zu Schwerpunkten wurden, so waren das Versuche, eine angemessene Sprache für die von der Technologie hervorgebrachte Auflösung der Vorstellung eines Ganzen zu finden, die die gegenwärtige Welt radikal transformiert und sich auch in den Theaterpraktiken widerspiegelt:3 Die Versammlung der Körper, die Repräsentationsversammlung, die Bühne als Ort, der diese Versammlung einem Ganzen einer Handlung mit Anfang, Mitte und Ende aussetzt, treffen als Bestimmungen nicht mehr zu.

Relationalität der Gegenwart

Statt wie im dramatischen und dann im performativen Theater Geschichten und Handlungen oder das Miteinander des gegenwärtigen Moments zu thematisieren, versuchen Immersion, Chor und Affektökologie als theoretische Schwerpunkte den technologischen Bedingungen der Gegenwart entgegenzukommen. Manchen Theoretiker:innen geht es dabei darum, Geschichte und Gegenwart des ­Theaters aus der Perspektive einer primären Relationalität zu analy-

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sieren, und damit die Technologie nicht anthropozentrisch bzw. nicht instrumental zu denken.4 Es geht darum, der Relation als den Elementen vorgängig Rechnung zu tragen, anstatt die Relationen als Verbindungen von Elementen zu verstehen. Mit einer solchen theoretischen Ausrichtung wird auch versucht, Kunstarbeiten gerecht zu werden, in denen die Bühne zuallererst ein Eintauchen in diesen relationalen Fluss verspricht. Aus ihm tritt die Plastizität oder die Formbarkeit der gegenwärtigen Realität hervor, ohne Anfang, Mitte und Ende, ohne ein Ganzes zu bilden, zu implizieren oder auf es zu verweisen. Ich möchte hier keine konkrete Aufführung analysieren, aber eine große Palette von Arbeiten, die von Anne Imhof bis hin zu jüngeren Künstler:innen wie Sandra Man und Moritz Majce reichen und allesamt ohne Bühne, ohne gerahmte Gegenüberstellung von Publikum und Performer:innen auskommen, zeigen, wie es vielmehr zu einem dem freien relationalen Lauf vielfachen Ausgesetzt-sein oder zu einem Zoom in das freie Entspringen von Relation zwischen uns, durch uns kommt – dem Ausgrenzen durch Festungen, Wände und Grenzen zum Trotz. Im Unterschied zur gerahmten Bühne sind die Mittel, die den Teilnehmenden die Erfahrung des relationalen Flusses, der sie mit-sind, ermöglichen, erst zu untersuchen: die Mittel, die die Teilnehmenden der sich durch sie selbst hindurch entfaltenden Relation aussetzen. Würde man hier von Intervention sprechen wollen, dann in dem Sinn, dass solche Kunstpraktiken oder Kunstformen in die gegenwärtige Realität eingreifen, die nicht mit den vererbten Wissensformen und Verständnissen etwa von »Politik«, »Gemeinschaft«, »Publikum« oder einem »Wir« beschrieben werden kann. Sie greifen in unsere Realität ein, indem sie dieses »Unsere« nicht als Bekanntes voraussetzen, und es nichtsdestotrotz adressieren, »uns« adressieren, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen und ihr Neues eröffnen: Das freie Entspringen von Neuem ist wie ein Fluss von Bezügen ohne Anfang und Ende. Andererseits rufen die vom westlichen Weltbild ausgeblendeten Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die heute eklatant zu Tage treten, und die damit einhergehende gegenwärtige Wiederauferstehung politisch gefährlicher Identitätsgespenster, zum Einsatz für eine gerechte Politik auf. Das ganze Programm der freien Theaterszene und von Teilen des institutionellen Theaters lässt sich als direkte Inanspruchnahme politisch relevanter Themen beschreiben – von Milo Rau bis zu vielfachen Konfrontationen der Bürger:innen, zum Beispiel mit der Situation von Geflüchteten. Aber auch über solche T ­ heaterformen,

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die sich als politische Aktionen verstehen, wie auch über die theoretisch durch die Schwerpunkte von Immersions-, Chor- oder Affekttheorien sich erschließenden Performanceformen, lässt sich generell sagen, dass sie sich, anders als im 20. Jahrhundert, nicht mehr entscheidend vor dem Hintergrund einer Theatertradition und ihres politischen Horizontes verstehen lassen. Ich sage »entscheidend«, weil, auch wenn sie auf diese Tradition und ihren politischen Horizont verweisen mögen, so lassen sie sich dennoch nicht von diesem Verweis aus bestimmen und können dadurch nicht als Übergriffe im Regime des Theaters wirken. Wenn »Theater« heute auf den Straßen, in Museen, durch Einsatz von anderen Medien oder als Aktion stattfindet, so kann es meines Erachtens anders als es in den frühen Avantgarden bis hin zu Schlingensief geschah, nicht mehr den Effekt eines Übergriffs auf den Rahmen und die Geschichte des Theaters haben. Einerseits, weil es sich genauso gut als aus anderen Künsten herkommend verstehen lässt – aus der Malerei, der Bildhauerei, der Sound und Video Art, dem Tanz – man denke zum Beispiel an das Ausmaß von Performances in Museen. Andererseits aber, und das ist das Entscheidende, weil diese Formen oder Aktionen nicht mehr nach einem Fortschrittsschema von Überwindung älterer Formen funktionieren. Es gibt also kein »Post«, das auf eine Kunsttradition einerseits und auf eine Politik als Horizont dieser Tradition andererseits auf die eine oder andere Weise entscheidend angewiesen ist. Genau das steht nämlich heute auf dem Spiel: die Adressierung eines »wir«, das kein Ganzes formt und auf kein Ganzes verweist: Kein »politischer« Horizont in der vererbten Auffassung von Politik umfasst das Ganze unserer Realität. Würde man hier von Intervention sprechen wollen, dann nicht, wenn überkommene Inhalte in sogenannten Aktionen umgesetzt werden, sondern wenn und nur in dem Sinn, dass in die nicht schon begrifflich geformte Realität eingegriffen wird, ein begriffsloses »wir« in Anspruch genommen wird, »uns« der Änderung von Änderung, the change of change aussetzend. Über diese Veränderung von Veränderung haben wir nachzudenken, wenn wir »Theater« und »Politik« unter heutigen Bedingungen erörtern wollen. Wir haben über ein »Neues« im Sinne eines Nicht-Schon-Gegebenen nachzudenken, das aber weder Fortschritt noch Übergriff ist, und das sich deshalb auf keinen Horizont projizieren lässt, weil es kein Ganzes mehr gibt, keinen Horizont, das Neue zu übernehmen: Wenn das fortschrittliche Verständnis der Entwicklung der Kunst- und speziell der Theaterformen aufgekündigt ist, kann kein Übergriff auf das

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bekannte Regime des Theaters mehr stattfinden. Der politische Fortschritt, auf den die Entwicklung der Theaterformen verwiesen war, ist damit auch erledigt. Wenn der Horizont eines Ganzen nicht mehr auf die ­Gegenwart zutrifft, hat auch das fortschrittliche Verständnis von Politik den Zugriff auf die Gegenwart verloren. Das ist hier nicht als programmatische Absage gemeint, sondern als philosophische Zeit­ diagnose, der entsprechend die Epistemologie der Theaterwissenschaft neu zu befragen ist.5

Vom fortbestehenden »Wir«

Aus diesen Verhältnissen ergibt sich eine paradoxale Situation für die Theater- und Kunstpraxis wie auch für die Theorie: sich an ein »Wir« zu richten, es als autonomes zum Vorschein oder zur Erfahrung zu bringen, das heißt, als in keiner hierarchischen Ordnung vorgegebenes, niemanden ausschließend, das paradoxerweise zugleich kein Ganzes, kein universal Gemeinsames – auch nicht als unerreichbaren Horizont – bilden kann. So werden einerseits heute vielfach die Verblendungen der aus dem Abendland herkommenden Ansprüche auf ein Ganzes, ein Eines kritisiert und denunziert: Zum Beispiel entlarven neue Materialismen, die auf den Bühnen große Resonanz finden und Nicht-Menschliches in den Vordergrund rücken, den Anthro­ pozentrismus dieser Vorstellung und seine fatalen Folgen für die Umwelt – den Anthropozentrismus, der die einmal westliche, heute global gewordene Zivilisation auf allen Ebenen prägte. Neben dem Anthropozentrismus werden die kolonialen Verblendungen dieses Einen oder dieses Ganzen angeprangert. Als Beispiel nenne ich hier Fred Moten und seinen Begriff der »Blackness«, den er mit dem, was er »non-performance« nennt, verbindet und mit dem er im Rahmen der amerikanischen Performance-Theorie aktuell großen Einfluss hat.6 Mit dem Konzept der »Blackness« verbindet Moten die Kritik am Westen mit der Performance-Theorie, indem er für das nicht-konzeptualisierte, materielle, fleischliche, kleine und transitive, jedem Rahmen und jeder Normativität Vorgängige plädiert, auch des Rahmens jeder Performance Vorgängige, des Auftritts lebendiger Körper bzw. der Bühne. Was aber bei allen diesen Aktionen, wie bei allen diesen kritischen Performance- oder Theatertheorien gerade nicht thematisiert und nicht genug gedacht wird, ist ihre Zugehörigkeit zum Denken des Einen: Die Tatsache, dass sie selbst durch die Forderung nach

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Gleichheit, die das Abendland in einem bestimmten Moment seiner Geschichte stellte, ermöglicht werden. Wenn der koloniale Geist und der Anthropozentrismus des Westens angeprangert und in neuen Perspektiven beleuchtet wird, wenn die Kritik im Namen der Ausgeschlossenen, der Singularitäten oder im Namen einer Differenz spricht, die nicht die innere Differenz des westlichen Einen sein soll, sondern die im Gegenteil die Gewalt des Einen und seiner inneren Differenz denunziert, ist eine im Abendland entstandene Auffassung des Gemeinsamen vorausgesetzt. Nicht nur das Versagen oder die Unmöglichkeit der Gleichheit, auch der Anspruch auf Gleichheit gehen aus dem Abendland hervor: aus seinem Anliegen nach Autonomie und Universalität. Gerade dieses Zivilisationsschema – das Anliegen nach Autonomie und Universalität als Fortschritt – ist heute dabei, sich zu verwandeln. Davon zeugt im Bereich des Theaters die Tatsache, dass das fortschrittliche Verständnis der Entwicklung der Theaterformen, die Fortschrittslogik, die die diversen Aktionen als Übergriffe im Regime des Theaters im 20. Jahrhundert empfinden ließ, heute nicht mehr funktioniert. Der Anspruch des Theaters, ein »Wir« zu adressieren, und der Anspruch der Politik, dieses »Wir« zu übernehmen, lassen sich nicht mehr so, wie wir sie kannten, begreifen. Sich diesem Paradox zu stellen, das gerade die Theorie und die Theaterpraxis kennzeichnet, verlangt, in meinem Verständnis, nicht, Partei für oder gegen eine vermeintliche Autonomie oder Heteronomie des Theaters zu ergreifen; es verlangt nicht, für ästhetisch-sinnliches Theater oder für politisch eingreifende Aktionen zu plädieren. Während die Weise, wie wir bislang Theater und Politik dachten, die Gegenwart nicht mehr erfasst, gehört nichtsdestotrotz der Wille, sich entweder direkt politisch in Aktionen einzusetzen, oder indirekt die westliche Ästhetik insgesamt zu kritisieren, in einem Zivilisationsmoment, das aus diesem – heute aufgelösten – Abendland selbst herkommt. Was ist dieses Moment, wie ist die Theaterpraxis und die Theorie aktuell von ihm in Anspruch genommen und was ist dabei, sich zu verwandeln, wenn das Anliegen eines »Wir«, ohne Begriff und ohne Ganzheit, nichtsdestotrotz als autonomes heute fortbesteht?

Das »Wir« im Theater

Um das 18. Jahrhundert entstand das Bedürfnis, ein entblößtes »Wir« in der affektiven Gegenwart zu adressieren und sich ihm zu stellen,

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ein »Wir«, das sich nicht in Abgrenzung zu oder ausgehend von einem Anderen, Göttlichen verstand und sich nicht einer schon gegebenen Ordnung fügte. Diesem Bedürfnis kamen die Sache und der Begriff der Kunst, der sich retrospektiv auch in die Vergangenheit der Künste und Kunstpraktiken projizieren ließ, entgegen. Kunst, diese Erfindung der Neuzeit, stand, so lässt sich spätestens seit Schiller und Hegel sagen, für das Gemeinsame der Existenz aller als Nicht-Gegebenes. Sie stand für ein Universelles, das keine Gegebenheit, sondern autonom ist: der Akt, mit dem es sich immer wieder von neuem selbst gibt. Hegel fasst diesen als »Handlung« auf und bezieht diesen Akt, der jedes Kunstwerk für ihn ausmacht, paradigmatisch auf das Theater.7 Indem sich Kunst als autonome Handlung potentiell an alle richtete, niemanden ausschloss, ging sie mit dem Anliegen der Gleichheit einher. Sie ging aber mit dem Anliegen der Gleichheit nur in und als Gegenwart einher. Denn sie hatte die nähere Bestimmung, dieses nicht-gegebene Gemeinsame oder Universelle als affektive Gegenwart zu sein. Das war Theater – wie auch jedes Kunstwerk, Kunstereignis oder jede Kunstform – als Handlung: ein Exzess über das Gegebene, das in kein Jenseits führte, ein Exzess als Gegenwart, der als solcher keine gegebene Gemeinschaft adressierte, sondern das Gemeinsame als offene, frei entspringende Öffentlichkeit erzeugte. (»Öffentlichkeit« ist hier im elementaren Sinn in einer über private Kontexte hinausgehenden gemeinsamen Dimension gemeint, die medial im Hier und Jetzt erzeugt wird). Kunst brachte Neues zur Welt nicht als Gestalt eines neuen, geronnenen »Wir«, sondern als im Werk seiendes Neues, als tätige Änderung – Exzess – im Jetzt. Sie war Intervention in der gemeinsamen Realität, indem sie das »Wir« als reales Entspringen eines affektiven Bezugs in actu freiließ (was nicht nur sinnlichen, sondern auch reflexiven Bezug miteinschließt). Nicht eines Bezugs, der eine Gemeinschaft zusammenklebt, sondern eines Bezugs, der mit Abstand und Distanz mit der Leere einhergeht, die sein freies Entspringen ermöglicht und in Bewegung hält. So war das Bindeglied zwischen Theater oder überhaupt zwischen Kunst und Politik, zwischen affektivem »Wir« als Kunst und dem Anliegen der Gleichheit, die Projektion der dynamischen Änderung, die ein Kunstwerk in Form setzte, auf die Umsetzung dieser Änderung in eine neue Zukunft: die Vorwegnahme dieser Änderung. Damit lässt sich die gewöhnliche Perspektive auf die Ästhetik umkehren: »Kunst« (und Theater) entstand nicht als bürgerliches Projekt im Dienst des bürgerlichen Idealziels, sondern umgekehrt

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Bürgerlichkeit, Dienst am Zweck der Gleichheit und Kunst gingen aus der Tatsache hervor oder mit der Tatsache einher, dass jene Epoche sich einem entblößten »Wir« auf ihre Weise stellte. Und ihre Weise, mit dem nicht-gegebenen »Wir« umzugehen, projizierte den Exzess über jede gegebene Größe und Form, den sie in ihrer Erfahrung des »Wir« erfuhr, auf die Zukunft. Diese Projektion trifft auf die durchtechnologisierte Gegenwart nicht mehr zu. Das ganze Feld der Zwecke durchläuft eine Verwandlung. Der transzendentale Boden, das Bewusstsein, in dem die Zwecke verankert waren sowie die Vorstellung eines auf es bezogenen Ganzen, sind erodiert. Und obwohl sich diese anthropozentrische Weltauffassung auflöst, besteht das Anliegen der Autonomie, das heißt auch das Anliegen der Gleichheit, nichtsdestotrotz inmitten eklatanter Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten fort. Die Frage, die sich heute stellt, ist demnach nicht, wie das Theater oder die Kunstaktionen der Gleichheit als Zweck heute dienen, sondern mit welchem »Wir« das Anliegen für Autonomie heute einhergeht. Wessen Autonomie handelt? Wie stellen wir uns unter heutigen Bedingungen einem »Wir«, und welchem »Wir« stellt sich die Praxis des Theaters und der Theateraktionen heute? Wollen wir das verstehen, was in den diversen Theaterpraktiken gerade auf dem Spiel steht, muss das Zurückführen des Theaters als einer der Künste auf die Ästhetik, und damit auch der Sinn des Wortes »Ästhetiken« im Plural, von Grund auf neu diskutiert werden. Das Gleiche muss aber mit der Projektion des »Wir« auf die Zukunft, mit dem Neuen als Vorwegnahme der Zukunft geschehen. Die Denkkategorien, mit denen wir darüber nachdenken, müssen von Grund auf neu geprüft werden. Wenn die Bühne einmal der autonomen Entfaltung einer in-sich-geschlossenen, aus dem Kontinuum der Raumzeit herausgelösten Handlung als eines Gemeinsamen stattzufinden ermöglichte, so hat sie heute »uns« als autonomes »wir« für die Dauer der Aufführung zu adressieren und damit ein »Wir« geschehen zu lassen, das paradoxerweise autonom und gleichzeitig heteronom ist: Die Bühne sollte als Raum begriffen werden für eine Autonomie von Anfang und Ende, die Bewegung ist – ein freies Entspringen. Dem Neuen als freiem Entspringen gilt es begrifflich Rechnung zu tragen, als einer aus einem Anderswo vorausgegangenen Autonomie, einer Heteronomie also, und mag diese das Kleine, Unzuordenbare sein, das Moten »Blackness« nennt. Es handelt sich um eine Autonomie, die sich weder umsetzen noch projizieren lässt, und von der wir nicht wissen können, wie wir mit ihr umgehen. Denn das nimmt uns in Anspruch: ein »Wir«,

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das mit Alterität, mit dem Nicht-Gegebenen oder mit dem Exzess des Gegebenen in sich selbst umgeht, ihm ausgeliefert und ausgesetzt ist, während diese Alterität im »wir« sich nicht in eine Herkunft und Destination einschreiben lässt, und vielmehr als nicht »unsere« hervortritt. Im Kern der Fragestellung steht nun nicht die Richtung, auf die der Überschuss im »wir«, wenn auch nur negativ, als nicht wissen wohin und wozu, hinweisen würde, sondern seine Gegenwart. Die Praxis dieses relationalen Exzesses als geteilte Realität ist aber das Gemeinsame als Erscheinungsraum, um einen Begriff von Hannah Arendt zu verwenden, für den ihr Denken – selbst unter Bedingungen, wie sie meint, seines Verschwindens – steht.8 Wenn es heute darum geht, affektiv Raum der Autonomie eines nicht »unseren Wir« zu geben, der Autonomie einer sozusagen fließenden Heteronomie Raum zu geben, dann scheint mir – ohne eine fertige und allgemeine Antwort zu haben, die sich a priori auf Theaterformen und Theaterpraktiken anwenden ließe, weil sie umgekehrt, konkret von den diversen Formen und Praktiken heraus diskutiert werden sollte –, dass es vor allem das hergebrachte Verständnis von Publikum ist, die relationale Gegenwart nicht nur des Theaters sondern der Kunst schlechthin, die eine Wandlung durchläuft.

1 Zu Hegels Definition der Handlung als Kunstwerk überhaupt vgl. Tatari, Marita: »Handlung und Drama in Hegels Ästhetik«, in dies. (Hrsg.): Kunstwerk als Hand­ lung – Transformationen von Ausstellung und Teilnahme, Paderborn 2017, S. 81 – 151, hier: S. 101 – 104. 2 Zum Begriff der dramatischen Handlung vgl. ebd. 3 Vgl. z. B. Haß, Ulrike: Kraftfeld Chor, Berlin 2021; Kolesch, Doris: Vom Reiz des Immersiven, in: Heinicke, Julius/Kalu, Joy Kristin/Warstat, Matthias (Hrsg.): Paragrana: Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 26, H. 2, Berlin/Boston 2017, S. 57 – 66; Kirsch, Sebastian: Chor-Denken. Sorge, Wahrheit, Technik, Paderborn 2020; Tatari (Hrsg.): Orte des Unermesslichen – Theater nach der Geschichtsteleologie, Zürich 2014. 4 Vgl. Tatari im Gespräch mit Erich Hörl: »Die technologische Sinnverschiebung – Orte des Unermesslichen«, in: Tatari (Hrsg.), Orte des Unermesslichen, S. 43 – 64. 5 Zu dieser Zeitdiagnose vgl. Tatari: »Vom Geist der Epochenwende. Marita Tatari im Gespräch mit Jean-Luc Nancy.« auf: ZfL BLOG, https://www.zflprojekte.de/ zfl-blog/2020/12/14/vom-geist-der-epochenwende-marita-tatari-im-gespraech-mit-jean-luc-nancy/, 14. Dezember 2020. Zu ihrer epistemologischen Bedeutung vgl. Tatari: Kunstwerk als Handlung, sowie Tatari: Orte des Unermess­ lichen. 6 Vgl. u. a. Moten, Fred: The Universal Machine, Durham/London 2018. 7 Vgl. Tatari: »Handlung und Drama«, S. 101 – 104. 8 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 20. Aufl., München 2020, S. 213 – 317.

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Kai van Eikels Was dazwischenkommt beim Intervenieren (Nazis, Renovierungen, alltägliches Vergessen) Die ökonomisch-militärische Intervention und die künstlerische Intervention haben gemeinsam, dass ihre stärkste Wirkung meist nicht in den Veränderungen besteht, die sie innerhalb des Interventionsfeldes erwirkt, sondern in der Definition dieses Feldes. Interventionen weisen das, worin sie intervenieren, als interventionsbedürftig aus. Sie formulieren ein ›So kann es nicht weitergehen‹, und was immer im Einzelnen aus ihnen und durch sie herauskommt, trägt dazu bei, die Evidenz dieses So-nicht-weitergehen-Könnens zu erhärten. Interventionen sind kritisierbar, aber sie sind gewissermaßen unwiderlegbar. Man kann die Verhältnismäßigkeit ihrer Mittel bezweifeln, gegen diesen oder jenen Punkt der Begründungen Einwände erheben, verborgene Motive hinter den offiziellen argwöhnen, Fälle aus der jüngeren Geschichte aufzählen, in denen vergleichbare Aktionen das gesetzte Ziel verfehlten. Wer indes der Logik der Intervention als solcher das Einverständnis verweigern wollte, wäre zum Komplizen all jenes Schlimmen gestempelt, das der Fortgang des indizierten Geschehens bringt. Intervenieren treibt diejenigen, die nicht mitziehen, in die Fänge einer Unterlassungsschuld.1 Wo künstlerische Interventionen sich politisch legitimieren, übernehmen sie damit noch etwas anderes von der ökonomisch-militärischen Intervention: den Verweis auf eine Notwendigkeit, die das Willkürliche der Entscheidung zum Intervenieren in sich aufnimmt und entweder aufhebt oder bis auf Weiteres zum Schweigen bringt. Beschließt ein Staat, eine Allianz von Staaten oder ein über geeignete Mittel verfügender Verband eine Intervention, so geschieht das nicht im Namen der Freiheit, sich für das Richtige zu entscheiden. Die Intervention ist niemals das Richtige. Sie zieht am Rand des Erwägens auf als dasjenige, das bleibt, nachdem Beweise zeigen, dass schonenderes Vorgehen zu einflussarm war, um schlechte Entwicklungen umzulenken oder aufzuhalten. Und sie präsentiert sich im Licht des Vorläufigen, sogar dann, wenn sie es darauf absieht, etwas mit ökonomischem Druck oder militärischer Gewalt zu beenden. Wenn es so etwas wie eine genuine Figur der Intervention gibt, dann die eines provisorischen Bis-zum-Äußersten-Gehens. Es ist, als würde die Formel von der ultima ratio, die einmal den Krieg zugleich auf

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Abstand und in ­Reichweite halten sollte, in die Mitte eines Status quo hineingezogen, der Ausnahme und Normalität immer schon miteinander verrechnet. Zur Rhetorik sowohl der Ablehnung wie auch der Akzeptanz von ökonomisch-militärischen Interventionen gehört die Formel, es könne »letzten Endes nur eine politische Lösung« geben. In der Perspektive (oder perspektivischen Illusion) von Clausewitz’ Diktum, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, steht das zwischenzeitlich anders fortgesetzte Politische in seiner wiederhergestellten Ausgangsverfassung am Zukunftshorizont. Das Politische ist in dieser rhetorischen Ordnung das, was man will, die Intervention das, was die Umstände gebieten und was man solange wird durchhalten müssen, bis die Umstände wieder soweit dem Gewollten entsprechen, dass richtige Politik möglich erscheint. Die Zwischen-Zeit der Intervention kennzeichnet ein Aussetzen jener Offenheit für Alternativen, die politisches Handeln von forcierten Maßnahmen abhebt. Insofern Regieren heute ohnehin Entscheidungsfreiheit oft durch Sachzwänge moderiert, weil kein Regierungsmitglied es sich trauen darf, als Subjekt einer Willkür hervorzutreten, fällt der wahrnehmbare Unterschied zwischen Intervention und regulärem Politikbetrieb weniger einschneidend aus. Die Dringlichkeit der Intervention hebt sich nicht unbedingt auffallend von dem ab, was ›schmerzliche‹ Kürzungen im Sozialbereich zwecks überfälliger Haushaltskonsolidierung oder das Schließen einer ›skandalösen‹ Gesetzeslücke rechtfertigt. Doch auch dort, wo das Andere des anderen Mittels im Kontinuum der Beteuerungen verschwindet, impliziert jede Intervention ein suspendiertes politisches Handlungsfeld. Die Einschränkung der eigenen Freiheit darin, dass man, wie die begleitende Erklärung versichert,2 Unumgängliches tut, adressiert sich an diejenigen, die im Interventionsfeld agieren, als Disqualifikation (und zwar erfolgt die Adressierung in der dritten Person, denn die Vernünftigkeit dieses Erklärens zieht die Grenzen um ein ausschließendes Eigenes fester): Die machen es uns einstweilen unmöglich, die Politik zu machen, die wir wollen würden. Die nehmen uns die Option, das Gute zu wählen. Sie haben deshalb die Intervention auf eine Weise verdient, die unser Bedauern wie eine justa causa ausschauen lässt. Künstlerische Interventionen sind in diesem Zusammenhang zunächst einmal deshalb interessant – im Sinne von merk- und fragwürdig –, weil die Figur des Künstlers oder der Künstlerin, wie das »ästhetische Regime«3 sie hervorgebracht und gepflegt hat, ganz die umgekehrte Beziehung von Notwendigkeit und Freiheit verkörpert.

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Ästhetik trägt in ihrer liberalen bürgerlichen Bestimmtheit die Behauptung, das Notwendige werde im Willkürlichen aufgehoben oder für eine Weile zum Schweigen gebracht (zu einem mitteilsamen Schweigen, aber die Mitteilung erfolgt durch das, was ein künstlerischer Wille an die Oberfläche des Signifikanten geholt und dort zu einer Anordnung kommen lassen hat). Die Auslieferungen ans Objektive, wie die Avantgarden und Neoavantgarden des 20. Jahrhunderts sie vorführen, ziehen künstlerische Subjektivität zwar auf ein immer Schmaleres zusammen; aber dieses Schmale zieht sich wie ein unübersehbarer Faden durch sämtliche objektive Verkettungen, seien es aleatorische Entscheidungen mittels des I-Ching, schmelzende Eisblöcke an der Straßenecke oder apparativ erzeugte »Körpertreffer«4. Das gilt auch für politisch engagierte Kunst. Wenn etwa Mierle Laderman Ukeles den Arbeitern der New Yorker Abfallentsorgung die Hand schüttelt,5 blinkt da der Glanz eines aus freien Stücken erstatteten Dankes mitten in dem System auf, das die Menschen beim Verrichten ihrer Notdurft betreut. Das körperliche Danken, das Ukeles über viele Jahre fortführt (und das seinerseits eine performative Infrastruktur bildet für viele works, die sie in Kooperation mit den Müllleuten realisiert), reagiert auf die Abwertung gerade jener Arbeitstätigkeiten im bürgerlichen Kapitalismus, die sich des Notwendigen annehmen. Maintenance work wird schlecht bezahlt und genießt geringes gesellschaftliches Prestige. Was die Kunst dieser Wirklichkeit nötiger und in vielerlei Hinsicht unfreier Arbeit zu geben hat, ist die außerordentliche Würde ihrer Zuwendung aus freien Stücken. Was Ukeles tut, verfährt insofern gegenläufig zur Intervention: Sie lässt den Arbeitsalltag weitergehen, fügt ihre eigenen Arbeiten hier und da in den Betrieb ein, ohne diesen zu stören. Sie integriert sich organisatorisch, unterhält sogar ein eigenes Büro im Koordinationszentrum. Ihre Motivationen sind politisch, und ihr Maintenance Art Manifesto artikuliert die Botschaft, die von ihrer künstlerischen Einlassung ausgeht, sehr explizit.6 Doch das Politische spiegelt sich nicht in einem ›Es ist notwendig, dass ich da interveniere, weil…‹. Das Dringliche hält Verbindung zum subjektiven Entschluss, zu einem Spiel von Neigungen und Präferenzen, die in der Entschließung ›weltfest‹ werden. So unerhört es sein mag, dass die Gesellschaft diesen Leuten die symbolische und finanzielle Anerkennung ihrer lebenswichtigen Leistungen verweigert, drängt keine Sachlage dazu, ihnen zu danken. Der Dank selbst verwehrt sich dagegen, als Performativ für Interventionen herzuhalten. Fiele der Schatten eines Zweifels auf den freien Willen derjenigen, die ihn ausspricht, verlöre er sofort seinen Wert.

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Ukeles’ Ansatz als Kontrastbeispiel verdeutlicht, was die künstlerische Intervention sich an Komplikationen zuzieht, wenn sie das Feld, in das sie interveniert, mit Anhaltspunkten für die Notwendigkeit versieht, dies zu tun – es, mit einem Lacan’schen Begriff gesprochen, »absteppt« im Zeichen der Erfordernis, mit sich, mit Kunst dazwischenzugehen.7 »Lassen Sie mich durch, ich bin Künstler!«, soll Christoph Schlingensief mal gerufen haben, als ein Pulk Leute ihm auf dem Gehsteig den Weg versperrte. Das parodiert präzise ein ernsthaftes Problem: Interventionskunst suspendiert aus eigenem Ermessen die Freiheit ihrer Einlassung und sie schiebt die Verantwortung für dieses Suspendieren den Umständen zu. Dieses Manöver droht das, was es stärken soll (Interventionskunst operiert oft in einer phantasmatischen Ordnung der Stärke, des Kräftemessens), in der Selbstrechtfertigung zu erschöpfen. Die künstlerische Intervention erzeugt dann nichts als die Evidenz, dass man da (künstlerisch) intervenieren musste. Oder sie täte es, sofern zwischendurch nicht etwas Ungeplantes sich ereignet und die Situation verschiebt. Um der Entleerung durch eine aus- und aufzehrende Legitimität zu entgehen, ist die künstlerische Intervention angewiesen auf die Eigenproduktivität des Zwischenzeitraumes, den ihr Sich-Hineinzwängen in etwas, das ›draußen‹ vorgeht, eröffnet. Und das nicht nur in Bezug auf eine Tiefe, Komplexität, Interessantheit und Erlebnisintensität, sondern ihre ästhetisch-politische Dignität hängt vom Management des Zwischen ab. Bei Kunstaktionen im Interventionsmodus wird es schließlich immer darum gegangen sein, wie das Wertkonstrukt Kunst im Kampf um die Bestimmungsmacht über den Zwischenstatus, den Zwischenraum und die Zwischenzeit abschneidet: Gelingt es im Verlauf des Intervenierens, das Feld der Intervention so stabil zu halten, dass die Dringlichkeit des Eingreifens einsichtig bleibt? Und gelingt es zugleich, das, was diese Stabilität erschüttert, als Ereignis ästhetisch anzueignen? Die Suspendierung der Freiheit hat gerade auch als Einschränkung, als teilweise Rücknahme des Ästhetischen plausibel zu erscheinen. Wie die ökonomisch-militärische Intervention sagt, ›Wir können uns reguläre Politik gerade nicht mehr leisten, tun das hier aber in der Hoffnung, später wieder politisch handeln zu können‹, so vertraut die künstlerische Intervention ihrem Publikum an: Die Wirklichkeit verbietet es uns, weiterhin reguläre Kunst zu produzieren, als sei nichts gewesen, aber wir tun das hier in der Hoffnung, später wieder an einen jener Orte zurückkehren zu können, wo das Ästhetische sich in voller Freiheit entfaltet. Intervenierende Künstler:­

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innen haben selten vor, für den Rest ihres Lebens oder gar instituierend darüber hinaus auf den sozialen Szenen zu verweilen, die sie mit ihren Konzepten betreten. Sie werden sich da wieder rausziehen, wie von Anfang an feststeht. Und wo das mehr sein soll als bloß ein Zugeständnis an die Projekt(finanzierungs)-Dynamik, hat eben die Endlichkeit, die zeitliche Begrenztheit der Intervention teil an deren Verrückung des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft: Dass die Intervention vorübergegangen sein wird, bedarf sowohl bezüglich des Politischen als auch bezüglich des Ästhetischen der Moderation, weil diese Endlichkeit weder den Temporalvorgaben der Politik (mit der Autorität einer kollektiv bevollmächtigten Instanz beschlossene, laufend überprüf- und anpassbare Maßnahme) noch denen einer zeitgenössischen Kunst (von jemandem mit Autor:innenstatus hervorgerufenes Ereignis plus unabschließbare Reflexion des Publikums) recht entspricht. Ich möchte im Folgenden diesen Kampf um das Zwischen, um die Bestimmungsmacht bezüglich des ›Inter-‹ an drei Beispielen kurz skizzieren – zwei Aktionen, bei denen der künstlerischen Intervention etwas dazwischenkam, das die Kontrolle über das Zwischen entriss oder im Begriff war, sie zu entreißen, sowie eine Arbeit im Vorfeld zur Aktion, die von vornherein die Kontrolle aus der Hand gab und gewissermaßen die Intervention entäußerte.

1.

Cesare Pietroiusti, Pensiero unico (2003)

Ein knapp sechsminütiges Video, das auf YouTube anzuschauen ist, zeigt ein Haus in der Altstadt von Bologna.8 Die Kamera blickt von der gegenüberliegenden Straßenseite auf einen white cube-artigen Galerieraum mit schmiedeeisernen Gittern vor Fenster und Tür. Ein junger Mann mit Anzug und Krawatte steht erst frontal am Fenster, geht dann auf und ab und greift nach einem Mikro, das in einem Ständer vor ihm steckt. Er singt immer und immer wieder einige Zeilen aus den beiden faschistischen Liedern Giovinezza und Vincere.9 An der Rückwand des Raumes unterrichtet eine Uhr über die Zeitsprünge zwischen Schnitten. Die Abenddämmerung bricht herein. Laut Selbstaussage plante Pietroiusti, bis zum Versagen seiner Stimme mit dem Singen fortzufahren. Das bietet sich einer Interpretation als ›politische Kunst‹ an, die zunächst einmal den Selbstbezug des Künstlers vermittels des eigenen Körpers in den Vordergrund stellt. Man könnte die Aktion als eine Art Exorzismus deuten, durch den der

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Performer seines eigenen Konzeptes versucht, das Weiterklingen des Faschistischen in sich auszumerzen. Zugleich ist das Singen aber auch eine Intervention in den öffentlichen Raum, denn das Fenster steht einen Spalt offen, und die Lautsprecher sind dicht dahinter positioniert, so dass die Stimme hinaus auf die Straße tönt. Dieser Spalt ist formgebend: Indem akustische Signale hindurchdringen, konfiguriert sich eine Szene, auf der die persönliche Dringlichkeit der Sing-Aktion Anschluss sucht und findet an eine Zudringlichkeit, die vorbeikommende Leute involviert. Auf dem Weg eine Straße entlang plötzlich diese Zeilen zu hören mag irritierend sein, bestürzend, ärgerlich – und es würde auch körperlich schmerzlich und Mitleid erregend, sobald die Stimme die Strapazen ihrer Überbeanspruchung mitteilte. In jedem Fall ruft es diejenigen, die in Hörweite geraten, an, und dieser Appell unterbricht ihre Alltagsbewegung, kommt ihnen dazwischen. Man darf annehmen, dass Pietroiustis Arrangement daraufhin angelegt war, in die locker gestreute Menge von Passant:innen als in einen Strom von Einzelnen zu intervenieren, die Leute draußen ähnlich wie das Publikum einer Kunstveranstaltung in der Galerie am Zipfel ihrer subjektiven Verunsicherbarkeit zu packen. Vermutlich spekulierte die Intervention darauf, durch Unterbrechung der Bewegung, im Verhalten oder Verlangsamen des Schrittes, einen Zeitraum ästhetisch-politischer Erfahrung zu eröffnen, ein aus dem Kontinuum sozialer Zeit herausgehobenes Augenblicks-Zwischen, das entweder Anlass gibt, an Ort und Stelle in ein Gespräch einzutreten (man sieht im Video einige Leute, bei denen das passiert), oder aber sich im Weitergehen als Zäsur, als Erinnerung an einen Stoß erhält und so zur nachhaltigen Quelle einer Reflexion wird. Dann passiert jedoch etwas, womit der Künstler nicht gerechnet hatte. Es gibt da draußen nicht nur Einzelne, die sich grosso modo wie ein Publikum verhalten. Es gibt auch welche, die über eine eigene kollektive Organisation verfügen: ein regionales Netzwerk von Neonazis. Die reagieren auf die Lieder mit Enthusiasmus, grölen sie teils mit und ergänzen die weggelassenen Zeilen, schwenken Schals mit faschistischen Parolen (»Boia chi molla« und »All’armi siam fascisti«) vor der zweiten Kamera im Inneren der Galerie, holen immer mehr von ihresgleichen herbei, bis eine Traube sich am Fenster zusammendrängt und welche am Gitter rütteln. Das Video endet, ohne dass noch einmal der Künstler groß ins Bild kommt. Der Kommentartext auf YouTube verrät nur: »The action ended at 11.45 pm.« Tatsächlich brach Pietroiusti die Aktion ab, ehe er sich heiser gesungen hatte, um das Team und sich selbst vor befürchteten Über-

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griffen zu schützen, was man indes nur von ihm selbst oder durch gemeinsame Bekannte erfährt. Die Nazis haben also erfolgreich in die Intervention interveniert. Oder sie hätten es, falls ihre spontane Partizipation zu einer Intervention geworden wäre. Ob sie es wurde, bleibt schwer zu entscheiden. Die Stimmung im Pulk bewegt sich zwischen Jubel und Aggression. Aus dem, was das Video zu erkennen gibt, geht nicht klar hervor, dass die Männer den antifaschistischen Charakter der Kunstaktion durchschauen oder erahnen. So oder so treten sie jedoch als ein Ensemble in Erscheinung, das – im Unterschied zum Publikum – etwas wollen kann, über die Möglichkeit einer kollektiven Willensbildung verfügt, weshalb Mutmaßungen über ihre Intentionen Einfluss auf den Ablauf der künstlerischen Intervention gewinnen. Die künstlerische Arbeit rettet sich in die Videodokumentation ihres Verendens in einem Dazwischenkommen. Das Video ist äußerst interessant, und für die politisch-ästhetische Reflexion gewinnt es an Gehalt dank des selbstorganisierten Kollektivs, das mit seinem spektakulären Auftreten das Publikum aus dem Feld schlägt. Die Nazis gehen ein in die Form eines Ereignisses. Die Wiederaneignung des von überlegener Versammlungsmacht Heimgesuchten funktioniert: Die Performance muss zwar die Kontrolle über das initiierte Zwischen abgeben, aber das daraus hergestellte Exponat justiert alles so, dass die Abgabe nicht wie eine Aufgabe erscheint. Der Künstler braucht schließlich über das, was in seine eigene Intervention interveniert hat, nur zu schweigen und das Kunstobjekt seine Wirkung ausüben zu lassen. Was sich wie ein Dokument präsentiert oder zumindest eine Bereitschaft anspricht, Aufnahmen live stattfindender künstlerischer Vorgänge als dokumentarisch zu lesen, vollzieht eben jene Operationen, die es braucht, um die Intervention an den etablierten ästhetischen Wertschöpfungsprozess anzuschließen.

2.

Paul Chan, Waiting for Godot in New Orleans (2007)

Paul Chan ist sowohl politischer Aktivist als auch Künstler, insistiert aber darauf, beides zu trennen.10 2007 begibt er sich für mehrere Monate nach New Orleans, das zwei Jahre zuvor vom Hurrikan Katrina mit einer Sturmflut überzogen worden war. Insbesondere in den ärmeren, mehrheitlich von Afroamerikaner:innen bewohnten Vierteln wie dem Lower Ninth Ward geht der Wiederaufbau nur langsam voran, teils von den städtischen Behörden absichtlich verschleppt, im Bestreben, die Leute loszuwerden und Platz für lukrative Neubauten

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zu erhalten (Naomi Kleins Buch über Disaster Capitalism steht bald darauf auf den Bestsellerlisten11). Chan kommt mit dem politischen Vorsatz, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren und in diesen Zustand der Stagnation, des zermürbenden Wartens zu intervenieren. Er beschließt indes, diese Intervention als Künstler und mit Kunst zu realisieren, indem er an einer Straßenkreuzung mit verfallenden Häusern Aufführungen von Becketts Waiting for Godot veranstaltet.12 In der Buch-Dokumentation des Projekts schildern bzw. inszenieren mehrere Beiträge die Geburt dieser Idee aus einer Situation, die dringend eine künstlerische Intervention erfordert, weil etwas Vulgäres wie Geld nicht ausreicht. »No matter how hard we tried, we couldn’t absorb the immensity of the tragedy. […] I knew I had to do something about this, something more than giving money«13, schreibt Anne Pasternak, die Direktorin der Agentur Creative Time, die das Projekt mit Chan organisierte, im Vorwort des Bandes, gefolgt von einer Reihe rau kopierter Zeitungsausschnitte mit Schlagzeilen über die Katastrophe, die sich in mehreren Etappen in der Stadt vollzog. Chans »Artist Statement« beginnt mit einem Zitat aus Waiting for Godot: »Let us not waste our time in idle discourse! (Pause. Vehemently.) Let us do something while we have the chance!«14 Dann beschreibt er seinen persönlichen Eindruck und seine Ergriffenheit. Auf einer Bustour zieht das zu großen Teilen zerstörte Viertel an ihm vorbei: leere Straßen, gesäumt von Häuserruinen. In einem Augenblick, in dem sich die Erfahrung der Besichtigung zusammenzieht, bemerkt er die beunruhigende Stille: »[T]he barren landscape brooded in silence. The streets were empty. There was still debris in lots where houses once stood. I didn’t hear a single bird.«15 Spontan, so die eigene Darstellung, drängt sich ihm die Assoziation zu Becketts Stück vom vergeblichen Warten auf, und dann ist auch schon die Entscheidung getroffen, in die Zeit des unerträglichen Wartens die Zeit dieser Aufführung einzuschieben, das zerstreute Warten zu parzellierten Vielen für einige Abende zu unterbrechen mit einer als Kunstereignis genießbaren Darstellung des Wartens, die die Leute versammelt. Ihre stärkste Wirksamkeit erlangen Interventionen in der Definitionsmacht, die sie über das erlangen, worin sie intervenieren, lautete die Ausgangsthese dieses Textes. Chans Aktivitäten in New Orleans, wie das im Buch zusammengestellte Material sie rekonstruiert, zeigen den intervenierenden Künstler darum bemüht, seine Bestimmung der Verhältnisse vor Ort als eine Situation des Wartens aktiv zu implementieren. Er klingelt etwa an Haustüren, stellt sich als Künstler vor, der etwas für the community tun will, verteilt Exemplare von Becketts

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Stücktext und fragt: »What are you waiting for?« Er produziert also selber die Evidenz jenes Wartens, dessen bedrückende Schwere den Hauptteil des Projektes legitimiert. Die Aufführung des Beckett-Stücks dagegen produziert er nicht selber (anders als Susan Sontag, die das Stück 1993 mit arbeitslosen Schauspieler:innen im belagerten Sarajevo einstudiert hatte16). Mithilfe seines Projektmanagements engagiert er eine Truppe, die Waiting for Godot gerade in New York gezeigt hat, in einem Bühnenbild, das auf Post-Katrina-New Orleans anspielt.17 Was immer man von dieser Theaterproduktion halten mag, die Leute im Viertel reagieren durchaus dankbar auf die Aufführungen, und insofern wäre das Fazit korrekt, Chans Waiting for Godot in New Orleans habe sein interventorisches Ziel erreicht, eine andere Qualität des Wartens in das alltägliche Warten einzuspielen und ›der Community‹ diese Differenz in der Zeiterfahrung des Wartens zu vermitteln. Von der darf offen bleiben, ob sie im Effekt kurzfristiger Ablenkung verpufft oder bei einigen doch die Einstellung zum Durchhalten verändert. Ein Detail sticht indes bei dieser Begegnung zwischen Paul Chan und New Orleans heraus, nämlich eine unerwartete Intervention in das Warten von dritter Seite: Kurz vor der Premiere haben zum Entsetzen des Produktionsteams an dem Haus, das als Szenerie für den Aufführungsort ausgesucht worden ist, plötzlich Renovierungsarbeiten begonnen. Chans Mitarbeiter Gavin Kroeber berichtet, wie er einen Mann aus Houston antrifft, der sich als Käufer des Grundstücks ausweist und gerade neue Fenster einsetzen lässt.18 Die vorgesehene Veranschaulichung des vergeblichen Wartens gebietet jedoch, dass das Haus als Kulisse verfallen aussieht. Creative Time zahlt dem Mann daher einen Geldbetrag gegen das Versprechen, zumindest keine nach außen sichtbaren Instandsetzungsarbeiten vorzunehmen, bis die Vorstellungen vorüber sind. Der bricht den Vertrag dennoch, woraufhin obendrein herauskommt, dass es sich keineswegs um den wahren Besitzer handelt, sondern um einen Schwindler mit gefälschten Kaufpapieren. Die Aufführungen – so, wie sie dann stattfinden – bringen diesen kleinen Schwindel mit viel Extraarbeit des Teams zum Verschwinden. Das von Chan initiierte, in seinem Namen herausgegebene und in einem von ihm gegründeten Verlag erschienene Buch hingegen verzeichnet die Wahrheit als Anekdote des Produktionsleiters. Ähnlich wie bei Pietroiusti das Video sorgt hier das Buch als hergestelltes und vom Künstler signiertes Objekt dafür, dass die Arbeit das, was der Intervention dazwischenkommt, sich schließlich doch anzueignen vermag. Diese Wiederaneignung ist eine probate Lösung der

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I­nterventionskunst, die vielleicht zugleich ein nicht unerhebliches Problem des Formats darstellt: Der mediale Träger der Dokumentation wird dort, wo er Werkcharakter erhält oder sich in das Profil eines Werkes integriert, immer maßgeblicher gewesen sein als die Aktionen. Chan scheint strategisch bewusster als Pietroiusti schon der Nacherzählung des Unternommenen in einem von ihm kontrollierten Produkt zuzuarbeiten. Das weitgehend positive Echo auf Waiting for Godot in New Orleans verdankt sich ebenso wie der Erfolg seiner Bilder, Videos und Objekte einem professionellen Umgang mit dem internationalen Kunstbetrieb, der auf genauem Verständnis dessen beruht, was dessen Bewerter:innen und Entscheidungsträger:innen zu schätzen wissen. Das Problem beschränkt sich aber nicht auf so ein Kalkül. Es betrifft die Bewegung, mit der interventorische Kunst politische Öffentlichkeit durch Kunstöffentlichkeit ersetzt und dabei doch unterstellt, dass die Kunstöffentlichkeit wie von selbst mit einer politischen Öffentlichkeit konvergiere (verknüpft durch eher vage Vorstellungen von ›der Stadt‹, einer regionalen oder globalen Polis). Das Video, das Buch, die Installation aus Dingen, die bei einer Intervention verwendet wurden – all diese items, die den Präsentationsanforderungen von Kunstinstitutionen entsprechen, tragen den Anspruch auf das Politische weiterhin in sich und melden ihn an die Rezeption. Haben sie durch ihr Ausgestelltwerden oder die Publikation in einem Kunstbuchverlag einmal den Status eines ästhetischen Phänomens erreicht, sind sie als Kunst vonseiten der Rezipierenden nicht mehr in Frage zu stellen, nur noch innerhalb der institutionell geschützten Sphäre des Ästhetischen zu kritisieren (mit einer Kritik, die den Wert des von ihr Ermessenen nahezu zwangsläufig erhöht, denn selbst einhellig negative Urteile vermehren den Schatz an Reflexion, der sich um eine künstlerische Arbeit häuft). Dieser Status des über Zweifel Erhabenen, das subjektiv schlecht, aber nicht objektiv keine Kunst sein kann, schließt die politischen Motive zunächst einmal in sich ein: Auch wenn Chan mit dem Vorhaben, Becketts Stück in New Orleans aufzuführen, gescheitert wäre oder die Anwohner:innen dem Theaterangebot kaum Beachtung geschenkt hätten, legte die dokumentarische Rekonstruktion des Projektes das Interventionsgeschehen in einem Modus dar, in dem die ästhetische Form die politische Integrität beherbergt. »As an artist, I am only interested in doing the impossible«, sagte Chan beim oben schon zitierten Podiumsgespräch.19 Es gibt kein offeneres Eingeständnis der absoluten Sicherheit, in der institutionell anerkannte Kunst politische Praxis wiegt, als diese Floskel.

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Protest gegen das Floskelhafte der Beziehung, die Kunst zum Unmöglichen unterhält, sieht sich genötigt, das Politische gewaltsam wieder vom Ästhetischen zu trennen und etwa den Vorwurf der Ausbeutung oder Instrumentalisierung zu erheben. Einwände, die beanstanden, Chans Intervention habe nichts Nachhaltiges zur Verbesserung der Lebenssituation vor Ort erbracht, geschweige denn den Leuten im Kampf gegen die Allianz aus korrupter Lokalpolitik und Konzernen beigestanden, stellen die Aktion differenzlos neben Sozialarbeit und politischen Aktivismus. Verhält sich das Ästhetische zum Leben aber nicht immer auch parasitär? Unglücklich für das Format der künstlerischen Intervention ist dabei nicht einmal so sehr das Banausische als antibürgerliches trotziges Beharren auf einer Solidität politischen Erwirkens (die Selbstbehauptung eines politischen Kollektivsubjekts wird gegenüber der Kunstpolitik wohl oder übel diesen ›bodenständigen‹ Ton anschlagen, solange die Kunst keine Ahnung von dem haben will, was an ihrer konstitutiven Bürgerlichkeit jede Solidarität, die sie klassenübergreifend ausspricht, verrät). Indem der berechtigte Vorwurf, ans Museums- und Diskursgeeignete geklammert auf der sicheren Seite zu bleiben, jedoch der Kunst, die interveniert, den Ernst abstreitet und behauptet, sie sei eitles selbstbezügliches Spiel, vergisst politische Praxis ihre eigene Angewiesenheit auf ein Moment des Spielerischen im Ernstfall. Die Freiheit, ein für richtig Erachtetes dem vorzuziehen, was Systemzwänge gebieten, unterscheidet das politische Handeln von der Verwaltungsmaßnahme; diese Freiheit kommt nie aus der dringenden Sache, sie entsteht immer erst im Belieben einander unterstützender Personen, die sich der Sache annehmen. In einer weitgehend von ökonomischem Denken, seinem instrumentellen Miteinander und Ohneeinander geprägten Gesellschaft übernimmt die Kunst das Erinnern an den Wert beliebiger Kollektivität. Eine Kunst, die ihr politisches Moment umfassend diskreditiert, läuft Gefahr, der politischen Kollektivsubjektivierung auch den Sinn für ihre Nähe zur ästhetisch vermittelten zu entziehen. Als Hannah Arendt, an Aristoteles anknüpfend, behauptete, politisches Handeln und künstlerisches Performen gehörten in dieselbe Kategorie der Tätigkeiten, die nicht gewünschte Zustände herstellen, sondern bei anderen den Wunsch nach Teilnahme, nach verteiltem Weitertragen oder gemeinsamer Verwirklichung wecken,20 war das von der Einsicht erhellt, dass Leichtigkeit ein wesentliches Moment politischer Macht sei. Dass künstlerische Interventionen zu leicht fallen, könnte für sie sprechen, wie es in vielen Fällen gegen sie spricht. Dazu bräuchte es eine politisch-ästhetische sophrosyne, einen

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­ rientierungssinn dafür, mittels welcher Wendungen man das unverO hältnismäßig Leichtere, das einem die künftige ästhetische Würdigung des eigenen Agierens vorab zuspielt, der Gegenwart eines kollektiven politischen Handelns vermacht. Es gilt, die Wertschätzung, die kommt, ins Zwischen der Intervention mitzunehmen und sie dort auszugeben in einer Währung, die für alle Beteiligten zählt.

3. Koki Tanaka, Precarious Task #7: Try to keep conscious about a specific social issue, in this case ›anti-nuke‹, as long as possible while you are wearing yellow color (2013)

Eine solche Umverteilung kann etwa heißen, das Objekt, nachdem ein Kunst-Kontext ihm den Mehrwert spielerisch-freier Reflexivität zugeschlagen hat, der politischen Praxis zu übergeben. Eine Arbeit des in Japan geborenen Koki Tanaka aus seiner Serie Precarious Tasks geht davon aus, dass uns bei unseren politischen Interventionen etwas dazwischenkommen wird – nämlich der Alltag, das von täglichen Geschäften angefüllte Weitergehen der Zeit. Setzt Paul Chan die von ihm empfundene, aus den Eindrücken eines Besuches herbeiimaginierte Leere des Wartens real-fiktional in Szene, so setzt Tanakas Konzept bei der eigenen Erfahrung des Beschäftigtseins, des Versäumens und Vergessens an. Seine künstlerische Initiative will nicht die zeitliche Normalität aufbrechen, indem sie einmalig ein ästhetisch-politisches Ereignis ins Dahinleben einschaltet. Try to keep conscious… platziert dort, wo dieses Normale die Gelegenheit zum politischen Handeln immerfort verschluckt, ein supplementäres Zeichen-Ding, das den Körper time and again wie ein Schluckauf heimsucht. Im März 2011 löste das schwere Erdbeben in Tohoku, der nordöstlichen Region von Japans Hauptinsel, einen Tsunami aus, der das küstennahe Atomkraftwerk von Fukushima so stark beschädigte, dass es in einem der Reaktoren zu einer Kernschmelze kam. Wenngleich die Explosion, mit der man in den ersten Tagen nach dem Unglück rechnete, ausblieb, hinterlässt der Vorfall ein nukleares Desaster, das die Betreiberfirma nur mit gewaltigem Aufwand und unabsehbaren ökologischen Kosten unter Kontrolle hält. Dieses Ereignis, mit dem eine natürliche Erschütterung die technologischen Sicherheitsgespinste zerriss und die Beteuerungen, Kernenergie sei sicher, Lügen strafte, stieß vielerorts lokale Protestaktionen an. Bürger:innen demonstrierten gegen die Reaktivierung der zunächst allesamt abgeschalteten AKW’s, und durch die Vernetzung dieser Gruppen

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entstand landesweit eine informelle Anti-Atomkraft-Bewegung, die jeden Freitag Protestveranstaltungen vor der Residenz des Premierministers organisierte. Angesichts der Lethargie, mit der die japanische Bevölkerung ansonsten auf nationalpolitische Angelegenheiten reagiert, war das schon bemerkenswert. Während in Deutschland die Reaktionen auf die Fukushima-Katastrophe Kanzlerin Angela Merkel dazu bewogen, den Austritt aus der Atomkraft einzuleiten, konnten die Demonstrationen in Tokyo allerdings keinen Politikwechsel erreichen. Unter anderem wegen des wenig kompetenten Krisenmanagements des Kabinetts von Premierminister Naoto Kan erlitt die sozialdemokratische Partei, die zur Zeit des Unglücks die Regierung stellte, bei den folgenden Wahlen eine Niederlage. Die rechtsliberale LDP, die daraufhin wieder an die Macht kam, beschloss die Fortführung der Energieversorgung mittels Atomkraft. 2013 formulierte Koki Tanaka das Precarious Task #7 mit dem Wortlaut: Try to keep conscious about a specific social issue, in this case ›anti-nuke‹, as long as possible while you are wearing yellow color. Er präsentierte diese Instruktion als Überarbeitung eines instruction art piece von Jirô Takamatsu aus dem Jahr 1974 mit dem Titel Remark 5 – dort lautete die Anweisung: Try to repeat the content of a specific consciousness as many times as possible. Die Vorstellung des task erfolgte im Zusammenhang mit einer Aktion, die am 30. August 2013 in einer Galerie in Meguro, im Zentrum von Tokyo, stattfand. Tanaka legte reichlich gelben Stoff aus, dazu Scheren und Sicherheitsnadeln, so dass Besucher:innen sich gelbe Kleidungsstücke schneidern und sie anziehen konnten. Er schaltete außerdem das elektrische Licht und die Klimaanlage ab, wodurch es extrem heiß wurde (die Temperatur draußen betrug an dem Tag 36 Grad). Nach Einbruch der Dunkelheit entzündete er Kerzen. »The project ran until midnight, but because of the heat I had to lie down for an hour’s rest. Having embarked upon a political action and reconsideration of art history, the bodily response of sweating was ultimately what remained«,21 schreibt der Künstler in einer Notiz dazu. Anders als Pietroiusti drängte Tanaka mit der Aktion nicht hinaus auf die Straße, und außer freien Getränken und einem Kunst-Event lockte auch nichts Leute in den Galerieraum hinein. Insofern hatte dieser Aktionstag keinen Interventionscharakter. Die Arbeit will aber dem Intervenieren zur Hilfe kommen. Zum einen erlaubt die politische Aufladung der gelben Kleidung durch die Assoziation mit einer Anti-Atomkraft-Haltung auch denjenigen, die keine Zeit oder Kraft oder Lust haben, an den Freitagsprotesten und anderen ­Demonstrationen

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teilzunehmen, sich selbst und anderen gegenüber ihre Partizipation zu bekunden. Es geht um die räumliche und zeitliche Erweiterung der politischen Intervention – darum, eine merkbare, materiell-symbolische Verbindung zu schaffen zwischen direkter Teilnahme und dem, was Kant »Theilnehmung dem Wunsche nach«22 nannte: ein Bindeglied zwischen Aktivismus und Publikum. Zum anderen wendet die Arbeit, indem sie Takamatsus Remark aufgreift, sich der Schwierigkeit zu, dem aktivistischen Intervenieren eine Ausdauer zu organisieren. Da weitere spektakulär katastrophale Ereignisse ausblieben, ebbte die journalistische Berichterstattung über Fukushima nach einigen Monaten ab. Man hätte jede Woche melden können, dass wieder Millionen Liter strahlungsbelastetes Kühlwasser ins Meer gepumpt worden waren, Zehntausende zwangsevakuierter Anwohner:innen nach wie vor in Blechbaracken lebten; aber Nachrichten sind per definitionem Neuigkeiten, nicht Wiederholungen des schon Berichteten, sodass die zivilen Initiativen das Wiederholen selber leisten mussten. Wie Fridays for Future setzten die Proteste auf die Kalenderwoche als Verstetigungsmuster und hofften darauf, etwas, das jeden Freitag stattfindet, werde sich besser im Gedächtnis halten. Tanaka fügt dem ein Zeichen bei, das Erinnerung ein Stück weit von Veranstaltungsroutinen emanzipiert: Wenn ich mir etwas Gelbes zum Anziehen geschneidert oder gekauft habe, wird dieses Kleidungsstück mich fortan an das politische Vorhaben gemahnen, an dem ich zu partizipieren begonnen hatte. Beim Öffnen der Schranktür leuchtet es zwischen den gedeckten Farben der Arbeits- und Alltagsklamotten. Das Leuchten lenkt mein Bewusstsein mindestens für einen Augenblick zurück zu der Einsicht, dass die Ruine von Fukushima Dai-ichi immer noch strahlt, durch den maroden Betonmantel in Tschernobyl immer mehr Strahlung sickert und all die ›intakten‹ Atomkraftwerke jedes Jahr Tausende von Tonnen radioaktiven Müll produzieren, der Hunderttausende von Jahren hochgefährlich sein wird, ohne dass es bislang auch nur einen überzeugenden Lösungsansatz dafür gibt, was damit geschehen soll. Wahrscheinlich schließe ich die Tür, nachdem ich etwas in gedeckten Farben herausgeholt habe, und vergesse den Vorsatz, wieder aktiver an politischen Aktionen teilzunehmen, schon beim Anziehen erneut. »Try to repeat … as many times as possible« heißt es bei Takamatsu, »as long as possible« bei Tanaka. Die Möglichkeit der Wiederholung hat ihre Grenze am Vergessen, und Strategien des Wiederholens müssen diese Grenze anerkennen – ja, sie sollten mit den Zerstreuungen durchs Vergessen kooperieren, um sich nicht in Gesten ethi-

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scher Repression zu verpulvern. Das Vergessen hält die Überraschung wach. Solange Gelbes im Schrank hängt, überrascht mich täglich eine Reminiszenz, und dieses Aufflackern einer Entschlossenheit anlässlich einer kleinen Entscheidung, die man jeden Tag trifft, teilt etwas über die von Alain Badiou geforderte »Treue zum Ereignis«23 mit, denn es erinnert vor allem auch daran, dass der Treueprozess nicht in einem sturen Durchhalten, einem (Sich-)Festhalten am objektiv Notwendigen besteht, sondern zugleich eine unentwegte Subjektivierung des Zusammenhangs verlangt. Mein politisches Handeln wird nicht zuletzt das gewesen sein, was durch die Jahre und Jahrzehnte ein verblassendes Gelb reflektiert – vielleicht selbst verblassend, vielleicht aber auch mit einer stetig oder irgendwann jäh steigenden Intensität. Dieses offene Verhältnis zur Kraft, das die Schwächen von Individualität und Kollektivität ebenso ins Spiel bringt wie die Stärken, charakterisiert die Precarious Tasks. Koki Tanakas Beitrag zur kollektiven Selbstorganisation zivilen politischen Engagements mit Try to keep conscious… ist bescheiden und die Idee so schlicht, dass man sie ohne Weiteres kopieren kann oder auch weiterentwickeln (das gilt für viele seiner Arbeiten24). Einem Kleidungsstück eine Art häusliche, ökonomische agency zu verleihen, übersetzt die Ausdauer selbst in eine Kette von Interventionen. Intervention mit Serialisierung und Verkettung zusammenzudenken gehört zum Bedenkens- und Beherzigenswerten an Tanakas Vorschlag.

1 Dazu ausführlicher: Eikels, Kai van: »Ring down the curtain! Hercule Poirots letzter Fall und die Politik des Vorhangs«, in: Brandstetter, Gabriele/Peters, Sibylle (Hrsg.): Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste. Freiburg i. Br. 2008, S. 127 – 145. 2 Erklären tritt in eine komplexe Kontemporalität mit den Maßnahmen, ihrem Beschluss und ihrer Durchführung. Auch die massiv militärische Intervention bleibt ohne Kriegserklärung, die ihren Anfang markierte; an deren Stelle rückt das Ultimatum. Vgl. dazu Eikels, Kai van: »Die Zeit des Ultimatums. Souveränität, neue Figuren des Anderen, Terrorismus und Weltpolizei«, in: lettre inter­ national, Winter 2003, S. 27 – 30. 3 Ein Begriff, den Jacques Rancière in zahlreichen Veröffentlichungen entwickelt hat. Vgl. u. a. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. 4 Vgl. zur Delegation ans Medium Diederichsen, Diedrich: Körpertreffer. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste, Frankfurt a. M. 2017. 5 Zu Ukeles’ Arbeit siehe u. a. Jackson, Shannon: Social Works: Performing Arts, Supporting Publics, New York und London 2011, S. 75 – 103; Baraitser, Lisa: Enduring Time, London u. a. 2017, S. 47 – 68; Buchmann, Sabeth/Eikels, Kai van: »Im Körper von Kuratierten – ›You should always have a product that’s not you‹«, in: Netzwerk Kunst + Arbeit: Art works. Ästhetik des Postfordismus, Berlin 2015, S. 165 – 204. 6 Ukeles, Mierle Laderman: Manifesto for Maintenance Art 1969! Proposal for an Exhi­ bition ›Care‹, https://www.queensmuseum.org/wp-content/uploads/2016/04/ Ukeles_MANIFESTO.pdf (Zugriff am 6. Mai 2021).

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7 Bei Lacan steppt die Kastration, der Einschnitt des Symbolischen, ein Signifikat ab, sorgt also dafür, dass Materie so erscheint, als liege sie in Form bedeutungsträchtiger Einheiten vor. Zum »Steppunkt (point de capiton)« siehe Evans, Dylan: An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, London 2002, S. 286 – 287. 8 nonfunctionalthought: »Pensiero unico (2003)«, auf: https://www.youtube.com/ watch?v=glK3CyhyYCg, 22. Oktober 2008 (Zugriff am 6. Mai 2021). 9 Die Zeilen lauten »Giovinezza, giovinezza, primavera di bellezza« (»Jugend, Jugend, Frühling der Schönheit«) und »Vincere, vincere, vincere, e vinceremo in cielo, in terra e in mare. È la parola d’ordine, una suprema volontà« (»Siegen, siegen, siegen, und wir werden siegen am Himmel, auf der Erde und im Meer. Es ist das Wort unserer Ehre, ein höchster Wille«). Mussolini sang Vincere bei einem öffentlichen Auftritt; manche halten ihn bis heute irrtümlich für den Autor des Liedes. 10 So bei einem Podiumsgespräch mit Kathy Halbreich anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung »Paul Chan – Selected Works« im Schaulager Basel am 12. September 2014. 11 Klein, Naomi: The Shock Doctrine: The Rise of Disaster Capitalism, New York u. a. 2008. 12 Zu diesem Projekt siehe u. a. Jackson, Shannon: Social Works (s. Anm. 5), S. 210 – 238; und das Statement von Hans-Thies Lehmann zu Heimspiel 2011 »Get Down and Party. Together – Partizipation in der Kunst seit den Neunzigern«, https:// www.yumpu.com/de/document/read/21257393/statement-von-hans-thies-lehmann-heimspiel-2011 (Zugriff am 6. Mai 2021). 13 Pasternak, Anne: »Foreword«, in: Chan, Paul (Hrsg.): Waiting for Godot in New Orleans: A Field Guide, New York 2011, o. S. 14 Chan, Paul: »Waiting for Godot in New Orleans. An Artist Statement«, in: Chan, Paul (Hrsg.): Waiting for Godot in New Orleans: A Field Guide, New York 2011, S. 25 – 37, hier S. 25. 15 Ebd., S. 26. 16 Siehe dazu Sontag, Susan: »Godot Comes to Sarajevo«, in The New York Review of Books, Ausgabe vom 21. Oktober 1993, https://www.nybooks.com/ articles/1993/10/21/godot-comes-to-sarajevo (Zugriff am 6.5.2021). 17 Den Vladimir spielt Wendell Pierce, der auch in der Rolle des Posaunisten Antoine Batiste in der HBO-Serie Treme mitwirkt, einer halbdokumentarischen Auseinandersetzung mit der Krisensituation in den betroffenen Vierteln von New Orleans (Buch und Regie: David Simon, der mit The Wire bekannt wurde). Durch diese Koinzidenz kommt die Waiting for Godot-Aufführung, die Paul Chan einkauft und für die Straßenkreuzung in New Orleans arrangieren lässt, auch in der dritten Staffel von Treme vor (Episode III. 4, »The Greatest Love«). 18 Kroeber, »Gavin: Producing Waiting for Godot in New Orleans«, in: Waiting for Godot in New Orleans, S. 138 – 151, hier S. 146f. 19 Siehe Anm. 10. 20 Vgl. u. a. Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politi­ schen Denken I (1954 – 1964), München 2000, S. 218 – 221; dazu Eikels, Kai van: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn 2013, S. 19 – 66. 21 Siehe Koki Tanaka Studio, http://www.kktnk.com/projects/comprehensive_pdf_ files/kt_v1_011915.pdf (Zugriff am 6. Mai 2021). 22 Kant, Immanuel, Der Streit der Fakultäten, Akademie-Ausgabe Bd. VII, Berlin 2000, A 144, S. 85. 23 Siehe u.a. Badiou, Alain: Das Sein und das Ereignis, Berlin, Zürich 2005, S. 263. 24 Vgl. zu einer anderen Serie Tanakas: Eikels, Kai van: »Zustände ohne Zuständigkeit. Synchronisierung, Kooperation, kollektiver rhythmos bei Koki Tanaka«, in: Linsenmeier, Maximilian/Seibel, Sven (Hrsg.): Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren. Zur Ökologie künstlerischer Praktiken in Medienkulturen der Gegenwart, Bielefeld 2019, S. 37 – 68.

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Autor:innen Lars Koch Dr. phil., ist Inhaber der Professur für Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur der Technischen Universität Dresden. Simone Niehoff Dr. phil., ist Postdoc im DFG-Graduiertenkolleg »Ästhetische Praxis« an der Universität Hildesheim. Ulf Otto Dr. phil., ist Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Intermedialitätsforschung am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Julia Prager Dr. phil, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur der Technischen Universität Dresden. Anna Raisich M.A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Azadeh Sharifi Dr. phil., ist Visiting Assistant Professor am Department for Germanic Languages & Literatures der University of Toronto. Marita Tatari PD Dr. phil., vertritt die Professur für Gegenwartsästhetik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Sandra Umathum Dr. phil., ist Professorin für (Angewandte) Theorie Tanz, Choreografie, Performance am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) der Universität der Künste Berlin. Kai van Eikels PD Dr. phil., ist Akademischer Oberrat am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

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Autor:innen

Matthias Warstat Dr. phil., ist Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Benjamin Wihstutz Dr. phil., ist Juniorprofessor am Institut für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Johanna Zorn Dr. phil., ist Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – »Ich war immer ein Opportunist …« . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz – Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu »Unter Eis« Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst. Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007

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Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Kleist oder die Ordnung der Welt Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten Theater in Japan Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute Frank Raddatz – Der Demetriusplan . Oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Falk Richter – Trust Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm

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Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals Das Melodram . Ein Medienbastard Dirk Baecker – Wozu Theater? Rimini Protokoll – ABCD Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 Theater im arabischen Sprachraum Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate Reenacting History: Theater & Geschichte Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität FIEBACH . Theater. Wissen. Machen Auftreten . Wege auf die Bühne Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig

125 Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) 126 Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert 127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)


Recherchen 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 153 Wer bin ich, wenn ich spiele? . Fragen an eine moderne Schauspielausbildung? 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung . ­Fragen an Heiner Müller 155 TogetherText . Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater 156 Ästhetiken der Intervention . Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters 157 Theater in Afrika II – Theaterpraktiken in Begegnung 158 Joscha Schaback – Kindermusiktheater in Deutschland 159 Inne halten: Chronik einer Krise 160 Heiner Goebbels – Ästhetik der ­Abwesenheit . Texte zum Theater . ­ Erweiterte Neuauflage 161 Günther Heeg – Fremde Leidenschaften Oper . Das Theater der Wiederholung I

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Mit dem Begriff der Intervention ist eine Überschreitung der Kunst durch die Kunst selbst aufgerufen. Damit einher geht nicht nur das Versprechen einer spezifischen Wirksamkeit, sondern eine Praxis des Aushandelns ästhetischer und politischer Sphären. Im Theater scheint die Rede von Intervention dann besonders prägnant zu sein, wenn die komplexen Wechsel­ wirkungen von Öffentlichkeit, Gesellschaft und Medienwirklichkeit über die Szene hinaus thematisiert werden. Der aus einer Tagung an der Ludwig-Maximilians-Universität München hervorgehende Band versammelt Beiträge, die kritische Perspektiven auf Theaterprojekte und theatrale Aktionen werfen, die mit unterschiedlichen Strategien des Eingreifens arbeiten. Dabei wird die Pluralität der interventionistischen Ästhetiken und ihrer Theoriebildung aufgezeigt.

978-3-95749-304-0 www.theaterderzeit.de


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