Theater der Zeit 05/2024 – Perspektiven der Volksbühne

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Theater der Zeit Mit

Perspektiven der Volksbühne

Henry Hübchen Klaus Lederer Staub zu Glitzer Iwona Nowacka Thomas Oberender Markus Selg Jacqueline Russell

Mai 2024 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Der Große Gopnik

Viktor Jerofejews Putin-Stück


49. Preisverleihung

Dunkelschwarz

Sa. 4.5.

Fr. 17.5.

Baracke

Jurydebatte Mülheimer KinderStückePreis 2024

Geehrt werden die Preisträger*innen des Vorjahres Rainald Goetz • Deutsches Theater Berlin Sa. 4.5.

Fr. 17.5.

Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt

The Silence

So. 5.5. + Mo. 6.5.

Szenen für Morgen

Felicia Zeller • Theater Oberhausen

Laios

Falk Richter • Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin Sa. 18.5.

Roland Schimmelpfennig • Deutsches SchauSpielHaus Hamburg

Lesung in Kooperation mit Performing for Future und dem Schauspielhaus Bochum

Di. 7.5.

Di. 21.5.

Juices

forecast:ödipus

Do. 9.5. + Fr. 10.5.

Mi. 22.5.

Ewe Benbenek • Nationaltheater Mannheim

Geschichten vom Aufstehen

Thomas Freyer • tjg. theater junge generation, Dresden Armela Madreiter • Junges Theater Heidelberg

6+

Marion Brasch • tjg. theater junge generation, Dresden

9+

Henner Kallmeyer • theaterkohlenpott Herne

Stanislava Jević • Deutsches SchauSpielHaus Hamburg

Festival Plus

Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert Sivan Ben Yishai • Schauspiel Hannover Sa. 25.5.

6+

Mi. 15.5.

Troja! Blinde Passagiere im trojanischen Pferd

Out There Do. 23.5.

Di. 14.5.

Winterkind und Herr Jemineh

Festival Plus

Thomas Köck • Schauspiel Stuttgart

So. 12.5. + Mo. 13.5.

südpol.windstill

6+

Iona Daniel • Junges Theater Münster

Jurydebatte Mülheimer Dramatikpreis 2024

Sa. 25.5.

9+

Mi. 15.5. + Do. 16.5.

4.–25.5.24 Veranstaltet von

stuecke.de Gefördert von


Foto TIMF

Theater der Zeit Editorial

Szenenfoto „Semele Walk“ Musiktheater von Ludger Engels nach Händel in der Couture von Vivienne Westwood, Tongyeong Korea (siehe Seite 30)

Eigentlich hatte Klaus Lederer anderes zu tun. Der Politiker (Die Linke) im Berliner Abgeordnetenhaus stellte auf der Leipziger Buchmesse sein für einen radikalen Humanismus werbendes Buch „Mit links die Welt retten“ vor, feierte damit seinen 50. Geburtstag und flog dann sehr weit weg in den Urlaub. Als er von der Anfrage der Redaktion erfuhr, ob er etwas zu der Diskussion über die Zukunft der Volksbühne beisteuern könnte, sagte er sofort zu. Lederer handelte als Berliner Kultursenator 2019 mit René Pollesch die Intendanz der Berliner Volksbühne ab 2021 aus – Überlegungen zu deren Zukunft sind der Schwerpunkt in diesem Heft. Der russische Schriftsteller Viktor ­Jerofejew floh sehr schnell nach dem totalen Überfall Russlands auf die Ukraine mit seiner Familie Richtung Westen. Die abenteuerliche Fahrt mit dem Auto über Finnland, das Baltikum und Polen nach Deutschland beschreibt er in seinem ­Roman „Der Große Gopnik“, ohne Zweifel das bislang bedeutendste Buch der Lite­ratur über Putins Psyche und das von ihm geprägte Russland. Das Wort ­Gopnik, abgeleitet vom sowjetischen ­ Kürzel für „Staatliche Wohnheime des Proletariats“ und ab den 1990ern ein Begriff für ­depravierte Jungkriminelle und Schläger-

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typen, hat dank Jerofejew Chancen, in die deutsche Sprache zu gelangen, ähnlich wie einst „Sputnik“ oder das damals in den USA verächtlich gemeinte „Beatnik“. Jetzt hat Jerofejew mit Bühnenideen und dem fast ausufernden Material seines Romans ein Stück für das Theater Freiburg geschrieben – dessen Fassung hier im Stückabdruck. Darauf aufmerksam ­gemacht, dass die deutsche Sicht auf Putin doch eher dem KGB-Agenten gilt, sagte der Autor im Gespräch mit geradezu laut­ malerischem Akzent im Englischen: „He was always Gopnik, also in KGB“. Martin Wigger zieht eine Bilanz der wohl in Zukunft noch stark nachwirkenden Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg am Schauspielhaus Zürich. Wie damals beim vorschnellen Ende Christoph Marthalers bleibt etwas, das schon ins Publikum getragen wurde und von den Nachfolger:innen ­weiter bearbeitet werden muss. Ist auch das nicht ein Aspekt der Frage nach der Volksbühne? Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

„Iwanow“ von Anton Tschechow. Regie Dimiter Gotscheff. Bühne Katrin Brack

12 Das Ende der Volksbühne?

Henry Hübchen, Schauspieler

14 Nach dem Scheiterhaufen

Matt Cornish, Theaterwissenschaftler und Dramaturg

15 Institutionskritik als endloses Programm Anna Volkland, Theaterwissenschaftlerin

17 Wenn die Zukunft eine schöne Vergangenheit hat

Sabrina Zwach, Dramaturgin und Produzentin Raban Bieling in „Der Große Gopnik“ von Viktor Jerofejew am Theater Freiburg

18 Es lohnt der Mut, etwas zu wagen Klaus Lederer, Politiker

19 Weg mit dem Intendanzmodell Staub zu Glitzer, Aktivist:innenkollektiv

Weitere Texte zum Thema finden Sie unter tdz.de

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21 Die Haribo Volksbühne Walter Bart, Wunderbaum

Theater der Zeit 5 / 2024

Foto links oben Marcus Lieberenz/bildbuehne.de, unten Laura Nickel. Rechts Laura Nickel

Thema Perspektiven der Volksbühne


Inhalt 5/ 2024

Akteure 24 Kunstinsert Die Ausstellung als Theater der Zukunft Über die faszinierende Parallelwelt der „Twin Zone“ von Markus Selg Von Thomas Oberender

30 Porträt Professor Netzrat Ludger Engels setzt als Leiter der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg auf interdisziplinäre Vernetzung Von Elisabeth Maier

34 Jubiläum „Vorrücktwärts“ Zum 85. Geburtstag des Dichters und Dramatikers Volker Braun Von Hans-Dieter Schütt

36 Nachruf Düsterer Seher Der britische Dramatiker Edward Bond Von Stephan Wetzel

38 Nachruf Titan des Theaters Schauspieler, Regisseur, Tatort-­Kommissar und Hallenser Theaterbauer Peter Sodann Von Thomas Thieme

Diskurs & Analyse 64 Essay Im Chaos tanzen Zur Gestaltung einer feministischen Clown-Praxis Von Jacqueline Russell

68 Serie Schlaglichter #05 Von Franziska Wenning

70 Serie: Post-Ost Vom Ringen mit der Herkunft

Von Julia Gebhardt, Marie Gedicke, Lina Wölfel / Kollektiv (AT)

Stück 40 Stückgespräch Eine schreckliche Komödie Viktor Jerofejew über „Der Große Gopnik“ und Putins Psyche Im Gespräch mit Thomas Irmer

43 „Der Große Gopnik“ Von Viktor Jerofejew

Magazin 4 Bericht Stadt-Theater Pilkentafel? Von Henning Fülle

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Michael Helbing, Stefan Keim, Shirin Sojitrawalla und Elisabeth Maier

8 Kolumne Migration Richtung Osten? Von Iwona Nowacka

82 Bücher Marke Müller Von Thomas Irmer

84 Was macht das Theater, Haiko Pfost? Im Gespräch mit Stefan Keim

Report 74 Zürich Ein gelungener Brandherd Die Schauspielhaus-Intendanz Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann – eine Bilanz Von Martin Wigger

1 Editorial 80 Vorabdruck 83 Autor:innen & Impressum 83 Vorschau

77 Tübingen Sechs Autor:innen schreiben eine Krimiserie Mit bekannten Namen der Dramatikszene entwickelt das Tübinger Institut für Theatrale Zukunftsforschung ein Format für Serienjunkies Von Elisabeth Maier

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Magazin Bericht

Stadt-Theater Pilkentafel? Wie das Flensburger Theater der Freien Szene in größere Aufgaben wuchs Von Henning Fülle

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Theater nicht als Bildungsgut, sondern im Handgemenge mit dem Publikum. Die Pilkentafel ist ein erfolgreiches Exemplar jener Freien Szene, die sich seit den späten 1970er-Jahren institutionalisierte.

Schneider und Ulrike Seybold anlässlich der Feiern zum 40-jährigen Arbeitsjubiläum im September 2023 berichten konnten. Ein Kernstück städtischer Kultur in Flensburg also, dessen zukünftige Existenz aber immer noch nicht dauerhaft gesichert ist. Was die künstlerische Zukunft angeht, sorgen Bohde und Schütte mit der Erfindung der „Tafelrunde“ vor, zu der sie seit 2010 etwa zwölf Gruppen und kooperierende Einzelkünstler:innen immer wieder ein­ laden, um so ein Netz ästhetischen Grundvertrauens zu bilden, von dem das Haus in nicht allzu ferner Zukunft getragen werden könnte. Jedoch ist die ökonomische und kulturpolitische Zukunft weiterhin instabil: 120.000 Euro p.a. institutioneller Zuschuss von der Stadt und rund 80.000 Euro vom Land Schleswig-Holstein sind bei weitem nicht ausreichend, um die Fixkosten der Institution und des überschaubaren Teams zu tragen – ganz abgesehen von den Geldern für die künstlerische Arbeit, die immer ­wieder als befristete und zweckgebundene Projektmittel eingeworben werden müssen. Ulrike Seybold, Geschäftsführerin des NRW Landesbüros Freie Darstellende Künste hat in einem Gutachten einen Regelbedarf von 400.000 Euro an städtischer Förderung festgestellt, das die Grundlage für einen ­Antrag an die Stadt zu einem schrittweisem Aufwuchs des Zuschusses bildet, der demnächst zur Entscheidung ansteht. Aus der – durchaus politisch gemeinten – künstlerischen SelbstverwirklichungsInitiative der 1980er-Jahre ist inzwischen eine wirklich zeitgemäße Form von „StadtTheater“ entstanden, das der Bürgerschaft wahrhaftig und immer wieder den Spiegel vorhält. Es wäre nicht nur für Flensburg gut, wenn dieses Modell als Kernbestand in das Portfolio ihrer Kulturschätze aufgenommen und von der Stadt für die Zukunft auskömmlich und auf Dauer finanziert würde. T

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Foto Theaterwerkstatt Pilkentafel

Die Theaterwerkstatt Pilkentafel in Flensburg

Über 40 Jahre gibt es ihn nun schon, den wegweisenden kulturpolitischen Leuchtturm ganz oben im Norden in Flensburg, nah am Fördeufer gelegen, mit deren Nordufer schon Dänemark anfängt. Die „Theaterwerkstatt“, wie sich das Haus mit der Anschrift „Pilkentafel 2“ seit ihrer Gründung 1983 immer noch nennt, in der die Gründerin ­ ­Elisabeth Bohde anfangs Workshops organisierte und Produktionen für Tourneen erarbeitete, hat sich seit 1998 zu einem Produktionshaus für Freies Theater entwickelt und gehört zum Kernbestand der kulturellen Grundversorgung für die knapp 100.000 Einwohner:innen der Stadt Flensburg. Es gibt hier auch ein Stadttheater – aber nur noch als Gebäude, das vor allem vom Schleswig-Holsteinischen Landestheater mit Sitz in Rendsburg bespielt wird; aber das muss nun mal ein Querschnittsprogramm für das ganze Bundesland produzieren, in dem für alle was dabei ist. Dagegen machen Bohde, ihr Compagnon Torsten Schütte und das kleine Ensemble wechselnder Mitwirkender Theater aus radikaler Selbstermächtigung und als Mitglieder ihrer Stadtgesellschaft – und immer wieder auch für Kinder und Jugendliche oder andere spezifische Zielgruppen: Theater eben nicht als kulturelles Bildungsgut, sondern direkt im Handgemenge mit dem Publikum. Die Pilkentafel ist damit ein besonders erfolgreiches Exemplar jener Freien Szene, die sich seit den späten 1970er-Jahren in der Bundesrepublik institutionalisierte. Die kontinuierliche künstlerische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Themen und Konfliktfeldern ist das wesentliche Merkmal ihrer Arbeit: Flensburg und die verschütteten Spuren der Nazizeit, des Kolonialismus, der Grenzkonflikte und der Bi-Nationalität mit Dänemark sind wiederkehrende Themen, die in Bühnenstücken oder auch schon früh site-specific im öffentlichen Raum bearbeitet wurden. Auch die später dann postdramatisch genannten Formate der künstlerischen Forschung zu Kommunikation und Wahrnehmung, zum Feminismus oder zu ökologischen Themen sowie die Stücke für und mit Kindern und Jugendlichen gehörten von Anfang an zum Spielplan. Die Macher:innen hielten die Themen und Stoffe selbst für wichtig – um erst bei den Vorstellungen festzustellen, ob das Publikum ihre künstlerischen Problematisierungen annahm oder manchmal auch nicht. Meist waren die Angebote aber „Treffer“, wie Anne


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Magazin Kritiken

Schauspiel Frankfurt:

We have learned nothing from history „Don Carlos“ von Friedrich Schiller in einer Fassung von Felicitas Brucker und Arved Schultze – Regie Felicitas Brucker, Bühne und Kostüme Viva Schudt, Video Florian Seufert, Musik Markus Steinkellner

A

m Ende triumphieren die Frauen. Von Schiller gern an den Rand geschrieben, überleben sie in Frankfurt als einzige den fünften Akt. Don Carlos und sein Vater wurden längst über den Haufen geschossen, und auch der Herzog von Alba und der Marquis von Posa liegen blutend auf der Bühne. In der Fassung von Felicitas Brucker und Arved Schultze, die auch frühere Varianten Schillers berücksichtigt, ist ein Großinquisitor nicht mehr nötig. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Viva Schudt gibt dem Ganzen ein modernes Gesicht. Ihr Bühnenraum sieht aus wie ein Labor, weiß und aseptisch. Darin spielen sich die Familienverhältnisse und politischen Machenschaften ab wie eine Partie Schach. Die Figuren sind meist entweder schwarz oder weiß gekleidet, der machtgeile Alba schillert in einem goldenen Oberteil, während der stürmisch drängende Carlos im weißen Unterhemd und in ebensolchen Sporthosen aussieht wie ein zerzauster Hip-Hopper. Sein Vater, der König von Spanien, wirkt bei Matthias Redlhammer wie ein erfolgreicher Mafioso und kommt mal ganz in Schwarz, mal unschuldig weiß daher, ohne Zwischentöne. Seine Gattin Elisabeth (Tanja Merlin Graf) ist die ehemalige Verlobte seines Sohnes Carlos. Ihr silbrig

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„Girls & Boys“ von Dennis Kelly, Deutsch von John Birke am Theater Duisburg. Regie und Bühne Alexander Vaassen

Theater Duisburg:

Humor vor dem Höllensturz „Girls & Boys“ von Dennis Kelly, Deutsch von John Birke, Regie und Bühne Alexander Vaassen, Kostüme Christina Berger

S

ie steht schon im Bühnenhintergrund, während das Publikum den Saal betritt. Das schafft Atmosphäre, eine Grundspannung. Dann springt die Schauspielerin Friederike Becht an die Rampe, Jeans und T-Shirt, eine Frau aus dem Alltag. Wie sie heißt, erfahren wir in den nächsten anderthalb Stunden nicht. Hinter ihr fährt eine weiße Leinwand herunter. „Girls & Boys“ heißt der Monolog des britischen Dramatikers Dennis Kelly. Das klingt harmlos. Doch der Theaterabend tut richtig weh. Dabei ist er Tonfall zunächst fröhlich. Die Frau berichtet, wie sie ihren Mann kennengelernt hat und wie unsympathisch er ihr zuerst war. Wie sie sich vorher mit Sex, Drugs und Rock’n’Roll von einem Kick zum anderen gevögelt hat und nun bereit für Veränderungen war. Für Mutterschaft, Kinder, Familie. Auf der Bühne liegen Kuscheltiere und ein großer rosa Teddybär. Immer wieder spielt die Frau Szenen mit ihren Kindern, eine überforderte Mutter, die Tochter will Matsch ins Haus bringen, der Sohn saut sich ein, es gibt Streit, was gespielt werden soll. Immer hängt sie dazwischen. Irgendwann laufen zwei junge Leute über die Bühne, sind nur für Sekunden zu sehen, tauchen später als Schatten hinter der Leinwand wieder auf. Dann kommt der erste große Bruch in dieser lebensnahen und unterhaltsamen Geschichte. Die Frau schaut direkt ins Publikum und sagt, sie wisse, dass ihre Kinder nicht da sind. Ein Satz, der die Stimmung völlig ändert. Ein Satz, in dem eine Menge mitschwingt. Und nach dem jeder weiß, dass es kein glückliches Ende geben wird. Bei solchen Monodramen wird die Bedeutung der Regie oft unterschätzt. Man rühmt die klare, alltagsnahe Sprache des ­Autors – und hier auch des Übersetzers John Birke –, ebenso die schauspielerische Leistung. Doch hier sei mal zunächst der junge Regisseur Alexander Vaassen erwähnt, vor kurzem erst hat er das Studium an der Folkwang Universität der Künste abgeschlossen. Er setzt die Brüche präzise, schafft mit den stummen Schatten stimmungsvolle Akzente, sorgt für einen nie abreißenden Spannungsbogen. Die Regie dient dem Text, erfasst ­seine Struktur, kitzelt Feinheiten und Details heraus. Keine Ironisierungen, keine besserwisserischen Kommentare. Er schafft herausragendes, packendes Theater, indem er genau das tut, was der Text braucht. Natürlich funktioniert das nur mit einer phänomenalen Darstellerin. // Stefan Keim

Theater der Zeit 5 / 2024

Foto links oben Thomas Aurin, unten Sascha Kreklau, rechts oben Sascha Linke, unten Susanne Reichardt

„Don Carlos“ von Friedrich Schiller in einer Fassung von Felicitas Brucker und Arved Schultze am Schauspiel Frankfurt. Regie Felicitas Brucker

glänzender, irgendwie gräulich wirkender Aufzug markiert eine Zwischenposition. Sachte verändert sich die Bühne immer mal wieder, um Ortswechsel anzuzeigen, mal kommt hinten ein Vorhang hinzu, mal fährt ein Tisch aus dem Unterboden, der sich später zum gummizellenartigen Verlies auswächst. Das alles sieht fantastisch und immer mehr nach heute als nach gestern aus. Das Spiel des auf sechs maßgebliche Rollen geschrumpften Personals fügt sich da die meiste Zeit elegant ein. Große Gefühle treffen in „Don Carlos“ auf den Machthunger der vielen. Niemand verkörpert das emphatischer als der Marquis de Posa mit seiner zur Postkartenparole aufgeblasenen Phrase „Geben Sie Gedankenfreiheit!“. Das ist heute so aktuell wie 1787. Man mag dabei an Putin denken, den Iran oder den Wesenskern der Demokratie. Doch auch der aufsässige Posa entpuppt sich als Propagandist in eigener Mission. Heute plärrte so einer womöglich auf TikTok herum. Christoph Bornmüllers Posa legt dabei einen sensationell atemlosen Monolog hin, eine Spoken-Word-Tirade aus der Feder der britischen Lyrik-Rapperin Kate Tempest: „Europe is Lost“. Dazu flimmern Trümmerfelder über die rückwärtige Wand, Ruinenlandschaften, die sich in der Ukraine, im Gazastreifen oder sonst wo auftürmen. // Shirin Sojitrawalla


Magazin Kritiken

„Haufen Uffruhr Fortschritt II“, Kammerspiel und multimediale Installation am Theater Eisleben. Regie, Ausstattung & Dramaturgie cobratheater.cobra

Theater Eisleben:

Vom Panorama zum Panoptikum „Haufen Uffruhr Fortschritt II“– ­Regie, Ausstattung und Dramaturgie cobratheater.cobra

V

on der Wiederkehr des Immergleichen ist an diesem Abend wiederkehrend die Rede: in einer Bildbeschreibung zu Werner Tübkes „Bauernkriegspanorama“ in Bad Frankenhausen, mit dem sich das Theater Eisleben seit bald einem Jahr auseinandersetzt – und es jetzt auseinandernimmt. Demnach dreht sich die Menschheit mal munter, mal müde weiter im Kreis. Unterm Strich hat sich nichts verändert, seit jenes monumentale Gemälde und das dafür entstandene Museum vor 35 Jahren ein­ geweiht wurden und seit die Deutschen Bauernkriege oder auch Revolution des gemeinen Mannes genannten sozialen Erhebungen, die derart ins Bild gesetzt wurden, vor 500 Jahren zu nichts führten. Oder, wie es nun auf Eislebens großer Bühne heißt: „Ich kann im Fortschritt keinen Fortschritt erkennen.“ Ob Aufruhr oder, im Dialekt, Uffruhr jetzt ein Gebot der Stunde sei und wie wahrscheinlich es ist, dass es dazu kommt, ist eine von sehr, sehr vielen Fragen an unsere Zeit wie auch an die Zukunft, die dieser Abend unbeantwortet in gleich mehrere Räume stellt. „Haufen Uffruhr Fortschritt II“ kommt als kaum vierzigminütiges Kammerspiel daher, gefolgt von einer multimedialen Installation aus einem digitalen, mit KI generierten Panorama, dazu einem analogen sowie mit einer Video- und zwei Audio-Stationen.

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Wanja van Suntum verschlug es mit dem Kunstnetzwerk cobratheater.cobra nach Eisleben, wo sie mit dem Theater sowie der Kultur- und Medienpädagogik an der Hochschule Merseburg „Bauernkriegspanorama – eine Re-Komposition“ in Stadt und Land verantworteten. Sie veranstalteten offene Werkstätten für Schreiben, Zeichnen oder Fotografie, diverse Spaziergänge und Gesprächsformate. Rund 1000 Menschen sollen so daran beteiligt gewesen sein, Erinnerungen wie auch Erwartungen an das Leben zu formulieren: ein Drittel des Personals in Tübkes Panorama. Insofern sehen wir ein Welttheater im Kleingarten: dem von Jens Jenau (Oliver Beck), der durch nichts als ein niedriges Tor markiert wird. Bei dem mürrischen Endvierziger im Blaumann treffen unvermittelt Leute ein: Die woke Anna Lowe (Ronja Jenko) aus Westdeutschland fühlt sich von Leerstand und verlassenen Orten im Osten inspiriert , Alma Mutig hat panisch ihren Rucksack gepackt, um im alten Kalischacht Fortschritt II im nahen Unterrißdorf das Eintreffen multipler Katastrophen auszusitzen. // Michael Helbing

„Die Reise des G. Mastorna“ nach dem Drehbuch von Federico Fellini am Theater und Orchester der Stadt Heidelberg. Regie Bernadette Sonnenbichler

Theater und Orchester der Stadt Heidelberg:

Totentanz in der Abflughalle

„Die Reise des G. Mastorna“ nach dem Drehbuch von Federico Fellini – Regie Bernadette Sonnenbichler, Bühne Sebastian Hannak, Video ­Stefano Di Buduo

G

relle Blitze erschüttern den Raum. Die Passagiere im Flugzeug zittern. Mit frostiger Stimme bereitet sie eine Stewardess auf eine Notlandung vor. Feurige Kaskaden erfüllen den Raum. Mit an Bord ist der Cellist Giuseppe Mastorna. Er denkt nur ­daran, pünktlich bei seinem Orchester zum Auftritt in Florenz zu sein. Mit Schrecksekunden beginnt Bernadette Sonnenbichlers Inszenierung „Die Reise des G. Mastorna“. Mitten im Geschehen sitzt das Publikum. Der Heidelberger Künstler Sebastian Hannak hat eine Raumbühne geschaffen, die jeden und jede in das immersive Erlebnis eintauchen lässt. Augenblicke fühlt es sich so an, als stürzten alle mit der Maschine ab. Lichtdesigner Ralf Kabrehl erzeugt eine Illusion, wie man sie nicht alle Tage im Theater erlebt. Sonnenbichler hat die monumentale Produktion auf die beiden Bühnen des Heidelberger Theaters gebracht. Dazu hat Hannak die beiden Bühnen des Marguerre-Saals und des Alten Saals verbunden. An Bistrotischen und auf Tribünen sitzen die Zuschauer und folgen dem Cellisten, der durch das Unglück schroff aus seinem Leben gerissen wird. Steffen Gangloff meistert den Seiltanz des Protagonisten zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit betörend schön. Im Feinripp­ hemd rennt er durch die Szenerie. Seine verzweifelten Versuche, aus dem geistigen Gefängnis zu entrinnen, schlagen fehl. Die stilisierte Kulisse einer italienischen Altstadt, Abflugtafeln auf einem Flughafen und die Rezeption eines Hotels markieren die Welt, in der sich der Reisende zwischen Diesseits und Jenseits bewegt. Mit dem ­Videokünstler Stefano di Buduo erschafft Hannak einen Raum, der Fellinis opulente Filmbilder zwar zitiert, aber konsequent ­ weiterentwickelt. Kameras überwinden dir Grenzen von Zeit und Raum. Auf zwei riesigen Leinwänden sehen sich die Zuschauer selbst. Fassungslos steht Mastorna vor dem Bildschirm und blickt in eine künstlich verzerrte Fratze, die sein Gesicht sein soll. Lustvoll spielt das künstlerische Team mit den Möglichkeiten der Technik, die das Heidelberger Theater bietet. // Elisabeth Maier

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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W

Migration Richtung Osten? Von Iwona Nowacka

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en wird schon interessieren, was eine Polin, die nicht mal in Deutschland lebt, über deutschsprachiges Theater denkt? Ja, das war meine Reaktion, als ich zu dieser Kolumne eingeladen wurde. Gleichzeitig habe ich mich enorm gefreut, nun muss ich dem gerecht werden, was sich die Redaktion dabei gedacht hat: dass ich nämlich eine seltene Perspektive hätte. Ab jetzt ist es also meine Aufgabe, Sie, und vielleicht mehr noch mich selbst, von dieser zu überzeugen. Ich habe Deutschland als mein Bezugsland gewählt, wer weiß warum (dazu vielleicht bei einer anderen Gelegenheit, wir haben ja Zeit). Ich habe mich dieser Wahlverwandtschaft zu Überraschung und Erschrecken meiner Familie verschrieben, da ich mich in die deutsche Sprache auf den ersten Satz (der übrigens „Das ist ein Buch“ hieß) verliebte und demzufolge Übersetzerin, später auf Theatertexte spezialisiert, geworden bin. Und ich beobachte euch seit Jahren, mit Bewunderung, mit Neid, manchmal mit Verwunderung, seltener mit Sorge. Am häufigsten war für mich jedoch dieses Nachbarland ein mentaler Zufluchtsort. Ich wandere jetzt aus. Diesen Satz hatte ich immer als Drohung parat. Als ein letztes ­ Argument im Streit mit der Familie, als ­ ängstliche Kalkulation vor manchen Wahlen und verzweifeltes Gejammer danach, Trost bei unterbezahlten Jobs, bei jeder Krise: Wenn was ist, dann gehe ich nach Deutschland. Dazu ist es immer noch nicht ge­ kommen, aber ich lebe im Grenzgebiet, in Szczecin. Während in Polen gerade nach dem Regierungswechsel tüchtig aufgeräumt wird, lese ich das bei dem Heidelberger Stückemarkt nominierte Stück von Lars Werner „Die ersten hundert Tage“, in dem eine rechtsextreme Partei an die Macht kommt, ihre eigene Weltvision einführt und Menschen zur Flucht zwingt. Drei Figuren fliehen aus Deutschland in die Tschechische Republik. Kurz bin ich enttäuscht, habe gehofft, das wird Polen sein, da sind sie, die Kom­ plexe. Ich muss sofort an die Tankstelle am Grenzübergang in Kołbaskowo denken. Die wäre auch ein perfekter Spielort für dieses Stück. Herzlich willkommen, Zimmer frei, billige Zigaretten, Zahnarzt mit Deutschkenntnissen, Piroggen, alles schon da. Würde dies also funktionieren? Ich versuche mir vorzustellen, wie Deutsche nach Polen kommen, hier Arbeit suchen, Polnisch lernen, nicht als

Touristen in den günstigen Ostseehotels wohnen, an polnischen Theatern nicht nur deutsche Regiestars als Highlight der Spielzeit, sondern Hilfsresidenzen für „gewöhn­ liche“ Theatermenschen. Ich habe jedoch Schwierigkeiten. Migration Richtung Osten ist für mich so etwas wie Erddrehung Richtung Westen. Zu tief eingeprägt ist ein an­ deres Weltbild. Ich bekomme Gänsehaut. Diese Vorstellung nimmt mir meine ganze Sicherheit. Meine Welt steht kopf! Deutschland war ja meine Tür zur Welt, es ist das Land, wo ich die meisten Weltküchen probiert habe, das Land, wo ich zum ersten Mal homosexuelle Paare in der Öffentlichkeit ­gesehen habe, wo ich gelernt habe, was ein Awarenessteam ist, wo ich mich für so vieles sensibilisiert habe und immer am freisten und am sichersten gefühlt habe, wo ich das erste Mal gedacht habe: Wooow, so kann Theater sein! Wahnsinn! Danke, René! Aber es sieht so aus, als habe ich vieles nicht ­sehen wollen: ja, nicht alles ist ok. Und Liebe ist blind. Gleichzeitig auf vielen polnischen Bühnen: Thema Kriegsgefahr. Und ich spüre sie auch, diese Angst. Und reagiere darauf wie immer: Von meinem Haus bis zur deutschpolnischen Grenze sind es zu Fuß genau 196 Google-Minuten. Ich würde jedenfalls in die Richtung aufbrechen, habe mir vorsichts­ halber schon den Weg eingeprägt. Ich hoffe aber fest, dass es nicht dazu kommt. Und ich hoffe, dass niemand aus Deutschland wegmuss. Wenn aber, dann bin ich hier für euch da. Und viele andere auch. Was aber, wenn schlimmstenfalls beides kommt und wir gleichzeitig aufbrechen müssen? Wollen wir uns irgendwo mitten auf dem Weg treffen und uns zusammen was Neues einfallen ­lassen? T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Regisseurin Marie Schleef, die Übersetzerin und Dramaturgin Iwona Nowacka und der Regisseur und Hörspielmacher Noam Brusilovsky, monatlich im Wechsel.

Theater der Zeit 5 / 2024

Foto links Jakub Wittchen, Fotos rechts Theater Casino Zug Bettina Matthiessen, Kaserne Basel Filip Van Roe, Theater Konstanz Ilja Mess, Theater Marie Valentina Verdesca, Ballhaus Naunynstraße Zé de Pauva, Sophiensæle Berlin Dieter Hartwig

Magazin Kolumne


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präsentiert Theater Casino Zug Aus Liedern und Sinfonie-Fragmenten von Gustav Mahler bauen Thom Luz und sein Ensemble in „Das irdische Leben“ frei nach Gustav Mahler eine kurze Weltgeschichte in Klängen. Vier Menschen stranden in einem leeren Raum. Es gibt kein Entkommen – außer durch Gesang. So öffnet sich ein Assoziationsraum über das Leben der Erde und ihre seltsamen Bewohner:innen, zwischen den zusammenhängen von Weltüberdruss und Veränderungsoptimismus. 22.05.

Nancy Mensah spielt für Theater Marie

Theater Marie Mit zungenbrecherischer Verspieltheit fragt das Stück „Fischer Fritz“ von Raphaela Bardutzky danach, wie wir altern wollen, wer uns pflegen soll und welche Rolle die Familie dabei spielt. Theater St.Gallen 3. – 27. Mai, Kurtheater Baden 14. – 15. Mai, theatermarie.ch 03.05. bis 27.05.

Irena Z. Tomažin & Jule Flierl: U.F.O. – Hommage to Katalin Ladik

Sophiensæle Berlin Katalin Ladik gilt als „Yoko Ono des Balkans“ und Pionierin der Geräusch- und Performancekunst. Jule Flierl und Irena Z. Tomažin schaffen eine Hommage an der Grenze von Poesie, Tanz und experimenteller Stimmarbeit. 02. bis 05.05.

Thom Luz und Ensemble, Das irdische Leben

Ballhaus Naunynstraße, Berlin Die gesellschaftlichen Rollen sind eng. Mit der Reihe PORTRÄT bietet das Ballhaus Naunynstraße eine Plattform für Schwarze Künstler:innen, ihre Rolle selbst zu entwerfen, die Fülle ihrer Kunst zu zeigen: Diesmal: Thiago Rosa! 15. bis 18.05.

Kaserne Basel Starchoreograf Sidi Larbi Cherkaoui inszeniert ein Solo für Marc Brew, der seit einem schweren Unfall im Rollstuhl sitzt: „An Accident / a Life“ am 16. & 17. Mai. Infos und vollständiges Programm: kaserne-basel.ch 16.05./17.05. Das Bildnis nach Motiven des Dorian Gray

Theater Konstanz

Marc Brew/Company Eastman

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Regisseur und Autor Hannes Weiler inszeniert seine Überschreibung von Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“, in der er die Konsistenz der Persönlichkeit befragt. Wie wirken die Mechanismen der Selbst­ darstellung beispielsweise in sozialen Medien auf die Persönlichkeiten der Darstellenden zurück? 25.05. (Uraufführung)

Porträtperformance von Thiago Rosa

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Thema Perspektiven der Volksbühne

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Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin. Foto Holger Herschel

Theater der Zeit 5 / 2024

Was wird aus der Volksbühne, das ist nicht allein die Frage, wer sie leitet, sondern welche Richtung damit eingeschlagen wird und welche Möglich­ keiten sich damit eröffnen. Nur wenige Tage nach dem Tod von René Pollesch am 26. Februar wur­ de die Diskussion der Nachfolge losgetreten mit einem schwindelerregenden Namenskarussell. Das war doppelt pietätlos: gegenüber dem ge­ rade verstorbenen Intendanten, der das Haus seit 2021 leitete, und gegenüber denen, die dort nach dem Schock arbeiten, auftreten, spielen – weiter­ machen. Und den kommenden Entscheidungen wohl mit Bangen entgegensehen, wofür die ober­ schlauen Tippgeber und Bescheidwisser keinerlei Sensibilität zeigen. Wir haben uns daher für ein ganz anderes Vor­ gehen entschieden und sehr verschiedene Leute um etwas grundsätzlichere Überlegungen gebeten. Leute, die auf ganz unterschiedliche Weise mit der Volksbühne verbunden sind: Der C ­ astorf-Veteran Henry Hübchen; Klaus Lederer, der als Berliner Kultursenator Pollesch als Intendanten holte; die Aktivist:innen von Staub zu Glitzer, die mit ihrer Besetzung der Volksbühne im September 2017 die Idee von einem intendanzlosen ­Theater ein­ fordern wollten, die sie auch heute noch vertre­ ten; der Theaterwissenschaftler Matt Cornish aus den USA und Walter Bart vom ­niederländischen Kollektiv Wunderbaum, die ihre ästhetisch-­ politische Volksbühnen-­ Bildung jeweils in ihre Bereiche trugen; die Theater­ wissenschaftlerin Anna Volkland, Expertin für I­nstitutionskritik als Teil künstlerischer Praxis und die Dramatur­ gin ­Sabrina Zwach, die für die Zukunft die Ver­ gangenheit zurate zieht. Es gab dafür nur zwei ­Verabredungen: eine bestimmte Länge und keine Namen! Kein Orakeln oder pseudoprogrammati­ sche Blicke in trübe Glaskugeln. Eines ist klar: keine Zukunft, ohne dabei die Vergangenheit dieses besonderen Theaters zu be­ denken. Die reicht weiter zurück als die nunmehr endgültig im Mythischen aufgehende Geschichte des wichtigsten Theaters im wiedervereinigten Deutschland. Schon vor fast hundert Jahren, da­ ran erinnert Klaus Lederer, wurde die dringliche Frage nach der Zukunft der Volksbühne gestellt. Von Bertolt Brecht.

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Thema Perspektiven der Volksbühne

Das Ende der Volksbühne?

Die Steine werden nicht zusammenfal­ len. Sie steht schon über 100 Jahre da. Top saniert, wie nie zuvor, gewaltig, ein­ ladend am Rosa-Luxemburg-Platz, dem Platz voller Geschichten und mehrmali­ gen­Namenswechseln. Ein Platz, auf dem Klassenkämpfe ausgetragen wurden. Roter Frontkämpferbund und SA, die Privat­ armeen der Linken und der Rechten schlu­ gen sich die Köpfe ein. Die Polizei sah zu. Die Volksbühne, das Deutsche Theater, das Burgtheater, das Berliner Ensemble, die Namen klingen, weil vor allem innen, in den architektonisch geschichteten Stei­ nen ab und zu etwas Außergewöhnliches stattfand. Ich wollte als junger Schauspie­ ler nicht an die Volksbühne. Ich wollte zu Benno Besson, Manfred Karge, Matthias Langhoff, Fritz Marquardt. Die waren zu­

fällig an der Volksbühne, und weil sich auch Heiner Müller dort herumtrieb. Das Theater strahlte und die Volksbüh­ ne wurde wieder ein Begriff, nach Jahre langem Schlaf. Die Steine blieben aber Steine, stoisch unbeeindruckt. Ich war immer der Meinung, ein Theater ist kei­ ne Backstube. Da werden keine Brötchen gebacken, sondern Ereignisse. Nach dem Weggang von Benno Besson und anderen wurde die Volksbühne allerdings wieder zur Backstube. Ich habe eigentlich nichts gegen Brötchen, wenn sie nicht zu luftig sind. Wenn schon, dann richtige Berliner Schrippen. Damit kann man auch über­ leben. Dann kam der Anschluss „Deutsch­ land einig Vaterland“. Und es fand sich ein Neuer, der keine Angst vor großen Tieren hatte und schon gar nicht vor dem gewal­

Die Volksbühne ist ein klassisches Instrument, was einfach nur bespielt werden muss. Flötenspieler sollten allerdings nicht Orgel spielen.

tigen Theaterbau Volksbühne. „Entweder in einem Jahr berühmt oder tot“, war die Devise. Man könnte auch eine Badeanstalt für die Berliner aus diesem Panzerkreuzer machen, warf Heiner Müller ironisch in die Runde. Kurz, die Steine wurden wie­ der berühmt. Die Volksbühne, der Name begann wieder zu klingen und zu glänzen. Die Steine trugen überhaupt nichts zu ihrer neuen Berühmtheit bei. Sie wurden trotzdem saniert, die Drehbühne, die Büh­ nentechnik alles wurde neuer, gewaltiger. Die Tonanlage kann es fast mit Rammstein aufnehmen. Die Volksbühne. Ich den­ ke, wenn man heute von der Volksbühne spricht, meint man immer noch die Inhalte der Jahre unter der Intendanz von Frank Castorf. Es sind nicht die Steine, die er­ tragen alles stoisch. Es war das originäre Denken, Widerspruch, Querulantentum und Wertschätzung der eigenen Gedanken. In einer Zeit, wo der Osten seine Identität, seine Authentizität loswerden wollte, wur­ de darauf bestanden. Als Frank Castorf die Intendanz beendete, verschwand auch das „Ost“ auf der Volksbühne. War das das Ende? Nein. Ein verrostetes Räuber­ rad zeugt noch einsam von einer vergan­ genen Hochkultur. Jetzt ist René Pollesch gestorben. Ist das das Ende der Volksbüh­ ne? Natürlich nicht. Sie ist doch noch da. Nicht weggebombt, wie 1945, und wenn doch, wäre es diesmal allerdings tatsäch­ lich das Ende. Da bin ich Pessimist. Aber wir sind ja Optimisten. Die Volksbühne ist ein klassisches Instrument, was einfach nur bespielt werden muss. Mal klingt es, mal klingt es nicht. Flötenspieler sollten al­ lerdings nicht Orgel spielen. Es geht doch nur um die Frage, wer hat Kraft, Talent, Visionen für ein originäres Theater. Die Steine warten darauf.

Henry Hübchen, Schauspieler

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Foto links picture alliance / Paul Zinken/dpa | Paul Zinken, rechts oben Thomas Aurin, unten Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

Henry Hübchen, Schauspieler


Thema Perspektiven der Volksbühne

Die letzte Produktion von René Pollesch und Fabian Hinrichs: „ja nichts ist ok“, 2024

„Der Meister und Margarita“ von Frank Castorf nach dem Roman von Michail Bulgakow an der Volksbühne, 2002

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Thema Perspektiven der Volksbühne

Nach dem Scheiterhaufen

Das Beste, was ich je gefühlt habe, war immer auf dem Heimweg nach einer Vor­ stellung in der Volksbühne. Einfach das Beste. Ich habe im Herbst 2010 etwas von Pollesch gesehen, wahrscheinlich „Ein Chor irrt sich gewaltig“, und danach fühlte ich mich einfach großartig, so voller Leben. Ich hatte die fantastischen Partys und Festivals der 90er Jahre verpasst – ich hörte nur davon, recherchierte darüber in Archiven. Schlingensief, wie er ins Mikro­ fon brüllt. Bert Neumanns „Neustadt“. Vielleicht waren das die besten Jahre. Es fühlt sich in Berlin immer so an, als wären die besten Jahre die Jahre gewesen, kurz bevor man angekommen war. Immer noch, das Beste, was ich je gefühlt habe, war auf dem Heimweg nach einer Vorstellung in der Volksbühne. Ich habe seit 2002 ab und zu in Berlin gelebt, immer mal wieder für ein

Jahr. Als ich im September 2022 wieder zurückkehrte, wollte ich vor allem zur Volks­ bühne. Als ich die Rosa-Luxem­ burg-Straße hinauffuhr, sah ich die „WIR LEBEN“-Plakate und ich fühlte einen ­ Schauer von Leben. Aber fast alles, was ich dort in der Saison 2022/23 sah, fühlte sich alt an. Die Schauspieler:innen schleppten sich durch Routinen; selbst Produktionen junger Künstler:innen wirkten energielos. Es war, als ob ein Vampir in dem Gebäu­ de lebte und es für ihn nur noch wenig Blut gibt. Wenn Fabian Hinrichs auf der Bühne stand oder Florentina Holzinger ­ und ihr Ensemble verrückte Sachen mach­ ten, funktionierte es noch – dann waren diese für einige Momente wieder wirklich lebendig. Ich fuhr mit dem Fahrrad nach Hause, nachdem ich „Geht es dir gut?“ gesehen hatte, und eine Frau rief mir aus einem

Der Boden braucht Dünger, damit dort wieder etwas wachsen kann. Frische Scheiße.

Matt Cornish

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Auto zu – sie sah mich den Programm­zettel in der Hand halten –, dass sie die Inszenie­ rung einfach liebte, einfach liebte, und ob ich sie nicht auch liebte?! Oder nach „Di­ vine Comedy“, das mir zwar nicht so sehr gefiel, aber bei mir das Gefühl hinterließ, entweder mich übergeben zu müssen oder doch noch essen zu gehen – dieses Gefühl hatte Leben in sich. Vielleicht gab es also einige Funken, und vielleicht hätten diese Funken ein Feuer entfachen können, wenn Pollesch noch ein weiteres Jahr oder zwei gehabt hätte. Aber das hat er nicht, auch wir haben es nicht. Na ja, ich bin Amerikaner. Und was die Volksbühne betrifft: Fuck Off, Ame­rika. Die Geister in der Volksbühne sind präsent. Eine Weile lang hingen dort Kostüme aus „Räuber von Schiller“ in ­ der ersten Etage. Wie hätte man nicht das Bühnenbild von „Murx den Europäer“ in den Wänden des Zuschauerraums erken­ nen können? Henry Hübchen, Herbert Fritsch, Sophie Rois, Kathrin Angerer, egal wen, man kennt sie, man sieht sie alle, wenn man dort ist, vielleicht sieht man sie wirklich, vielleicht erschaudert man, wenn man durch ihre abwesende Präsenz geht, während man seinen Platz sucht. Reißt die verdammte Betonbrutalität nieder, und ich werde immer noch dort stehen am nörd­ lichsten Punkt des Dreiecks vom Rosa-­ Luxemburg-Platz und darüber lachen, wie Martin Wuttke in „Der Idiot“ spielte. Oder erschaudern, wenn ich an Dimiter Got­ scheffs „Iwanow“ denke. Vielleicht sollte es eine verdammte große Zeremonie geben, eine Gedenkfeier, wie das Abschiedsfest im Jahr 2017, aber als Begräbnis für Schlingensief und Got­ scheff und Neumann und Spengler und Pollesch. (Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind.). Und man sollte Matthias Lilien­ thal bitten, es zu inszenieren, und Alek­ sandar Denić sollte einen Scheiter­haufen

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Foto Daniel King

Matt Cornish, US-amerikanischer Theaterwissenschaftler und Dramaturg


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aus nachgebildeten Bühnenbildern ent­ werfen, und man könnte fragen, ob Her­ bert Fritsch einen Chor in einem Lied aus Quatsch dirigieren will, und ob Kathrin Angerer eine lange Rede halten kann, und ob Gob Squad den Tanz organisieren kann und so weiter. Dann den Scheiter­ haufen anzünden. Und alle sollten nach Hause gehen und don’t look back, denn wir werden verstehen, dass es vorbei ist, und es wird vorbei sein. Die Mission wird beendet. Vergesst das ABC des Kommu­ nismus. Dann, wenn ihr mich fragt, was pas­ sieren sollte, sage ich, dass die Volks­bühne jemanden oder einige Leute braucht, die etwas Mist ausbringen werden. Der Bo­ den braucht Dünger, damit dort wieder etwas wachsen kann. Frische Scheiße. Verrot­ tete Geschichte, Geschichte, die

wieder zu Kompost wird. Stellen Sie je­ manden ein (stellen Sie jemanden vor), der das Räuberrad vorne stehen lässt, aber es größtenteils ignoriert. Stellen Sie jemanden oder einige junge Leute ein, mit starken Schultern und großen Schaufeln. Die neue Gemeinschaften schaffen kön­ nen und was Neues bauen. Ich möchte dann zur Volksbühne gehen und mich darüber beschweren, wie viel sich verän­ dert hat. Ich soll mich alt fühlen, wenn ich dort hingehe. Dies ist keine Zeit für Recycling. Finden Sie heraus, wer unter den Jun­ gen völligen Unsinn macht. Leute, die zu jung sind, sich an alles zu erinnern. Dann stellen Sie die ein. Das wird die Zeit von 1991 nicht zurückbringen. Aber vielleicht ermöglichen, dass es eine Bühne für 2024 ist.

MEINE DAMEN UND HERREN Festival für inklusives Gelingen und Scheitern

FESTIVAL Forum Freies Theater Düsseldorf fft-duesseldorf.de

© Christian Martin

Institutionskritik als endloses Programm

THEATERRAMPE.DE

Anna Volkland, Theaterwissenschaftlerin

„Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten“, meinte ein Theaterautor, der nicht mehr da ist, um sich selbst zu erklären. Was bleibt von Theaterschaffen­ den? Man kann das Gefühl haben, dass es immer unangenehm schnell weitergehen soll mit dem business as usual. Was ein Fehler ist – mindestens dort, wo Kunst ge­ macht wird. Auch in diesem Text geht es nicht um den oder die Toten der Volksbühne, allerdings auch nicht um einzelne, noch lebende Theaterschaffende mit Potenzial – sondern um die Frage, wie dieses über 110 Jahre alte Theatergebäude am heuti­ gen Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, in dem allein in den letzten sieben Jahren verschie­

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dene Theatervisionen, Organisationswei­ sen und Leitungsstile beendet, neu versucht und wieder beendet wurden, weiterhin als öffentlicher Kunstort zu denken ist? Die folgenden, nur knapp skizzier­ ten Vorschläge für weiteres Nachdenken und Diskutieren sind aus einer kritischen Außenperspektive formuliert. Und von ­ hier aus ist unsentimental zu erkennen, dass die weit über Berlin hinaus berühmtberüchtigte, postsozialistische Volksbühne im Unterschied zu anderen öffentlich ­finanzierten Häusern der gesamtdeutschen Theaterlandschaft etwas Besonderes ist: ein Haus, an dem immer wieder Viele ­Anteil nahmen und nehmen – auch durch öffentliche Zuschreibungen.

THEATER TANZ

PERFORMANCE

MUSIK


Die Produktionsund Probenprozesse eiferten bewusst nicht den in den allermeisten Stadt­ theaterbetrieben durchgesetzten Standards nach.

Anna Volkland, Theaterwissenschaftlerin

Eine Möglichkeit, die Projektions­ fläche Volksbühne anzupinseln, ist die Feststellung, dass Anarchie und Kunst hier seit den frühen 1990ern als positiv aufge­ ladene Begriffe und sogar ziemlich glaub­ haft performte Produktionsideale gelten konnten, während ‚Demokratie‘ oder ‚Kollektiv(arbeit)‘ in dieser Hinsicht erst (wieder) in den letzten Spielzeiten disku­ tiert wurden, mit Bezug auf die ältere Ge­ schichte des Hauses und als Reaktion auf zeitgenössische intendanz- und machtkriti­ sche Diskurse. Hieraus hätte sich vielleicht noch eine interessante Synthese ergeben können oder eben jetzt folgende Aufga­ benstellung: Zusammenzubringen wären der große (nicht nur) künstlerische Unab­ hängigkeitsanspruch öffentlich finanzier­ ter Theaterschaffender, der darauf beharrt, dass ein öffentliches Theater „Störungen“ produzieren sollte und grundsätzlich nicht dazu da ist, monetären Gewinn zu erzie­ len oder Werbung für die Positionen und ­Interessen der regierenden Parteien oder anderer Sponsoren zu machen (und auch nicht, um Ruhm und Reichtum bestimm­ ter Künstler:innen zu vergrößern) – und der jüngere, anti­ autoritär-demokratische Anspruch, dass ein leitender Theater­ mensch sich trotz ganz eigener Kunst­ produktionspraxis nicht per se über struk­

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turell abhängige Andere hinwegsetzen, jederzeit vorangehen und im Zweifelsfall allein den Rahmen des Möglichen für alle anderen Kolleg:innen abstecken könnte, sollte, wollte. Anspruch eins und zwei müs­ sen in der Praxis nicht im Gegensatz ste­ hen – letzterer erfordert allerdings konkre­ te Strukturen und den Mut, Willen und die Fähigkeiten vieler, miteinander zu lernen. Aber auch die erste, ein Vierteljahr­ hundert lang die Volksbühne dominieren­ de Position ist kaum zu wiederholen: Sie setzte auf ästhetische wie intellektuelle Heraus- und Überforderungen, die Pro­ duktions- und Probenprozesse eiferten be­ wusst nicht den in den allermeisten Stadt­ theaterbetrieben durchgesetzten Stan­­dards nach. Sie näherte sich aber in einem Punkt dennoch theaterfolkloristischen Avantgar­ dekunst-Klischees (und wie gesagt: Das ist die Außenperspektive): Es könnte den beteiligten Produktionskolleg:innen eben auch mal wehtun, ein bisschen Grenzüber­ schreitung im Spiel sein, wenn existen­ tiell dringliche, außergewöhnliche Kunst produziert wird. Solche Argumente funk­ tionieren heute nicht mehr; denn solche äußerste, leidensbereite Hingabe recht­ fertigende Außergewöhnlichkeit war an den meisten Theatern eher selten im Spiel. Auch die Frage, ob Bühnenkünstler:innen

sich freiwillig selbstbestimmt oder doch eher aus Abhängigkeit in bestimmte Pro­ zesse begeben, ist angesichts der Kopplung von Intendanzwillen und Arbeitsmöglich­ keit für die allermeisten eine äußerst pre­ käre. Die soziale Sicherheit derer, die sich natürlich auch oder sogar erst recht als künstlerisch voll mitverantwortlich füh­ lende Ko-Autor:innen die Seelen aus dem Leib spielen wollen können, wäre natür­ lich immer herstellbar – hier geht es um die (Um-)Verteilung von Geldern und be­ triebliche wie vertragliche Regelungen, nicht um großzügige Intendant:innen oder befreundete Ausnahmetalente. Weniger leicht zu beantworten, scheint die Frage nach den noch bestehenden Möglichkeiten der produktiven Irritation, Selbstprovokation und der Dringlichkeit des Störenwollens, des Verständnisses der Bühne in Berlin-Mitte als institutionskritischem Stachel innerhalb der kulturbürger­ lich orientierten, (zunehmend unsicher) staatlich finanzierten Theaterlandschaft. Dieses Haus konnte lange Zeit wichtige ästhetische und intellektuelle Impulse aus­ senden und Identifikationsmöglichkeiten für Theatermachende und Zuschauer:in­ nen bieten, die im Mainstream-Kultur­ angebot für sich keinen Platz fanden – es ist aber (unabhängig vom tatsächlichen Programm und dessen öffentlicher Be­ wertung) längst zu einer erfolgreichen Kulturbotschafterin des Theaters made in Germany geworden. Als tourismuswirksa­ me Qualitätsbühne mit Museumsfunktion kann die Marke Volksbühne allerdings ge­ rade nicht verstanden werden, ihr Unique Selling Point bleibt das Nichtstromlinien­ förmige. Die Berliner Kulturpolitik sollte weitsichtig genug sein, alle Investitionen in dieses Haus als antifaschistisches, pardon: demokratisches Programm zu verstehen, das gerade durch ausgewählte Nichtanpas­ sung an gesamtgesellschaftliche Trends und die Beschäftigung mit vielleicht Ab­ gründigem seine unverzichtbare Aufgabe erfüllt.

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Foto links privat, rechts privat

Thema Perspektiven der Volksbühne


Thema Perspektiven der Volksbühne

Wenn die Zukunft eine schöne Vergangenheit hat Sabrina Zwach, Dramaturgin und Produzentin

Eine Vision für die Zukunft der Volksbüh­ ne entsteht aus der Kenntnis der Vergan­ genheit. Anders formuliert: Eine Vision für das Theater könnte sein, wenn die Zukunft doch noch eine schöne Vergangenheit ha­ ben könnte. Man müsste nun ran, beherzt die richtigen Entscheidungen treffen, die Vergangenheit kennen und sich von ihr lösen. Der Rückgriff auf die Formeln der Vergangenheit funktioniert nicht, da sich die Zeiten geändert haben, die Stadtgesell­ schaft, die politischen Verhältnisse und der Gott des Geldes immer gieriger einwirken. Es wird nicht die rettende Person, das ret­ tende Kollektiv geben. Es geht ums Gan­ ze. Die Volksbühne ist ein Solitär in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Es gibt die Stadttheater und dann gibt es die Volksbühne. Immer war diese architekto­ nische Schönheit eine Außenseiterin. Ein Theater, das mit einem Schriftzug auf dem Dach einerseits die Himmelsrichtung und andererseits eine klare politische Haltung ausgerichtet hat. Ein Haus, gebaut und ge­ dacht, wie eine Theater-Kunst-Maschine, die Unglaubliches kann, die wieder geölt und in Gang kommen muss. Ein Organis­ mus, der eine Wiederbelebung braucht, das Herz darf dabei nicht gefährdet wer­ den. Gleichzeitig: die Kirche im Dorf las­ sen, die Projektionsfläche des Theaters, das alle Sehnsüchte vereint, ausschalten. Wie kann man also eine Zukunft den­ ken? Die Volksbühne bot immer Raum für Theaterkunst, Auseinandersetzung, Poli­ tik, für verschiedenste gesellschaftliche Gruppierungen. Die Vision erwächst viel­ leicht aus den Fragen: Aus welchen Sphären würde beispiels­ weise heute ein Christoph Schlingensief, ein Christoph Marthaler kommen? Gelingt es, das weite Spektrum an künstlerischer

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Auseinandersetzung wieder auf einer ­Bühne zu vereinen? Kann man sich vom Repertoire-Betrieb lösen? Kann man sich aus der Logik der klassischen Abendveran­ staltung lösen und experimentellere oder neue Formate erfinden? Wie kann man Entschleunigen? Weniger produzieren? Kann man laborartige Produktionsverhält­ nisse schaffen, die sich von der festgelegten

Disposition lösen? Geht die Politik mit der Vision mit? Wie kann man mehr vorden­ ken und weniger nachdenken? Wie schafft man eine stärkere Verknüpfung mit den verschiedensten Gruppen der städtischen Gesellschaft, auch wenn das erst einmal nicht so leicht herstellbar sein wird? Wie sieht Leitung aus? Wer gibt dem Theater das Gesicht?

Aus welchen Sphären würde beispielsweise ein Christoph Schlingensief, ein Christoph Marthaler heute kommen?

Sabrina Zwach, Dramaturgin und Produzentin

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Thema Perspektiven der Volksbühne

Es lohnt der Mut, etwas zu wagen Klaus Lederer, Politiker

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Bloß keine Schnellschüsse aus kulturpolitischem Reflex oder Verlegenheit! Einen Messias wird es nicht geben. Es lohnt der Mut, etwas zu wagen, auch mit der Möglichkeit des Scheiterns. Klaus Lederer, ehemaliger Senator für Kultur und Europa in Berlin

an dem Haus arbeitenden Menschen, ihre fortwährende Fähigkeit, neue Formen der Theaterkunst (also nicht einfach nur „des Diskurses“) zu entwickeln, und zwar – in Worten Christoph Menkes – „mit einem gänzlich unzeitgemäßen Vertrauen in die Kraft der Kunst“. Was die Volksbühne im­ mer besonders machte, waren der Umgang und die Konfrontation mit Geschichte. Es ging darum, historische Erfahrungen ernst zu nehmen. Man spielte gegen glattgeschlif­ fene Narrative gesellschaftlicher Entwick­ lung an, widerständig in Inhalt und Form, interdisziplinär und experimentell. Gut war die Volksbühne, wenn sie sich auf Berlin bezog – auf diese besondere Stadt, die nur in permanenter Reflexion existieren kann. „Stadttheater heißt, die Stadt ins Theater zu holen“, so Thomas Martin: „Es heißt, über den Tellerrand gucken und sehen, was mit dieser in der Welt zentral gelegenen Stadt passiert.“ Eine Stärke des Theaters war, autonomes und gleichzeitig kollek­tives Arbeiten zu ermöglichen, künstlerische Freiheit und Freiräume zu schaffen, in einer Art produktiver Anarchie. Die Aufgabe ist nicht einfach. Un­ lösbar ist sie nicht. Der Repertoire- und

Ensemblebetrieb steht hoffentlich nicht zur Disposition. Gesellschaftliche Kon­ flikte und Brüche gibt es mehr denn je. Wie bietet politisches Theater heute dafür künstlerisch anspruchsvollen, be­ wegenden Resonanzraum? Wie kann am „Volksbühnenerbe“, an seinen politi­ schen und ästhetischen Erfahrungen, an­ geknüpft werden, ohne wiederzukäuen? Vielleicht ist es klug, Polleschs Team die Arbeit vorerst weiterführen zu lassen und sich Zeit zu nehmen, sich darüber zu ver­ ständigen, was in diesem Sinne gesucht wird – gemeinsam mit Theatermenschen, den Beschäftigten des Hauses, Allies in der Stadtgesellschaft, gern im geschützten Raum? Das würde auch René Pollesch ge­ recht. Es muss ja nicht gleich wieder ein Kongress sein. Bloß keine Schnellschüsse aus kulturpolitischem Reflex oder Verle­ genheit! Einen Messias wird es nicht ge­ ben. Es lohnt der Mut, etwas zu wagen, auch mit der Möglichkeit des Scheiterns. Ganz im Geiste Ivan Nagels: Gebt die Volksbühne einem jungen Team, in drei Jahren sind sie entweder berühmt oder tot.

Theater der Zeit 5 / 2024

Foto picture alliance / dts-Agentur | -

„Wie können wir die Volksbühne retten?“, schrieb Brecht Ende der 1920er, in der Krise nach dem Weggang Erwin Pisca­ tors. Ähnlich klang manch Nachricht, die ich nach René Polleschs Tod erhielt. Das war einerseits der heftige Schock über die Lücke, die René mit seiner unglaublich ­ produktiven künstlerischen Praxis hinter­ lassen hat. Da war aber auch größere Sorge um die Zukunft des Theaters. War Pollesch nicht die personifizierte Garantie für die Bewahrung der „Volksbühnentradition“ und ihre gleichzeitige Weiterentwicklung? Wer kann das jetzt noch leisten? Zweifel­ los spielen da noch immer die Emotionen und Affekte mit, die mit dem kaum sie­ ben Jahre alten Streit um den Intendanz-­ Wechsel von Castorf zu Dercon verbunden waren. Es ging um die „Volksbühnentradi­ tion“, Identitätsfragen und Lebensgefühl, aber auch um finanzielle, strukturelle und künstlerische Fragen: Festivalhaus oder Ensemble- und Repertoiretheater? Wie könnte es jetzt weitergehen? Da lohnt ein Blick zurück, zum Kongress „Vorsicht, Volksbühne!“ im Juni 2018 in der Akademie der Künste. Erstmals fand, so Petra Kohse, in der kulturpolitischen Geschichte Berlins die öffentliche Ausei­ nandersetzung um ein Theater statt, be­ vor sein Schicksal besiegelt war – Theater der Zeit dokumentierte die Debatten in einem Sonderheft. Es ist erstaunlich, wie hilfreich diese Beiträge für die Suche nach einer künstlerisch fruchtbaren Zukunft der Volksbühne noch heute sind. Die Rede von einer quasi linearen Theatertradition des Hauses wurde gründlich entmystifi­ ziert. Die Volksbühnengeschichte – das war immer ein Auf und Ab, Suchen und Verwerfen, künstlerische Ebbe und auch wieder Flut. Das war seit ihrer Gründung so und galt bis zu Castorfs Zeiten. Wenn sich eine Kontinuität, ein „Geist der Volksbühne“, identifizieren ließe, wäre es die künstlerische Unberechenbarkeit der


Thema Perspektiven der Volksbühne

Weg mit dem Intendanzmodell Staub zu Glitzer, Aktivist:innenkollektiv

Für viele scheint es einfacher zu sein, sich das Ende des Theaters vorzustel­ len als das Ende von Intendanz. Dabei hatten wir uns doch vorgenommen, uns immer wieder neu aus den bestehenden Verhältnissen herauszudenken und da­ rauf zu beharren, dass Theater bei einer gesellschaftlichen Transformation eine Rolle spielen kann. Kulturinstitutionen wohnt nicht per se etwas Progressives oder Emanzipatorisches inne. In erster Linie stabilisieren und konservieren sie die ­ jeweilige Gesellschaftsordnung und die Geschichte lehrt uns, dass Theater auch im Faschismus ganz wunderbar ihre Funktion erfüllten. Die einen oder ande­

ren konnten sich ja bekanntlich arrangie­ ren, damals am Horst-Wessel-Platz. Die Idee zu einer Volksbühne in Ber­ lins Mitte entsprang dem klassenkämpfe­ rischen Bewusstsein einer organisierten Arbeiter:innenschaft und ihren bürger­ lichen Unterstützer:innen. Prämisse war: Die Emanzipation des Menschen ist nicht nur notwendig, sondern unabdingbar. ­Kapitalismus, Grenzen, Rassismus, Reli­ gion und Geschlechterungerechtigkeiten jedweder Art werden eines Tages über­ wunden sein, wenn wir uns nur hart­näckig organisieren. Es ging um Empathie und Solidarität, um Community Organizing. Mit Gustav Landauer gelang 1913 dann

auch einem Ex-Knacki und jüdischen Linksradikalen, einem ­ Anarchisten, die Reunion von Freier – und Neuer Freier Volksbühne. In einem Brief an Louise Dumont schreibt er 1919 kurz vor seiner Ermordung: „Für mich ist das alles Ein Ding: Revolution – Freiheit – Sozialismus – Menschenwürde, im öffentlichen und ge­ sellschaftlichen Leben – Erneuerung und Wiedergeburt – Kunst und Bühne.“1 Seither hat sich einiges getan: Der globale, real existierende Sozialismus ist gescheitert. Feministische und queere Be­ strebungen fügen sich in den neoliberalen Kapitalismus wunderbar ein, insofern sie nicht auch Forderungen nach einer Über­

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Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau Das beispielhafte Leben des Samuel W. von Lukas Rietzschel

Theater der Jungen Welt Leipzig Hyper Normal 15+ von Hege Haagenrud

Staatsschauspiel Dresden Lulu von Frank Wedekind

Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen Ein Volksfeind

Das komplette Programm unter saechsisches-theatertreffen.de

von Henrik Ibsen

Das 12. Sächsische Theatertreffen ist eine Veranstaltung des Landesverband Sachsen im Deutschen Bühnenverein gemeinsam mit dem Schauspiel Leipzig und dem Theater der Jungen Welt. Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.


Thema Perspektiven der Volksbühne

Weil wir alle solche Sehnsucht haben nach Ausbruch, wilder Euphorie und Gemeinschaft.

Besetzung der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 2017

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scher:in. Die Intendanz muss endgültig überwunden werden, denn das ist der ein­ zige progressive Weg. International würde jede:r linke Theoretiker:in dies bestätigen. Die Umwandlung einer staatlichen Kultur­ institution in ein Theater der Commons im Sinne einer Commons Public Partnership ist keine naive Idee. Es ist ein äußerst an­ spruchsvolles Unterfangen für das treueste Publikum, die klügsten Köpfe, die fähigs­ ten Hände, die stabilsten Aktivist:innen, die entschlossensten Arbeitskämpfer:in­ nen, die humorvollsten Künstler:innen, die kritischsten Jurist:innen – für all jene, die sich trotz neoliberaler Vergrausamung ein Rückgrat, eine kämpferische Haltung bewahrt haben. Viele Menschen haben über die Jahrzehnte für ihre Karrieren an der Volksbühne gekämpft. Nun ist die Zeit gekommen, gemeinsam für die Volks­ bühne zu kämpfen. Was kam da 2017 zu „B6112“ nicht alles am Haus zusammen. Anwohner:innen, Wohnungslose, Profes­ sor:innen und Dozent:innen aller Universi­ täten und Kunsthochschulen der Stadt, die linksradikale queere Clubszene, (F)_Anti­ fa-Gruppen, freie Theaterkollektive, linke Demo-Sanitäter:innen, Küfa-; Awareness-, Hacker:innen-Kollektive, Filmschaffende,

Musiker:innen und auch eine ablehnend kritische bis wohlwollende Mitarbeiter:in­ nenschaft. Sogar die herbeigeeilte Feuer­ wehr, irgendwer wollte eine Räumung erzwingen durch Betätigung des Druck­ knopfmelders, sagte uns im Vertrauen, sie seien auf unserer Seite. Weil wir alle solche Sehnsucht haben nach Ausbruch, nach wilder Euphorie, nach jubelnder ­Gemeinschaftlichkeit. Keine Einzelperson, kein Duo oder kleiner Personenkreis allein ist in der Lage, so etwas zu erreichen. Es müsste schon etwas ganz anderes sein, was unsere Leidenschaft wieder neu entfacht: Commoning – ein Prozess, in den sich alle einbringen können. Ein Prozess, von dem vielleicht nicht gleich die große Versöh­ nung zu erwarten ist, der aber in jedem Fall die spannendsten Veranstaltungen und die unerhörteste Kunst hervorbringen wird.

1 Internationales Institut für Sozialgeschichte [IISG] Amsterdam, Gustav Landauer-Archiv, Inv.nr. 117; über: espero, Libertäre Zeitschrift, Nr. 6, 01/2023, S. 65

Theater der Zeit 5 / 2024

Foto David Baltzer

windung der Klassengesellschaft beinhal­ ten. Die Idee von marxistisch tradierter Massenorganisation ist zum Vereinze­ lungszynismus verkommen, das Kapital mächtiger denn je. Es ist zum Verzweifeln. Scheidewegsapokalyptische Mahnungen in Sachen Klimakrise und Rechtsruck ver­ puffen im Widerhall leistungsverlogener und selbstbetrügerischer Durchhalteparo­ len. Was also muss geschehen, damit die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wieder jene Rolle einnehmen kann, die ihr in ihrer Entstehung zugedacht war? Wie kann sie Widerständigkeit bestärken, die Hoffnung auf eine Überwindung von Ka­ pitalismus, Rassismus und Patriarchat am Leben halten und beste Unterhaltung und Anregung all jenen bieten, die sich einer unverbesserlichen linken Minderheit zuge­ hörig fühlen, damit diese wachsen möge? Wir geben auf diese Frage seit 2017 die gleiche Antwort: Die Volksbühne muss kollektiviert, radikaldemokratisiert, commonisiert werden. Sie muss geöffnet wer­ den, damit aus einer solidarischen Struktur neue Ästhetiken jenseits von Heuchelei und Konkurrenzgebaren wachsen können. Wir brauchen eine herrschaftskritische Volks­ bühne und keine neue Volksbühnen-Herr­


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Die Haribo Volksbühne Walter Bart, Wunderbaum

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Der Tod von René Pollesch wurde auch in den Niederlanden mit großer Trauer aufge­ nommen. Armer René, elender Tod. Nun, da auch er, nach Bert Neumann, armer Bert, elender Tod, viel zu früh gestorben ist, bleibt die Frage, wie wir ihr Erbe in der europäischen Theaterlandschaft spür­ bar und greifbar halten. Es ist eine Frage, die für uns, Schauspielerinnen und Schau­ spieler des Kollektivs Wunderbaum, sehr wichtig ist. In den Niederlanden waren die Auf­ führungen der Volksbühne erstmals auf dem Festival De Internationale Keuze in Rotterdam zu sehen, ein Festival unter der Leitung von Annemie Vanackere und Jan Zoet. Ich bin ihnen immer noch unend­ lich dankbar, dass sie sie damals kuratiert haben. Was für eine großartige Erfahrung war es, diese Stücke zu sehen. Es begann 2002 mit „Endstation Amerika“ in Frank Castorfs Regie mit Fabian Hinrichs. 2004 gab es ein Volksbühnen-Special mit „Er­ niedrigte und Beleidigte“ in der Regie von Castorf und eine Ausstellung mit den Arbeiten von Bert Neumann. Erstmals kam auch René Pollesch mit „Pablo in der Plusfiliale“. Im September 2007 sahen wir Polleschs „L’Affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenêtre, Caroline! Le maria­ ge de Spengler! Christine est en avance.“ Was für ein Titel! 2011folgte „Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Ver­ blendungszusammenhang!“, ebenfalls mit Fabian Hinrichs. Als junge Schauspielschüler:innen fanden wir alles daran spannend, auch wenn wir aufgrund der deutschen Spra­ che, der philosophischen Bezüge und des etwas überhöhten Diskurses höchstens die Hälfte verstanden. Aber den Rock’n’ Roll, das Bandgefühl, haben wir nur zu gut verstanden. Und natürlich gab es das beste Design aller Zeiten. Die Poster und Aufkleber hängen noch immer in meinem

Haus. Viele niederländische und flämi­ sche Kollektive wurden vom Feuer der damaligen Volksbühne angesteckt. Ich erinnere mich an die Schrulligkeit der Äs­ thetik und ich daran, dass alles politisch aufgeladen war oder schien. Auch an den Humor und den Mut, das Glitzern und den lauten Beifall. Vor allem erinnere ich mich an eine große Verbundenheit. Besonders in den Arbeiten von René Pollesch. Als ob das, was vor mir gespielt wurde, ganz per­ sönlich für mich bestimmt war, in dieser Zeit, in diesem Moment. Keine großen dramaturgischen Konzepte, abgehobene Spielweisen oder falsche Marketingkam­ pagnen. Die Schauspieler:innen schienen sich wirklich mit dem Stoff zu identifizie­ ren, was zwar logisch klingt, aber leider fast nie der Fall ist. Als ob die Schauspie­ ler:innen Mitautor:innen wären (was sie auch waren). Wenn ich mir etwas für die Volks­ bühne der Zukunft wünschen könnte, dann wäre es dies: Ein Theater, das auf einer Basis der Bescheidenheit und Subs­ tanz, laut und ungehobelt, aufrichtig und ungekünstelt, neue Zuschauer:innen an­ spricht. Ein Theater, in dem die Schau­ spieler:innen und Macher:innen Miteigen­ tümer:innen des Hauses und der Bühne sind. Eine gesunde Struktur, in der mit Respekt und Liebe füreinander an einer gemeinsamen Geschichte gearbeitet wird. Eine Geschichte, die es nirgendwo anders gibt und die nur an diesem Ort entstehen kann. Ein Theater, in dem eine Gruppe von Theaterkünstler:innen auf autono­ me, eigenwillige Weise über die Welt von heute nachdenkt. Ein Theater, das in der Art, wie es geführt wird, eine Antwort auf den aufkommenden Populismus in Euro­ pa bietet. Ein starker Mann an der Spitze steht im Widerspruch zu der Bewegung, die wir brauchen. Wir brauchen kollektive

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Bewegungen. Ein Theater, in dem keine bestehenden Stücke gespielt werden, son­ dern nur zeitgenös­sische, neue Kunstwer­ ke präsentiert werden. Kein Repertoire in vermeintlich modernen Kleidern. Neue Zeiten erfordern neue Erzählformen, neue Klänge und Bilder, neue Texte. Ein Thea­ ter, das sich nicht in der eigenen Richtig­ keit verschließt. Der schmerzhafte Dialog ist die Medizin gegen die Polarisierung. Es sind immer unsere Onkel und Tanten, die AfD wählen. Lasst uns uns auf der Büh­ ne als Onkel und T ­ anten verkleidet, mit unseren echten Onkeln und Tanten in den Dialog treten. Ein Theater, das genera­ tionenübergreifend praktische Lösungen für die Zukunft anbietet. Die Jugendli­ chen von heute sind die Weltpolitiker von morgen. Ein Theater, das sich bewusst ist,

dass ein gesundes Klima und eine starke Demokratie nicht selbstverständlich sind und hart erkämpft werden müssen. Ein Theater, das sich selbst hinterfragt, das sichtbar, zugänglich und ansprechbar ist. Ein ­Theater, das das Schubladenden­ ken angreift und bekämpft. Ein Theater, das es sonst nirgendwo gibt. Das wie ein mysteriöser Palast mitten in der Stadt steht und zittert vor Energie, oder ruhig schläft wie ein lieber, müder Koloss. Und vor allem ein Theater, in dem Stücke mit Titeln wie Rätsel spielen, die einen ins Theater locken wie Kinder an ein HariboRegal. Und vielleicht ein neuer Name. Das ­Haribo-Theater. Die Haribo Volksbühne. Ein generationenübergreifendes Theater: Haribo macht Kinder froh, und Erwach­ sene ebenso!

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Foto Felix Adler

Walter Bart und sein Ensemble


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Charles Asprey Collection, London. Courtesy the artist & Galerie Guido W. Baudach, Berlin. Foto: Roman März © Markus Selg

Akteure

Transformation I, 2017. Sublimation auf Stoff von Markus Selg

Kunstinsert Über die faszinierende Parallelwelt der „Twin Zone“ von Markus Selg Porträt Ludger Engels setzt als Leiter der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg auf interdisziplinäre Vernetzung Jubiläum Zum 85. Geburtstag des Dichters und Dramatikers Volker Braun Nachruf Der britische Dramatiker Edward Bond Nachruf Schauspieler, Regisseur und Theaterbauer Peter Sodann

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Die Ausstellung als Theater der Zukunft Über die faszinierende Parallelwelt der „Twin Zone“ von Markus Selg

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© Markus Selg

Fotos Courtesy the artist & Galerie Guido W. Baudach, Berlin

Von Thomas Oberender


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💛 (Twin Zone), 2024. Sublimation auf Stoff / Sublimation on fabric Rechts: TWIN ZONE, 2024 (Detail / detail). Augmented Reality

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Links: Streitende Reiche (Krieger), 2007. Holz, Metall, Stroh, Jute, Gips, Schellack Oben: encrypted body, 2017. Metall, Stein, Sublimation, Stoff, LED Licht, Plastik Unten: Archaic Revival Series: Dream Stele (Thutmose IV) fractal simulation, male, 2018. UV-Print auf Zellulose-Polyester und Alu-Dibond

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Foto: Roman März © Markus Selg. Rechts Markus Selg

Fotos links Courtesy the artist & Galerie Guido W. Baudach, Berlin.

G

Marcus Selg, geboren 1974 in Singen, arbeitet mit digitaler Malerei, Skulpturen, bewegtem Bild und gestaltete viele, zuweilen begehbare Theaterräume für Susanne Kennedy.

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Galerieräume sind in der Regel neutral in ihrer Erscheinung und schaffen um ihre Exponate eine Zone der ernsten Betrachtung und Ruhe. Auch die Galerie Guido W. Baudach in Berlin ist ein solcher white cube, doch in Markus Selgs Ausstellung „Twin Zone“ löst sich die Bannmeile, die der Raum um die Werke normalerweise errichtet, auf und letztlich auch die geschlossene Box des Ausstellungsraumes selbst. Gezeigt werden in „Twin Zone“ eine Reihe von Werkpaaren, die jeweils in einer physischen beziehungsweise virtuellen Manifestationen existieren und sich aufeinander beziehen. Doch auch die Galerie selbst wird zu einem Objekt, indem der Künstler sie gescannt und in ein größeres 3D-Modell eingebettet hat, das sie vor Ort und vermittels einer Augmented Reality ­Experience App mit einer anderen Stadt und Welt verbindet. „Twin Zone“ ist der seltene Fall der Ausstellung einer Ausstellung. Für sie hat Selg diese Augmented Reality Experience App entwickelt, die im physischen Raum der Galerie virtuelle Objekte sichtbar macht, die als NFTs und digitale Werke in einem zwillingshaften Verhältnis zu den materiellen Objekten im selben Raum stehen. Die AR-App und ihr Titel „Twin Zone“ verdeutlichen Selgs Idee, einen Raum zu kreieren, in dem alle Werke einen digitalen Schatten besitzen, der den gleichen Ort bewohnt. Diese App ist der eigentliche Clou der Ausstellung. Denn sie virtualisiert auch den Ausstellungsraum selbst und integriert ihn vor Ort in einen Meta-Raum, der die Galerie in der Berliner Pohlstraße in ein völlig anderes Gebäude und einen anderen Stadtraum versetzt. In ihrer AR-App sehen die Besucherinnen und Besucher sowohl die realen Räume der Galerie mit den großformatigen Wandbildern und Bodenskulpturen, ihren Türen, Böden und Fenstern, und zugleich sehen sie auch die virtuellen Kunstwerke, die als NFTs über ihren Köpfen schweben oder plötzlich als zusätzliche oder alternative Wandbilder erscheinen. In dieser „Twin Zone“ spricht jedes von Selgs Werken mit seinem physischen oder virtualisierten Double und dazwischen bewegen sich die Gäste und sehen auf ihren Screens die anderen Besucher:innen inmitten von virtuellen und realen Werken, als seien auch die Menschen ein Exponat in dieser angereicherten und durchlässigen Welt der Kunst. Vielleicht wird so oder ähnlich auch das Theater der Zukunft aussehen, in dem, durch eine Datenbrille betrachtet, auf der Bühne eine von realen und virtuellen Dingen und Wesen angefüllte Welt erscheint, in der es nichts gibt, das im Hier und Jetzt nicht darstellbar wäre. In der Berliner „Twin Zone“ sehen die Gäste der Galerie, wie die Begrenzungen des white cube sich auflösen und der Raum sich zugleich auffüllt mit immateriellen Objekten und einer virtuellen Architektur, die das Gebäude in einen anderen Stadtraum und eine andere Atmosphäre versetzt. Der Screen des Smartphones wird, sobald man sich am Eingang der Galerie die „Twin Zone“-App heruntergeladen hat, zu einer Sonde, mit der die Gäste den Raum abtasten und dank derer sie plötzlich virtuelle Objekte erfassen und in ihrer Existenz beobachten können, ganz so, wie man unter dem Mikroskop plötzlich im klaren Wasser kleine Lebewesen entdeckt, die all die Zeit da sind, ohne dass wir sie bemerken. In der physischen Galerie steht in einem der hinteren Räume das ready made einer gelben Wertstofftonne vor dem quadrati-

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Akteure Kunstinsert schen Wandbild „Birth of a portal“, das einen archaisch wirkenden Ring aus Holz und Metall auf schwarzem Grund zeigt. Doch wenn ein Gast seine AR-Sonde im Raum umherschweifen lässt, erscheint im Display des Smartphones plötzlich hoch oben, über der verschwundenen Zimmerdecke, im glutroten Abendhimmel dieselbe gelbe Tonne als digitales Objekt. Sie schwebt satellitengleich über der Szene und etwas unter ihr befindet sich nun mitten im Raum riesengroß das Portal, das auf dem Wandbild zu sehen ist. Auch der physische Galerieraum von Guido W. Baudach löst sich dank der App auf in einem virtuellen Erweiterungsbau, einem Innenhof, der von breiten Betonstelen umstanden und von einem hohen Steinsims gekrönt wird. Der in diesem Hof schwebende Ring des virtuellen Portals ist Teil der Arbeit „The Portal/Magnoleye“, die Markus Selg als ein weiteres AR-Werk in das System seiner „Twin Zone“ integriert hat. Dieses Mitschwingen des einen Werks im anderen und die Ko-Existenz von realen und virtualisierten Werken ist die eigentliche Kernidee von „Twin Zone“. Sie kreiert eine expanded exhibition, etwas, das einen Vorgeschmack gibt auf eine erweiterte Wirklichkeit, wie sie neue Mixed RealityTechnologien versprechen. Markus Selgs Arbeit schafft ein sehr komplexes Kunstwerk mit flirrenden Übergängen zwischen realer und virtueller Realität, die natürlich genauso real ist und letztlich die Frage umkreist, welches Konzept von Welt wir überhaupt im Kopf haben, wenn wir über die Wirklichkeit sprechen. Was bedeutet es, dass wir im 21. Jahrhundert eine Parallelrealität erschaffen, in der unsere soziale und physische Existenz zu Datenprofilen führt, die getrackt und, gewollt oder nicht, eine digitale Persönlichkeit hervorbringt, die ihr eigenes Leben lebt und sich in einer Gesellschaft befindet, die wir nicht kennen? Wie all die zunehmend intelligenten Maschinen, von denen wir sichtbar und unsichtbar umgeben sind. Die Umgebung, die diese Traum-App erzeugt, ist immersiv, erzeugt ein Mittendrin-Erlebnis und jedes Objekt in diesem Raum ist das Requisit eines größeren Worldbuilding, das auch seinerseits die Gäste sieht und einbezieht. Vor meinen Augen und durch das Auge der Kamera dieser App ereignet sich in der Galerie dann plötzlich der Besuch eines biomorphen Technowesens, das durch die Luft schwebt und den Raum bewohnt wie ich und die anderen Gäste, die es umgeben. MAGNOLEYE heißt diese digitale Kreatur, die Markus Selg aus gescannten Fruchtkörpern einer Magnolie geformt hat. Ein Derivat dieser Figur existiert als NFT (AWAKENING SEED) und ist als virtuelles Wandbild in der Galerie zu sehen. Wie ein Flugdrache mit hundert Augen zieht diese digitale Kreatur ihre gewundenen Bahnen durch den Raum und taucht ab und zu durch den magischen Ring des AR-Portals. Markus Selg nennt diese App „micro drama“. Sie verwandelt die Galerie und vor allem den Straßenraum vor der Berliner Galerie in eine Bühne für den Auftritt dieser rot glänzenden Drachenschlange und dem majestätischen Schwebeportal in eine andere Welt. Und ein solches micro drama ist auf einer höheren Ebene auch die App „Twin Zone“. Sie ist das zentrale Werk der Ausstellung, ein Meta-Werk, das andere Werke in sich aufnimmt und eine Sonderzone der Betrachtung erschafft.

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Es ist, als ob man dank ihrer ein Computerspiel betritt und durch es hindurch läuft. Aber nicht ganz. Denn eigentlich steht man ja in einer realen Galerie. Deren Wände sind weiß, der Boden nackt. Man kann auch alles nur mit bloßem Auge betrachten. Doch ist dieses alles dann halt etwas weniger, als tatsächlich vorhanden ist in diesem Raum und zeigt nur einen Aspekt aus der ­Familienwelt des Werkes. Aber so ist es ja oft, man sieht schließlich nicht immer die gesamte Serie und gute Kunstwerke erzeugen aus als Einzelwerk ein Gespräch aus sich selbst heraus.

Matrix der Codes Markus Selg entwickelt nun seit fast 30 Jahren seine Werke mithilfe von digitalen Technologien. Statt Pinsel und Palette benutzt er Photoshop, um seine Gemälde zu kreieren. Daten sind Selgs ­Pigmente und prägen die Ästhetik seiner virtuellen und physischen Objekte. In den letzten Jahren setzt er vermehrt 3-D Software und KI ein, um seine Welten in Theaterräumen, Galerien oder gänzlich im Virtuellen Raum zu erschaffen. Dank unserer Smartphones führen digitale Bilder von Objekten zu Daten und aus den Daten entstehen neue Objekte, die wieder zu Bildern führen. Wo findet sich in diesem digitalen Kreislaufgeschehen noch die Aura des Originals? Wenn alles reproduzierbar und synthetisierbar ist, was bietet noch einen Grund und was ist die Quelle? Was spricht durch diese Oberflächen? Von wo kommen die Stimmen? Wer wohnt in diesen synthetischen Leibern? Die Authentizität von Selgs Stil entsteht aus seiner Gabe, sich der Verführung des Inhumanen hinzugeben. Einer Sichtweise, die sich für Codes und Muster, Mythen der Wiederkehr und spiritueller Kräfte mehr interessiert als für private Geschichten. Selg folgt den Formen und den Mythen des Kreislaufs, die ein bestimmtes Repertoire an menschlichen Typen, Krisen und Kriegen kennen, aus denen er seine Motive und Figuren schöpft. Aus diesem transhistorischen Material, das in den verschiedensten Zeiten wieder neu hervortritt, baut Selg seine Figuren, seine Reisbauernmenschen, Empörer oder Tanzenden, seine Tempel und Portale. Seine technologiebasierte Arbeitsweise führt in Selgs Schaffen, in den Worten des Kunstwissenschaftlers Noam Gal, zu leichten und schweren Kunstwerken – „leicht“ im Sinne von körperlos und immateriell, sieht man von den Trägermedien der Daten ab, und „schwer“ im Sinne von bearbeiteten Stoffen in der physischen Welt. Die Ausstellung „Twin Zone“ ist in diesem ­Sinne ein Hybrid aus schweren und leichten Objekten. Sie gibt ­einen Vorgeschmack auf eine zukünftige Welt, in der digitale Objekte und Wesen unsere Wirklichkeit in gleicher Weise anreichern wie seit jeher ein Duft einer Blüte die Abendluft. Selgs bildnerisches Schaffen stand von Anbeginn der Welt des Theaters sehr nah. Auch sie ist im doppelten Sinne die Vorstellung einer Welt, generiert auf der Basis von Skripten, hoch formalisiert und weit weniger authentisch, als es auf der Bühne den Anschein hat. Schon Selgs erste Ausstellung „Nur Mut“, die 2002 in der Berliner Galerie Nagel und Draxler gezeigt wurde, präsentierte neben der monumentalen Skulptur einer geöffneten

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Akteure Kunstinsert Hand eine Serie von lebensgroßen Figuren, für die Selg ein eigenes Theaterstück geschrieben hatte. Dessen Text lag in der Galerie aus und wurde dort auch gelesen. Theaterhaft ist auch der Stil, der die Installation seiner Ausstellungen prägt. Oft verdunkelt Selg die Galerieräume und leuchtet die Objekte aus ihnen gezielt heraus. Die Welt des Theaters ist eine Welt der Wiederkehr. Jeden Abend wiederholt sich, was bei der Premiere das Licht der Welt erblickte. Und jede Premiere wiederholt und bringt ein Stück zurück ins Leben, das zuvor schon an einem anderen Ort gelebt hat. Diese Welt der Welt der Wiederholung ist selbst eine Art von archaischem Revival, etwas, das Selg schon in einer sehr frühen Phase seiner künstlerischen Arbeit beschäftigt und angesprochen hat. Lange vor den Tempeln, Schreinen und Portalen, die er für die Inszenierungen von Susanne Kennedy auf der Bühne installiert, hat er in seinen Bildern und szenischen Environments in Galerien und virtuellen Welten verschiedener Apps diese sich überlappenden Welten erschaffen, in denen archaische Motive mit zeitgenössischen verschmelzen, so wie ein Schauspielerkörper heute das Leben von Ödipus in Kolonos zum Vorschein bringt. Selgs Bilder von Menschen zeigen keine Figuren nach der ­Natur, sondern Mischwesen aus einer Genealogie von Djinn-­arti­ gen Gestalten und zeitgenössischen Typen, die aus einem Rave oder der Zukunft zu kommen scheinen. Bei einer Skulptur wie der „Traumstele“ aus der „Archaic Revival“-Serie wäre es schwer zu entscheiden, ob diese violette, mumienartige Skulptur auf einem hellblauen Schaltkreissockel etwas sehr Altes darstellt, oder aus der Welt von morgen stammt. Ähnlich ultramodern und neo-­ archaisch wirken in „Twin Zone“ auch die beiden Frauengestalten der Bildnisse „Missing-Twin 1&2“, die genauso in einer Inszenierung von Susanne Kennedy auftreten könnten. Die Portal- und Figurenbilder in Selgs Ausstellungen suggerieren, dass die Menschen in diesen Räumen tief in die Matrix der Codes und Energieströme eintauchen und durch die Zeit reisen könnten. Woher kommt Markus Selgs Interesse an diesem Thema des Übergangs und der Reise? Sein Œuvre ist geprägt von Unruhe und Rebellion. Es ist eine spirituelle Rebellion, die in der Welt des Sichtbaren zu den Kontaktpunkten einer unsichtbaren Welt führt. Seine Arbeiten durchziehen Referenzen an Bruno Taut, Bernhard Hoetger, El Lissitzky, den sowjetischen Konstruktivismus und die aufrüttelnde Sprache der Propagandakunst der 20er und 30er Jahre, alles Persönlichkeiten und Bewegungen, für die gut gemachte Kunst nicht alles war, sondern die mit ihrem Schaffen eine gesellschaftliche Bewegung unterstützen wollten, die über das Individuum hinausführt und auf Reformen und Wandel in der wirklichen Welt zielt. Selgs computergenierte Bilder falten sich auf der Bühne im Raum auf, werden dreidimensional und kreieren eine Schwellensituation, was in seinen szenischen Räumen besonders deutlich wird. Sein synthetischer, das Hier und Jetzt vielfach durchbrechender Bühnenraum nimmt die Figuren auf wie ein Raumschiff und bringt sie in ein anderes Land, oder genauer in ein Bardo, ein Zwischenreich zwischen Tod und Leben, physischem Sein und völliger Virtualisierung. In Aufführungen wie „Einstein on

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Die Authentizität von Selgs Stil entsteht aus der Gabe, sich der Verführung des Inhumanen hinzugeben. Einer Sichtweise, die sich für Codes, Mythen, spirituelle Kräfte interessiert.

the Beach“, „Coming Society“ oder „Oracle“ kann das Publikum diesen Zwischen- und Verwandlungsraum betreten und wird dort ein passiv aktiver Teil der szenischen Vorgänge. Auch das ist eine „Twin Zone“. Die Theaterbesucher laufen durch ein szenisches Environment, vorbei an Skulpturen und Videofilmen Selgs, und dazwischen befinden sich die Darsteller:innen wie Wesen aus einer anderen Welt, Datenwesen in einem Körper, mit dessen Fleisch und Endlichkeit fast jede der Figuren in den Stücken von Susanne Kennedy hadert. Mit seiner Augmented Reality Experience schuf Markus Selg einen spezifischen Raum, der diese Doppelnatur von Realität ­erfahrbar macht. Seine „Twin Zone“ ist ein poröses, für unseren Aufenthalt in ihm entworfenes Kunstwerk. Es erzeugt eine tempo­ räre autonome Zone, in der die „echte Welt“ unlösbar verbunden und begleitet ist von ihrem digitalen Schatten. Diese Schatten ­waren in den alten Mythen Djinns und Geister und heute vollbringt Software einen Großteil dieses Zaubers. Selgs „Twin Zone“ ist eine Sonderzone in der Welt, die stark an jene temporäre autonome Zone erinnert, die der Philosoph und Schriftsteller Hakim Bey in „CHAOS (Broadsheets of Ontological Anarchism)“ beschrieb. In ihr verschwinden für kurze Zeit die sonst herrschenden Regeln und Machtstrukturen der Gesellschaft, und somit auch ­Dichotomien wie virtuell und real, wirklich und fiktiv, stofflich und nicht-stofflich, im Besitz von jemandem oder zugänglich für jeden und jede. Egal, wer Selgs Werke in Guido W. Baudachs G ­ alerie kauft, in der „Twin Zone“ bleiben sie zugänglich und ­erinnern an die ­Parallelwelt der Daten, die täglich wächst und nicht nur eine Kopie der physischen Welt ist, sondern sich anschickt, ein eigenes Leben zu entwickeln. T

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Akteure Porträt

Professor Netzrat Ludger Engels setzt als Leiter der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg auf interdisziplinäre Vernetzung Von Elisabeth Maier

Szenenfoto „Zaide /Adama“ von W. A. Mozart und Chaya Czernowin in einer Neufassung mit Chor von Chaya Czernowin und Ludger Engels, Theater Freiburg 2017

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Foto links Ric Schachtebeck, rechts Niklas Vogt

Akteure Porträt Eine kalte, durchsichtige Wand trennt die Liebenden in „Zaïde/ Adama“. Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel-Fragment „Zaïde“ aus dem 18. Jahrhundert hat die israelische Komponistin Chaya Czernowin gemeinsam mit dem Regisseur Ludger Engels in die heutige Zeit übertragen. Dabei geht es um die unmögliche Liebe zwischen einer Israelin und einem Palästinenser. Neonröhren ziehen sich an der Decke entlang. Kaltes Licht lenkt die Blicke. Darunter tuscheln, schimpfen und lästern Menschen. Während die Liebenden um Nähe ringen, entlädt sich der Hass verfeindeter Völker. Mit der Produktion, die Engels 2017 am Theater Freiburg realisiert hat, sieht der Künstlerische Direktor und Geschäfts­ führer der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg interdisziplinäres Arbeiten auf eine neue Ebene gebracht. Gemeinsam mit dem Bühnen- und Kostümbildner Ric Schachtebeck lotete der innovative Regisseur Schnittstellen zwischen Bildender Kunst, Musik und Theater aus. Diese Lust, ästhetische Grenzen zu überschreiten, gibt er auch seinen Studierenden mit auf den Weg. Crossover-Projekte prägen die Arbeit von Engels, dessen künstlerische Laufbahn in der Musik begann. In Dortmund hat er Musikwissenschaft, Germanistik und Musikdidaktik studiert. Bei dem berühmten Musikpädagogen Helmuth Rilling das Dirigieren. Später hat sich der gebürtige Duisburger als Opern- und Theaterregisseur einen Namen gemacht. Am Theater in Aachen war er von 2005 bis 2013 Chefregisseur und stellvertretender Intendant. Seit 20 Jahren verbindet ihn nicht nur eine enge Arbeitsbeziehung mit dem Bühnen- und Kostümbildner Schachtebeck, auch privat sind die beiden Künstler Lebenspartner. Engels denkt seine Theaterkunst aus der Perspektive des Visu­ellen. Moden und Styles sind für ihn aus der Bühnensprache nicht wegzudenken. International ließ der Regisseur 2013 mit dem ­ Musiktheater „Semele Walk“ aufhorchen. Die grenzüberschreitende Produktion hat er in Sydney und Südkorea mit Couture der Stardesignerin Vivienne Westwood in Szene gesetzt. In der Musiktheater-Performance nach der Musik von Georg Friedrich Händel schlug der Regisseur faszinierende Brücken zwischen ­barocken Opern und der extravaganten Mode des 21. Jahrhunderts. Es sei nicht einfach gewesen, die Schöpferin der Punk-­ Mode in den 1970er-Jahren von dem Projekt zu überzeugen, erinnert sich Engels. Mit seiner besonnenen Überzeugungskraft hat es der Regisseur dann aber doch geschafft. Die Bühne ist ein riesiger Laufsteg. Um dieses Setting sitzt das Publikum wie bei einer Modenschau. Wie Models schreiten die Musiker:innen am Anfang über die Bühne. Die Opernsänger:innen setzen sich auf dem Catwalk in Szene. Mit ihren farbenfrohen Kombinationen aus historischer Bekleidung, bunten Mustern und seltenen Textilgeweben ist die 2022 verstorbene Britin eine Ikone in der Modewelt. Mit seinem Gespür für Schönheit erschließt Engels die Oper auch einem Publikum, dem der Zugang zur klassischen Musik schwerfällt. Grenzen zwischen den Disziplinen zu überschreiten, prägt auch Engels’ Arbeit als Leiter der Theaterakademie in Ludwigsburg. Dort bilden der 61-Jährige und sein Team Schauspieler:innen, Regisseur:innen und Dramaturg:innen aus. „Es geht darum, den Studierenden künstlerische Freiräume zu öffnen“, findet der Künstlerische Direktor. In die Lehre zu gehen, hat den Regisseur

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Ludger Engels, Leiter der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg

immer gereizt. Dabei ist es ihm wichtig, den jungen Menschen „die Möglichkeit zu geben, ihr eigenes künstlerisches Profil im geschützten Raum der Akademie zu entwickeln“. Von 2015 bis 2022 leitete Engels den Studiengang Regie, dann übernahm er als Nachfolger von Elisabeth Schweeger die Leitung der ADK im Ludwigsburger Akademiehof. Die strenge Trennung zwischen den Gattungen wie auch zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen betrachtet der Professor als eine deutsche Eigenheit. „Für Künstler:innen und Wissenschaftler:innen in anderen Ländern ist das viel selbstverständlicher.“ Deshalb knüpft Engels seit Jahrzehnten internationale Netzwerke. „Dieser weite Horizont ist auch für die Studierenden wichtig.“ So hat er das Profil der Akademie in diese Richtung weiter geschärft. Kurz nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine hat er für Studierende aus dem Land eine Schauspielklasse eingerichtet. „Von deren Arbeit profitieren wir alle.“ Mit dem Regisseur Stas Zhyrkov haben die Studierenden, die in dem vom Krieg zerstörten Land ihre Ausbildung nicht fortsetzen können, die Produktion „My Head Is Full Of Fog“ entwickelt. Mit starken poetischen Bildern setzen die jungen Menschen da ein starkes Zeichen gegen den Krieg. Dass sich deutschsprachige und ukrainische TheaterStudierende nun auf dem Campus begegnen, ist für den Akademieleiter ein großer Gewinn. Er will die jungen Menschen „mit anderen Theatersprachen und -kulturen vertraut machen“. Über individuelle Austauschprogramme haben die Studierenden die Chance, bei Auslandsaufenthalten in Europa oder Afrika interna-

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Die Akadmie für für Darstellende Kunst in Ludwigsburg

tionale Theatererfahrung zu sammeln. Die Überschrift des vergangenen Studienjahres lautete "Art Crosses Borders". Dabei weitet der Professor auch den Horizont der künstlerischen Disziplinen. „Gesellschaftliche Entwicklungen auf der Bühne zu zeigen und zu verhandeln“, das ist Engels wichtig. Er macht seinen Studierenden Mut und Lust, Themen anzupacken, die ihre Lebenswirklichkeit prägen. Der Klimawandel gehört ebenso dazu wie soziale Probleme in der Gesellschaft. Um diese Diskurse in der Akademie zu verhandeln, laden Engels und sein Team Expert:innen aus anderen Disziplinen ein. Dieser Austausch befruchte auch seine eigene künstlerische Arbeit, sagt der 61-jährige Regisseur. Neuland betritt die Akademie mit dem Projekt "Menschen und Landschaften", das Engels gemeinsam mit dem schwedischen Architekten Alexander Marek entwickelt hat. Um zu zeigen, wie sich Landschaften und Regionen in Zeiten des Klimawandels verändern, planen schwedische und deutsche Studierende im Mai gemeinsam Interventionen. „Was bedeutet das für das Zusammenleben in den Regionen?“, lautet da eine zentrale Fragestellung. Mit der Swedish University of Agriculture Science in Uppsala und dem Fachbereich Sounddesign und Bühnentechnik der University of the Arts in Stockholm will das Team der baden-württembergischen Theaterakademie da künstlerische Interventionen in Landschaften entwickeln. Wichtig ist es Engels dabei, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, die in den Regionen leben. Einen Draht zu denen zu finden, „für die wir Theater machen“, findet der Lehrer unverzichtbar. Er ist gespannt, wie die jungen Menschen gemeinsam mit den Expert:innen der schwedischen

Mit seiner ruhigen, souveränen Art ist der Professor im besten Sinn ein Ermöglicher für die Studierenden. 32

Hochschulen ihre Konzepte entwickeln. Gerade in Zeiten, da die junge Generation mit so vielen existenziellen Problemen zu ­kämpfen hat, will Engels ermöglichen, dass die Studierenden in ihren Projekten Haltung zu den brennenden gesellschaftlichen Themen zeigen. Nicht nur inhaltlich, auch formal setzt der Leiter der 2007 gegründeten Akademie auf Neues. Da sich die ADK mit der Ludwigsburger Akademie einen Campus teilt, sind Koproduktionen der Film- und Theaterstudierenden an der Tagesordnung. Wichtig ist es Engels, nah dran zu sein an den neuen Tendenzen in der Praxis. Da denkt er an die vielen neuen Möglichkeiten, die sich durch Theater und Digitalität ergeben. Ilja Mirsky, der am Resi­ denztheater München als Digitaldramaturg viele neue Formate entwickelt, unterrichtet die Studierenden an der Akademie. Neue und ungewohnte Pfade in den Studienplänen zu verankern, betrachtet Akademiechef Engels als eine wichtige Aufgabe. Da lässt sich der Professor von seinen Lehrenden inspirieren. Obwohl die Akademie in der schwäbischen Kleinstadt jenseits der Theaterzentren liegt, lehren und arbeiten dort Künstler:innen aus ganz Deutschland. Der moderne Bühnenturm, den der österreichische Bühnenbildner Martin Zehetgruber geschaffen hat, bietet den Studierenden beste technische Möglichkeiten, ihre theatralen Experimente zu entwickeln und einem größeren Publikum zu zeigen. Auf Augenhöhe mit seinen Studierenden zu arbeiten, ist dem gelassenen Rheinländer Engels ein großes Anliegen. Mit seiner ruhigen, souveränen Art ist der Professor im besten Sinn ein Ermöglicher. Den Studierenden ein ehrliches Feedback zu geben, ist ihm wichtig. An der Akademie lernten sie zwar das Handwerkszeug, „doch sie müssen auch mal Fehler machen dürfen“. In der offenen Atmosphäre der Akademie sollen sich die jungen Leute entfalten können, findet der erfahrene Theatermann. Über der Bar, die sie Studierenden selbst bewirtschaften, steht in großen, pinkfarbenen Lettern „Ein gutes Gefühl“. Dass dieser Satz aus seiner Sicht auch den Geist des Hauses prägt, freut Engels sehr. Nicht nur als Lehrer ist der Regisseur offen für Neues. Als eine besonders schöne Aufgabe hat es der Künstler erlebt, 2020 am Thea­ter Bonn Anja Hillings „Apeiron“ auf die Bühne zu bringen. Ins Deutsche übersetzt bedeutet der Titel „Das Unendliche“. In dem Stück geht es um Macht, Geld und Unterwerfung. In der bildgewaltigen Sprachkraft der 49-jährigen Autorin hat Engels auch musikalische Strukturen aufgespürt. Kalter Rauch tauchte den Raum in seiner Uraufführung in ein magisches Setting. Auch die neue deutsche Dramatik bereichert Engels mit seinem interdisziplinären Blick. Dabei will sich der Künstler nicht allein auf das traditionelle Theaterpublikum beschränken. „Mit der Kunst neue Schichten zu begeistern“, das reizt ihn. Deshalb realisierte er im Frühjahr für die frühere Akademieleiterin Elisabeth Schweeger, die das Programm für die Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl im Salzkammergut 2024 verantwortet, die multimediale Eröffnungszeremonie. Da holte Engels einige Studierende aus Ludwigsburg. Mit dem Fernsehspektakel, das im ORF übertragen wurde, verband er hohe ästhetische Ansprüche und ein anspruchsvolles Fest­ programm. Interdisziplinäre Wagnisse wie dieses möchte der Regisseur der Vielfalt in einer künstlerischen Arbeit nicht missen. T

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Foto Akadmie für für Darstellende Kunst

Akteure Porträt


FRÜH AM MORGEN SIND DEINE GEDANKEN BEIM GROSSEN ABEND STARKE STÜCKE vom Berliner Theatertreffen im TV und in der 3satMediathek

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Akteure Jubiläum

„Vorrücktwärts“ Zum 85. Geburtstag des Dichters und Dramatikers Volker Braun Von Hans-Dieter Schütt

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Er ist der Dichter des aufrechten Gangs, ein Gang aus Kraft und Schmerz. „Langsamer knirschender Morgen“: Titel einer seiner Gedichtbände. Gehen, gehen, gehen, und immer noch nichts sehen vom Gipfel? Gut so, wir müssen endlich merken, dass es in die Tiefe geht. „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ heißt das jüngste, schmale Buch: biografische Erzählung und welt­packender Essay – das Wirkliche und das Gewollte im Aufein­ anderprall, als schlügen Metallschilde gegeneinander.

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Foto picture alliance / SZ Photo | Rolf Zöllner

Der Dramatiker, Dichter und Schriftsteller Volker Braun bei einer Lesung im CCF, Centre Culturel Francaise, DDR, Berlin,1987


Akteure Jubiläum Volker Braun. 1939 geboren an einem Sonntag in Dresden. Der Krieg. Die Elbhänge. Oben blühende Felder, unten glühende Trümmer. „Noch die Ruinen hatten Würde, das Grauen und die Schönheit gleichzeitig, das war meine ästhetische Erziehung.“ Vorm Studium der Philosophie war er ein freiwillig Suchender in Schlamm und Sand der Lausitzer Tagebaue. Baggerte nach Sinn und haltbaren Stoßkräften. Sein erster, jugendlich strotzender Gedichtband „Provokation für mich“ erregt Aufsehen. Jahrzehnte später, im Buch „Werktage“, kritisiert er sich: Das Einstige, das räudige Hoyerswerda der Brigaden, „war vorgefühl, nicht erkenntnis der lage. erschreckend, daß das damals solche wirkung tat“. Aber: Arbeiter-Dichter blieb er. Ausdauernd neugierig, wie es um diesen historischen Heilsbringer, Proletariat genannt, wirklich bestellt sei. Als Braun Anfang des neuen Jahrtausends den Büchner-Preis erhielt, führte er in seiner Rede zwei Menschenzüge zusammen: Da war der schöne Zug, den die DDR plötzlich bekam, mit jener Menge des 4. November 1989, die keine Gewalt ausübte, auf dem Berliner Alexanderplatz, und andererseits war da jener traurige Zug der neunzehn Bischofferöder, „ein Rinnsal des Aufbegehrens“ vor den Toren der Treuhand, der leider keine Gewalt hatte, um die Betriebstötung im Thüringischen zu verhindern. Den Dichter treibt seither die Armseligkeit einer Kapitalordnung um, die Arbeit nimmt, „das ist die Wunde, die bleibt“. Erfolgreich ist er auch als Dramatiker – gewesen. Er hat mit seinen Stücken das Theater in die Knie gezwungen, hat es genötigt, vor ihm zu kapitulieren. Vor all dem Hochfahrendem, vor diesen Kopf-Geburten und wahrlich betörenden Toren: Kipper Paul Bauch und Guevara, Tinka und Trotzki, Dmitri und Lenin. Ob „Großer Frieden“ oder „Die Übergangsgesellschaft“: Braun war in seinen Texten nie ein Tragiker, er ist Problematiker. Ihn bewegen die „probleme der gesellschaft mit den individuen, nicht nur der individuen mit der gesellschaft“. Kunst als Emanzipationswerkstatt für einen Materialismus, der immer Material bleibt. Seine Poesie wie seine Stücke: Bild auf Bild, die Sprache ein Möglichkeitsgetummel, sie wirft sich wie toll auf jedes Gleichmaß der Sätze, sie will nach dem Spruch sofort den Wider-Spruch. Konzentrationstrieb und Steigerungsrausch. Wie geht’s weiter?, fragt der Stoff, wie geht’s noch dichter?, fragt die Sprache zurück. Die Geschichte? Stets muss der Mensch erst ins „blendlicht“ treten, um den „eignen schatten wahrzunehmen“. Auf der Tagesordnung der ungelösten Aufgaben bleibt die wahre folgenreiche Wiedervereinigung: nicht die der deutschen Brüder und Schwestern, sondern die der weltweit Satten mit denen, die es satthaben. Wann endlich haben wir uns selber satt und hungern der neuen globalen Machtregel entgegen: Beherrsche dich und teile! Unsere Scham davor ist unsere Schande – das sprach Braun vor Jahren schon aus, im gnadenlos wahrhaftigen Essay über Peter Weiss: Wir, „die wir die Welt dieser ausgrenzenden Grausamkeit wählten, stehen in der Schuld aller Orte, die verloren sind“. Wie benommen gingen die Jahre ins Land. In welches? Die bisherige Ordnung im Osten fiel um, viel Reform fiel aus, die Freiheit fiel ein. Einen Band Äußerungen titelt Braun: „Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende.“ Das schreibt er

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Er hat mit seinen Stücken das Theater in die Knie gezwungen, hat es genötigt, vor ihm zu kapitulieren.

1998. Womit sollte Ermutigung sich fortan versorgen? In dieser plötzlichen Verwirrnis, da das Land nicht mehr zermauert, nicht mehr zerrissen ist, aber doch die Zerrissenheit der Bedürfnisse zunimmt, neuwestdeutsch, in diesem „Vorrücktwärts“ der Zeiten, da sich alles Utopische so erledigt zurückzieht. Das Untröstbare einer Dichterexistenz besteht darin, dass sie Wahrheit nicht findet, sondern ihr ausgesetzt ist. „Das fein Geplante / Ist doch zum Schrein. / Das Ungeahnte / Tritt eisern ein.“ An Brauns Werk ist zu sehen: Niemand spricht kräftiger als jener, dem sich die hohe Idee vom Menschen jäh in der Umkehrung offenbart – am Abgrund. Das Jetzt. Stillgelegt so vieles, ruhiggestellt so Viele. Weiterschreiben? Ja. Im „Nilschlamm der Zivilisation“. T

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um kehr bar? 21.–26.5.2024 dramatikerinnenfestival.at


Akteure Nachruf

Düsterer Seher Ein Nachruf auf den britischen Dramatiker Edward Bond Von Stephan Wetzel

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EDWARD BOND

Ein Mann will mit seiner 16-jährigen Tochter sprechen. Er stellt einen Becher Tee vor sie auf den Tisch. „Wie war dein Tag?“ Keine Antwort. Er redet sich in Rage, schimpft, bettelt, schreit, droht. Die Tochter sagt nichts, trinkt nicht, reagiert nicht – eine dreiviertel Stunde lang. Dann erwürgt er sie. Lange hatte man nichts mehr gehört von Edward Bond, als ich Peter Palitzsch am Berliner Ensemble im Sommer 1993 von dieser Anfangsszene aus Bonds neuem Stück „Ollys Gefängnis“ erzählte. Ich kannte einige seiner frühen Stücke, zum Beispiel „Gerettet“, das 1965 in London verboten wurde, unter anderem weil darin Jugendliche ein Baby in einem Kinderwagen steinigen, oder „Trauer zu früh“, eine ergötzlich respektlose Satire über das viktorianische England als Monarchie der Menschenfresser, die kurze Zeit später zur endgültigen Abschaffung der altehrwürdigen Institution der Zensur führte. Bond hatte seinen Platz nicht nur in der englischen Theatergeschichte gefunden, sondern vor allem in der deutschen. ­Peter Stein war 1968 mit „Gerettet“ beim Theatertreffen, Peter Zadek, Luc Bondy und Andrea Breth hatten seine Stücke inszeniert, und Peter Palitzsch 1972 mit „Lear“ die erste Saison des legendären Frankfurter Mitbestimmungsmodells eröffnet. Die Inszenierung der Bond’schen Gewalt­ szenen – die RAF-Köpfe Baader, Meins und Raspe waren gerade verhaftet worden – spaltete das Publikum. Aber im Lauf der 80er Jahre wurde es stiller um den Dramatiker – insbesondere in London. Er hatte sich ins Abseits manövriert. Die prägende und jahrelange Zusammenarbeit mit dem Royal Court Theatre war in einem Streit über seine Komödie „Restauration“ zu Ende gegangen. Am National Theatre lehnte man es ab, ihn als Regisseur für sein Bürgerkriegs-Stück „Die Menschenkanone“ zu engagieren. Und an der Royal Shakespeare Company brach er die Proben zu seiner Trilogie „Kriegsspiele“ ab. Ob es an den Thatcher-Jahren und der Polarisierung der Gesellschaft lag oder an der Kommer-

zialisierung der Theaterästhetik oder einfach nur ­ daran, dass Bond immer mehr Kontrolle über die Inszenierungen seiner neuen Stücke verlangte, bleibt offen. Sicher ist, dass er keine Angst davor hatte, Englands künstlerisches Establishment zu verprellen. An einen Regisseur der RSC schrieb er 1988 gewohnt undiplomatisch: „Die Katastrophengebiete schicken Ihnen Nachrichten aus der Schlacht, und Sie benutzen sie wie ein Penner die Zeitung, Sie schlafen darauf.“ Im Februar 1994 besuchen Peter ­Palitzsch, der Bühnenbildner Karl Kneidl und ich Edward Bond in seinem Haus in Great Wilbraham ein paar Meilen östlich von Cambridge. Im Gepäck hat Palitzsch eine einfache Frage: Warum ist der Vater nicht über seine Tat schockiert, sondern darüber, dass er sie vergessen hat? Wir sitzen in Bonds Arbeitszimmer mit Blick hinunter in den leicht nebligen Garten, an dessen Ende eine Skulptur steht. Bond hat seine Antworten parat. „Olly’s Prison“ (man kann es auch „all is prison“ ausprechen), sein erstes neues Stück nach dem Fall der Berliner Mauer, wurde im Jahr ­ zuvor als dreiteiliges TV-Play von der BBC ausgestrahlt und im Sommer in Avignon uraufgeführt. Dass nun das Berliner ­Ensemble folgen soll, freut ihn besonders; er hat 1956 in London das legendäre Gastspiel der „Mutter Courage“ gesehen und bezieht sich oft auf Brechts Theater. Seine eigene Schauspieltheorie, erklärt er dem staunenden Palitzsch, sei eine Weiter­ entwicklung des Epischen Theaters, ver­ suche einen Bewusstwerdungsprozess zu beschreiben im Hin und Her von Einfühlung und Distanz, zwischen innen und außen, zwischen der Freiheit der Imagination und den Zwängen der Realität. Ist das eine Antwort auf Palitzschs Frage? Merkwürdig, sagt Palitzsch, als wir Stunden später im Auto zurück nach London sitzen, wie sich die Geschichten in „Lear“ und „Olly“ gleichen. Ja, beide haben den gleichen ­Erkenntnisweg: aus dem System in den ei­ genen Kopf. Zwischen haushohen, grauen Vorhängen, sagt Kneidl.

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Akteure Nachruf

Foto Bernd Uhlig

1934–2024

Der Austausch zwischen Berlin und Cambridge ging weiter. Noch spätabends klingelte bei Palitzsch das Faxgerät und ruckelte ein Blatt heraus mit dem Strichmännchen OLLY (O als Kopf, LL, als Arme, Y als Beine). Ausführlich half Bond bei Fragen zum Text, naturalistisch dachte er beim Bühnenbild, und besorgt war er, wenn es um die Musik ging. Bei der Auswahl von Bonds Texten für das Programmheft, Drucksache 10, unterstützte uns seine Frau, die Schriftstellerin Elisabeth Bond-Pablé. Die Kiste mit Brief­ kopien – Bond war ein unermüdlicher Briefeschreiber –, die sie mir für eine Weile zur Durchsicht anvertraute, enthielt nur einen kleinen Teil seiner Korrespondenz. Vielleicht liegt noch heute darin das Fax, in dem Bond seine Teilnahme an einem Podiumsgespräch im Berliner Ensemble versprach, obwohl ihm öffentliche Auftritte zuwider waren. „Wenn Sie mich schon ans Kreuz nageln müssen, dann bitte mit dem Gesicht zum Holz. Die Nägel sind mir egal, aber die Blicke der Öffentlichkeit in der Zeit, die es dauert, bis vorbei ist, kann ich nicht ertragen.“ Die Kreuzigung fand dann allerdings nicht im Foyer des Berliner Ensembles statt, sondern in den Kritiken nach der Premiere. Edward Bond ist mir in all seiner Zwiespältigkeit in Erinnerung geblieben. Extrem in seinen Ansichten, apodiktisch in seinen Formulierungen, aber auch verletzlich und dünnhäutig – fast wie der ­Vater, gespielt von Hans Diehl, der in „Ollys Gefängnis“ die Tochter, Anna Thalbach, erdrosselt. Der Theaterkritiker des Guardian Michael Billington, der Bonds Arbeit über Jahrzehnte mit Sympathie verfolgt hat, verglich ihn einmal mit William Blake: Zwar sei Bond kein Mystiker, aber doch ein seltsam visionärer englischer Künstler, der den berühmten Satz des Dichters Blake auch für sich in Anspruch nehmen könnte: „I must Create a System or be enslav‘d by another Man’s.“ Edward Bond starb am 3. März 2024 in London. P. S.: Erst jetzt fällt mir wieder ein: Als Statist 1977 an der Stuttgarter Oper

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Der Dramatiker Edward Bond vor dem Berliner Ensemble

in Hans Werner Henzes Oper an der „Wir erreichen den Fluss“ – Libretto Edward Bond – hatte ich eine Sprechrolle. Als Soldat in einer sechsköpfigen Truppe im Orchestergraben hatte ich „Vier“ zu ­rufen. Das hatte ich vergessen, dir zu erzählen, Edward, als wir uns in Cambridge begegnet sind. T

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Akteure Nachruf

PETER SODANN

Titan des Theaters Ein Nachruf auf den Schauspieler, Regisseur, sächsischen Tatort-Kommissar und Hallenser Theaterbauer Peter Sodann Von Thomas Thieme

Der Schauspieler, Regisseur und Theateritendant Peter Sodann

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war nachdenklich, eher freundlich, ein bisschen durcheinander. Es war noch immer Peter Sodann, einer der eindrücklichsten Menschen, die das deutsche Theater der Gegenwart hervorgebracht hat. Da er Peter Sodann war, konnte er Galilei sein und Striese. Das war kein Widerspruch, das war die gleiche starke Person. Nun ist mein lieber Peter gestorben. Ich bin stolz, ihn gut gekannt zu haben. Und ich hoffe, er war ein bisschen stolz darauf, mich damals aus Zittau gerettet zu haben. Peter Sodann starb am 5. April 2024 in Halle (Saale). T Foto picture alliance / dpa | Martin Förster

In der trostlosen Kantine des Theater Zittau saß 1973 abends im Winter ein einsamer Mann und wartete. Dann kam ein junger, kräftiger Schauspieler herein und setzte sich zu ihm. Der Mann teilte dem Schauspieler mit, dass er ihn nach dem eben Gesehenen nicht engagieren kann. Ein paar Jahre später, nach zwei Vorsprechen in Magdeburg hatte der Meister den Schauspieler in sein Ensemble aufgenommen, waren sie Freunde am Theater in Magdeburg. Der einsame Mann war einer der besten ostdeutschen Regisseure, direkt, klug, klar, begabt, mit Kraft und Feingefühl. Er hieß Peter Sodann. Der Schauspieler war ich. Ich hatte meinen ersten großen Meister gefunden. Die Wege gingen auseinander. Der Mann wurde ein richtiger Theaterpatron, später TV-Star. Der Schauspieler blieb Schauspieler. Nach Jahrzehnten – alles hatte sich geändert – trafen sie sich wieder, deutlich älter geworden. Der Mann

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Foto © Holly Revell

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Stück Gespräch

„Der Große Gopnik“ von Viktor Jerofejew am Theater Freiburg. Regie Eike Weinreich

Eine schreckliche Komödie Viktor Jerofejew über „Der Große Gopnik“ und Russlands Verhängnis

Foto Laura Nickel

Im Gespräch mit Thomas Irmer

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Stück Gespräch Die von Ihnen gleich am Anfang beschriebene Bühne zeigt auf der linken Seite die Sphäre der russischen Hochkultur und auf der rechten die Kreml-Macht, in der Mitte eine Schaubude als Tempel der russischen Geschichte. Ist das der symbolische Platz des Theaters? Viktor Jerofejew: Zwischen den beiden Sphären, der Kul­ tur und der totalitären Macht, gibt es das Leben in allen Farben: Verrat, aber auch Liebe und die Idee der Vernunft. Das Theater würde man natürlich der Sphäre der Kultur zurechnen, aber geht es nur ein Stück in die andere Richtung, zeigt es auch Elemente von P ­ ropaganda der Macht. Zugleich ist es ein mystischer Ort, und in erster Linie wollte ich mit dieser Schaubude die theatrale Verbindung zwischen zwei Welten zeigen. In einem Roman kann man das in einer allmählichen erzählerischen Entwicklung ge­ stalten, aber auf der Bühne geht das nur direkt und unmittelbar. Diese Schaubude ist für mich aber nicht nur die Mitte zwischen zwei Welten, sondern eher wie ein Magen, der alles verdaut und dadurch zeigt, was wirklich in den Dingen steckt. Die Schaubude kann zweierlei sein: magisch, aber auch schäbig und heruntergekommen. VJ: Wie die Märchen aus der russischen Welt, in denen die Hochkultur keine große Rolle spielt. Im Stück ist der Einzige, der aus dieser Sphäre kommt, die Figur des Autors, der das alles in dieser räumlichen Anordnung zu organisieren versucht, weil er die Kultur verteidigen will. Aber das ist, wie ich es nenne, eine schreckliche Komödie. Wie auch die beiden Straßenkehrer auf der Showtreppe zur Schaubude – ein ukrainischer und ein russischer – eine absurd komische Erfindung sind, mit der die Ordnung der drei Sphären gekontert wird. VJ: Die erschienen mir wirklich als Vision in einem Fieber­ traum, als ich mit einer schweren Lungenentzündung im Kranken­ haus lag. Vielleicht die einzige mystische Erscheinung bei der Ent­ stehung des Stücks. Sie sind für mich wie die „Sunny Boys“ von Neil Simon, dieses zerstrittene Komikerpaar, buchstäblich Leute auf der Straße. Mit ihnen kam auch die Loslösung vom Roman „Der Große Gopnik“ als Vorlage. Es gibt vielleicht die gleichen Themen, aber das Stück ist doch etwas ganz anderes geworden. Gopniks sind Hinterhofrowdys, für die nur das Gesetz der Stärke gilt. Obwohl der Name Putins nie genannt wird, weder im Roman noch im Stück, ist der Große Gopnik ein erkennbares Psychogramm des in Leningrader Höfen aufgewachsenen Präsidenten. Sie sind wahrscheinlich der erste, der Putin auf die Bühne bringt – in

Es gibt zwischen Russland und Europa verschiedene Vorstellungen von Zeit im geschichtlichen Sinn. Theater der Zeit 5 / 2024

Der Gopnik ist der Schlüssel zu Putins Psyche. Ich habe das oft getestet, wenn mich im Ausland Politiker danach fragten. Ich erklärte ihnen die Gopniks – und sie verstanden.

einer Mischung aus Monstrosität und Lächerlichkeit. Warum auf diese Weise? VJ: Er ist gefährlich, weil er ein Loser ist. Ich habe ihn ken­ nengelernt und diese Begegnung in Paris auch beschrieben. Er ist ein Gopnik, mehr nicht. Aber ein Gopnik als Zar ist nun mal viel gefährlicher als ein echter Zar. In einigen Momenten kann man auch an Charlie Chaplin in „Der große Diktator“ denken. Muss man monströse Diktatoren lächerlich machen, um sie zu porträtieren? VJ: Ja, Chaplin spielte eine Rolle dabei, und auch „The Great Gatsby“ von Scott Fitzgerald. Denn ich wollte beim Schreiben in literarischer Gesellschaft von Leuten sein, die ganz anders als er sind. Übrigens, das ist jetzt schrecklich zu sagen, halte ich Putin für gefährlicher als Hitler. Er könnte die ganze Welt zerstören, denn er vertritt ja keine Ideologie, mit der sich die Welt orga­ nisieren ließe. Ich möchte betonen, dass in dem Stück der große Gopnik als die Vision eines Kreml-Zaren auftritt, nicht als der ­biografisch-faktische Putin. Mit einem dokumentarischen Putin hätte ich ästhetisch in der Falle gesessen. „Gopnik“ ist ein Begriff, den bis vor kurzem kaum jemand hier kannte. Erst mit Ihrem Roman, der inzwischen in dritter Auflage erschienen ist, kam der Gopnik in die Literatur und wird so vielleicht auch im Deutschen verankert als Vorstellung von einem im Trainingsanzug herumlungernden Schlägertypen aus der russischen Unterschicht. VJ: Der Gopnik ist der Schlüssel zu Putins Psyche. Ich habe das ja nicht für den Roman und das Stück erfunden, sondern vor­ her oft getestet, wenn mich im Ausland Diplomaten und Politiker nach ihm fragten. Ich erklärte ihnen die Gopniks – und sie ver­ standen. In deutscher Perspektive hat man Putin bislang vor allem als vom KGB geprägten Typ gesehen, der eiskalt mit verdeckten Manövern seine Ziele erreichen will. VJ: In den KGB kam Putin, nachdem er ein Gopnik geworden war, und letztlich blieb er ein Gopnik in den Reihen des Geheim­ dienstes, den er für seinen Schutz gewählt hatte und vielleicht noch wegen der sportlich-militärischen Ausbildung. Für einen Gopnik geht es in einem solchen System darum, für den persön­ lichen Vorteil lügen zu können – um am Ende zu gewinnen. Im Post-Perestroika-Chaos wechselte Putin vom KGB in das Team des Petersburger Bürgermeisters Sobtschak, wo er ein Gopnik bleiben konnte, weil solche Eigenschaften damals auch gefragt waren.

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Stück Gespräch Der Große Gopnik im Stück steht natürlich auf einer anderen­ Ebene, die keine biografische Entwicklung abbildet, sondern ihn als ­Zaren in einer Art Märchenzeit zeigt, in der es nicht darum geht, was genau Putin 1989 in Dresden gemacht hat. Was meinen Sie mit Märchenzeit? VJ: Es gibt zwischen Russland und Europa verschiedene Vor­ stellungen von Zeit im geschichtlichen Sinn. Fortschritt, Progress, auf Ziele gerichtete Entwicklungen, wogegen Russland in einer anderen Welt von ewiger Märchenzeit lebt – wie es im Stück mit der magischen Schaubude und ihren Figuren dargestellt wird. Das ist Teil des Konflikts zwischen dem Gopnik und Europa – und vielleicht hat sich dieser jetzt mit dem Moskauer Terroranschlag noch einmal verschärft.

Also als politisches Stück? VJ: Nein, ausdrücklich nicht. Ich meine das nicht als morali­ sche Aufarbeitung. Schauen Sie, es gibt doch einen großen Unter­ schied zwischen Journalismus, der nach einem Weg nach Draußen sucht, und Literatur, die ins Innere führt. Mich interessiert auch mit dem Theater dieser Weg nach Innen. In den Magen. Ihnen gelingt mit dem Buch eine faszinierende Montage aus Autofiktion, phantasmagorischen Szenen und essayistischen Betrachtungen zur russischen Geschichte. Im Kontext der russischen Literatur könnte man als Vergleich an Dostojewskis „Tagebuch eines Schriftstellers“ denken, in dem sich ebenfalls verschiedene Genres abwechseln, aber eigentlich ist es etwas ganz Neues. VJ: Andreas Rötzer von Matthes & Seitz sagt, ich hätte damit ein neues Genre erfunden. Aber vielleicht ist es andersrum, dass dieses Genre den Autor erfindet? Ich selbst nenne es mein kleines „Krieg und Frieden“. T

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Viktor Jerofejew, geboren 1947 in Moskau, beschäftigt sich in seinem Werk seit der Erzählung „Leben mit einem Idioten“ (1980) immer wieder mit der Pychologie Russlands verbunden mit der eigenen Biografie. 2004 erschien der autobiografische Roman „Der gute Stalin“, 2023 „Der Große Gopnik“. Jerofewjew lebt mit seiner Familie in Berlin.

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Foto picture alliance / Ralf Hirschberger/dpa-Zentralbild/dpa | Ralf Hirschberger

Der Roman endet mit der Vorstellung einer totalen Apokalypse, wenn der Gopnik mit seinem Atomköfferchen kommt und die Hauptstädte von Washington bis Warschau ins Visier nimmt. Dem Theater wollten Sie ein solches Ende offenbar nicht zu­ muten. VJ: Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man das Publikum so zurücklässt. Nein. Und es gab dazu noch einen ganz anderen Grund. Denn als ich die beiden Straßenkehrer hatte, wusste ich, dass das Stück mit ihnen endet. Mit dem russischen Iwan, der sich mit seiner Auffassung von Zeit nicht mehr an den Krieg erinnert. Es ist die sehr wichtige Frage, ob Russland zu einer Auseinander­ setzung mit der eigenen Schuld nach dem Krieg fähig sein wird. Ähnlich wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.


Theater der Zeit

Stück Der Große Gopnik Theaterstück in zwei Akten Originaltitel: Weliki Gopnik Viktor Jerofejew Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch

Handelnde Personen 1 Der Große Gópnik, 40–45 2 Autor, 40–45 3 Schwester O., 30–35 4 Der Kleine Nächtliche Stalin, 60 5 Iwán, junger russischer Straßenkehrer 6 Tarás, junger ukrainischer Straßenkehrer 7 Polína, Ehefrau des Autors, eine Überläuferin, 30–35 8 Der Gutmütige Deutsche, 50 9 Borís, Oppositioneller, 45

Weitere handelnde Personen 10 Mama des Autors 11 Papa des Autors 12 Nika, 37 13 Tatjána Iwánowna, Ärztin 14–15–16–17–18–19–20–21 Kindheitsszene: drei Rowdys, Mädchen Olka, ein Passant, die Eltern des Großen Gopniks, sowie eine Krankenschwester und drei Kellner) 22 Der französische Präsident 23–24 Die zwei Assistenten des Großen Gopniks – Assistent mit Bart und Assistent ohne Bart 25 Naryschkin, Oberst der Weißen Armee 26 Büfettfräulein 27–28 Die russische und die französische Seele des Autors, außerdem zwei Fernsehbosse

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Stück Viktor Jerofejew

D © Matthes & Seitz, Berlin 2024 Fassung Theater Freiburg

Dies ist ein Theaterstück über die leidenschaftliche Liebe Russlands zu zwei vollkommen gegensätzlichen Prinzipien. Russland liebt die Kultur über alles und produziert Kultur. Aber es huldigt auch dem Kult der Stär­ ke, der Macht der Gewalt, der Autokratie. In meinem Stück spielt diese Doppelrolle Russlands Schwester O. – eine rätselhafte schöne Frau, die die Kultur und die Armee liebt, denn sie findet hier wie dort das aufregen­ de Thema des Todes. Natürlich ist dieses Stück nicht nur über Russland, seine Thematik (Liebe und Tod) geht uns alle an. Es geht um die mensch­ liche Unvollkommenheit. Und wenn man dieses Moment unterstreicht, erlangt das Stück/die Aufführung eine für jeden Zuschauer verständliche Dimension.

ERSTER TEIL 1. Straßenfeger

DER AUTOR: Moskau. Kurz vor dem Krieg. Ein sonniger Tag. Auf den Stufen fröhliche Straßenkehrer mit Besen. Der Russe Iwan und der ­Ukrainer Taras fegen die Stufen. Iwan hört auf zu fegen. Er setzt sich auf die Stufen. Zündet sich eine Zigarette an. IWAN: Taras! He, Taras! TARAS: Was gibt’s? IWAN: Warum so pingelig? TARAS: Wie denn sonst? IWAN: Na, wie’s gerade passt. TARAS: Was soll das denn jetzt heißen? IWAN: Ach nichts. Wozu fegen, wenn’s eh wieder schmutzig wird? TARAS: Das ist so eure Russenphilosophie ... Euch gefällt’s eben ­schmutzig. IWAN: Alles gelogen. TARAS: Ich bin nach Moskau gekommen und wollte hier eigentlich stu­ dieren, an der philosophischen Fakultät. Aber ich hab die Aufnahmeprü­ fung nicht geschafft. Zuerst tat’s mir leid. Aber dann hab ich begriffen, dass ein Straßenkehrer ja auch ein Philosoph ist. IWAN: Ich hab auch die Prüfung vergeigt ... Allerdings nicht bei den Phi­ losophen, sondern bei den Zahnärzten. Dabei müsste es eigentlich anders­ rum sein. Der Russe – das ist Geist. Und der Ukrainer – das ist ... das ist der Traum von schönen Zähnen! TARAS: Ein Rüpel, das bist du! IWAN: Und du ein Bauerntrampel! Stimmt schon, was man über euch sagt: Still ist die ukrainische Nacht, aber versteck den Speck ... Hütet euch vor Dieben! TARAS: Und du, Wanja, bist du zufällig auch ein Dieb? IWAN: Ich geb dir gleich eins auf die Mütze! AUTOR: Iwan und Taras beginnen mit ihren Besen zu fechten, sie lachen, albern herum. Schließlich stoßen sie sich gegenseitig den Besenstiel gegen die Brust und fallen tot um. Dann stehen sie langsam wieder auf und ­setzen sich auf die Stufen. IWAN: Was ich dich immer schon fragen wollte: Aus welcher Stadt kommst du eigentlich? TARAS: Aus Mariupol. Meer, Sonne. Komm uns besuchen. Wenn du wüsstest, was für eine Lebensfreude bei uns herrscht! IWAN: Wieso nicht? Ich komm einfach. Wirst mich schon nicht raus­ schmeißen! TARAS: Und du? Du bist von hier, aus Moskau? IWAN: Ich komm aus einer Arbeitersiedlung. Nicht weit von hier.

Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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Stück „Der Große Gopnik“

2. Straßenfeger mit O

Schwester O erhebt sich. SCHWESTER O.: Russland ist ein Zaubermärchen. Böse, grausam, aber zauberhaft. Und dieses Märchen macht mir furchtbare Angst. Um dieses Märchen zu enträtseln, erschaffe ich Visionen. Ich weiß mit Sicherheit, dass es zwischen Russland und der Ukraine bald zu einem blutigen Krieg kommen wird. IWAN: Wer sind sie? SCHWESTER: Mein Name ist O. IWAN: So einen Namen gibt’s nicht. SCHWESTER O.: Ich bin ... so eine Art ... Zauberin. Die Chefin von dieser Schaubude, von diesem Schmierentheater. IWAN: Was für ein Schmierentheater? SCHWESTER O.: Na ja, schon der Dichter Tjutschew hat gesagt: Mit dem Verstand kann man Russland nicht begreifen ... TARAS: Mit keinem Maße messen ... IWAN: Hör doch auf! SCHWESTER O.: Ich zeig euch jetzt mal was.

3. Krieg, Mariupol

AUTOR: Die Straßenkehrer glauben nicht, dass es Krieg geben wird. Zum Beweis erschafft Schwester O. eine Vision. Der Große Gopnik und ein totes Kind im kriegszerstörten Mariupol. SCHWESTER O.: (an Taras und Iwan) Wir sind Zeugen einer Katastro­ phe. Der Große Gopnik – das Oberhaupt Russlands – besucht das von Russen besetzte Mariupol. Auf der Geburtsstation einer Klinik winkt ihn Tatjana Iwanowna, eine Ärztin im weißen Kittel, zu sich, nimmt ihn bei der Hand. TATJANA IWANOWNA: Mein Lieber, ach mein Lieber – bevor die Rus­ sen in die Stadt kamen, nach einem Luftangriff, da haben uns Soldaten zwei schwer verletzte Frauen auf Tragen gebracht. DER GROSSE GOPNIK: Das war euer Luftangriff, es war euer Luftan­ griff, der Luftangriff, der war von euch. TATJANA IWANOWNA: Der einen Frau hat es das Muskelgewebe an den Beinen zerfetzt. Die andere nannten sie Nika. DER GROSSE GOPNIK: Das ist aus einer Zeitung, aus einer feindlichen Zeitung. Ich weiß. Drecksgeschmiere... Es reicht. TATJANA IWANOWNA: (nimmt ihn bei der Hand) Mein Lieber, mein Lieber, dreh dich nicht weg. Nika hatte das Bewusstsein verloren, ihr Blut­ druck war abgesackt. Zum ersten Mal haben unsere ukrainischen Ärzte einen Kaiserschnitt im Keller gemacht. Beim Zunähen ist uns der Diesel ausgegangen. Da haben wir mit Handylicht weiter genäht. DER GROSSE GOPNIK: Ja, ja, der übliche Neonazi-Fake. Hören Sie mir auf mit diesem amerikanischen Neonazi-Stuss, lassen Sie das. Hören Sie, es reicht. TATJANA IWANOWNA: Nika ist 37. DER GROSSE GOPNIK: Na und? TATJANA IWANOWNA: Mein Lieber, die erste Schwangerschaft, lang ersehnt. Versteh doch, sie war bei uns in Behandlung wegen Unfrucht­ barkeit. Neun Monate lag sie unter Beobachtung in der Klinik. Ihr noch ungeborenes Baby ist erschossen worden. DER GROSSE GOPNIK: Ihr habt es doch selbst erschossen. TATJANA IWANOWNA: Gehen wir, gehen wir zu ihr. Sie treten an Nikas Bett. TATJANA IWANOWNA: Nika, du hast einen Jungen geboren, er wiegt 3700 Gramm ... Er ist tot. NIKA: Ich weiß, ich weiß, ich hab’s gleich gewusst. TATJANA IWANOWNA: Möchtest du ihn sehen ...? Mein Lieber, mein Lieber, wo willst du hin, warte ...

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SCHWESTER O: Es scheint, als habe der Mensch bei all dem Leid die Fähigkeit zu weinen verloren, als sei er einfach versteinert, verkohlt wie die ganze Stadt. NIKA: Tatjana Iwanowna, ich denke darüber schon sehr, sehr lange nach. Wenn ich das Kind anschaue, werde ich einfach den Verstand verlieren. Aber wenn ich es nicht anschaue, werde ich das mein ganzes Leben be­ reuen. DER GROSSE GOPNIK: (empört) Was für ein Schwachsinn! TATJANA IWANOWNA: Nika, entscheide du, wie es weitergeht, was wir tun sollen. NIKA: Machen wir es so. Sie bringen ihn mir rasch, und ich schaue ihn an, aber berühren werde ich ihn nicht. Gut? TATJANA IWANOWNA: Gut. SCHWESTER O: Sie bringt das Kind. Nika schaut es an. Dann nimmt sie sein Händchen. Stille NIKA: Oh, was für winzige Fingerchen. Er sieht ja meinem Mann ganz ähnlich. (Sie reicht es dem Großen Gopnik.) Sie sind doch Arzt. SCHWESTER O: Der Große Gopnik steht da mit dem toten Kind in sei­ nen Armen. TATJANA IWANOWNA: Mein Lieber, hier bin ich ... hörst du mich? Wir haben sehr lange gebraucht, um sie zu beruhigen. Ich spaziere durch das schöne, sonnige Lwow, sehe diese kleinen Kinder, ihre Mütter. Sie halten sie an den Händchen, schieben sie im Kinderwagen herum. Ich schaue ihnen zu, und das Herz will mir zerreißen vor Schmerz und Verzweiflung. Ich begreife, dass dort, in Mariupol, viele kleine Kinder in ihren Kinder­ wagen unter den Trümmern begraben liegen. Sie schlafen den ewigen Schlaf. DER GROSSE GOPNIK: Ist das nicht eine Puppe? Der Feind kann einem ja alles Mögliche unterjubeln! (bewegt das Kind) Nein, doch nicht. Keine Puppe. Alles klar. Ein feindliches Kind. Abgekratzt. Aha! Jetzt kämpfen sie schon mit Hilfe von toten Kindern. Denen ist doch alles scheißegal. Ha, ihr Komiker, macht euch auf meine Antwort gefasst. Millionenfache Mobilmachung in Russland. Referenden in den befreiten Gebieten der ­Ukraine: Wir wollen nach Russland. Und die Atombombe! Da habt ihr sie! Fangt sie doch! Wir machen euch dem verfickten Erdboden gleich.

4. Moskau

Die Vision ist zu Ende. Die Schaubude ist dunkel. Die Straßenkehrer fegen mit ihren Besen die Stufen. SCHWESTER O.: Sowas von sinnlos, was ihr da treibt! Sie legt sich hin. Die Straßenkehrer beachten sie nicht. DER GROSSE GOPNIK: Na, Volk, wie stehen die Aktien? IWAN und TARAS: Äh, wir fegen den Hof. DER GROSSE GOPNIK: Sehr gut. Seid ihr bereit, Russland zu retten? IWAN und TARAS: Wieso? DER GROSSE GOPNIK: Ich hatte eine Ehefrau. Sie hieß Ukraine. Sie hat mich betrogen. Mit einem Amerikaner. Versteht ihr, meine Frau hat mich betrogen. IWAN: Was für ein Flittchen! TARAS: Nein, warten Sie ... DER GROSSE GOPNIK: Worauf soll ich noch warten? Wer bist du denn? Etwa aus der Ukraine? Taras versucht sich hinauszuschleichen. DER GROSSE GOPNIK: (zu Iwan) Dich kenn ich doch. Du wolltest doch Kosmonaut werden und hast studiert. Wieso bist du Straßenfeger? IWAN: Zahnmedizin wollte ich studieren ... Sie haben mich rausgewor­ fen.

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Stück Viktor Jerofejew DER GROSSE GOPNIK: Weshalb? Warst du denn gegen mich? IWAN: Nicht besonders ... DER GROSSE GOPNIK: Hast du Propaganda gemacht für gleich­ geschlechtliche Liebe? IWAN: Nö. DER GROSSE GOPNIK: Wieso denn dann? Hast du Eigentum beschä­ digt? Für Trunksucht? Diebstahl? Mord? IWAN: (zuckt mit den Schultern) Bin durch die Prüfungen gefallen. DER GROSSE GOPNIK: Haben sie dich durchfallen lassen? Ausgeboo­ tet? DER GROSSE GOPNIK: Ich werde das den Kollegen stecken. Sie sollen dich wieder aufnehmen. Du wirst fliegen. IWAN: Fliegen? Seit wann fliegen Zahnärzte? DER GROSSE GOPNIK: Wozu willst du Zahnarzt werden? Denk größer! Du wirst Kosmonaut! IWAN: Vielen Dank auch! DER GROSSE GOPNIK: Aber zuerst musst du kämpfen. Hilfst du mir? Ich bin ja genauso ein Gopnik wie du! Er bemerkt Schwester O. Iwan geht unauffällig ab. DER GROSSE GOPNIK: Diese Vision – ist das Ihr Werk? SCHWESTER O.: Mmh. DER GROSSE GOPNIK: Du hast mich doch in diesen ganzen Mist rein­ geritten. Mich, den Regenten eines großen Landes. Wahrscheinlich bin ich der Einzige auf der Welt, der höchstpersönlich einen Atomkrieg anzetteln kann. Etwa nicht? Ich brauch keinen fragen. Mein Freund, der Chinese, ist Führer seines Landes. Trotzdem abhängig von seinem Politbüro. Und der Amerikaner, dieser Dreckskerl, dem sind durch alle möglichen Ketten und Kommissionen die Hände gebunden. Aber ich bin ein freier Mann im ­freien Flug. Ich mach, was ich will. SCHWESTER O.: Ich bin gegen den Krieg, den Sie ausgebrütet haben. DER GROSSE GOPNIK: Die Ukraine ist eine untreue Ehefrau. Sie hat ihren legitimen Ehemann verlassen, das heißt, mich. Sie ist durchgebrannt, abgehauen mit einem Amerikaner, zum Jubelgeschrei von Europa. Ka­ piert? SCHWESTER O.: Ist sie von allein weggelaufen, oder hat der Ami sie ver­ führt? DER GROSSE GOPNIK: Natürlich hat der sie aufs Kreuz gelegt, so ist der Amerikaner! Aber ich hol sie mir zurück. Verpass ihr eine ordentliche Tracht Prügel, misshandle sie nach Strich und Faden und hol sie zurück in die Familie. Klar? SCHWESTER O.: Und wenn sie dich nicht mehr liebt, deine Ukraine? Wozu sie dann zurückholen?

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DER GROSSE GOPNIK: Ob’s dir gefällt oder nicht, halt still, meine Schöne! Eigentlich gibt es sie gar nicht, die Ukraine. Reine Erfindung. Die sind genau so Russen ... SCHWESTER O.: Also hast du dir ausgedacht, eine Erfindung zurück­ zuholen und nicht deine Ehefrau. DER GROSSE GOPNIK: Hast du dir je eine Karte von Russland ange­ schaut? SCHWESTER O.: Was für eine Frage! DER GROSSE GOPNIK: Wir sind die Allergrößten. Wir sind die Aller­ spirituellsten. Nur wir, wir allein haben einen Birkenwind. SCHWESTER O.: Birkenwind? DER GROSSE GOPNIK: Er weht durchs Land, wie von Zauberhand. Er löst unendliche Fantasien aus bei den Menschen. Ihnen wachsen Flügel. Wer bist du? SCHWESTER O.: Ich bin dein Tod. DER GROSSE GOPNIK: Willst mich wohl abmurksen? SCHWESTER O.: Mhm ... auf’m Scheißhaus. DER GROSSE GOPNIK: Ich bin vollkommen unschuldig … Rede ich so unverständlich? Ich bin die Unschuld in Person. Vor dir hab ich keine Angst. Du bist schön. SCHWESTER O.: Aber du lebst in hundert Bunkern, reist durch die ­Gegend in gepanzerten Zügen, traust keinem über den Weg... Du bist ein Feigling. DER GROSSE GOPNIK: Ich hab nicht gewusst, dass du so schön bist. SCHWESTER O.: Wozu brichst du diesen Krieg vom Zaun? DER GROSSE GOPNIK: Beweis mir, dass du der Tod bist. SCHWESTER O.: Wieso ich? Du beweist das doch selbst jeden Tag. Schau, wie viele Leichen. ... Warum hast du den Krieg losgetreten? DER GROSSE GOPNIK: (mürrisch) Keinen Krieg ... eine Spezialopera­ tion ... Aus verschiedenen Gründen. SCHWESTER O.: Du fängst einen Krieg an, weil dir langweilig ist. Zu Hause kriechen dir alle in den Arsch, du hast keinen, mit dem du reden kannst, und im Ausland täuschen dich alle. „Mir ist langweilig, Teufel ...“ DER GROSSE GOPNIK: Na ja. Aber es gibt noch einen anderen Grund. SCHWESTER O.: Du willst ewig regieren. Russland – das bist du. Stimmt’s? DER GROSSE GOPNIK: Aber der Hauptgrund ist... SCHWESTER O.: (unterbricht ihn) Der Hauptgrund ist – du bist ein Mann des Krieges. Dein Sack zieht sich kriegslüstern zusammen, wenn du Schüsse hörst. Dein Sack ballt sich zu einer eisernen Faust, sobald du eine Waffe in der Hand hast… DER GROSSE GOPNIK: Ich versteh dich nicht. Du bist doch der Tod. Du liebst doch diesen Leichengeruch. Krieg – das ist für dich doch der Kick.


Stück „Der Große Gopnik“ Geht mir genauso. Was hast du dann gegen mich? SCHWESTER O.: (schnaubt, winkt ab) Tschüss! DER GROSSE GOPNIK: Ich will dich wiedersehen. Lass uns zusammen­ leben. Du bekommst alles, worauf du Lust hast. SCHWESTER O.: Sicher. Der Große Gopnik verschwindet. SCHWESTER O.: Woher kommt dieser Gopnik? Woher dieser kleine Giftpilz, der bis in den Himmel gewachsen ist? Alles schien so einfach, Kultur hier, Camouflage dort, alles ganz einfach, aber warum ... warum...? AUTOR: Weil Russland ein Karussell ist, das sich dreht und dreht und dreht... SCHWESTER O.: Was redest du da? Was für ein Karussell? Alles ertrinkt in Blut... ein Meer von Blut... AUTOR: Aber das Karussell bleibt schon bald stehen. Der Staat Russland ist zu einer Leiche geworden, auf der die Menschen wie Ameisen herum­ wuseln. Die gescheitesten Ameisen sind schon von der Leiche herunter gehüpft und in alle Himmelsrichtungen davongerannt. SCHWESTER O.: Also ist Russland ein negatives Beispiel. Eine exempla­ rische Leiche für die ganze Welt. AUTOR: Wenn man das Land nicht versteht, wird das für alle schlimm enden... SCHWESTER O.: Aber du hast mir doch gesagt, dass Russland eine be­ sondere Dimension hat, den Birkenwind. AUTOR: Das hab ich gesagt, ja. SCHWESTER O.: Und der Große Gopnik hat mir gerade dasselbe gesagt. DER GROSSE GOPNIK: Ich kann nicht leben ohne dich… Und außer dem Birkenwind sind wir noch das Dritte Rom. Wir sind das dritte Rom. … Ich hab einen Assistenten. Er meint, wir hätten die beste Geschichte der Welt. Die beste Geschichte, die beste geografische Lage, die besten Bodenschätze, auf die die Amis scharf sind. Die besten Frauen, die beste Armee, demnächst fliegen wir auf den Mond, mit links, genau wie auf die Krim. SCHWESTER O.: Nicht hier, nicht jetzt. Es ist noch früh, noch feucht ... DER GROSSE GOPNIK: Früh? SCHWESTER O.: Das ist Pasternak. Es ist noch früh, noch feucht... DER GROSSE GOPNIK: Ich hab’s immer gewusst, russische Kultur und gesunder Sex, das geht gar nicht. SCHWESTER O.: (streichelt seine Wange) Keine Sorge. Ich komm zu dir. Wohin soll ich kommen? Direkt in den Kreml? DER GROSSE GOPNIK: In den Kreml, von mir aus in den Kreml. Da gibt es was zu sehen. Wir essen Stör im Facettenpalast. Ich kröne dich mit der Mütze des Monomach. Ach was, komm wohin du willst. In diesem Land gehört ja eigentlich alles mir.

5. Autor Monolog AUTOR: Wir haben es mit einem Märchenterritorium zu tun. Einem ­Karussell. Es quietscht und dreht sich. Die Rollen bleiben immer die glei­ chen. Nur die Akteure sind immer andere. Iwan der Schreckliche. Nikolai I. Stalin. Und jetzt er. Und auch das gemeine Volk ist entsprechend. Iwan der Dumme, der kollektive Märchenheld. Er brettert auf einem russischen Ofen die Dorfstraße runter und fährt das Volk über den Haufen. Wer kann, rennt vor ihm davon, und er lacht sich kaputt. Hab ich das etwa er­ funden? Der Große Gopnik ist die Konsequenz dieses Märchens. Er ist eine zufällige Person. Zufälle passieren bei Diktatoren durchaus fol­ gerichtig. Es hätte auch ein anderer aufsteigen können, aber dass so eine Position von einem Diktator besetzt werden musste, das ist absolut sicher. „Groß“ in Bezug auf einen Gopnik, das ist ein Paradoxon. Solche Gopniks gibt es überall. Auch Trump ist so ein Gopnik. Und doch ist der Gopnik vor allem ein russisches „Wunder“. Hier kommen verschie­ dene Bewusstseinsströme zusammen oder das, was ich „Ponjatka“ (Anm. d. Ü.: Panjátka) nenne. Eine „Ponjatka“, das ist dieses spezifisch russische, simplifizierte Bewusstsein, durch den Fleischwolf des Unterschichten­ wahnsinns gejagt: Es wird durchgedreht, und alles ist klar, verständlich und schrecklich, bedrohlich gefährlich, ungeheuerlich, tödlich. Er ist uns erschienen als Strafe für die Sünden unserer hinfälligen Demo­ kratie. Und als Rache Petersburgs für all die Qualen, die man der Stadt im 20. Jahrhundert angetan hat, von der Revolution und den stalinschen Re­ pressionen bis zur Blockade im Zweiten Weltkrieg, als über eine Million Menschen starben. Die Stadt hat uns die Rechnung präsentiert. Petersburg will Russland mit dem Großen Gopnik bestrafen. Natürlich, in ihm kommt einiges zusammen: moralischer Verfall, absolute Gnadenlosigkeit, Ressen­ timents, Rachsucht und erschreckende Kaltblütigkeit in Bezug auf Blutver­ gießen. In diesem Theaterstück haben wir russische Bühnenbilder, einen russi­ schen Diktator – das ist klar, aber in erster Linie geht es hier um die Un­ vollkommenheit des Menschen, um die Epidemie der Dummheit, an der jetzt die ganze Welt leidet. Im Grunde genommen ist der Große Gopnik ebenfalls ein Resultat dieser Epidemie. Wir wundern uns, obwohl es gar keinen Grund dafür gibt: Dummheit entsteht immer dann, wenn absolute Werte zerstört werden. Um zu verstehen, was mit ihm zu tun ist, lass uns die Zeit zurückdrehen. Kriegst du das hin?

1 8 6 X 55 M M BERLIN — LEIPZI G DÜSSELDORF BITTERF ELD-WOLFE N BERLIN — POTSDAM ERF U RT — WEIM AR DRESDEN

THEATER — DISKURS — PERFORMANCE 24 . M A I bis 2 8 . A U G U S T 2 0 2 4

W W W . FO N D S - D A KU.DE


Stück Viktor Jerofejew

6. Moskau 2000 SCHWESTER O.: (geht zur Kulturseite der Bühne, hält aber inne, allein auf den Stufen) Drehen wir die Uhr zurück. Moskau im Jahr 2000, als der Große Gopnik ein junger Präsident war. Die Ukraine ist ihm noch nicht davongelaufen ... Obwohl sie bereits damit liebäugelt. Die Zeit wird zurückgespult. Auf der Kulturseite wird fröhlich der 90. Geburtstag des Vaters des Autors gefeiert. Versammelt ist eine liberale Gesellschaft, einschließlich des demokratischen Politikers Boris. Ebenfalls anwesend ist der Gutmütige Deutsche – ein Politiker und Unternehmer aus Deutschland, ein Russlandfan, außerdem der angeblich liberale Assistent des Großen Gopniks, der Assistent ohne Bart. Der Autor und seine Schwester O. schließen sich ebenfalls der Feierlichkeit an. BORIS: Ich habe sehr gute Nachrichten. Unser Freund Gopnik hat den Thron bestiegen, jetzt ist er der Große Gopnik. POLINA: Galina Nikolajewna, welche Teetassen soll ich aufdecken? MAMA: Die hellblauen, Polina … Das Dresdner Service. Das »Beute«Service ... Es kam nach dem Krieg in unsere Familie. POLINA: Schönes Porzellan ... Und wenn Hitler aus dieser Tasse getrun­ ken hat? BORIS: Hitler! Der hat uns hier gerade noch gefehlt. MAMA: Anscheinend bekommen wir in Russland jetzt unseren eigenen Hitler ... (sieht den Autor) Warum so spät, mein Sohn? Wer ist das denn? AUTOR: Das ist O., meine Schwester. MAMA: Deine was? AUTOR: Meine Schwester. Mama und Papa wechseln Blicke. MAMA: Du hattest nie eine Schwester. Was soll das sein, eine Metapher? AUTOR: Keine Ahnung. MAMA: Dein Vater feiert einen runden Geburtstag. Er hat’s nicht mehr weit bis ins Grab. Wozu schleppst du hier eine unbekannte Person an? POLINA: Sie haben recht, er hat nur Metaphern im Kopf. Und alle wie bei einem Schönheitswettbewerb. Mein Mann schleppt gern irgendwelche Trullas nach Hause ab. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Guten Tag. MAMA: Na schön, nehmt Platz. SCHWESTER O.: Ich gratuliere Ihnen zum Geburtstag, Wladimir Iwano­ witsch. Sie sind tatsächlich ein Methusalem. Kann man wirklich so lange leben? MAMA: Mein Gott, wie taktlos! PAPA: Liebe Freunde, ich schlage vor, auf meine Frau das Glas zu er­ heben, die ... MAMA: Du bist der Jubilar, nicht ich. PAPA: Die blitzgescheite, unglaublich talentierte ...

BORIS: (an Schwester O.) Wie heißen Sie? SCHWESTER O.: O.! BORIS: Oh! MAMA: Wolodja, pssst, lass das! PAPA: Heute, am Geburtstag meiner Gattin ... MAMA: (greift sich an den Kopf) Wolódja (Anm.d.Ü.: Walódja), was ­redest du da! Es reicht! BORIS: (an Schwester O.) Ich habe bemerkt, dass Sie einen Stringtanga in Rosa tragen. Ich liebe Frauen in rosa Stringtangas. Das ist eine beson­ dere Art Mensch. SCHWESTER O.: Voll daneben ... Ich trage heute gar keine Unterhose (lacht). BORIS: Oh ... SCHWESTER O.: Verehrter Schürzenjäger, ich wollte Sie immer schon mal fragen: Warum habt ihr Liberalen den Großen Gopnik gepuscht? Und ihn zusammen mit den Oligarchen an die Macht gebracht? Schämt ihr euch denn gar nicht? BORIS: Wir glauben, er wird ein schwacher Präsident, die Tür zu seinem Büro kann man dann mit dem linken Fuß eintreten. PAPA: Ich habe von Anfang an gewusst, er wird ein starker Präsident sein und Russland in ein großartiges Land verwandeln. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Vollkommen richtig. Wir Deutschen brauchen ein großartiges Russland. Als Gegengewicht zu Amerika. Na ja, und das sibirische Gas brauchen wir auch. Dringend. SCHWESTER O.: Warten Sie (an den Gutmütigen Deutschen), damit Sie das auch verstehen. Es geht hier um den Großen Gopnik, der gerade erst anfängt zu regieren. Und schon ist das U-Boot Kursk gesunken, und auf die Frage, was damit passiert ist, antwortet er lapidar: Es ist gesunken. MAMA: Und wer hat die Wohnhäuser in Moskau in Luft gejagt? Agents Provocateurs. Geheimdienst. POLINA: (seufzt) Was hab ich die Politik satt! Ich hab aufgehört, Nach­ richten zu lesen. Davon wird einem nur speiübel. BORIS u. POLINA: Wuach. (Sie stoßen auf) MAMA: Und ich, wenn ich jünger wäre (sie hebt eine Hand und formt mit den Fingern eine Pistole) – piff-paff und fertig. Gopnik kaputt. Pause. AUTOR: Mama, Mamotschka, du bist ein Genie. BORIS: Nein, warum das denn? Wenn nötig, zeigen wir allen sein wahres Gesicht, und dann gibt’s ehrliche Wahlen. Das Volk wird für uns stimmen, und er geht auf eine weite Reise. Ab nach Sibirien (skandiert) Gop-nik, Ski-er, Ma-ga-dan. Alle stimmen ein außer Papa. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Und wieso ausgerechnet Magadan?

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NORWAY.TODAY VON IGOR BAUERSIMA REGIE: ODILE SIMON

EIN PLÄDOYER FÜRS LEBEN!

PREMIERE 03.05.2024

kleines theater KAMMERSPIELE Landshut


Stück „Der Große Gopnik“ BORIS: Stalins Arbeitslager. PAPA: Was soll das heißen? (wendet sich an den Assistenten ohne Bart) Sie sind wohl der Assistent des neuen Präsidenten. ASSISTENT OHNE BART: Genau, Assistent, trotzdem ohne imperiale Wahnvorstellungen. Das soll heißen, wenn er unbedingt Autokrat werden will, dann verschwindet er besser aus Moskau. Möglichst weit weg! PAPA: Wie? Auf Skiern? Alle lachen. AUTOR: Ach Papa, das war ein Scherz! SCHWESTER O.: (zu Boris) Sie haben es erraten: Ich besitze tatsächlich rosa Stringtangas. Andere trage ich nicht. Schauen Sie. In New York. Ich liebe New York. BORIS: Da sind Sie ja halb nackt... SCHWESTER O.: Na so was! Ich zeige gern meine intimen Schnapp­ schüsse. Das ist mein Hobby. BORIS: Sie sind ja eine Exhibitionistin. Und beschwipst. SCHWESTER O.: Ich mache gerade eine Ausstellung. Porno-Land – über die Besonderheiten der russischen Pornografie. Kommen Sie doch zur Ver­ nissage. Ich lade Sie ein. POLINA: Was ist denn, mit Verlaub, so besonders an russischer Pornografie? SCHWESTER O.: Zwang zum Vergnügen. Durch Gewalt, Trunksucht, Drogen, Aphrodisiaka... BORIS: Ich komme unbedingt zu Ihrer Vernissage. Der Assistent ohne Bart zieht sein Handy hervor. ASSISTENT OHNE BART: Ja. Gut. Bin schon unterwegs. (zu Mama) Das war der Große Gopnik – so nennen Sie ihn doch hier. MAMA: Schämen Sie sich nicht, für ihn zu arbeiten? ASSISTENT OHNE BART: (beschwipst) Wenn er sich ein paar Jahre auf dem Präsidentenposten hält, kann ich meine Datscha fertig bauen und meine Frau gegen eine jüngere eintauschen. Derzeit sind bei uns im Kreml Affären mit knackigen Sportlerinnen der letzte Schrei. Ich hab da schon eine Olympiasiegerin im Auge. (Er steht auf, an den Autor) Lies bitte mal diese Auswahl meiner Gedichte. (zieht die Gedichtsammlung auf Papier ausgedruckt aus der Tasche) Ich arbeite für Geld und schreibe für die Ewigkeit. Allerdings sind es ungereimte Verse, ich bin noch nicht so gut im Reimen. Liebe – Triebe – Hiebe und so weiter, das ist ja nicht so der Knül­ ler. Brüller, Sandra … MAMA: Sie sind schlimmer dran als Tote. Tote haben wenigstens ein Grab. AUTOR: Wovon redest du? MAMA: Ich habe panische Angst, du könntest emigrieren. Für uns Russen bedeutet Emigrant zu werden dasselbe wie sein Geschlecht zu ändern! (Alle erschrecken!)

design Katrin Busching

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AUTOR: (wiegt den Kopf) Das ist kein Argument! POLINA: Solange die hier über Abstraktes reden, (an Boris) gehen wir zwei uns ein bisschen die Beine vertreten. Sie erheben sich vom Tisch, spazieren auf den Stufen hin und her. POLINA: Boris, gib mir einen Rat. Okay, mein Mann ist vielleicht ein Genie, aber ich halt‘s nicht mehr aus mit ihm, Sex haben wir schon lange nicht mehr. Unsere Tochter sieht er wochenlang nicht. BORIS: Kann ich helfen? POLINA: Zu unserem Rendezvous werde ich unbedingt einen rosa String­ tanga anziehen. BORIS: Ich liebe Frauen in rosa Stringtangas. Das ist eine besondere Art Mensch. Erweise mir die Gunst! POLINA: Ich lasse mich stets leiten vom gesunden Menschenverstand. Endlich werde ich meinem Mann beim Ehebruch zuvorkommen. Ich räche mich im Vorhinein. BORIS: Du bist die Einzige in deiner Familie, die gesunden Menschen­ verstand besitzt. Sie kehren zurück an den Tisch. AUTOR: Sieh sie dir an. Gleich springen sie zusammen ins Bett. Mir bleibt nichts anderes übrig als Polina eine Rechtfertigung für ihre Rache zu ser­ vieren. SCHWESTER O.: (lacht) Ich hab nichts dagegen. AUTOR: Ich liebe Tschechow. Alle seine Erzählungen und Theaterstücke sind eine Vorbereitung auf den Tod. Aber du, meine Schwester, bist ja selbst der Tod. Wie kann ich mit dir schlafen? Nur den ewigen Schlaf. Schwester O. lacht. AUTOR: Ich wusste nicht, dass der Tod so schön ist. SCHWESTER O.: Eifersüchtig? AUTOR: Ich fürchte nein. BORIS: (zum Autor) Wie ist das, ein Schriftsteller zu sein? AUTOR: Russland ist für mich zu einer lebenslänglichen Dienstreise ge­ worden. Verstehen Sie das, wie Sie wollen. Einerseits Ferien ohne Ende, andererseits ständig auf Dienstreise. Ich fliehe - fort von der Familie, fort von allen familiären Verpflichtungen, fort von Komfort, Liebe und Feder­ bett – auf Dienstreise. Die Frau weint. Die Tochter in Angst und Schre­ cken. Papa fährt weg. Wohin? In die Arktis! Wozu? BORIS: Tatsache? AUTOR: Das ist Leidenschaft. Das ist stärker als alles andere. Ich hocke auf einer Eisscholle. Studiere die Struktur der Eiskristalle. Ich brauche sonst nichts. Keinen Kaffee, keinen Kakao. Ich vertiefe mich so sehr in das Eis, dass ich ringsum nichts mehr wahrnehme. Ich glaube, in den Eis­ kristallen ist der Code des Lebens verborgen. Ich sitze da im Schnee. Am Nordpol. Der Himmel ist plattgedrückt. Der Wind heult.

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Stadttheater Ingolstadt


Stück Viktor Jerofejew POLINA: Vielleicht bleibst du diesmal doch hier? AUTOR: Du bist einem Gemälde von Botticelli entsprungen. Aber ich muss fahren. POLINA: (aufgelöst) Der Weihnachtsbaum ist schon geschmückt. Darun­ ter die Geschenke ... AUTOR: Ich renne aus dem Haus. Dorthin, ins Polargebiet, in die Nacht, in den Frost, zu den Eisbären, dorthin, wo nicht mal der Pfeffer wächst. Meine Ohren sind schon abgefroren. Die Zehen, die Wangen, die Hände und Ellenbogen. Verfluchte Arktis! Wahnsinn! Ich habe mir den Hintern abgefroren und beinahe das eingebüßt, womit ich gewöhnlich Frauen erfreue. Ich habe das Redundanzgesetz des Lebens entdeckt, das dem Materialis­ mus und dem Idealismus zugleich widerspricht. Lassen Sie mich das auf­ schreiben... Materialismus kann nicht leben ohne Idealismus, Idealismus ist tot ohne Materialismus. Zwei Seiten der Lebensmedaille. Wir sind bes­ ser als der Materialismus von uns denkt. Wir sind schlechter als der Idealis­ mus uns wähnt. Wir befinden uns in einer Kluft. Das ist unsere Bestimmung. Das jedenfalls sagen die Eiskristalle... So ist es, Schriftsteller zu sein. PAPA: Und wer ist das da neben dir? AUTOR: Papa, das habe ich dir schon gesagt. Das ist meine Schwester O. – meine Muse. Meine Inspiration. POLINA: (lacht ironisch) Muse! Ha-ha. Mein Mann hat sich eine Muse zugelegt. PAPA: Aber du hattest nie eine Schwester. AUTOR: Aber das ist eine besondere Schwester – ohne sie kann ich keine Bücher schreiben. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Ich hab gehört, die Franzosen haben ­Ihnen für Ihre Werke den Orden der Ehrenlegion verliehen. Glückwunsch! PAPA: Beeilt haben sie sich damit ja nicht gerade. Du hast mehrere Best­ seller und eine eigene Fernsehsendung über Literatur! MAMA: Ach, wenn sie diese Bestseller wenigstens gelesen hätten... Porno­ grafie von vorne bis hinten... SCHWESTER O.: Pornografie ist überhaupt die Kunst der Zukunft. Alles Übrige pfeift aus dem letzten Loch und geht ein wie eine Primel. POLINA: Schöne Muse, das! BORIS: Ich denke schon lange über einen Satz (an Mama) Ihres Sohnes nach. Schon mehrere Jahre beschäftigt er mich. Hier ist er: Und so trat ich ein, im schwanzfarbenen Mantel. Und was ist das für eine Farbe? MAMA: Borja! Wie können Sie nur! Ich hätte ihm allein schon für diesen furchtbaren Satz den Orden aberkannt. PAPA: Genug, genug. Wir haben einen neuen Präsidenten. Trinken wir auf ihn! BORIS: Der Große Gopnik! Ich habe ihm bei der Wahlkampagne gehol­ fen: Guter Mann!

MAMA: Aber er ist doch ein KGBler! BORIS: Ein ehemaliger! MAMA: Ehemalige KGBler gibt es nicht. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Er ist eine Ausnahme. Ich finde ihn großartig. Er ist bescheiden, hat Charme, spricht Deutsch. Ich hatte mal das Glück, fast zwei ganze Minuten lang mit ihm zu sprechen. Er hat zu mir gesagt: Ihr Deutschen, ihr seid ein Wunder! Was Besseres als euch gibt es nicht... Und dann hat er mir auf die Schulter geklopft, so (demonstriert es). MAMA: Den Franzosen sagt er auch, sie seien die besten. Seine Worte bedeuten überhaupt nichts. PAPA: Das ist nicht wahr. Er ist bloß ein feinsinniger Diplomat. Das sage ich euch als Veteran des Diplomatischen Dienstes. Er wird euch alle noch staunen machen! Ihr werdet schon sehen! BORIS: Er ist einer von uns. Er liebt Europa! DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Wladimir Iwanowitsch, sagen Sie bitte, war Stalin ein Sadist? Sie kannten ihn doch persönlich. Sie haben im Kreml gearbeitet. PAPA: Gerade heute habe ich ein Geburtstagsinterview für die „Arbeit“ gegeben. Ich glaube an die Zukunft Russlands. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Ich auch. Ich kann nicht leben ohne Russland. Und was den Sadismus angeht... PAPA: Kommt, trinken wir lieber! BORIS: Also, was für eine Farbe hat denn nun dieser Mantel, Viktor? Dieser schwanzfarbene. AUTOR: Frag meine Frau. POLINA: Ich kann nicht mit ihm leben. Er ist vielleicht ein Genie, aber mir ist übel von ihm. AUTOR: Was für ein undankbares Geschöpf du bist. Du warst mit mir in Alaska und auf Hawaii, es gibt Fotos, und jetzt ist dir schlecht. MAMA: Was soll das eigentlich für ein Spitzname sein – Schwester O.? O – als Ausruf des Entzückens über das Talent? SCHWESTER O.: Nein, wo denken Sie hin! Ich bin einfach eine Muse, und Musen haben halt solche Namen. MAMA: Humbug. Mein Sohn ist ein schlechter Mensch. Warum dienen Sie ihm? SCHWESTER O.: Ein schlechter Mensch? Das denke ich nicht. Er ist dreist. Ich möchte sagen, geradezu wie der junge Puschkin! MAMA: Puschkin! Dass ich nicht lache! Sie sind verrückt geworden! BORIS: Ich habe den Präsidenten gefragt, wie soll ich dich nennen, du bist ja jetzt Präsident. Er hat gesagt, zerbrich dir nicht den Kopf, nenn mich ganz wie du willst. Du bist jetzt der Große Gopnik, habe ich gesagt. Zu­ erst hat er darüber gelacht, und dann hat er gesagt: Aber nicht weiter­

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Stück „Der Große Gopnik“ sagen! Aber jetzt hat sich’s rumgesprochen, und alle nennen ihn den Gro­ ßen Gopnik. MAMA: Nein, ich würde wirklich eine „Knarre“ nehmen und piff-paff ... und aus wär’s mit Ihrem Idol. Er wird das Land zerstören. Allgemeines Schweigen. AUTOR: Mama, die bist ein Genie, lass mich dich küssen! MAMA: Könnte ich ihn beseitigen, dann könnten wir uns umarmen, (ironisch) mein teurer Puschkin! BORIS: Also welche Farbe hat denn nun dieser schwanzfarbene Mantel?

7. Moskau 2002 / Stalin I SCHWESTER O.: Moskau im Jahr 2002. Der Kleine Nächtliche Stalin erscheint mit hochmütiger Miene zu dem Treffen. Der Kleine Nächtliche Stalin und der Große Gopnik gehen in die russische Banja. Sie bearbeiten sich gegenseitig mit Birkenreisern und kommen tüchtig ins Schwitzen. Alle ihre Glieder beleben sich, und sie öffnen einander ihre Seelen. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Guten Abend! DER GROSSE GOPNIK: Guten Abend... Sind Sie echt? DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Wie – echt? Ich bin der Stalin deiner Seele. DER GROSSE GOPNIK: Verstehe. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Ich finde, du siehst aus wie ein Wichser. DER GROSSE GOPNIK: Wie bitte? DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Als Junge hast du bestimmt viel gewichst, ne? DER GROSSE GOPNIK: Moment mal, wie soll ich aussehen? DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Du hast so ein Gesicht. DER GROSSE GOPNIK: (beleidigt) Ein ganz normales Gesicht. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Wie alle, die masturbieren, bist du viel zu oft eingeschnappt. DER GROSSE GOPNIK: Aber ich kann jetzt alles haben! Ich ficke, wen ich will, und ich mach kalt, wen ich will. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich die Welt weiterdrehen kann, wenn ich sterbe. Ich nehm alle mit ins Grab. DER GROSSE GOPNIK: Erzählen Sie von 1937. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Was soll da gewesen sein? DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Man musste faules Blut ablassen. DER GROSSE GOPNIK: Verstehe. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Letzten Endes hat das faule Blut gesiegt. DER GROSSE GOPNIK: Was soll das heißen? DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Und du, hast du etwa kein faules Blut?

DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Protzpalast mit Schwimmbad, Hauskapelle mit Buntglasfenstern voller Ekstasen der Fruchtbarkeit. Eine goldene Klobürste! DER GROSSE GOPNIK: Das ist nicht meine Klobürste. Das alles hier gehört mir nicht. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Wo das Volk dir diese Klobürste reinstecken wird, ist dir klar? DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Ich hatte ja eine grandiose Idee. Und du, Junge, was hast du vorzuweisen? DER GROSSE GOPNIK: Eine Großmacht. Ich trete in Ihre Fußstapfen. Aber unsere Jugend... nur dummes Zeug im Kopf. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Hau drauf! Kein Mitleid! Ver­ knack sie zu langen Gefängnisstrafen, 10, 15, 20 Jahre, lebenslänglich! DER GROSSE GOPNIK: Ich habe kein Mitleid. Aber ich fürchte, zurück zu Ihnen will sie nicht. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Nicht zurück zu mir? In unserem Land funktioniert doch alles nach stalinschen Prinzipien. Jeder Vorgesetzte ist mein Mann. Jedes Familienoberhaupt will seine Sippe unter seiner Fuchtel haben. Ohne mich geht gar nichts bei euch! Wieso riechst du so penetrant nach Trockenfisch und Knoblauch? Warum siehst du so kacke aus? Steh nicht so da wie ein nasser Sack! DER GROSSE GOPNIK: Werde mich bessern. Ich wollte Sie fragen, was ich weiter tun soll. Mit Europa komm ich nicht zurande. Sie einholen, das schaff ich nicht – wir sind keine Chinesen. Aber denen hinterherrennen – ausgeschlossen, das erlaubt mein Stolz nicht. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Du bist wie ein Schauspieler, der nicht weiß, welche Rolle er spielen soll. Dabei ist alles ganz einfach. Mach aus der Modernisierung eine Mobilisierung. Aus dem Staat mach eine Festung. DER GROSSE GOPNIK: Aber eine Mobilisierung führt direkt in den Krieg. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Mein lieber Gopnik, du bist der Letzte, der einen Krieg fürchten müsste.

8. Die Hymne BORIS: (lacht) Mit jedem Tag hab ich mehr das Gefühl, der Große ­Gopnik lässt mich einsperren. Was denkst du, wann bin ich an der Reihe? AUTOR: Du bist Chef einer demokratischen Partei und viel zu bekannt, als dass sie dich verhaften könnten. Er braucht dich noch. BORIS: Dein Wort in Gottes Ohr! Ich muss los. Geht ab, in den Händen zwei Einkaufsnetze voller Papiere. AUTOR: (ruft ihm nach, nickt in Richtung der Einkaufsnetze) Das klappt! BORIS: Was bleibt ihm schon übrig?

01. – 11.05.2024

Dance Together


Stück Viktor Jerofejew Auf der Kremlseite. Der Große Gopnik sitzt an einem imposanten Schreibtisch. Er schreibt irgendwas. Boris kommt mit den Einkaufsnetzen herein. BORIS: Guten Tag. Schweigen. BORIS: Guten Tag! Der Große Gopnik nickt stumm, ohne ihn anzusehen. BORIS: Sie schlagen vor, die aktuelle Hymne zu ändern. Der Große Gopnik hört schweigend zu. BORIS: Aber sie klingt doch wunderbar. Das patriotische Lied von Glinka. (die Hymne ist zu hören) Sie wollen zur sowjetischen, zur stalinschen Hymne zurückkehren. Ich hab Ihnen hier einen ganzen Schwung (zeigt ihm die beiden vollen Einkaufsnetze) Unterschriften mitgebracht von un­ serer Intelligenzija. Das ist die Blüte unserer Nation. Man bittet Sie, es nicht zu tun. Unter dieser Sowjethymne herrschten Gesetzlosigkeit und Repressionen. Es gab den Gulag. DER GROSSE GOPNIK: Unter den Klängen dieser Hymne haben wir ­Hitler besiegt. (laut ertönt die Sowjethymne) BORIS: (tritt auf den Großen Gopnik zu) Hier die Unterschriften. DER GROSSE GOPNIK: Leg sie neben die Tür. Wie das Volk, so seine Lieder. (fest) Dem Volk gefällt die Sowjethymne. Den Text verändern wir ein bisschen, aber eine bessere Hymne kann man sich gar nicht vorstellen. (steht auf, gibt zu verstehen, dass die Audienz beendet ist) BORIS: (steht am Tisch, gegenüber dem Großen Gopnik) Wir dürfen nicht zur Sowjetunion zurückkehren. DER GROSSE GOPNIK: Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. BORIS: Glauben Sie das wirklich? DER GROSSE GOPNIK: Versuchen Sie ja nicht, die Tür zu meinem Büro mit dem linken Fuß zu öffnen. Das wird Ihnen nicht gelingen. Ich hack Ihnen den Fuß ab. … AUTOR: Und, wie war’s? BORIS: Wie das Volk, so seine Lieder. Was meinst du, wann sperren sie mich weg? AUTOR: Noch bist du auf der sicheren Seite. Du bist viel zu prominent. Man hört das Klicken eines Zählers. Auftritt Schwester O. AUTOR: Was ist das für ein Ticken da bei dir? SCHWESTER O.: Das ist das Ticken der Jahre. Mit jedem Jahr wird es schlimmer und schlimmer. BORIS: Und ich Idiot hab ihm noch bei der Wahlkampagne geholfen! Aber macht nichts. Ich weiß, er hat einen Haufen Krankheiten. Schlecht ernährt hat er sich in der Kindheit, praktisch gehungert. Erstens hat er ei­ nen schweren Wirbelsäulenschaden. Auf dem Podium erscheint vor der Schaubude der Große Gopnik, er greift sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Rücken. BORIS: Außerdem hat er Schilddrüsenkrebs. Ständig schwirren lauter Ärzte um ihn herum. BORIS: Drittens hat er einen Leistenbruch und schließlich Hämorrhoiden, einen ausgerenkten Kiefer, ein Magengeschwür, Herzrhythmusstörungen … und eine erektile Dysfunction. SCHWESTER O.: Ich glaub’s ja, aber bei all dem spielt er munter Eishockey, zeugt reihenweise Kinder, hilft dem einen oder anderen über den Jordan, die Zeit rast, es sind schon Zehntausende Menschen ... und immer mehr und mehr ... BORIS: Ach, alles übertrieben. Aber was er nicht hat – er hat keine Ideo­ logie.

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9. Hetzkampagne AUTOR: Die politische Hetzkampagne gegen den Autor beginnt. Der ­Westen ist immer noch hellauf begeistert von ihm, Bush jr. lobt seine ehr­ lichen Augen, gleichzeitig werden zwei andere Schriftsteller und ich zu Feinden der russischen Kultur erklärt. POLINA: Ein Einschreiben für dich. (reicht ihm einen Umschlag) Ich hab ein Angebot, ich kann beim Großen Gopnik in der Präsidialverwaltung arbeiten. AUTOR: (unbekümmert) Und du hast abgelehnt... POLINA: Nein. Ich finde seine Visage zum Kotzen, mir wird schlecht, wenn ich die nur sehe, aber ich hab keine Lust, ewig an allem zu knapsen, ich kann mir nicht mal neue Strumpfhosen leisten. Dich schieben sie aufs Abstellgleis, du bringst kein Geld mehr nach Hause... AUTOR: Und was bitte willst du in der Kremlverwaltung tun? POLINA: Mitarbeiten beim Organisieren von öffentlichen Veranstaltun­ gen. Das ist nicht toxisch! AUTOR: Wie man’s nimmt. Guck dir an, was die schreiben. POLINA: Wer? AUTOR: „Die gemeinsam Gehenden“. Die Jugendorganisation vom ­Großen Gopnik. Deine künftigen Kollegen. (liest vor) AUTOR: An den „Schriftsteller“. Wir nutzen die Gelegenheit, Ihnen als Mensch und Ihren widerlichen obszönen »literarischen Werken« unsere tiefe Abscheu zum Ausdruck zu bringen. Ein Mann, der in obszöner Sprache talentloses abgeschmacktes Zeug schreibt und sich dabei, ob es gerade passt oder nicht, mit Dostojewski bemäntelt, ist doppelt abstoßend. Wir tun alles und werden es weiterhin tun, was in unserer Macht steht, damit so viele Menschen wie nur möglich den wahren „Wert“ Ihres vulgären Geschwur­ bels erkennen. Außerdem werden wir uns bemühen, Sie im Auge zu be­ halten … so lange bis wir erfahren - dass Sie sich aus unserem Land, dessen große Literatur Sie unablässig beschmutzen, verpisst haben oder überhaupt aus dieser Welt. In tiefer Abscheu. Die gemeinsam Gehenden AUTOR: Was hast du vor? IWAN: Verbrennen, das Zeug. Befehl von oben. AUTOR: Warte. Ich schreibe an den Großen Gopnik. POLINA: Tu das nicht! Sonst krieg ich den Job nicht. AUTOR: Aber hast du nicht gehört, was sie schreiben?! POLINA: Na und! Sie haben nur ihre persönliche Meinung geäußert. AUTOR: Dieser Verein hat 100.000 Mitglieder! POLINA: Und was jetzt? Der gesunde Menschenverstand sagt mir, dass man hier besser keine Briefe schreibt. AUTOR: Ich schreib aber einen! Schriftsteller sind keine Terroristen, die man, wie Sie fordern, im Scheiß­ haus abmurksen muss ... puh. Russland ist, wie Sie wissen, ein ganz groß­ artiges Land, aber das hinderte es niemals daran, bisweilen große Dumm­ heiten zu begehen. Eine solche Riesendummheit war zum Beispiel der versteckte oder auch offene Krieg der Machthaber – sowohl unter den Zaren als auch unter den Kommunisten – gegen die russische Literatur. Die Machthaber belehrten die Schriftsteller, worüber sie nicht schreiben durften, und die Schriftsteller lernten, die verhassten Machthaber zu täu­ schen und das zu schreiben, was sie unmöglich unterlassen konnten. Dabei heraus kam die große russische Literatur, die Russland in der ganzen Welt Ehre machte, die berühmtesten Namen sind allgemein bekannt und ihre Verfolger die Schande Russlands… Bücher wurden schon einmal ver­ brannt... das darf man auf keinen Fall wiederholen... dafür wird man sich schämen müssen... AUTOR: Willst du nach all dem noch in der Präsidialverwaltung beim ­Großen Gopnik arbeiten? POLINA: Wundert dich das? An jedem Monatsende irgendwen anpum­ pen, darauf hab ich keinen Bock mehr.

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Stück „Der Große Gopnik“ AUTOR: (reicht ihr den Brief) Überläuferin. Kannst du den hier übergeben? POLINA: Wem? AUTOR: Deinem Chef. Dem Großen Gopnik. POLINA: Gib her. Aber das ist das erste und letzte Mal.

10. Stalinsche Methode

Der Große Gopnik sitzt am Tisch. Bei ihm Schwester O. DER GROSSE GOPNIK: Was für ein elender Drecksack! Dein Autor schreibt gegen Russland! Er hat mir einen giftigen Brief geschrieben. SCHWESTER O.: Rühr ihn nicht an. Du hast so schon genug am Hals. Die Zeit wird kommen, und all diese Herrschaften gehen von allein in die Emigration. DER GROSSE GOPNIK: Wieso das denn? SCHWESTER O.: Du wirst ihnen zu widerlich sein. DER GROSSE GOPNIK: Schon gut. (drückt auf einen Knopf, es erscheint der Assistent mit Bart) Und, lassen wir den Schriftsteller in Ruhe? ASSISTENT MIT BART: Er hat einen amerikanischen Microchip im Kopf. Darüber sendet er. Sie nehmen doch sonst Ihre Entscheidungen nie zu­ rück. Sie sind wie ein Fels. DER GROSSE GOPNIK: Schick seine Frau zu mir. Der Assistent mit Bart geht ab. Pause. POLINA: Sie haben mich rufen lassen? Guten Tag. DER GROSSE GOPNIK: Warum lassen Sie den Schriftsteller ins Gefäng­ nis einsperren? POLINA: Ich? Den Schriftsteller ... ins Gefängnis? DER GROSSE GOPNIK: Ja. Sie! POLINA: Wie kommen Sie darauf? Er ist mein Mann. DER GROSSE GOPNIK: Gehen Sie und sagen Sie dem Kulturminister, er soll keine Schriftsteller ins Gefängnis stecken. Kapiert? POLINA: Ja. DER GROSSE GOPNIK: Sie sind also eine Überläuferin? Ich kann Ver­ räter nicht ausstehen. POLINA: Ehrlich gesagt, wir wissen nicht, wovon wir leben sollen. DER GROSSE GOPNIK: Noch lange kein Grund, den eigenen Ehemann zu verraten. Polina geht ab. DER GROSSE GOPNIK: (sieht ihr kopfschüttelnd nach) Da haben wir’s, der letzte Dreck sind die, Intelligenzler mit ihren Moralvorstellungen! Eine frühere Liberale manipuliert jetzt munter die Wahlen, eine andere wuppt die Zentralbank. Wie leicht man sie kaufen kann! SCHWESTER O.: Möglicherweise verschmolz gerade in diesem Moment der Große Gopnik auf mystische Weise erstmals mit Stalin. Denn diesmal ging Stalin nicht in Richtung Kreml, sondern drang auf direktem Weg in die russische Seele ein.

12. Kolobok in Paris

AUTOR: Was hätte ich verloren und was gewonnen, hätte ich auf die ver­ schiedenen Stimmen meines Gewissens gehört? SCHWESTER O: Im März 2005 findet in Paris der alljährliche Salon du Livre statt, bei dem unser bescheidenes Land Ehrengast ist. Zu diesem Anlass haben Pariser Verleger sein neues Buch herausgebracht. AUTOR: Mir wurde vorab mitgeteilt, der französische Präsident habe mein Buch ausgewählt, um es in seinem Élysée-Palast vorzustellen – na schön… (lacht unsicher) SCHWESTER O: Der schlaksige Präsident Frankreichs mit den langen schmalen Händen und sein klein gewachsener Freund, der Große Gopnik, betreten den Saal. AUTOR: Plötzlich fing ich den Blick des Großen Gopniks auf. Er schleu­

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derte mich mit seinem Blick zu Boden. Ich war befremdet. Wir waren uns nie persönlich begegnet. DER FRANZÖSISCHE PRÄSIDENT: (an den Autor) Ich habe Ihr Buch ausgewählt, um es im französischen Fernsehen zu präsentieren. (ruft dem Großen Gopnik zu) Mein Freund, komm her! Er kommt nicht. Warum kommt er nicht zu uns? AUTOR: Er mag meine Bücher nicht. DER FRANZÖSISCHE PRÄSIDENT: Soweit ich weiß, ist er kein großer Leser. (lacht) AUTOR: (ans Publikum) Der Große Gopnik baute sich breitbeinig auf, versteckte die Hände hinterm Rücken, er sah aus wie sein eigener Leib­ wächter. Ich glaube, er bewachte den brodelnden Friedhof seiner Komple­ xe. Der Präsident Frankreichs und ich wechselten noch einige Worte, und da sagte der Große Gopnik etwas, das ich bis heute nicht vergessen kann. DER GROSSE GOPNIK: (unfreundlich und scharf) Warum sprechen Sie Französisch mit ihm? AUTOR: (ans Publikum) Ich war fassungslos. Alles hätte ich erwartet, nur nicht das. Verblüfft wie ich war, antwortete ich, ohne meine Verblüffung zu verhehlen: AUTOR: (an den Großen Gopnik) Aber er ist doch der Präsident Frank­ reichs! AUTOR: (ans Publikum) In welcher Sprache hätte ich denn sonst mit dem Präsidenten Frankreichs sprechen sollen? Aber der unsere meinte offen­ bar, dass wir, kaum dass er neben uns stand, losgelegt hätten, seine körper­ lichen und moralischen Defizite zu besprechen. SCHWESTER O: (weiter ans Publikum) Der Empfang ging zügig seinem Ende entgegen, die Cocktails wurden abgeräumt, die Gäste begaben sich durch den Saal zum Ausgang. AUTOR: Auch ich bewegte mich in diese Richtung, und da sehe ich: An mir vorbei geht resoluten Schritts der Große Gopnik. SCHWESTER O: Er überholt ihn, dreht sich um und – pflanzt sich vor ihm auf. Versperrt ihm den Weg. Er läuft buchstäblich fast in ihn rein, kann gerade noch bremsen, steht da, schweigt. AUTOR: Ich verstand, warum er schwieg. Seinem Status entsprechend wartete er darauf, dass ich zuerst etwas sage. Stille AUTOR: Wir haben in unserem Land ein Problem mit dem Volksmärchen „Kolobok“. Ich habe eine kleine Tochter, und Kolobok ist das erste Mär­ chen, das ich ihr vorgelesen habe. Stille DER GROSSE GOPNIK: Der Kolobok, das ist dieser Kloß, den man aus Teig macht? Stille AUTOR: Genau der. Jeder in unserm Land liest seinen Kindern als erstes Kolobok vor. Und was kommt dabei raus? Das ist doch ein tragisches Mär­ chen. Kolobok kommt um. Sang- und klanglos, ruhmlos. Jeder Russe ist sein Leben lang traumatisiert. DER GROSSE GOPNIK: (neigt misstrauisch den Kopf nach links) Mei­ nen Sie das im Ernst? AUTOR: Und ob! (Stille) Was geschieht mit unserem russischen Kolobok? Opa und Oma, das sind zwei bettelarme Alte mit ihren leeren Schaffeln. Auf Bitten von Opa macht Oma aus den Mehlresten einen Kolobok, backt ihn im Ofen... Stellt ihn auf die Fensterbank. Doch Kolobok ergreift die Flucht vor ihnen, damit sie ihn nicht essen. Aber sie glauben, sie hätten nicht gut auf ihn aufgepasst. Kein guter Einstieg ins Leben. Und weiter? Kolobok macht sich auf den großen Weg seines kurzen Lebens. Die nicht besonders schlauen Tiere vermag er mit seiner Schlauheit zu überlisten. Na ja, wer könnte einen Hasen nicht austricksen? Oder einen Wolf oder einen Bären? Die Tierwelt unserer Heimat! Aber die Füchsin! Die ist schlau, heimtückisch – wer ist sie? Eine ausländische Agentin. Der kollektive Wes­

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Stück Viktor Jerofejew ten in persona! Der Westen, der unseren Kolobok frisst – von daher kommt all unser ganzes lebenslanges Elend … DER GROSSE GOPNIK: Die Füchsin ähnelt tatsächlich dem Westen, und Kinder sind von solchem Teufelszeug unbedingt fernzuhalten ... (scharf) Schreiben Sie mir noch einen Brief! AUTOR: (ans Publikum) Er hatte sich an meinen ersten Brief erinnert, ihn nicht vergessen, obwohl drei Jahre vergangen waren, und was hat er nicht alles um die Ohren! Ihm ist alles geglückt. Ökonomisch, moralisch, geistig, in Liebesdingen, sportlich, finanziell und international… Er hat erfolgreich gegen Oligarchen gekämpft! In Tschetschenien Ordnung geschaffen! Das unabhängige landesweite Fernsehen zerschlagen! Und vor allem hat er sei­ nen Geheimdienst-Kollegen mitgeteilt: Die Macht ist jetzt in unserer Hand! Und nun werde ich ihm einen Brief schreiben mit der nachdrücklichen Bitte, das schädliche Märchen Kolobok zu verbieten. DER GROSSE GOPNIK: Sie sprechen Französisch. Welche Sprachen noch? AUTOR: Englisch, Polnisch, ein wenig Italienisch, und jetzt ist Deutsch an der Reihe. DER GROSSE GOPNIK: Ich hab da einen Vorschlag für Sie. Werden Sie mein Schriftsteller. Schreiben Sie ein Buch über mich. Wie wenn ich es selbst schreiben würde... AUTOR: Lassen Sie es mich lieber aus meiner Perspektive schreiben. DER GROSSE GOPNIK: Ich brauche keine Eigenwerbung. Schreiben Sie es aus Ihrer Sicht. Welches Honorar stellen Sie sich vor? AUTOR: Weiß nicht ... Vielleicht zehn Millionen ... DER GROSSE GOPNIK: Euro? AUTOR: (von den Socken) In Euro ... ja doch ... AUTOR: (ans Publikum) Dabei hatte ich doch an ein Honorar in Rubeln gedacht, das war damals hundert Mal weniger ... Und zum Abschluss sag­ te er zu mir: DER GROßE GOPNIK: Um uns besser kennen zu lernen, lade ich Sie ein in meine Kindheit. AUTOR: Er lächelte ein kurzes Lächeln, machte kehrt und entfernte sich rasch... Die Gefolgschaft stürzte sich auf mich. AUTOR: (ans Publikum): Warum habe ich den Brief nicht geschrieben? Warum bin ich kein Staatsschriftsteller geworden, mit Milliarden von in Panama gebunkerten Offshore-Dollars, mit einer Yacht, einem Schloss in Monaco und einer Luxuswohnung in Miami? Die jungen Weiber würden mir hinterherrennen, die besten Weiber des Planeten, zusammen mit den ganzen Kulturfuzzis! Nimm uns, fick uns und schieß uns in den Kosmos! Ich wäre ein sozialer Lift, ich wäre Gorki, der Liebling Stalins. Dabei müsste ich nicht einmal besonders meinen Arsch verkaufen wie Gorki und eine beschissene Lobeshymne auf den Moskau-Wolga-Kanal schreiben, Tschekisten abküssen, danke sagen für Zwangsarbeit auf den Solowki. Nur einmal im Jahr müsste ich feierlich irgendein staatliches Lügenmärchen auftischen! Und danach ab nach Monaco! Wodka trinken und den ganzen Albtraum vergessen. Wer weiß, warum ich kein Staatsschriftsteller gewor­ den bin! Dabei war das Glück möglich und so nah … Nun ja. Wie dem auch sei, Leute, (greift sich an den Kopf) ich hab’s verschissen.

13. Das Buch und der Tanz

SCHWESTER O.: So, du schreibst also ein Buch über ihn. AUTOR: Ja, mit dem Titel „Der Große Gopnik“. SCHWESTER O.: Aber ein Gopnik, der doch kann gar nicht groß sein. Ein Gopnik, das ist doch ein kleiner Rowdy. AUTOR: Stimmt. Ein blasser Giftpilz ist das. Aber einer, der bis in den Himmel gewachsen ist. SCHWESTER O.: Worüber habt ihr noch gesprochen? Musik. Der Autor fordert Schwester O. zum Tanz auf. Sie tanzen.

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AUTOR: Unsere Zeit ist gekommen, alles ringsum ist verdummt. Ver­ dummt sind die Vögel, die Menschen, die Alten. Die Beamten, die Sport­ ler, die Spatzen. Verdummt ist die russische Intelligenzija, verdummt sind die Intellektuellen, die Philosophen, die Komiker, verdummt und – ins Grab gestürzt. SCHWESTER O.: Verdummt ist unser Land, wobei es nie besonders klug war. Verdummt ist England. Verdummt sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Verdummt ist das liebe Frankreich, in dem Antisemiten und Ausländerfeinde an die Regierung drängen. Verdummt sind auch die frem­ denfeindlichen Kräfte selbst, ebenso wie die Antisemiten. AUTOR: Verdummt sind die Follower der sozialen Netzwerke, ebenso wie deren Gegner. Verdummt und zersplittert ist die russische Opposition. Verdummt sind die Parlamente und Regierungen vieler Länder. Verdummt sind die Straßen, Parks, Kreuzungen, die keinen Architekten finden konn­ ten. Verdummt sind auch die Architekten selbst. SCHWESTER O.: Verdummt sind die turgenjewschen Fräuleins und Nymphomaninnen, die Playboys, Mönche und Banditen. Sogar die größ­ ten Banditen, auch die sind verdummt. Verdummt ist die Polizei mit ihren dummen Foltermethoden. Verdummt sind die Gefängnisse und die Arbei­ terklasse – letztere ist ein Totalausfall und verdummt. Vor aller Augen verdummen die Kosmonautinnen, die Armen, die Bettler, die Diebe, die Bankomaten, die Oligarchen. Verdummt sind die Blätter am Baum. Ei­ gentlich ist es noch nicht Winter, aber sie sind schon verdummt. AUTOR: Verdummt ist mein geliebtes Polen mit seinen Störchen auf den Dächern, das viele Jahre von dummen, tiefschwarzen Leuten regiert wur­ de. Verdummt ist die Taiga. Verdummt sind die Rentierzüchter und die Rentiere. Verdummt sind Múrmansk und Archángelsk. Verdummt sind Prostituierte, Nationalisten, Lehrer. SCHWESTER O.: Verdummt sind die Gymnasiast:innen und die Kinder in den Kindergärten. Verdummt sind die Kleinen in den Kitas. Verdummt ist das menschliche Gedächtnis. Verdummt ist Europa im Ganzen, das sich von der Religion losgesagt hat, verdummt ist die Religion, die sich vom Glauben losgesagt hat, verdummt ist der Glaube, der sich von Gott losgesagt hat, ja, und Gott selbst, Herr, vergib mir, ist verdummt. Ver­ dummt sind die Bücher, die Zeitschriften, die Werbeplakate, die Flughäfen. Verdummt sind die Luftstreitkräfte, die Kampfflugzeuge, die Spione sind verdummt. Verdummt sind die Filme und auch die Filmregisseur:innen, die Schauspieler:innen, die Drehbuchschreiber:innen, die Kostüm­ bild­ ner:innen. AUTOR: Verdummt ist das Fernsehen. Verdummt sind die Medien, Ver­ dummt sind die Fernsehjournalist*innen. Verdummt sind die Freunde und die Feinde des Volkes, und auch das Volk selbst ist runtergekommen und unheilbar verdummt. Die Fichten verdummen. Der Wald verdummt, das Klima verdummt, des Himmels Unterpfand – dumm ist die Poesie, es pisst der Weise, ade Verstand, Ende der Lebensreise. Ein richtiger Mist, so sieht’s aus. Es verdummen Geschlechtsorgane verschiedenster Formate. Es verdummen Beine und Arme unterschiedlicher Größe. Es verdummt die Stirn, der König der Tiere. Alles verdummt. AUTOR: Fliegen wir weiter. Pflücken wir Margeriten, reißen sie aus. Ver­ dummt sind unsere Freunde, Liebhaber:innen, Chauffeur:innen und Mas­ seur*innen. Verdummt sind Lieder und Fotos. Heftig verdummt sind Wor­ te, Grammatik, Phonetik, Physik, die Sprache ist verdummt, ja, ich selbst verdumme vor euren Augen. SCHWESTER O.: Wir leben in einer neuen dummen Zeit, der Zeit des dummen gefährlichen Bluffs, der Zeit der Mobilmachung, der Zeit, da die Atomraketen verdummen und die Atomkoffer des Präsidenten, die Kreml­ mauern verdummen und – das Mausoleum ist schrecklich verdummt. Das Karussell bleibt stehen. AUTOR und SCHWESTER O.: (abwechselnd und zusammen) Nun, was soll man dazu sagen? Alle Hoffnung ruht auf euch, verdummende Freunde.

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Stück „Der Große Gopnik“ Vielleicht entblößen wir uns in unserer Dummheit nicht vollends, sondern bleiben in der Unterwäsche der Talentlosigkeit, behalten die Stringtangas des gesunden Menschenverstands an. Alle Hoffnung ruht auf dir. Amen.

DER GROSSE GOPNIK: (lacht) Du wirst Staatsschriftsteller. Ich scheiß dich zu mit meinem Geld... Gut, dann also vorwärts, ich lade ein in meine Kindheit. dreht sich zu Deutschem Ja, und dich auch.

14. Amour à trois

ZWEITER TEIL

Auf den Stufen zur Schaubude sitzen der Autor, der Große Gopnik und Schwester O. DER GROSSE GOPNIK: Für wen oder was bist du? Für eine freie Gesell­ schaft der Croissants mit Marmelade? SCHWESTER O.: (lacht) Ich würde sagen: für eine Gesellschaft freier Croissants mit Marmelade. DER GROSSE GOPNIK: Wie heißt die Losung der Deutschen? Ich liebe das Essen! Sie haben Gott gegen das Fressen eingetauscht. AUTOR: Du hast ja selber beschlossen, Gott zu werden. SCHWESTER O.: So, Jungs, genug gequatscht. Wer von euch beiden liebt den russischen Birkenwind? (der Große Gopnik und der Autor wechseln Blicke) Wer hat gesagt, Russland habe eine besondere Dimension? AUTOR: Birkenwind. Auch ich liebe den Birkenwind. AUTOR und DER GROSSE GOPNIK: (sich gegenseitig ins Wort fallend) In Russland weht der einzigartige Birkenwind, er besitzt eine mächtige Lebensenergie. DER GROSSE GOPNIK: Dann bist ja einer von uns! AUTOR: So einen Birkenwind habe ich in Alaska gespürt. DER GROSSE GOPNIK: Du schon wieder mit deinem Amerika! Nur wir in Russland haben eine besondere Dimension. AUTOR: Eine besondere Dimension ... Bloß, warum hindert uns das, wie normale Menschen zu leben? DER GROSSE GOPNIK: Die da in Europa haben ja nichts außer ihren Croissants! AUTOR: Und du, was hast du zu bieten ...? SCHWESTER O.: Wartet mal, Jungs! Ich hab eine Idee! Wie wär’s mit Liebe zu dritt? L’amour à trois! Ein außergewöhnliches Gefühl, schon mal erlebt? Das schweißt zusammen. Der Große Gopnik und der Autor sehen sich an. DER GROSSE GOPNIK: Was ist, probieren wir’s aus? AUTOR: Auf einmal funktioniert’s ja! SCHWESTER O.: Und ich? Mich habt ihr wohl vergessen? SCHWESTER O.: Es lebe die Liebe! DER GROSSE GOPNIK: Nee, so geht das nicht. Sie gehört mir. AUTOR: Nein, mir. SCHWESTER O.: Jungs, ich gehöre euch beiden! Also, folgendes. Du hier rein, und du von da. Alles klar? SCHWESTER O.: Zum Kuckuck mit euch beiden! Ihr habt einfach null Erfahrung mit gegenseitiger Liebe! DER GROSSE GOPNIK und der AUTOR: Wir üben noch. Vielleicht klappt’s ja. SCHWESTER O.: (kommt in ein weißes Laken gehüllt aus der Schaubude) Warum geht russischer Sex immer nur mit quietschenden Bettgestellen? Nicht mal Betten können sie bauen ... DER GROSSE GOPNIK: (erscheint nach ihr) Ich will dich mit nieman­ dem teilen. Schon gleich gar nicht mit Liberalen und Demokraten. AUTOR: (erscheint nach ihnen, führt Schwester O. zur Seite) Schwester­ herz, das ist das erste und letzte Mal. Ich will dich nicht mit einem Dikta­ tor teilen. DER GROSSE GOPNIK: Aber das Buch über mich wirst du doch schrei­ ben? AUTOR: (nachdenklich) Mmh, ja, doch. Du bist ein Phänomen. Der erste Volkspräsident. Ich schreib’s.

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15. Glücklicher Tod

Der Autor rennt über die Bühne. AUTOR: Wisst ihr schon, er ist tot! Mama, du, hörst du, er ist tot! Er ist endlich tot! Mama, schau, ich führe Freudentänze auf! Mama! Mama! MAMA: Aber ich bin ja auch tot. Ich liege schon lange auf dem WagánkowoFriedhof. (Anm.d.Ü.: Wagánkawa) AUTOR: Ja, ja, verstehe, aber hör mir doch zu, er ist tot! MAMA: Was wird nun aus Russland? AUTOR: Schlimmer wird’s nicht. Noch schlimmer kann’s nicht werden. MAMA: In fünf Minuten hat man ihn vergessen. Nicht mal vernünftig be­ erdigen wird man ihn. AUTOR: Man wird ihn niemals vergessen. Ihn vergessen... unmöglich. MAMA: Ich glaube an das schöne Russland der Zukunft. AUTOR: Papa, hörst du mich, er ist tot! PAPA: Ich bin auch tot. AUTOR: Ja, ja, ich weiß, aber er ist jetzt tot! Tot! Die ganze Welt jubelt! PAPA: Na ja, nicht die ganze Welt. Was wird aus Russland? AUTOR: Der Krieg hört sofort auf. Heute ist er gestorben – morgen ist der Krieg aus. PAPA: Und wer kommt nach ihm? AUTOR: Egal. PAPA: Da hast du unrecht. Ohne ihn wird Russland auseinanderfallen. AUTOR: Vielleicht, ja. PAPA: Warum jubelst du dann? MAMA: Russland fällt nicht auseinander. Die besten Leute werden sich zusammensetzen und sich einigen. PAPA: Aber unser Sohn sagt, es fällt auseinander. AUTOR: Vielleicht ja auch nicht. Aber so ein Russland kann mir sowieso gestohlen bleiben. Soll es doch auseinanderfallen. PAPA: Wieso jubelst du dann? AUTOR: Papa, er ist endlich, endlich, endlich tot! Papa, Was für ein Glück. OBERST NARYSCHKIN (mischt sich überraschend ein): Gestatten! ­Gestatten! Naryschkin, Oberst der Weißen Garde. In Paris bin ich unge­ achtet meiner Körperfülle mindestens zwei Mal am Tag die Treppe hin­ unter- und wieder hochgerannt und zum Zeitungskiosk an den Grands Boulevards geeilt. Dort gab es die russische Emigrantenzeitung „Poslédni­ je Nówosti“ (Anm.d.Ü.: Paslédnije Nówosti) – „Neueste Nachrichten“. Ich kaufte die Zeitung und las sie mit zitternden Händen. Vielleicht war die Sowjetmacht ja doch plötzlich zusammengebrochen? Aber nein … Und eines Tages eile ich wieder zum Kiosk und – was für ein Moment des Glücks: Lenin ist tot! Lenin ist zur Hölle gefahren! Ich traue meinen Au­ gen nicht. Um den Kiosk hat sich schon ein Grüppchen Russen versam­ melt, und alle sind glücklich: Lenin ist tot! Ohne ihn wird die Sowjet­ macht keine Woche überleben. Es gibt keinen, der ihn ersetzen könnte. Was haben Sie gesagt, Stalin? Der würde passen. Georgier, Pragmatiker, Feinschmecker, Lieblingsrotwein Kindsmaraúli (Anm.d.Ü.: Kínds­ mara:úli), Verteidiger des Privateigentums! Leute, ich sage euch: In einem halben Jahr trinken wir Champagner in Moskau!

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Stück Viktor Jerofejew

16. Zurück in die Kindheit

SCHWESTER O: Ein heruntergekommener Hinterhof in Sankt Peters­ burg. Der Große Gopnik organisiert ein grausames, blutiges Spektakel seiner unglücklichen Kindheit für den Autor und seinen Freund, den Gut­ mütigen Deutschen. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Guten Tag! Einen Moment! Ich hab ­Ihnen Kurkumapulver mitgebracht. Zwei Löffel davon in Milch geben und täglich davon trinken. Damit werden Sie hundert Jahre alt, glauben Sie mir! In der Mitte des Hinterhofs der Große Gopnik, der Autor und der Gut­ mütige Deutsche. DER GROSSE GOPNIK: Und los geht‘s, spielen wir Armut. Mein Lieb­ lingsspiel. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Mit dem größten Vergnügen. DER GROSSE GOPNIK: (spöttisch, nach seiner Gewohnheit den Hals verdrehend) Vergnügen? Nachts die Gegend unsicher machen, Messer in der Hosentasche, Schlägereien und blutige Nasen. Vergnügen? Die Kind­ heit kennt keine halben Sachen. Wir werden Kohldampf schieben. Von einer Banane und einem Laib Weißbrot träumen. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Klasse! DER GROSSE GOPNIK: (drohend) Wir stürzen uns in meine unglückliche Kindheit und erleben den ganzen elenden Scheiß nochmal. Er schluckt und lockert den Krawattenknoten, indem er das Kinn hochzieht und heftig den Kopf hin- und herdreht. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Au ja … Lass uns in deine unglückliche Kindheit eintauchen. War ja selber mal ein einfacher Junge aus ’ner Arbei­ terfamilie … DER GROSSE GOPNIK: (Eine Grimasse verzerrt sein Gesicht) Im Krieg haben wir euch plattgemacht, und ihr? Habt trotzdem besser gelebt als wir Sieger! Euch haben doch die Amis durchgefüttert! Wir dagegen … DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: (lacht betreten, das Gesicht vom Lachen­ gerötet) Hömma, ich hab’s aber auch nicht leicht gehabt. Und wie soll das jetzt gehen, wie willst du denn deine Kindheit zurückholen? Ein Schauspieler tritt auf und schlägt Gopnik zu Boden. DER GROSSE GOPNIK: Halt! So geht das nicht! Du musst mir schon ordentlich eine reinhauen, Mann! Na, mach schon! Gopnik steht auf. Geht auf den Schauspieler zu. DER GROSSE GOPNIK: Mach jetzt. Komm. Der bullige Schauspieler schlägt erneut mit aller Kraft auf den Großen Gopnik ein. Der fällt erneut zu Boden. Rundum eisige Stille. Der Schauspieler verabreicht dem Großen Gopnik eine fürchterliche Tracht Prügel. Der Gutmütige Deutsche hält es nicht mehr aus, kommt aus dem Hauseingang gerannt und eilt zu Hilfe: DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: (schreit mit vor Aufregung starkem Akzent den Schauspieler an und presst sich die Hände an die Brust) Sie dürfen ihn nicht so fest schlagen! Sie verschandeln meinem russischen Freund ja das ganze Gesicht. Der Schauspieler hört auf zu schlagen. DER GROSSE GOPNIK: (brüllt ihn an) Verdirb mir meine Kindheit nicht! Verschwinde! Ab mit dir ins Haus! Der Gutmütige Deutsche gehorcht. SCHWESTER O: In dem dunklen Hinterhof erscheint Paar: der Vater und die Mutter des Großen Gopniks. Übel gelaunt miteinander zankend, gehen sie raschen, aber müden Schrittes, um möglichst schnell nach ­Hause zu kommen und ins Bett zu fallen. MUTTER DES GROSSEN GOPNIKS: Du schmeißt mein ganzes Geld raus für deine Scheißpillen. SCHWESTER O: Er hat irgendeine Beeinträchtigung, vielleicht ist es ein Auge, das ihm fehlt, oder ein Ohr wie bei Van Gogh, vielleicht auch ein

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Arm oder ein Bein, obwohl – eigentlich ist bei ihm alles am Platz. Sie trägt einen Blecheimer, über dem ein nasser grauer Putzlappen hängt, der aus­ sieht wie das verkrumpelte Fleisch eines niedergestreckten Flussmonsters. MUTTER DES GROSSEN GOPNIKS: Ich hab’s satt, wegen deinem ­Gedärm voller Würmer Treppenhäuser zu putzen! VATER DES GROSSEN GOPNIKS: (böse) Was redest du da für einen Mist! Ich bin bald wieder gesund, wirst schon sehen … MUTTER DES GROSSEN GOPNIKS: Bald! Wer’s glaubt! Ach, von mir aus verreck doch! VATER DES GROSSEN GOPNIKS: Keine Sorge, ich verreck schon noch. MUTTER DES GROSSEN GOPNIKS: (hat plötzlich den Großen Gopnik bemerkt) Und du? Was liegst du denn da rum? Haben sie dich schon wieder verdroschen? Mein Gott, warum bloß haben es alle auf dich ­ ­kleinen Rotzlöffel abgesehen? Marsch, nach Hause mit dir! MUTTER DES GROSSEN GOPNIKS: (an den Sohn) Aber bitte, wenn du nicht willst. Meinetwegen brauchst du auch gar nicht mehr zu kommen! DER GROSSE GOPNIK: (zu sich) Ich hab den intensiven Schweißgeruch meiner Mutter wahrgenommen, und mir ist ganz warm geworden! MUTTER DES GROSSEN GOPNIKS: (an den Sohn) Dein Vater ist der letzte Dreck! Du bist der letzte Dreck! Lieber Gott! Entschlossen packt sie den Eimer am quietschenden Henkel und geht ­weiter. Der Vater ihr hinterher. Der Große Gopnik stützt sich auf den ­Ellenbogen und sieht seinen Eltern nach. DER GROSSE GOPNIK: Bringt das Mädchen her! Olka! OLKA: Tach! Was treibst du denn hier? DER GROSSE GOPNIK: (schnieft) Verdroschen haben sie mich. OLKA: (hockt sich abrupt neben ihn) Wofür? DER GROSSE GOPNIK: (äfft sie nach) Wofür? Wofür? Weil ich klein bin! OLKA: Na ja, du bist auch ein Dreikäsehoch! Aber das ist doch noch kein Grund … (springt unvermittelt wieder auf die Beine) Was glotzt du denn so? Wohl noch nie ’ne Unterhose gesehen? DER GROSSE GOPNIK: (mit überraschend belegter Stimme) Bitte … OLKA: Hey, »bitte« hör ich selten von dir, und jetzt auf einmal ... OLKA: (plötzlich entschieden, ohne den Deutschen überhaupt zu beachten) Nein! Gar nichts werd ich dir zeigen! Meinetwegen kann dir Walka was zeigen. Die zeigt ja allen Jungs hier bei uns im Hof, was sie hat. Für ein Eskimo-Eis mit Schoko am Stil zu elf Kopeken! DER GROSSE GOPNIK: Aber Walka ist ein Miststück … und potthäss­ lich! OLKA: Und du? Was glaubst denn du, was du bist, etwa schön? Hässlich wie die Nacht bist du! DER GROSSE GOPNIK: (heult auf) He, he, nicht persönlich werden hier! Aus! Nächste Szene! Olka entschwindet stolzen Schrittes vom Hof, streckt dem Gutmütigen Deutschen und dem Autor noch die Zunge raus. Der Gutmütige Deutsche und der Autor ziehen sich leise auf ihren Beobachtungsposten in den Hauseingang zurück. DER GROSSE GOPNIK: (sieht ihr nach) Hallo, Assistent! Wer ist sie überhaupt? ASSISTENT OHNE BART: (der allzeit bereite Pressesprecher kommt auf den Großen Gopnik zugeflattert) Ein Superstar, jeder kennt sie! Aus allen möglichen Fernsehserien. DER GROSSE GOPNIK: (mit gekräuselter Stirn) Ab mit ihr … weit weg ... nach Sachalín! Soll sie doch an einem Provinztheater vergammeln. (lacht hämisch) Nächste Szene! DER GROSSE GOPNIK: (feierlich) Nächste Szene: Motschílowo! ((Anm.d.Ü.: Matschílawa – Jargon für brutale Schlägerei)) DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Motschilowo? Was ist das denn? DER GROSSE GOPNIK: (nebulös) Wirst du schon sehen!

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Stück „Der Große Gopnik“ AUTOR: Was ist eigentlich aus dieser Olka im richtigen Leben geworden? Hat sie dich am Ende rangelassen? DER GROSSE GOPNIK: (düster) Einen Scheiß hat sie. Hat irgend so ein Arschloch geheiratet. Wohnt in einem Arbeiterviertel am Stadtrand von Petersburg. Kommt mehr schlecht als recht über die Runden. Dabei hätte sie ganz groß rauskommen können, die blöde Kuh! SCHWESTER O.: Im Hof erscheinen raschen geschäftigen Schrittes drei junge Schauspielerinnen aus den besten Moskauer Theatern. Sie tragen bereits die Kostüme von Hinterhofschlägern. DER GROSSE GOPNIK: (leise, verschwörerisch) Also, Jungs Leute… Kein Theater-Firlefanz. Ihr seid hier die Wolfsjungen, die sich vor unseren Augen in starke junge Wölfe verwandeln. Hier werden eure Werte ge­ formt. Meine auch. Klar? DIE SCHAUSPIELER: (leise im Chor) Klar! DER GROSSE GOPNIK: (feuert sie an) Na dann los! AUTOR: Sie laufen auseinander, um ihre strategischen Positionen in den nicht einsehbaren Ecken des Hofes einzunehmen. Eine Minute später kommt ein Passant mit Papirossa im Mundwinkel durch die Toreinfahrt. Gopnik baut sich vor dem Mann auf. DER GROSSE GOPNIK: (in widerlich bettelndem Ton) Onkelchen, ge­ ben Sie mir eine Papiróssa. Ich hab so ’ne Lust, eine zu qualmen! SCHWESTER O.: Stille. PASSANT: Wie alt bist du denn? DER GROSSE GOPNIK: Alt genug. AUTOR: Der Passant wirft einen Blick auf den kleingewachsenen Großen Gopnik und befindet ihn für ungefährlich. PASSANT: (winkt ab) Zieh Leine! Ich muss pissen! DER GROSSE GOPNIK: Wenn Sie mir keine Papirossa geben wollen, dann wenigstens zwanzig Kopeken! PASSANT: (runzelt wieder die Stirn) Ich hab kein Kleingeld. DER GROSSE GOPNIK: (tut erstaunt) Kein Kleingeld? Glaub ich nicht. Hüpfen Sie mal! (rückt ihm ganz nah auf die Pelle) PASSANT: Hä? (bellt ihn an, stößt ihn zu Boden) Verpiss dich! SCHWESTER O.: Der Große Gopnik liegt im Staub, während der Pas­ sant sich erleichtert. Der Passant hat sich noch nicht die Hose zugeknöpft, als im Hof drei hochgewachsene Rowdys mit Schlägermützen auftauchen. STRUBBELKÖPFIGER ROWDY: Was soll das, wieso tust du dem Jungen weh? PASSANT: (immer noch mit ruhiger, aber die innere Unruhe schon verratender Stimme) Und wieso muss der mir auf den Sack gehen?! ZWEITER ROWDY: Bist du dem auf den Sack gegangen? Der Passant macht einen Versuch, sich zu verdrücken, doch sie stellen sich ihm in den Weg. DRITTER ROWDY: Wohin soll’s denn gehen? DER GROSSE GOPNIK: (spielt das Unschuldslamm) Ich hab nichts ­gemacht. Hab ihn bloß um ’ne Papirossa angeschnorrt. STRUBBELKÖPFIGER ROWDY: Und deshalb vermöbelt er dich hier? PASSANT: (versöhnlich) Na schön, ich geh dann mal. STRUBBELKÖPFIGER ROWDY: (offenbar der Anführer) Ach nee! Er geht dann mal! Und wer bezahlt? Puschkin vielleicht? PASSANT: Bezahlen, wofür? STRUBBELKÖPFIGER ROWDY: Einen Zehner dafür, dass wir dich ­gehen lassen. PASSANT: So viel hab ich nicht dabei. ZWEITER ROWDY: He, nicht frech werden, ne? Die Rowdys umringen den Mann. PASSANT: (nun schon mit weinerlicher Stimme) Was wollt ihr? STRUBBELKÖPFIGER ROWDY: (sagt seinen Lieblingssatz) Was wir wollen? Nichts! Her mit der Kohle. SCHWESTER O.: Die Rowdys stellen ihm ein Bein, er knallt hin, kriecht auf allen Vieren, will aufstehen – sie schlagen ihm die Beine weg. Er fällt hin,

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aber da blitzt ein Messer auf, der Kreis schließt sich um ihn, und als er sich wieder auflöst, liegt der Passant auf dem Boden, aus seinem Hals quillt Blut. DER GROSSE GOPNIK: (grinst und haut dem Gutmütigen Deutschen auf die Schulter) Na? Gut amüsiert? DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: (breitet begeistert die Arme aus) Und wie! AUTOR: (nickt nachdenklich, an den Gutmütigen Deutschen) Ja... Aus so einem Land kann man nur fliehen. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Nur nichts überstürzen. In eurem Land kann man jeden Dreck auf das Regime schieben, in unserem nur auf die menschliche Natur. DER GROSSE GOPNIK: Leningrad... Nächtliche Kühle (legt den Kopf in den Nacken) Sterne... Ich würde der Stadt den sowjetischen Namen zu­ rückgeben. Aber ich kann Lenin echt nicht ausstehen. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Wieso das denn nicht? DER GROSSE GOPNIK: Er hat unseren großartigen Staat in einzelne Re­ publiken zerschnitten, die Ukraine erfunden, dabei hat es die nie gegeben... AUTOR: Was heißt hier, die hat es nie gegeben! DER GROSSE GOPNIK: Nein, nie! DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Sag mal! Haben sie den Mann jetzt in echt umgebracht? Eine schwarze deutsche Luxuslimousine biegt langsam in den vergammelten Hinterhof ein.

17. Sich einen runterholen auf den Krieg

Schwester O und der Große Gopnik. DER GROSSE GOPNIK: Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Sport­ lerinnen. Sie können fantastische Stellungen. Aber du bist sogar noch besser. SCHWESTER O.: Aua! Au! Nicht da rein, bitte! Bitte nicht! DER GROSSE GOPNIK: (streng) Ob’s dir gefällt oder nicht, halt still, meine Schöne! (blickt um sich, unterbricht den Sex) Ich werde ewig leben (lacht). SCHWESTER O.: Warum in aller Welt hast du entschieden, die Ukraine anzugreifen? DER GROSSE GOPNIK: Ja, ist das denn so schwer zu begreifen? Die Ukraine ist des Teufels. Wir sind das Licht, sie ist die Dunkelheit. Das wird ein Religionskrieg. SCHWESTER O.: Ein Krieg für hundert Jahre? DER GROSSE GOPNIK: Für immer. SCHWESTER O.: Aber die jungen Soldaten auf beiden Seiten … DER GROSSE GOPNIK: Was ist denn wichtiger? Der Mensch oder der Staat? Stalin hat nicht umsonst gesagt, dass der Mensch ein Schräubchen im Staat ist. Und schließlich zieht dieses Schräubchen nach seinem Tod heldenhaft ins Paradies ein, als Krieger. Aber dieses ganze Europa... die kratzen da einfach ab. SCHWESTER O.: Aber du hast doch selbst gesagt, das ukrainische Volk existiere nicht. Es gebe nur ein Volk – das russische ... DER GROSSE GOPNIK: Ach, was hab ich nicht schon alles gesagt. Ich bin Geheimagent, und jetzt bin ich Geheimagent der Zukunft. Weißt du, wodurch sich das Wahre von Wahrheit unterscheidet? Die Wahrheit dient dir, und das Wahre verlangt von dir zu dienen. Na komm, wir machen’s nochmal ... (er zieht sie an sich) probieren wir’s ... SCHWESTER O.: Mein Held!

18. Porno-Land

SCHWESTER O.: Pornografie – das ist die Kunst der Zukunft. Nicht die­ ser stumpfe, mechanische Proll-Porno. Sondern gut gemachter, brillanter Porno! Auch wenn wir in allem rückständig sind, beim Porno der Zukunft werden wir die Ersten sein. Keiner wird uns überholen. Nicht China. Nicht Europa. Nicht Amerika. Bei denen läuft alles nach Schema F. Bei

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Stück Viktor Jerofejew uns dagegen ist der Totalitarismus nur äußerlich, nur eine autokratische Glasur. Aber in uns drin herrscht die ewige Unruhe der Anarchie. Bei uns ist Sex vermischt mit kognitiver Dissonanz. Dank meiner Forschungen, bin ich in der Lage, eine ideale Pornoausstellung zu zeigen, die den Cha­ rakter Russlands offenbart. Der russische Porno garantiert Hochspan­ nung. Im Porno entblößt sich das ganze Land. Ein Lieb-Los-Land. Ein Lug-und-Trug-Land. Ein Schänderland. Er basiert auf der Scham der Schamlosigkeit, auf dem Dauerlachen der Schüchternheit, der Überwin­ dung von Komplexen und unbeholfenen Gefühlen, der Unfähigkeit, sei­ nen Körper im Griff zu haben, auf vorzeitigem Orgasmus. Die Krönung von allem ist Inzest, das hohe Niveau des Bruchs mit den Gesetzen der Zivilisation. Unser Porno liebt vorschriftswidrige Beziehungen. BORIS: Bravo! SCHWESTER O.: Unsere Pornografie ist ein Nährboden für Verrat. Darüber habe ich im Ausstellungskatalog geschrieben. Aber sie haben ihn beschlagnahmt. Ein paar Exemplare müssten noch irgendwo bei mir zu Hause herumliegen. BORIS: Kann ich mal einen sehen? SCHWESTER O.: Ich schenk dir einen! Die ausländische Pornografie berührt ebenfalls den animalischen Aspekt. Aber zugleich gibt es bei de­ nen eine Versöhnung der Geschlechter, der Altersgruppen, eine Vereini­ gung dessen, was im bekleideten Leben nicht zu vereinigen ist. BORIS: Du meinst also, die Pornografie gibt mehr Einblick in den Men­ schen als andere Narrative? SCHWESTER O.: Unser Porno fickt in quietschenden Betten. Das ist geil! So natürlich! In unserem Porno wird die Frau erniedrigt, das ist Porno von Gopniks. Folge mal diesem Gedanken: Hier ist der Ort, wo unter Quiet­ schen der Große Gopnik gezeugt wird, das Ebenbild des anderen Großen Gopniks – unseres großen Volks. BORIS: Krass! Allgemeines Gelächter.

19. Kreml

Der große Gopnik auf Inlinern, Assistent schiebt ihn an. DER GROSSE GOPNIK: (bleibt stehen) Na? Mach ich das nicht super? Du bist mein Lieblingsdeutscher. Du lügst mich nicht an. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Sie sind ein einzigartiger Mensch. Kein König, kein Präsident der Welt kann s Inliner fahren wie Sie. DER GROSSE GOPNIK: Irgendwas versteh ich überhaupt nicht. Bin ich noch am Leben oder schon tot? Ich erinnere mich dunkel, dass es eine Gerichtsverhandlung gab. Das Jüngste Gericht. Aber was ist das für ein Gericht? Wo bin ich? Im Paradies, in der Hölle oder noch auf der Erde? Dem Großen Gopnik rutschen die Beine auseinander, er fällt hin. DER GROSSE GOPNIK: (wehrt ihn ab) Wie sagt man auf Türkisch »ver­ fick dich«? ASSISTENT OHNE BART: Wie meinen? DER GROSSE GOPNIK: Du bist doch polyglott, du kannst doch Türkisch. Ich bin gestürzt, das bedeutet, ich lebe. Hauptsache, nicht dem Wahnsinn verfallen. Sonst fang ich womöglich noch einen Atomkrieg an. (Zum Publikum, Wutausbruch) Und wenn schon! Journalisten und Politologen meinen, ich würde mich ans Leben klammern, ewig regieren wollen, und darum werde es keinen Atomkrieg geben. Ihr lügt doch alle! Vergeblich wühlt ihr in meinem Kopf rum. Ich klammere mich nicht ans Leben. Ich kann euch alle mit mir ins Jenseits befördern. Kein Problem! ASSISTENT MIT BART: Wir haben keine Angst vor Ihnen – wir lieben Sie und sind Ihnen treu ergeben. Sie sind Russland, und Russland – das sind Sie. Und Amerika hat ein genetisches Problem. Dort haben sie jedem einen Chip eingepflanzt. DER GROSSE GOPNIK: (interessiert) Auch dem Präsidenten?

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ASSISTENT MIT BART: Klar. DER GROSSE GOPNIK: Und wer regiert sie dann alle? ASSISTENT MIT BART: Eine Weltregierung. Das Volk ist derselben Mei­ nung. DER GROSSE GOPNIK: Glaub ich nicht! Die Weltregierung werden wir stellen. (an den Assistenten ohne Bart) Ich weiß noch genau, du hattest Angst, dass der Westen uns in Stücke reißt, weil wir die Krim eingesackt haben. Der Assistent ohne Bart lässt schuldbewusst den Kopf hängen. DER GROSSE GOPNIK: Er hat uns nicht in Stücke gerissen. Ihr habt alle die Hosen voll. Darf ich vorstellen: Das ist mein alter Freund, der Gut­ mütige Deutsche. Nicht jeder Russe liebt Russland wie er. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Ich liebe Russland über alles! DER GROSSE GOPNIK: Und das sind meine Assistenten. Mit Bart und ohne Bart. Der mit Bart ist Philosoph von Weltrang und Politologe. Er hält uns für eine gut durchgebratene Zivilisation im Unterschied zur halbgaren westlichen. Überhaupt, alle diese Philosophen bei uns sind ein russopho­ bes Geschwür. Aber der hier ist eine Ausnahme! Grausamer Mann, aber gerecht. Er ruft dazu auf, die Ukrainer zu töten, töten, töten, bis zum letzten Einwohner. Und der hier ohne Bart – tief in seinem Arsch ein verkappter Westler. Ein nützlicher Zyniker. ASSISTENT OHNE BART: Ich lass mir einen Bart wachsen, oder ich leih mir einen aus. Sonst mögen sie den da lieber als mich. DER GROSSE GOPNIK: Ich brauch euch beide wegen des Gleichge­ wichts. ASSISTENT MIT BART: Es gibt in Moskau so eine rätselhafte Person namens O. Sie hat eine Ausstellung organisiert. Unter dem Titel PornoLand. Die Leute rennen ihr die Bude ein. DER GROSSE GOPNIK: Schweinkram! ASSISTENT MIT BART: Sie behauptet, die russische Pornografie bestehe vor allem aus Gewalt. Aus der Lust, Schmerz zuzufügen, Angst zu ma­ chen, zu bestrafen, zu erniedrigen. So etwas gebe es in keinem anderen Land, sagt sie. DER GROSSE GOPNIK: Ein Ausdruck von Stärke, von Kämpferqualitä­ ten. Hast du etwa noch nie jemanden mit einem Gürtel geschlagen? ASSISTENT MIT BART: Aber klar doch. DER GROSSE GOPNIK: Mir ist langweilig mit euch. Ich hab so die Nase voll davon, dass ihr mir ständig nach dem Mund redet. Dass mal einer von euch sich trauen … Ich ernenne dich zum Hauptermittler in der Angele­ genheit Porno-Land-Ausstellung. Verstehst du was von Kunst? IWAN: Nö. DER GROSSE GOPNIK: Und von Pornografie? IWAN: In Russland gibt’s keine Pornografie! DER GROSSE GOPNIK: Stimmt. Dann geh da mal hin und find raus, woher sie auf einmal kommt! SCHWESTER O.: Oho! Wen seh ich denn da? ERMITTLER IWAN: Tut hier nichts zur Sache. Keine Vertraulichkeiten! Antworte! Wozu hast du dir diese ganze Sauerei ausgedacht? SCHWESTER O.: Ich verstehe gar nichts. Irgendwelche Kosaken haben meine Ausstellung zerstört, und mich sperrt man ein. Das ist nicht ge­ recht. ERMITTLER IWAN: Deine Gerechtigkeit kannst du zu Hause bei Mama suchen. Antworte, wer steht hinter deiner Ausstellung? Die Amerikaner? SCHWESTER O.: Dahinter steht die ganze russische Mentalität, die zu Gewalt neigt. ERMITTLER IWAN: Russenfeindin! Du hasst unser Land wie die Pest. Wo hast du das Geld her für die Ausstellung? Warum sagst du nichts? Antworte. SCHWESTER O.: Ich habe mich um Unterstützung an verschiedene Fonds gewandt. Die haben mir etwas Geld zukommen lassen ...

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Stück „Der Große Gopnik“ ERMITTLER IWAN: Soll ich dich in die Klapsmühle stecken? Lebens­ längliche Therapie. Da halten sie dich nicht für einen Menschen und schon gar nicht für eine Frau. Wer genau hat dir Geld gegeben? ERMITTLER IWAN: Wenn du nicht redest, sitzt du eben selbst in der Scheiße. ERMITTLER IWAN: Jetzt kriegst von mir einen Porno, der sich ge­ waschen hat. Auf dem Tisch klingelt das Diensttelefon. ERMITTLER IWAN: Ich höre! (nimmt Haltung an) Jawohl! Ich bringe sie mit. Rechte Seite der Bühne. Kreml. Büro des Großen Gopniks. Beim Schreibtisch der Große Gopnik und der Autor. DER GROSSE GOPNIK: (gütig) Ich weiß, es widerstrebt dir, mich zu se­ hen. Es hat dich Überwindung gekostet, hierher zu kommen. Aber ich entspreche deiner Bitte. Hast du das Buch über mich geschrieben? AUTOR: Ich schreibe daran. DER GROSSE GOPNIK: Nur zu, nur zu. Ach, diese Intelligenzia! Wer hat gesagt, die Intelligenzia ist die Scheiße der Nation? AUTOR: Lenin. DER GROSSE GOPNIK: Exakt! In dem Fall hatte Lenin recht. Auftritt Iwan und Schwester O. Der Ermittler Iwan bleibt an der Tür ­stehen. DER GROSSE GOPNIK: Freue mich, Sie zu sehen, meine teure O. Eine Frage. Wer ist Ihr Retter – er (deutet auf den Autor) oder ich? SCHWESTER O.: Beide. DER GROSSE GOPNIK: Nochmal von vorne. Wer ist Ihr Retter, er oder ich? Denken Sie nach! SCHWESTER O.: Sie. DER GROSSE GOPNIK: Dachte ich mir doch. Gehen Sie nach Hause und meiden Sie jeden Kontakt zu irgendwelchen NGOs und Konsorten. Keine ausländischen Botschaften! Keine Stipendien! Nichts von diesem Dreck! Klar? SCHWESTER O.: Klar. DER GROSSE GOPNIK: (deutet auf den Autor) Und mit dem hier blei­ ben Sie befreundet? SCHWESTER O.: Wieso, ist das verboten? DER GROSSE GOPNIK: Bei uns ist alles erlaubt, wir haben hier Demo­ kratie. Zensur gibt’s nicht. Wir haben unabhängige Gerichte. Wir sind ein freies Land. Denken Sie gut nach. SCHWESTER O.: Mach ich. DER GROSSE GOPNIK: (an den Autor) Sie wendet sich von dir ab. Auf Wiedersehen. (an den Ermittler Iwan) Du auch. Du kannst gehen... (der Ermittler geht ab) Endlich sind wir allein! Endlich bist du die meine! Wie feiern wir das? …

20. Erstürmung des Kremls / Boris’ Tod

Auf den Stufen Boris, Autor, Iwan, Schwester O., der Gutmütige Deutsche. BORIS: (an den Autor) Das Regime des Großen Gopniks wird immer brutaler. Die liberale Hälfte des Landes erhebt sich. Los, den Kreml ein­ nehmen – AUTOR: Heute ist unser Tag! Siegen wir, emigriere ich nirgendwohin. Ich kauf uns ein Haus am Fluss. Am Ufer Trauerweiden. Im Winter friert der Fluss zu, da kann man Schlittschuh laufen wie auf den Bildern der alten Holländer. BORIS: Wir werden siegen – wir machen dich zum Kulturminister. AUTOR: Zuerst müssen wir mal siegen, Borja. BORIS: (an alle) Wir erobern Moskau. Ich führe die Menschen zum Sturm auf den Kreml. Hinter uns stehen Millionen. Alle gehen einträchtig ins feindliche Lager hinüber, auf die Kreml-Seite der Bühne, entrollen Transparente, skandieren.

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BORIS: (und alle anderen) Gop-nik, Ski-er, Ma-ga-dan. (sieht sich um) Hinter uns stehen Millionen. Ihm nach marschiert der Straßenkehrer Iwan, auch der Autor ist da. Zunächst auch der Gutmütige Deutsche. DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: Herrje, da hab ich mich wohl geirrt. Das ist nicht meine Demo. (geht ab) POLINA: (schaut um die Ecke) He, du Göttergatte! Hörst du mich... Hau ab von hier. Hau ab, solange du noch ganz bist. AUTOR: (kämpferisch) Wir werden siegen, dann kauf ich unserer Tochter eine rote Katze. BORIS: (triumphierend) Gop-nik, Ski-er, Ma-ga-dan... Da, auch die Poli­ zei (deutet hinter die Kulissen) lächelt uns freundlich zu. Und Europa unterstützt uns (zeigt in den Zuschauerraum) Wir stehen vor den Toren des Kremls. Aufmachen! Da fallen Schüsse. Boris stürzt vor der Schaubude zu Boden. AUTOR: (umarmt Boris, an Iwan) Schon gut, Iwan, wir geben nicht auf, wir rächen ihn. IWAN: (jammert) Lasst mich gehen! Ich will weg hier! SCHWESTER O.: Gegen den Großen Gopnik losziehen? Unmöglich! Er ist der Stärkere! (geht ab)

21. Nato / Der letzte Dreck

Auf der Bühne ein großes Holzpferd auf Rädern. Der Große Gopnik nur in Hose, die Hosenbeine hochgekrempelt, Oberkörper frei, besteigt das Holzpferd. DER GROSSE GOPNIK: Der letzte Dreck! SCHWESTER O.: Wer ist der letzte Dreck? DER GROSSE GOPNIK: Das war der Lieblingsausdruck meiner Mutter. Der steckt mir in der Seele. Der letzte Dreck! Wer ist der letzte Dreck? Alle! Außer dir, mein treues Ross! Weißt du, wer ich bin? Ich bin die drei Recken! SCHWESTER O.: Wieso drei? DER GROSSE GOPNIK: Die drei russischen Sagenhelden, die Beschützer unserer Grenzen, sie leben in mir ...! Ho! Ho! (stellt sich in die Steigbügel) Weg mit der Ukraine! Kiew nehmen wir in drei Tagen. Sie warten schon auf uns. Kapitulation des feindlichen Regimes. Säuberung. Wir setzen unseren Mann als Präsidenten ein. Er scharrt schon mit den Hufen. Siegesparade auf dem Kreschtschátik. Wir säubern das Baltikum. Dann ist Europa dran. SCHWESTER O.: Aber Europa ist NATO-Gebiet. DER GROSSE GOPNIK: Ich verrate dir ein Geheimnis. Bis dahin wird die NATO auseinanderbrechen. Und dann wird die ganze Welt uns gehören.

22. Kriegsbeginn

SCHWESTER O: Der Krieg ist nicht außerhalb von mir – er ist in mir. Im Hirn nicht ein einziges Eckchen, wo man sich verstecken, sich verkriechen kann. Übler Geschmack im Mund. Geheul in den Ohren. Das Herz im Abgrund. Die Eier abgeschnitten mit einem Taschenmesser. In Stücke ge­ rissen. Zu Tode gefoltert. Meiner Frau haben sie einen Granatwerfer rein­ gesteckt. Trümmerhaufen der Erinnerung – Städte in Trümmern. Ich bin krank vom Krieg. Der Krieg ist krank von mir. AUTOR: Ich konnte den Großen Gopnik nicht vom totalen Krieg abhalten. SCHWESTER O: Betrachte die Situation von der Welt hinter den Spie­ geln aus. Wie würdest du die Triebkräfte des Krieges mit der Ukraine be­ schreiben? AUTOR: Die Riege der hoffnungslos veralteten Götter unter der Ägide von Jesus Christus hat so ungefähr vor einem Jahrhundert den Rückzug angetreten. Seitdem geht der Rückzug weiter und hinterlässt auf dem frei­ gewordenen Platz eine Menge Verwerfungen und Lücken. Doch nach ein­

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Stück Viktor Jerofejew gefahrener alter Gewohnheit existiert im Westen die Moral der christli­ chen Riege weiter – nicht so jedoch im ewig autokratisch unterdrückten Russland. SCHWESTER O: Wir haben einen Krieg der Kräfte des Zerfalls gegen die Kräfte des Halbzerfalls. AUTOR: Die Kräfte des Zerfalls, befreit von jeder Verpflichtung, legen schockierende Unmenschlichkeit an den Tag. Die Kremlpropagandistin­ nen kommen lustvoll stöhnend davon zum Höhepunkt, die Heldinnen des Zerfalls. Die Kräfte des Halbzerfalls besitzen Reste von angefaultem Glauben, doch ob das reicht für einen Sieg über die Kräfte des Zerfalls, bleibt unklar. Kurzum, dieser Krieg ist der todbringende Ausdruck der Sehnsucht nach einer neuen Riege bisher noch unbekannter Götter. SCHWESTER O: Sackgasse oder Hoffnung? AUTOR: Ach, ich glaube Hoffnung. SCHWESTER O: Die Hoffnung ist der tückischste Feind des Menschen, der ins Unglück geraten ist. Die Hoffnung zehrt die Kräfte auf, macht dem Menschen eine lange Nase, bevor sie ihn verlässt, macht ihn krank, kann ihn in den Wahnsinn, ja, in den Selbstmord treiben. Ich habe dieses zuckersüße Scheusal namens Hoffnung durchschaut und aus meiner Welt rausgeworfen. AUTOR: (lacht) Alle sagen, die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber es gibt Län­ der, wo sie zuerst stirbt ... SCHWESTER O: Beide lachen.

23. Stalin II

DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: (betritt die Schaubude) Ich bin be­ eindruckt. Die Ukraine überfallen, starker Schachzug. Könnte von mir sein. DER GROSSE GOPNIK: Danke. DER KLEINE NÄCHTLICHE: Eine neue Weltordnung schaffen. Den Westen brechen, auf China, Indien und Afrika bauen. DER GROSSE GOPNIK: Unser Volk hat nichts übrig für die Konsumge­ sellschaft. Man muss ihm einen Traum liefern. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Was für einen Traum hast du dem Volk zu bieten? DER GROSSE GOPNIK: Daran muss ich noch arbeiten... Hier, bitte: Wir sind besser als alle anderen! Reicht doch, oder? DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: (schüttelt den Kopf) Bisschen dünne für eine Ideologie. Ich hatte den Kommunismus zu bieten. Das war ein Traum für alle. Und du? Du tust alles nur für dich. Bis zum Ende dei­ ner Tage auf dem Thron? DER GROSSE GOPNIK: Der Thron – das ist natürlich eine Droge ... DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Dir ist gelungen, was ich nicht geschafft habe. Du bist ein wahrer Volkspräsident. Dich unterstützen die Menschen im Volk, denn du bist einer von ihnen. Ich war das nicht. Keiner der Zaren war das. Du bist der erste. Respekt! DER GROSSE GOPNIK: Ich bräuchte eine Weltideologie... Ich würde alle besiegen. Im Westen gibt es auch keine Ideologie. Freiheit ist wie eine abgenutzte Münze, in Europa gibt es keine Freiheit, nur politische Kor­ rektheit. Widerlich. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Was hast du für Pläne? Bedenke, was immer du mit der Ukraine anstellst, sie wird dir nicht treu sein, der Westen wird sich abwenden. Für immer. DER GROSSE GOPNIK: Wie kommen Sie darauf? Geduld bringt Huld. Gegen die Ukraine empfinde ich einen ganz speziellen Hass. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: (lächelt) Hassen tust du gern. Das ist gut. Ich wünsche dir, dass du eine Weltideologie findest. Mit Hass kommst du nicht weit. Aber bis zu deinem Ableben wird’s reichen. Mach was Überraschendes, verlange Alaska zurück, nimm’s den Amerikanern weg und erklär den Mond zu russischem Territorium.

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DER GROSSE GOPNIK: Der Mond wird russisch sein. DER KLEINE NÄCHTLICHE STALIN: Großartig! Kümmer dich um ei­ nen Nachfolger. Finde einen starken Mann. Dein Alter Ego. Sonst kriegst du noch einen neuen Chruschtschow, der alles zunichte macht. DER GROSSE GOPNIK: Ich schwöre, ich finde einen absolut unversöhn­ lichen Mann. Der Westen wird mir noch richtig nachtrauern, wenn ich die Bühne verlassen habe.

24. Russisches Glück

SCHWESTER O.: Keiner der anderen Politiker hat dem Volk gepasst. Gorbatschow nicht, der gemeinsam mit seiner Frau Raíssa Maxímowna ((Anm.d.Ü.: Ra:íssa Maxímowna)) das russische Glück als kulturelle ­Annäherung an Europa verkörperte, als eine Art Italienurlaub. AUTOR: Auch Jelzin gefiel dem Volk letzten Endes nicht. Klar, wie er trank, das war dem Volk sehr vertraut, und darin unterschied er sich kaum von einem echten russischen Kerl. Aber er gab eine Position nach der ­anderen auf und versuchte damit, so dachte das Volk, dem Westen zu ge­ fallen, und sein Thron stürzte um. Allerdings fand er zuletzt einen schüch­ ternen Nachfolger, den Großen Gopnik, der Jelzin vor Strafverfolgung schützen und das Glück in seiner Familie bewahren sollte. SCHWESTER O.: Mit Kriegsbeginn ist der Große Gopnik für den Westen schlicht zu einem teuflischen Ungeheuer geworden, zum metaphysischen Bösen an sich –nicht aber für das russische Volk. SCHWESTER O.: Ist das ein Krieg nur vom Großen Gopnik oder vom ganzen Volk gegen die Ukraine? AUTOR: Ob du’s glaubst oder nicht – am Krieg ist das russische Glück schuld. SCHWESTER O.: Was meinst du damit, Glück? AUTOR: Schaut man sich an, wie sich die Armee des Großen Gopniks in der Ukraine aufführt, wie sie ihre militärische Anwesenheit dort begründet, dann ist die Frage nach dem russischen Glück durchaus nicht müßig. Denn gerade im Sieg über die Ukraine wird ein weiteres Mal die Sonne des russischen Glücks aufgehen. DER GROSSE GOPNIK: Ich hab kapiert, dass weder Komfort noch ­Lebensstandard oder Freundschaft mit dem Westen für das russische Volk an erster Stelle stehen. Wir haben andere Maßstäbe für Glück. AUTOR: Natürlich ist die russische Welt in zwei ungleiche Teile gespalten. Die russische Kultur hat stets beim Kampf gegen den Staat den Kürzeren gezogen. Manchmal endete das mit Erschießung, manchmal mit faulen Kompromissen. DER GROSSE GOPNIK: Als ich die Schleusen für das Glück des Volkes geöffnet habe, sind unsere hochgelobten Schriftsteller zu rückgratlosen Schwächlingen geworden, die schlicht und ergreifend reihenweise einge­ knickt und umgefallen sind. (lacht spöttisch) DER GUTMÜTIGE DEUTSCHE: In Europa ist Glück die Erfüllung der höchsten Norm. Alles läuft nach Plan, und auf einmal gelingt es, den ­Gipfel zu erreichen – in Sachen Finanzen, Arbeit, Liebe. Sich auf diesem Gipfel zu halten, ist ein Ding der Unmöglichkeit, aber den Gipfel hat man vor Augen und er ist deutlich als Glück erkennbar. Wenn man ständig in Europa lebt, versteht man, dass es dort keine Zukunft gibt. Das ist eine Gesellschaft, die sich vor allen Übeln, Krisen und Unglücken schützt, aber nichts anzubieten hat. Im Westen gehört die Zukunft nur dem Individu­ um, aber die Gesellschaft hat keine Zukunft. AUTOR: Russisches Glück – das bedeutet Dominieren. Russisches Glück – das ist die Verletzung jeder Norm. Sie sagen, so darf man in der Ukraine nicht Krieg führen, das ist jenseits aller Grenzen von Gut und Böse. Doch für das russische Glück existieren keine Grenzen des Erlaubten. Unter dem Banner »Wir sind besser als alle anderen« braucht man auf Feinde keine Rücksicht zu nehmen. Auch nicht auf eigene Verluste. In einem sowje­

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Stück „Der Große Gopnik“ tischen Lied heißt es dementsprechend, dass wir „nur eines brauchen – den Sieg, einen Sieg für alle, koste es, was es wolle“. DER GROSSE GOPNIK: (geht ab, singt) Koste es, was es wolle. IWAN: (hat zugehört) Und falls die Leiche meines Bruders aus der ­Ukraine nach Hause zurückkommt, dann sage ich, der Bruder hat seine patriotische Pflicht erfüllt, und am Ende werde ich glücklich sein. Für die staatliche Kompensation kann ich mir ein kleines russisches Auto kaufen, einen „Moskwitsch“ (Anm.d.Ü.: Maskwítsch) und damit rumfahren, im Andenken an meinen Bruder.

26. Emigration

SCHWESTER O: Alles ist schon halb verfallen. Der Autor und seine Frau packen ihre Sachen. POLINA: Ich hab mich plötzlich erinnert, dass ich Ukrainerin bin. Zur Hälfte jedenfalls, nach meinem Vater... Ich kann unmöglich in Moskau bleiben. Und unser ukrainischer Schauspieler hat sich zu einem starken Präsidenten gemausert. Ich muss immer heulen, wenn ich seine Anspra­ chen höre. Heute hatte ich einen Traum. Auf dem Bahnhof von Krama­ tórsk wurde mein Gesicht entstellt. Sie haben uns unsere Tochter wegge­ nommen. In Lymán wurde ich mit Elektroschocks gefoltert. Ich lag unter Trümmern. (lehnt den Kopf an die Schulter des Autors) Wir werden ­siegen. Slava Ukraini. AUTOR: Wir fahren meine liebe Schwester O. Wir fliehen aus diesem ­Totenhaus. POLINA: Wir gehen fort – und fangen ganz von vorn an. SCHWESTER O.: Wohin fahrt ihr denn? POLINA: Nach Berlin, Berlin zwingt einen nicht es zu mögen. Es ist eine freie Stadt. AUTOR: Diese Stadt ist ein Entwurf, den man mehrmals umschreiben kann. RUSSISCHE SEELE: Zu früh gefreut! Wenn du dich in Europa nieder­ lässt, verlierst du den wichtigsten Antrieb deines Lebens. AUTOR: Soll heißen? RUSSISCHE SEELE DES AUTORS: Du wolltest die russische Welt besser machen. Wolltest sie aufwecken mit deinem Werk, entschuldige das große Wort, mit deinen Ohrfeigen. Aber aufgewacht ist sie vom Kriegsgeheul ihres Führers. Und als sie auf die Ukraine losging, hat sie ein solches Gebrüll angestimmt, dass du entsetzt die Flucht ergriffen hast. AUTOR: Verbreite hier keine Lügen. Wir fahren auf Einladung der Hein­ rich-Böll-Stiftung. RUSSISCHE SEELE DES AUTORS: Weißt du wenigstens, wann du zurückkehrst? AUTOR: Nein. RUSSISCHE SEELE DES AUTORS: Ein ganz normales Austauschen von Köpfen geht da vor sich, wie bei jeder Revolution. Ihr tausende russi­ sche, liberale Schwätzer seid abgehauen, aber an eurer Stelle wächst neues Personal nach, und euch braucht schon niemand mehr. Es beginnt ein an­ deres Leben, gut oder schlecht, aber ohne euch. Denk nur an das Philo­ sophenschiff! Es fuhr auch ohne seine Passagiere. Du hast dich in deinem Philosophen-BMW davongemacht ... (die russische Seele bricht in wildes Gelächter aus) AUTOR: Ich werde die russische Kultur verteidigen. RUSSISCHE SEELE DES AUTORS: Musste man erst aus dem Toten­ haus fliehen, um sich selbst in eine tote Seele zu verwandeln? AUTOR: Mein Antrieb besteht jetzt darin, dass man die Russen in Europa auf viele Jahre hinaus hassen wird. Da hab ich genug zu tun. Krieg hin oder her, aber die russische Kultur trifft keine Schuld. RUSSISCHE SEELE DES AUTORS: (hinterhältig) Und die Russen selbst? AUTOR: Tja, das ist was anderes…

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27. Mariupol

Plötzlich ist die schreckliche Vision aus der Geburtsstation in Mariupol zu sehen. In der Tür steht der Große Gopnik. Wieder beginnt die Szene „Mein Lieber“. TATJANA IWANOWNA: Mein Lieber, ach mein Lieber, Lieber, bevor die Russen in die Stadt kamen, nach einem Luftangriff, da haben uns Soldaten zwei schwer verletzte Frauen auf Tragen gebracht. DER GROSSE GOPNIK: (murmelt überzeugt, mit den Kiefern mahlend) Das war euer Luftangriff, es war euer Luftangriff, der Luftangriff, der war von euch. TATJANA IWANOWNA:Der einen Frau hat es das Muskelgewebe an den Beinen zerfetzt. Die andere nannten sie Nika. DER GROSSE GOPNIK: Das ist aus einer Zeitung, aus einer feindlichen Zeitung. (geht auf die Provokation nicht ein) Ich weiß. Drecksgeschmiere ... (brüllt) Es reicht.

28. Vision des Sieges

IWAN: Genosse Oberbefehlshaber, wir haben alle besiegt. Russland kennt keine Grenzen. DER GROSSE GOPNIK: (ans Publikum) Und euch erobere ich auch noch... Herrschaften, wisst ihr, was ein heiliger Krieg ist? Der Krieg des Guten gegen das Böse. Ich habe den metaphysischen Knoten durchschla­ gen ... Licht hat sich über die ganze Welt ergossen. Ich befehle ... trinken wir erstmal auf den Sieg. ASSISTENT MIT BART: Ganz umsonst hat man den Amerikanern Chips eingepflanzt. Hat nichts gebracht! SCHWESTER O.: Da es sich hier um eine Vision handelt, lade ich alle ein. Autor! Her mit dem Autor! AUTOR: Ich bin in der Emigration. SCHWESTER O.: Egal. Weg mit der Wirklichkeitstreue. Um die Schaubude versammeln sich alle Schauspieler, die im Stück mitgespielt haben. Darunter der Autor, der Kleine Nächtliche Stalin, Polina usw. DER GROSSE GOPNIK: (winkt den Autor mit einem Finger zu sich) Sei mir gegrüßt, alter Freund. Wie geht’s? Was schreibst du denn so? AUTOR: Ich beende gerade das Buch über Sie. Ein Buch über die russi­ sche Schuld. DER GROSSE GOPNIK: Russische Schuld? Die gibt es nicht. AUTOR: Genau darüber werde ich schreiben. DER GROSSE GOPNIK: Ah! Er ist auf unsere Seite rübergewechselt! Gratuliere. AUTOR: (schüttelt den Kopf) Wenn ein Schwein im Schlaf sein Ferkel er­ drückt, ist es dann etwa schuldig? ASSISTENT MIT BART: (an den Gr0ßen Gopnik) Das sagt nicht er – das sendet sein amerikanischer Chip. SCHWESTER O.: (an den Autor) Trinken wir lieber Champagner. Auf den Sieg! AUTOR: (nachdenklich) Ja, das ist dein Sieg... der Sieg des Todes... ASSISTENT OHNE BART: In Moskau hab ich kein einziges Mal gespürt, dass da irgendein Krieg im Gang ist. Restaurants, Mädels, das ganze Pro­ gramm! Außerdem haben wir heuer eine Rekordernte. Bei mir auf der Datscha hat’s noch nie so viele Antónowka-Äpfel gegeben! Ein wahres Wunder! IWAN: Gute Apfelernte? Das gibt Krieg. Und all das Blut? Na und? Fein­ desblut – das bringt Freude! Alle gratulieren dem Großen Gopnik zum Sieg. Währenddessen taucht unter den Gästen die Mama des Autors auf. Der Autor sieht sie an. AUTOR: Mama, was machst du hier? Du bist doch vor zehn Jahren ge­ storben. MAMA: Gleich, mein Sohn. Wirst schon sehen.

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Stück Viktor Jerofejew SCHWESTER O: Mama schießt präzise auf den Großen Gopnik. Der Große Gopnik fällt auf die Stufen. Alle stehen unter Schock. SCHWESTER O.: Und was wird jetzt aus Russland? AUTOR: Uff ...! Keine Ahnung. MAMA: (seelenruhig) Wo ist dieser Kleine Nächtliche Stalin? (blickt sich um) Den müsste man auch gleich... in einem Aufwasch. Plötzlich erwacht der Große Gopnik wieder zum Leben, springt auf. DER GROSSE GOPNIK: Ihr glaubt wohl, ich sei tot? Darauf könnt ihr lange warten! Ich fordere Rache für den Terroranschlag, den die Amerika­ ner ausgeheckt haben. Wie ich vermute. Ich befehle den weltweiten Atom­ krieg. Warum schreit ihr nicht hurra? Alle schweigen. DER GROSSE GOPNIK: (kreischt) Hurra! Schreit alle hurra! Ich befehle, massive Atomschläge auf die wichtigsten Städte der USA auszuführen. In Europa auf Paris, London, Berlin! ASSISTENT MIT BART: Dank sei unserem russischen Gott... Bloß War­ schau haben Sie vergessen. DER GROSSE GOPNIK: Stimmt! Ja, natürlich, auch dieses verdammte Warschau muss weg. ASSISTENT MIT BART: Und Kiew? DER GROSSE GOPNIK: Na klar! Wir rächen unsere gefallenen Jungs! Ade, Europa! Die Welt wird nie wieder so sein wie früher. Ein Anruf aus Peking? Die können warten. Wer ist dran? Indien? Abschmettern! Die, die überleben, falls sie überleben, können alle warten. Freunde, das nenne ich Glück! Verschwindet in der Schaubude. Plötzlich bricht unter schrecklichem ­Getöse die Schaubude zusammen. Die Schaubude ist zerstört, das Karussell kaputt – Schwester O. hat die Schaubude samt dem Großen Gopnik vernichtet. SCHWESTER O.: Diesmal ist alles vorbei. Ade, Großer Gopnik!

29. Himmel

IWAN: Wo bin ich hier gelandet? Bist du das etwa, Taras? TARAS: Uns haben sie wohl beinahe gleichzeitig getötet. IWAN: Ich habe dich nicht getötet. TARAS: Doch, hast du. Du hast die Ukraine zerstört, also hast du auch mich getötet. IWAN: Lass man gut sein... Wo sind wir hier? TARAS: Im Himmel. Aber wie bist du hierhergekommen? Du bist doch ein Raschist! ((Anm.d.Ü.: Kombination aus eng. Russian und Faschist)) IWAN: Und du Bandéra-Anhänger, wie bist du denn in den Himmel ge­ kommen? TARAS: Wo hat man dich getötet? IWAN: Dumme Geschichte! Ich bin in diesem Butscha gewesen, von dem jetzt alle reden. TARAS: Hast du in Butscha friedliche Zivilisten vergewaltigt und getötet? IWAN: (winkt ab) Hör mir bloß auf damit! Ja, einmal, im Suff. Der Kom­ mandant und ich, wir sind in ein Haus rein. Und er sagt zu der Frau: Der Soldat will dich ficken. Ich sage, nö, wir wollen nur was zu saufen. Habt ihr was da? Die Frau stellt ein großes Einmachglas mit Selbstgebranntem auf den Tisch. Was will man mehr? Aber der Kommandant: Iwan, fick sie, ich will euch dabei zugucken! Ich sage nein, aber er brüllt los: Das ist ein Befehl. Los, ausführen! Besoffen, klar. Da taucht der Ehemann der Frau auf. Schämt ihr euch nicht? Sie könnte eure Mutter sein. Genau, sagt der Kommandant, fick deine Mutter! Wir sind besoffen. Wir töten ihn. Die Frau zittert, weint, ich führe den Befehl aus, ich ficke sie. Du glaubst es nicht, ich bin sogar gekommen! Bei dem ganzen Tohuwabohu. Kurzum, der Kommandant sagt: He, das war geil, Iwan, hast dir einen Orden verdient! Und zieht seine Pistole. Will Olena erschießen. So hieß

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die Frau. Ich sage, vielleicht ... muss das sein ...? Er überlegt und sagt: na gut, dann fick ich sie jetzt auch, und danach verpass ich ihr eine Kugel. Er nähert sich ihr, sie schreit. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Drei Mal hab ich auf ihn geschossen. TARAS: Ah ja. Dafür haben sie dich wohl hier reingelassen... IWAN: Und er, stell dir das mal vor, er hat mir noch, bevor er gestorben ist, durchs Bein geschossen ... Hab geblutet wie ein Schwein. Hab’s nicht überlebt. TARAS: Wie ich euch hasse, eine wilde Horde, das seid ihr! Kämpft hin­ terhältig und gemein, für Geld. Und euer Großer Gopnik... zum Kotzen. Obwohl, ohne es zu wollen, hat er aus der Ukraine eine geeinte Nation gemacht. Man müsste in Kiew, im Stadtteil Pódil, ein Denkmal für ihn aufstellen, das auf dem Kopf steht – er wollte das eine und hat das andere bekommen. IWAN: Ich sag dir mal was. Mir haben die Jungs erzählt, dass wir alle von einer jüdischen Weltregierung beherrscht werden, und die hat uns und die Ukraine entzweit. TARAS: Mann, bist du unterbelichtet. IWAN: Und du, mein Freund, wie bist du hierhergekommen? TARAS: Ich bin nicht dein Freund... Ich war Scharfschütze, hab viele von euch abgeknallt, aber dann hat’s auch mich zerrissen. Hier im Himmel haben sie mich wieder zusammengeflickt, hätt ich nie gedacht. Ich glaub, Gott ist auf unserer Seite. IWAN: (schüttelt den Kopf) Vergiss es, hier gibt’s überhaupt keinen Gott! TARAS: Aber wir sind doch hier im Himmel. IWAN: Aber der ist leer! Was ich nicht alles dabei hatte... Jede Menge Glücksbringer, alle möglichen Kreuzchen, Armbändchen und kleine Ikonen ... Nichts davon hat funktioniert. Tot bin ich trotzdem. Der ­ ­Himmel ist leer! Ein Büfettfräulein tritt auf, schiebt einen Büfettwagen. BÜFETTFRÄULEIN: Tee, Kaffee, Jungs... Schokoladeneis, Vanille, Erdbeer... IWAN: Guck an, ein Büfett haben sie hier auch. Habt ihr Wodka da? BÜFETTFRÄULEIN: Haben wir. IWAN: Ah ja. Na dann schenk ein! BÜFETTFRÄULEIN: Der Wodka ist aber alkoholfrei. Mit oder ohne ­Kohlensäure? IWAN: Ich geb dir gleich mit oder ohne! Sauberer Himmel, das – ohne Wodka! Na dann für mich einmal Schokoeis! Iwan isst das Eis. IWAN: (schnüffelt) Schon wieder riecht es nach Birkenwind – dieser Wind, das ist Russlands Stärke. TARAS: Der Krieg ist zu Ende. IWAN: Welcher Krieg? TARAS: Welcher Krieg? IWAN: Es gab überhaupt keinen Krieg... TARAS: Schämst du dich nicht? Ihr Russen, ihr alle seid schuld an diesem Krieg. IWAN: Es gab überhaupt keinen Krieg ... TARAS: Idiot. IWAN: Selber Idiot! Ich hab alles vergessen.

– ENDE – Theater der Zeit 5 / 2024


Theater der Zeit

Foto Credit: picture alliance/dpa | Hannes P Albert

Diskurs & Analyse

Berliner Clownin im öffentlichen Raum

Voices Zur Gestaltung einer feministischen Clown-Praxis Serie Schlaglichter #05: Franziska Wenning: parousía / Verspätung Serie Post-Ost: Kollektiv  (AT): Vom Ringen mit der Herkunft

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Erin Pettifor bei ihrer Solo-Clownshow „Stigma, Pistil and Style“ in der Regie von Jacqueline Russell

Im Chaos tanzen Zur Gestaltung einer feministischen Clown-Praxis

Fotos Brianne Jang BB Collective

Von Jacqueline Russell

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Diskurs & Analyse Neuer Zirkus Im Herbst 2020 lud mich Erin Pettifor ein, bei ihrer Solo-Clownshow „Stigma, Pistil and Style“ Regie zu führen. Unsere gemeinsame Leidenschaft für feministische Forschung und schamlose Clownsarbeit brachte uns zueinander, um eine Show zu kreieren. Mit Vergnügen erkundeten wir unsere persönliche und politische Beziehung zu Lust, sexueller Handlungsfähigkeit, körperlicher Autonomie und reproduktionspolitischer Gerechtigkeit. Das E ­ rgebnis unseres Schaffensprozesses war eine Show, die das ­Publikum als „zutiefst nachvollziehbar und wahnsinnig witzig“ bezeichnete. „In einer Einzelkabine in der Toilette eines Nachtclubs wartet Vooma auf das Ergebnis ihres Schwangerschaftstests. Während die Minuten vergehen, beginnt ihr Körper, sich zu bewegen, sich auseinander zu setzen, freizulegen und aufzuwachen. Das Stück tanzt durch das kosmische Chaos und fragt, wie wir inmitten des unerbittlichen Trubels der Welt tief in uns hineinhören können.“1 Das Stück entstand während des andauernden Kampfes um den Erhalt von Gesetzen zum Schutz von Abtreibungsrechten, Reproduktionsrechten, sexueller Gesundheit und Sexualerziehung, und ebenso als Reaktion darauf. Die Wörter im Titel, „Narbe“ („Stigma“), „Blütenstempel („Pistill“) und „Griffel“ („Stylus“), beziehen sich auf die Anatomie der Fortpflanzung von Blumen. Der Titel des Stücks erinnert an die reiche Geschichte der Blumensymbolik als weibliche Sexualmetapher von Georgia O’Keeffe bis Frida Kahlo und verweist spielerisch auf die gesellschaftliche Stigmatisierung, mit der sowohl der Feminismus als auch die Clownerie häufig konfrontiert sind. Die Schnittmenge von Clownswissen und feministischem Denken war der Schwerpunkt meiner Masterarbeit „Feminist Clowning: Serious Pleasures and Strategic Possibilities“. Dieses Projekt ermöglichte es mir, diese Forschung fortzusetzen und zu untersuchen, wie wir feministische Clownsarbeit definieren und gestalten könnten.

Die feministische Clown2 In ihrem Buch „Feminism Is for Everybody: Passionate Politics“ definiert bell hooks Feminismus als „eine Bewegung zur Beendigung von Sexismus, sexistischer Ausbeutung und Unterdrückung“, und so zielt die feministische Clown darauf ab, alle Formen der Unterdrückung zu stören, zu provozieren, zu parodieren und zu hinterfragen. Es drängt sich die Frage auf, ob das nicht alle Clowns tun. Meiner Erfahrung nach machen sie das nicht. Einige Clowns evozieren zwar Staunen, Verwunderung und Spielfreude, und das ist auch wesentlich und bedeutsam, aber sie setzen sich nicht aus einem kritischen Blickwinkel mit der Welt auseinander. Ich habe Clowns erlebt, die die Narrative der Unterdrückung verstärken, indem sie die Ausdrucksmittel und Stereotypen der Herrschaft nutzen, um ihr Publikum zum Lachen zu bringen. Ich möchte auch klarstellen, dass nicht alle weiblichen Clowns von Haus aus feministische Werke schaffen. Wie bell hooks feststellt, besteht eine der Tücken der feministischen Bewegung darin, dass „alles, was mit dem weiblichen Geschlecht zu tun hat, als feministisches Terrain angesehen wird, auch wenn es keine feministische

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Clowns befinden sich in einem Grenzbereich. Sie existieren „sowohl innerhalb als auch außerhalb der dramatischen Fiktion“.

Perspektive enthält“. In der zeitgenössischen Clownspraxis gibt es viele männliche und nicht-binäre Clowns, die sich in der feministischen Clownsarbeit engagieren. Indem ich mich auf Forschende und Praktizierende der Clownerie sowie auf mein eigenes konkretes Wissen als Clown stütze, habe ich drei wesentliche Qualitäten der Clown und die Art und Weise, wie sie sich mit der feministischen Theorie überschneiden, identifiziert. So kann dann eine Hypothese formuliert werden, wie wir den Begriff „feministische Clownerie“ definieren könnten. Nach meiner Definition bewegt sich feministische Clownerie im Grenzbereich, ist kritisch und verspielt. Ich denke, dass diese Elemente anhand von feministischer Theorie und Kritik, insbesondere feministischer Theaterkritik, untersucht werden können, um feministische Clownsstrategien zu identifizieren und zu entwickeln. In „A Concise Companion to Feminist Theory“ stellt Sara Ahmed fest, dass das, „was feministische Interventionen charakterisiert, die Annahme einer notwendigen Verbindung zwischen Theorie und Praxis ist, zwischen dem Verständnis dessen, was wir zu transformieren versuchen, und den Handlungsformen, die eine solche Transformation ermöglichen“. In diesem Artikel versuche ich, Verbindungen zwischen Denkweisen über Feminismus und der gelebten Clown-Praxis herzustellen, um herauszufinden, was sich aus diesem Zusammenspiel von Theorie und Praxis zeigt, was die feministische Clown ist. Clowns befinden sich in einem Grenzbereich. Sie existieren „sowohl innerhalb als auch außerhalb der dramatischen Fiktion“, und, wie Donald McManus in „No Kidding! Clown As Protagonist in Twentieth-Century Theatre“ nahelegt, sie kommentieren die Handlung häufig ebenso innerhalb wie außerhalb der Erzählung. Was diese Grenzgänger-Qualität in der Clownperformance ausmacht, ist die Beziehung zwischen Clown und Publikum. Man spielt eine Clownsfigur nicht auf dieselbe Art und Weise, wie man Julia spielt, mit einer klaren Abgrenzung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum. Man „spielt“ die Clown überhaupt nicht. Die Clown und die Person sind untrennbar. Der europäische Clownslehrer Jacques Lecoq war der Ansicht, dass „man kein Clown für das Publikum sein kann; man spielt mit einem Publikum “3. Der kanadische Clownslehrer John Turner führt weiter aus: „Der Clown ‚existiert‘ nicht ohne Publikum [...] der ganze Akt des Clowns ist ein Gespräch.“4 Die meisten zeitgenössischen feministischen Theatermacherinnen verfolgen einen disruptiven Ansatz für den performativen Raum und durchbrechen die Konvention der vierten Wand. In der Clownperformance allerdings gibt es gar keine vierte Wand, die man durchbrechen könnte. In „Impossibility Aside: Clowning and the Scholarly Context“ erklärt Julia Lane, dass für eine Clown die vierte Wand nicht vorhanden ist, weil es „im Clowntheater oft

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Diskurs & Analyse Neuer Zirkus nicht einmal eine erste, zweite oder dritte Wand gibt. Die Aufführung des Clowns findet in einer Welt statt, aber es ist eine Welt, die nicht notwendigerweise durch die (physischen oder unsichtbaren und mit Phantasie erschaffenen) Wände des Aufführungsraums begrenzt ist; es ist eine Welt, die sowohl den Clown als auch das Publikum einschließt, die denselben Raum teilen, und zwar auf intime Weise“. Zu Beginn von „Stigma, Pistil and Style“ kommt Vooma durch den Publikumsraum herein. Mit einem Handtuch in der einen und einem Tablett mit Drinks in der anderen Hand tanzt sie sich durch die Menge und verkörpert das „Partygirl“ schlechthin. Sie beginnt eine lustige, energiegeladene Unterhaltung mit dem Publikum. Sobald sie im Toilettenraum (Bühne) ankommt, der mit Klopapier und Müll bedeckt ist, verändert sich das Gespräch. Voomas Kommunikation mit dem Publikum läuft nun über anzügliche Blicke und sie fragt die Menge tonlos, wer von ihnen hier so eine schreckliche Sauerei angerichtet hat. Nachdem sie die Verwüstung aufgeräumt hat, geht das Gespräch weiter, als sie sich auf die Toilette setzt und einen Schwangerschaftstest herauszieht. Dieser private Akt (die Durchführung eines Schwangerschaftstests) in einem öffentlichen Raum (der Toilette eines Nachtclubs) lässt die räumlichen Grenzen weiter verschwimmen. Voomas wiederholte Aufforderung an das Publikum „Guckt weg!“, während sie auf das Stäbchen pinkelt, bestätigt die Realität ihrer Situation und kommentiert die Art und Weise, wie der Blick des Gesetzgebers und der Öffentlichkeit bei privaten Entscheidungen rund um selbstbestimmte Fortpflanzung ständig präsent ist. Lane setzt das Konzept des magischen Raums in der Clownperformance in Bezug zu Räumen des Engagements, die in der feministischen Forschung ausgelotet wurden, etwa von bell hooks, die in „Teaching to Transgress“ von einem Raum „am Rande“ spricht, „der ein Ort der Kreativität und der Kraft ist, dieser ­inklusive Raum, in dem wir uns erholen und uns solidarisch verbinden“. Ich stimme mit Lanes Assoziation dieser Räume überein: Die grenzüberschreitende Natur der Clowns, die die traditionellen Regeln des mimetischen Raums im Theater überschreiten, spiegelt Prozesse in feministischen Denkweisen wider, welche die Binärstrukturen von sozialen und kulturellen Ideologien und Diskursen verwischen. Auf diese Weise kann die feministische Clown strategisch die Art und Weise ausnutzen, in der die „Störung der mimetischen Konventionen“, wie McManus vorschlägt, „in der Regel eine Störung der kulturellen Normen impliziert, und die Schwierigkeiten des Clowns mit den kulturellen Normen führen oft dazu, dass er die mimetische Konvention stört“. Indem sie mit dem Publikum spielt, verwickelt die feministische Clown ihr ­Publikum in ein Gespräch mit Möglichkeiten zur Veränderung.

Eine der Regeln der Clownperformance ist es, die „Clownslogik“ anzuwenden. Die Clownslogik ist eine Art, die Welt zu betrachten, die scheinbare Realitäten außer Kraft setzt. 66

Verwende Clownslogik! In „The Feminist Spectator as Critic“ untersucht Jill Dolan, wie „der feministische Performance-Kritizismus im Bemühen um einen kulturellen Wandel als politische Intervention fungiert, da er die Art offenlegt, wie die herrschende Ideologie durch Performance fest verankert wird, indem der ideale Zuschauer angesprochen wird“. Fünfundzwanzig Jahre später räumt Dolan in „The Feminist Spectator in Action“ ein, dass sich „seit 1988 sehr wenig geändert hat“, als sie zum ersten Mal argumentierte, „dass der Blick nach wie vor unverhohlen männlich ist“. Die Aufgabe der feministischen Kritikerin war und ist es daher, „den männlichen Kontrollmechanismus über das, was als universell oder sogar beachtenswert angesehen wird“ zu durchbrechen, indem sie andere Sichtweisen auf die Welt aufzeigt. Eine der Regeln der Clownperformance ist es, die „Clownslogik“ anzuwenden. Die Clownslogik ist eine Art, die Welt zu betrachten, die scheinbare Realitäten außer Kraft setzt. Eine Clown kann nach unten schauen und feststellen, dass sie die Schuhe an den falschen Füßen hat. Anstatt die Schuhe auszuziehen, könnte sie das Problem schnell lösen, indem sie die Position ihrer Füße ändert, was sowohl lustig ist als auch die Idee der „falschen“ Füße verkompliziert. Für das Publikum mag es immer noch „falsch“ aussehen, aber für die Clown sieht es richtig aus. Auf diese ­Weise löst die Clown Probleme, indem sie die Welt auf eine andere ­Weise betrachtet. In dieser Logik liegt der kritische Charakter der Clownperformance. Das Bühnenbild von „Stigma, Pistil and Style“ besteht aus einem großen weißen Keramiktopf (WC-Schüssel), der von neun kleinen weißen Blumentöpfen umgeben ist, die in einem Halbkreis angeordnet sind und jeweils eine Blume enthalten. Während des gesamten Stücks wird Vooma durch das Geräusch summender Insekten zu den Blumen gelockt, und wenn sie an ihnen riecht, dringt eine tiefempfundene Erinnerung in ihren Körper ein, die sie in einen Traumzustand versetzt, in dem sie von den „Regeln“ des Frauseins berichtet. „Regeln, nach denen man leben sollte“, von Vooma Shearth, 14 Jahre: „Meistere die Kunst, nein zu sagen, ohne nein zu sagen.“ Nachdem sie, untermalt von Gesten, demonstriert hat, wie man „Nein“ sagen kann, ohne „Nein“ zu sagen, („Erstens: Lügen. Zweitens: Sag, mein Vater hat es verboten. Drittens: Hysterisch lachen“), wendet sich Vooma an das Publikum und fragt: „Wer ist zu einer kleinen Trainingseinheit bereit?“ Im Einvernehmen mit den Zuschauer:innen, die das Spiel mitmachen wollten, stellt Vooma Szenarien dar, in denen männliche Darsteller Dinge sagen wie „Hey, du solltest dich im Bus neben mich setzen“. Wenn der Zuschauer versehentlich nein sagt, gibt Vooma ihm Tipps, wie er sein Spiel verbessern kann. Wenn die Zuschauer erfolgreich „Nein“ gesagt haben, ohne „Nein“ zu sagen, lädt Vooma das gesamte Publikum zum Feiern ein. Damit kritisiert sie die Art und Weise, wie Frauen sozialisiert und dazu angehalten werden, männliche Gefühle zu schützen, indem sie in einem mühsamen Spiel, das unmöglich zu gewinnen ist, indirekt kommunizieren.

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18. – 22. Juni 2024 Akademietheater München

McManus erklärt: „Eine gute Clownsnummer wird in der Regel dadurch aufgelöst, dass der Clown eine Lösung für das anstehende Problem findet, die das Publikum überrascht, weil sie entweder nicht die Lösung ist, die es sich vorgestellt hatte, oder weil sie die gerade verwendete Theaterkonvention bricht. Die Lösung kann das Problem neu definieren.“ Indem sie überraschende Lösungen anwenden, um Probleme neu zu definieren, üben Clowns eine kritische Praxis aus, die eine politische Metapher miteinschließt, da, so McManus, „die Beziehung des Clowns zur Struktur der mimetischen Welt ihr Äquivalent in der Machtstruktur der nicht-theatralischen Welt hat“. Somit engagiert sich die feministische Clown in einer Praxis, die verschiedene Arten der Weltsicht aufzeigt, sowohl als Clown als auch als Kritikerin. T Aus dem Englischen von Franziska Pack

Schauspiel mit Texten aus Kassandra von Christa Wolf und Der Untergang von Walter Jens nach Euripides 089 2185 1970 www.theater akademie.de

KASSANDRA

Echos aus Troja

1 Pettifor, Erin: „Stigma, Pistil, and Style“. Pressemappe. Calgary 2022. 2 In der Originalarbeit und somit auch in diesem Artikel verwende ich, wo immer es möglich ist, die Pronomen „sie/ihr“, um auf Clowns zu verweisen. Andere Wissenschaftler:innen wie Delphine Cézard verwenden das französische Wort „clowne“ oder „clownes“, um weibliche Clowns zu bezeichnen. Cézard merkt jedoch an, dass das Wort „clowne“ „nicht der vorgeschlagenen mündlichen Änderung entspricht und Frauen in dieser Kunstform weiterhin unsichtbar bleiben“. Meine Verwendung der Pronomen „sie“ und „ihr“ soll weder nicht-binäre Clowns ausschließen noch Männer aus dem

das Weibliche in einer Untersuchung über Clownerie in den Mittelpunkt zu stellen? Vgl.: Cézard, Delphine: „Are Female Clowns Politically Incorrect? A Case Study on Female Clowns’ Political Engagement at the 7th ‚Esse Monte de Mulher Palhaça‘ festival in Rio de Janeiro“. In: Cadernos de Arte e Antropologia. Vol. 9, no. 1. Uberlandia 2020, S. 29–46. Anmerkung der Redaktion: Aus diesem Grund wurde in der Übersetzung die sprachlich noch ungewöhnliche Kombination von „die Clown“ gewählt. Bei den Zitaten wurde in der deutschen Übersetzung der männliche Artikel und das entsprechende Pronomen beibehalten. 3 Zitiert nach Peacock, Louise: „Serious Play: Modern Clown Performance“. Bristol 2009, S. 33. 4 Zitiert nach Lane, Julia: „Impossibility Aside: Clowning and the Scholarly Context.“ Dissertation. Simon Fraser Universität 2016, S. 5.

Flurstücke tival im Stadtraum Münster

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Theater Tanz Performance Kunst i t t frei

Das CircusDanceFestival mit dem Titel „Re-Inventing Circus. Zeitgenössischer Zirkus zwischen Erbe und Erneuerung“ findet vom 16. bis 20. Mai in Köln statt. Eine längere Fassung dieses ­Beitrags ist in der aktuellen Ausgabe von VOICES erschienen.

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wusstes Experiment auf der Suche nach einem Gefühl. Wie fühlt es sich an,

Fes

Bereich der feministischen Clownerie ausschließen. Vielmehr ist es ein be-

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27.–30.6.24


Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #05

Schlaglichter # 05 parousía / Verspätung Warten als Agens Von Franziska Wenning

Mit unserer Open-Call-Reihe „Schlaglichter“ laden wir Studierende und Berufsein­steiger:innen dazu ein, eigene Denkräume zu eröffnen, Wünsche und Träume zu teilen und die Zukunft des Theaters in ihrem Können und Sollen zu erkunden. Auf diesem Weg möchten wir jungen, bislang ungehörten Stimmen Gehör verschaffen und einer sowohl künstlerischen als auch diskur­siven Ausein­andersetzung mit gegenwärtigen Themen des Theaters einen selbst­ bestimmten Raum bieten.

1 Flur zur Probebühne, großes (namhaftes) Haus. Regiepraktikantin, Spielleitung REGIEPRAKTIKANTIN Guten Morgen! SPIELLEITUNG

2 Erste Probenwoche, Tag 2 Probenbeginn 10h, Probebühne

Franziska Wenning, geboren 1994 in Landsberg am Lech, studierte von 2016-2022 Schauspielregie an der HfS „Ernst Busch“ Berlin. 2019 wurde ihre Inszenierung „Hier kein Sex“ von Elias Kosanke zur Autorenwerkstatt des Deutschen Theaters Berlin (Box) eingeladen. Zudem realisierte sie ein Hörspiel für den Deutschlandfunk („Olessja“ nach Alexander Kuprin). 2022 schloss sie ihr Studium mit der Diplominszenierung „Konzil“ nach Djuna Barnes, Molière und Fassbinder ab, die sich thematisch mit dem Thema Gottes-und Glaubensverlust beschäftigte.

Spielleitung 1, Spielleitung 2, Spielleitung 3, Sänger:innen (eingesungen), Dramaturg, Dramaturgiepraktikant, Regiepraktikantin, Regiepraktikant, Dirigent, Korrepetitor, Choreograf, Tänzer:innen (aufgewärmt).

10h15, Probebühne

Auszug. Den vollständigen Text finden Sie unter tdz.de

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Spielleitung 1, Spielleitung 2, Spielleitung 3, Sänger:innen (eingesungen), Dramaturg, Dramaturgiepraktikant, Regiepraktikantin, Regiepraktikant, Dirigent, Korrepetitor, Choreograf, Tänzer:innen (aufgewärmt).

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #05 10h30, Probebühne Spielleitung 1, Spielleitung 2, Spielleitung 3, Sänger:innen (eingesungen), Dramaturg, Dramaturgiepraktikant, Regiepraktikantin, Regiepraktikant, Dirigent, Korrepetitor, Choreograf, Tänzer:innen (aufgewärmt).

Dritte Probenwoche, Tag 2 10h5, Probebühne Spielleitung 1, Spielleitung 2, Spielleitung 3, Sänger:innen (eingesungen), Dramaturg, Dramaturgiepraktikant, Regiepraktikantin, Regiepraktikant, Dirigent, Korrepetitor, Choreograf, Tänzer:innen (aufgewärmt).

10h20, Probebühne

10h35, Probebühne Spielleitung 1, Spielleitung 2, Spielleitung 3, Sänger:innen (eingesungen), Dramaturg, Dramaturgiepraktikant, Regiepraktikantin, Regiepraktikant, Dirigent, Korrepetitor, Choreograph, Tänzer*:nnen (aufgewärmt).

Spielleitung 1, Spielleitung 2, Spielleitung 3, Sänger:innen (eingesungen), Dramaturg, Dramaturgiepraktikant, Regiepraktikantin, Regiepraktikant, Dirigent, Korrepetitor, Choreograf, Tänzer:innen (aufgewärmt).

SPIELLEITUNG 1 Regisseur lässt ausrichten: ist verhindert und kommt nachmittags.

SPIELLEITUNG 1 Regisseur (namhaft) lässt ausrichten: ist verhindert.

Erste Probenwoche, Tag 3 10h15, Probebühne

Macht ist Seite/n füllen können. Mit dem, was man schuf. Indem sich der Schaffende verspätet hat, sollen die Seiten den Wartenden gehören. Indem sich die Anwesenheit des Schaffenden verzögert hat, sollen die Wartengelassenen ihr Warten auf den Seiten erschienen sehen. Und das Warten soll auftreten ihr Auftreten sein ihr eigenes Ankommen sein und seine Dauer soll lesbar sein. Gut. Indem der Schaffende Wartende geschaffen hat, ohne sie zu sehen, kommt er nicht und kommt er zu spät, um auf deren Seite zu stehen.

Spielleitung 1, Spielleitung 2, Spielleitung 3, Sänger:innen (eingesungen), Dramaturg, Dramaturgiepraktikant, Regiepraktikantin, Regiepraktikant, Dirigent, Korrepetitor, Choreograf, Tänzer:innen (aufgewärmt). SPIELLEITUNG 1 Regisseur lässt ausrichten: ist verhindert.

based on reality (ohne Namen).

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Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost

Julia Gebhardt, Marie Gedicke und Lina Wölfel in „Identität(p)ost“, eine Performance von Kollektiv (AT)

Vom Ringen mit der Herkunft Foto Christel Clerc

Von Julia Gebhardt, Marie Gedicke, Lina Wölfel / Kollektiv (AT)

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Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost Im Superwahljahr 2024 mit Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg (am 1. und 22. September) laufen die Diskussionen über den Osten Deutschlands auf Hochtouren. Meist geht es dabei nur um eins: Wie viel rechts geht oder darf noch? Und damit verrutscht schon der Blick. In dieser neuen Serie meldet sich die Gene­ration Post-Ost zu Wort, also Menschen, die von der Herkunft aus Ostdeutschland, aber nicht mehr direkt durch die DDR geprägt sind, Leute aus den verschiedensten Theaterberufen sowie bereits renommierte Autor:innen und Journalist:innen.

Die folgenden Texte bilden einen Ausschnitt aus dem Skript der Performance „Identität: (p)ost“ des Kollektivs „Kollektiv (AT)“. In der autobiografischen Performance fragt sich das Kollektiv, welche Rolle den Nachwendekindern im aktuellen politischen Diskurs um „Ostdeutschland“ zukommt. Wie viel von einer ostdeutschen Identität steckt in uns? Wo durchkreuzt Geschichte die Gegenwart und wann wird Geschichte Teil einer Identität, die diese nie erlebt hat? „Identität: (p)ost“ ist eine performative Reise durch Kindheitserinnerungen, Familienbiografien und Wut der Performerinnen. Die abgedruckte Szene bildet nicht nur im Zeitrahmen der Aufführung den Moment der Peripetie. Man stelle sich die Performerinnen in schwarzen Anzughosen mit weißem T-Shirt, weißen Sportsocken und weißen Sneakern sowie einem kobaltblauen Scrunchie-Haarband vor. Die Texte entspringen einem dokumentarischen Projekt und werden hier als Material veröffentlicht.

Julia Gebhardt Ich befand mich auf einer Party in der Nähe von Braunschweig. Da waren viele Landwirte, kleinkarierte Hemden und eine Menge Bier. Auf der Party herrschte generell eine eher derbe Stimmung und je später der Abend, desto alkoholischer wurden die Gespräche. Irgendwann fand ich mich in einer Unterhaltung über die AfDWahlergebnisse in Ostdeutschland wieder. „Es sind ja alle Nazis da drüben“, ertönte es, gefolgt von zustimmendem Gemaule. Mich ärgerte die pauschale Aussage, dieser abfällige Ton, dieses unkonkrete Benennen, als sei der Teil von Deutschland immer noch etwas anderes als dieser – in der Nähe von Braunschweig. Als sei der Teil von Deutschland irgendwo anders, also gehöre es

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nicht zu diesem Rest. Und als hätte man damit nie etwas zu tun haben müssen. Was offensichtlich nicht stimmen kann, weil ich von da drüben nach hier drüben gekommen bin und mich jetzt hier in einem Gespräch mit Menschen von hier drüben über da drüben befand. Also kramte ich mein ganzes politisches, soziologisches und geschichtliches Wissen zusammen und versuchte, die Person im kleinkarierten Hemd so richtig an die Wand zu ­argumentieren. Ich glaube, ich wurde auch sehr laut. Ich erklärte ihnen, wie das ist, dass meine Großeltern mehrere Karrieren aufgeben mussten, dass ganze Betriebe geschlossen und Bahnstrecken abgebaut wurden, dass man sich einerseits orientierungslos und arbeitslos in einer neuen Welt wiederfand, dass aber auch die harten Grenzen des Regimes endlich weg waren. Ich erklärte ihnen, dass Strukturschwäche und Rechtsradikalismus beste Freunde sind und dass dies kein ostdeutsches Problem ist, sondern vielleicht eher eine Konsequenz der schnellen Wiedervereinigung oder eine Folge von verkackter unmenschlicher Integrationspolitik in ­Europa. Ich a­ rgumentierte, dass ich doch hier bin und nicht die AfD wähle. Da schluckten mein Gegenüber und ich. Warum war ich plötzlich so laut und so emotional? Ich selbst ging doch auf die Straße gegen Nazis im Osten. Es war in dem Sinne kein Erwachen meiner ostdeutschen Sozialisierung. Es war vielmehr die erste Konfrontation mit meiner eigenen Haltung. Der Abend auf der Party war mein erster negativer Weltenwechsel-Moment, in dem ich automatisch eine Schutzhaltung einnehmen musste. Seit diesem Moment wurde ich immer sensibler, wenn jemand einen unangebrachten Vergleich über Ostdeutschland einwarf. Mein Ostbewusstsein entwickelte sich. Es war nicht immer da. Aber solche Situationen schon. Und wenn ich es ansprach, kam immer wieder der Satz: „Naja, das siehst du jetzt so, weil du kommst ja auch aus’m Osten.“

Marie Gedicke Meine halbe Familie ist nach der Wende nach Bayern gezogen, das heißt ich habe bereits früh so etwas gehört wie „Die sind in den Westen gegangen.“ Ich bin mit 19 nach Niedersachsen, also in den ehemaligen Westen gegangen. Damals haben Menschen zu mir gesagt: „In den Westen gehst du? Naja, da kommt ja selten jemand zurück.“ Auch mein Vater hat das zu mir gesagt. Einmal weg, käme ich wohl nicht wieder zurück. Ich habe in den letzten Jahren viel über diesen Satz nachgedacht. Er wollte nie aus Halle weg, aber wieso sollte das für mich gelten? Ich glaube, dass mir früh eingetrichtert wurde, dass es „den“ Westen und „den“ Osten gibt. Meine Cousine Lena ist genauso alt wie ich, wir sind beide 1997 geboren. Unsere Eltern sind in der DDR geboren und aufgewachsen. Und trotzdem sind wir verschieden großgeworden. Sie in Schmatzhausen, einem ­ kleinen Dorf in Niederbayern, ich in Halle. Wir haben beide Abitur – aber ihres war natürlich schwerer – wir haben beide studiert und a­ rbeiten jetzt beide Vollzeit. Aber als Kinder, da haben wir

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Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost uns trotzdem unterschieden. Das fing schon bei der Sprache an: ­Hallisch und niederbayerisch verstehen sich nicht gut. Außerdem hat sie andere Filme geschaut, andere Bücher gelesen und hatte andere Kindheitsheld:innen. Inzwischen sind unsere Leben fast wie ost- beziehungsweise westdeutsche Klischees. Lena spart auf eine Eigentumswohnung in München, ich bin gerade von einer WG in die nächste gezogen. Sie hat seit knapp acht Jahren einen Führerschein und ein Auto, während ich meinen Führerschein letzten Sommer gerade so bestanden habe. Ich habe meine Ostidentität also schon lange erahnt. Aber wirklich bewusst wurde mir meine sie mir erst, als ich nach Niedersachsen gezogen bin. Als ich bewusst Gespräche mit gleichaltrigen Personen geführt habe und mir Unterschiede wie die zwischen Lena und mir auf dem Tablett serviert wurden. Aber hat das wirklich etwas mit mir gemacht? Ich glaube, ich hinterfrage einfach vieles. Ich hinterfrage, inwiefern ich mich anders fühle und in welchen ­Momenten. Denn: diese Gefühle verstehe ich manchmal auch nicht. Schließlich sind wir doch alle in der BRD geboren und aufgewachsen. Grundlegend sind wir alle gleich. Aber wenn es dann in Gesprächen um den Rechtsradikalismus oder die Strukturschwäche in Ostdeutschland geht, dann bin ich auf einmal die Ostdeutsche. Die, die erklären soll, was da denn los ist. Die die Zusammenhänge verstehen und verdaulich machen soll.

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Lina Wölfel Ich war mir eigentlich schon immer bewusst, dass da eine Grenze ist. Also, dass da etwas geteilt war. Ohne aber zu wissen, was diese Teilung genau bedeutet hat. Dass mit dieser Grenze, also der Möglichkeit, sie zu übertreten, mehr verbunden ist als ein braunes Autobahnschild, das habe ich lange nicht gewusst. Ich habe mir nur selten Gedanken darüber gemacht, ob ich jetzt Ost- oder Westdeutsche bin. Ich bin auch weder Ostnoch Westdeutsch. Meine Familie kommt aus Franken. Ist also Westdeutsch. Fast alle meine Freund:innen, die Eltern meiner Freund:innen, meine Trainer:innen, Lehrer:innen, Chorleiter:innen, Wahltanten- und Onkels, Theaterpädagog:innen und wer sonst in meiner Kindheit und Jugend eine Rolle gespielt hat, kommen aus Weimar, Erfurt, Halle oder Neustadt an der Orla. Was prägt einen da mehr? Die Familie? Oder die Wahlfamilien? Und was, wenn selbst meine eindeutig westdeutsch sozialisierte Mutter von sich selbst inzwischen behauptet, ostdeutsch-resozialisiert worden zu sein? Ich spreche weder den einen noch den anderen Dialekt im Alltag. Ich bin mit thüringer und fränkischen Klößen aufgewachsen, mit Kirmse und Kärwa, mit „Noa“ und „Hoa“. Mit Geschichten über Grenzer, die meine Oma hat feuern lassen, andere, die sie nach Hause gebracht haben und Schmuggelware in Einmach­ gläsern. Ich habe das nie als Mangel erlebt, sondern immer als großes Glück. Auch kenne ich diesen Blick gar nicht. Dieses „du bist ja aus’m Osten“. Bei meinen Großeltern im Dorf war ich, wenn, dann nur das Mädchen aus der Stadt. Aus Weimar. Dieser „Metro­pole“ im Herzen Thüringens, die sich auch nicht wirklich nach Thüringen anfühlt. Da gibt es nämlich kaum Platten, man sieht und hört selten Nazis, dafür gibt es viele junge hippe Leute in noch viel hipperen Cafés. Als ich zum Studium nach Niedersachsen gezogen bin, ein paar Jahre, nachdem Pegida anfing Montagsspaziergänge zu veranstalten und drei Jahre bevor die AfD bei der Bundestagswahl in Thüringen stärkste Kraft geworden ist, hat sich das geändert. Als ich auf Partys mit „Die Nazis im Osten“ konfrontiert war, mit Unwissenheit über politische Umbruchprozesse und mit einer verallgemeinernden Ignoranz gegenüber anderen Lebenswelten, habe ich mich bewusst dazu entschieden, den Osten zu verteidigen. Und gleich danach habe ich mich gefragt: Darf ich das überhaupt? Ich bin doch eigentlich keine Ostdeutsche. Meine Familie und ich haben von der Wende doch nur profitiert. T

Synergura 2024 5. - 9. Juni

14.

Internationales

Puppentheaterfestival Erfurt. Germany

www.waidspeicher.de

Belgien Cie Focus & Cie Chaliwaté • Deutschland figuren theater tübingen, Thalias Kompagnons, Theater Waidspeicher • El Salvador / D eutschland Laia RiCa • Frankreich Cie l’Alinéa, Vélo Théâtre • Israel The Train Theater, Yael Rasooly • Italien Unterwasser Theatre Company • Slowenien Maribor Puppet Theatre • Schweiz Trickster-p • Spanien Javier Aranda • Tschechien Continuo Theatre

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Theater der Zeit

Foto Alexander Gonschior

Report

„Im Taumel des Zorns Episode 5“, Text Hannah Zufall, Regie Magdalena Schönfeld am Zimmertheater Tübingen

Zürich Die Schauspielhaus-Intendanz Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann – eine Bilanz Tübingen Mit bekannten Namen der Dramatikszene entwickelt das Tübinger Institut für Theatrale Zukunftsforschung ein Format für Serienjunkies

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Report Zürich

Kay Kysela, Anina Steiner, Thomas Kürstner, Hannah Weiss, Patrycia Ziólkowska, Ann-Kathrin Stengel, Sebastian Vogel und Niels Bormann in „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch. Inszenierung Nicolas Stemann

Ein gelungener Brandherd Die Züricher Schauspielhaus-Intendanz ­Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann – eine Bilanz Von Martin Wigger

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Was ist der Unterschied zwischen einem Herrn Biedermann – eben dem aus Max Frischs „Brandstiftern“ – und dem Verwaltungsrat eines Theaters? Herr Biedermann weiß immerhin, welchen Brand er da mitverschuldet hat, und versteht, sich schon im Vorfeld zu schützen durch sein Mitläufertum. Ein letzter Blick auf das Schauspielhaus Zürich unter der auslaufenden Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg: Zürich hat gerade einen seiner größten Hits gelandet mit eben diesem Frisch-Stück in Regie und Dramaturgie des heftig diskutierten und längst international wahrgenommenen Duos. Beide haben viel erreicht innerhalb einer Legislatur von gerade einmal fünf Jahren. Das wird ihnen in der nächsten Zeit und in dieser Weise niemand nachmachen. Ein gelungener Brandherd von Anfang an, mit dessen Feuer eine Zürcher Politik und mitunter auch ein Publi-

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Report Zürich kum nur schwer umgehen konnten. Im besten Fall hat sich die Stadt die Finger verbrannt. Im schlimmsten Fall, so wie hier in der Abschiedsinszenierung der Hausherren, ist das Schauspielhaus nun ganz bis auf das Fundament abgebrannt. Und das Publikum als Komplize einer bürgerlichen und Experimente fürchtenden Gesellschaft gleich mit. Eine „verblüffend glatt aufgehende logische Gleichung“ nennt der Südkurier die Premiere dieser jüngsten Arbeit am Haus. Und tatsächlich: Es scheint aufgegangen zu sein. Selbst die NZZ, führendes konservatives Meinungsblatt der Schweiz und massgeblich an der schlechten Berichterstattung über das Haus beteiligt, titelt verblüffend glatt: „Zum Abschied angekommen“. Nun glaubt man zu erkennen, dass die „DNA Zürichs“ auf die Bühne gelangt sei: „Ob es das latente Unbehagen der Schweizerinnen und Schweizer gegenüber den direkteren Deutschen ist, der Diskurs um die Diversität in der Zürcher Kultur, das Geld des Unternehmertums, das sein Image gern mit etwas Kulturellem aufpoliert“ – alle diese Schweizer Zuschreibungen findet die NZZ bei „Biedermann und die Brandstifter“ treffend repräsentiert. Und weint sogleich Krokodilstränen: „Warum erst jetzt?“ Die Zürcher Biedermänner gehen in ihre eigene Falle. Und dies bekanntlich nicht zum ersten Mal. Bleibt nur die Frage, ob diese Männer in ein paar Jahren – wie auch schon bei dem erfolgreich aus der Stadt vertriebenen Christoph Marthaler – dafür posthum den kantonalen Kulturpreis verleihen werden? Und ob in diesem Fall (Marthaler hatte sich feiern lassen) die Intendanten Stemann und von Blomberg ihn nicht konsequent verweigern müssten? Oder ihn – ganz im Sinne der aufgehenden logischen Gleichung – erst recht annehmen sollten? Sie gehen im Sommer zur genau richtigen Zeit. Eine Verlängerung hätte ihnen unter den gegebenen Voraussetzungen wahrscheinlich das Genick gebrochen. So aber kann ihre Intendanz als erfolgreich gelten. Sie haben alles gegeben und ein wirkliches Experiment hingelegt.

Noch immer bleibt der Eindruck, dass vor fünf Jahren in Zürich eine so starke Neuausrichtung der Institution Theater stattfand, wie man sie bis dato noch nicht erlebt hatte. eine Energie, die gerade in den ersten Monaten erfrischend auf alle übersprang. Offene und ungewohnt leere Bühnenräume, in denen weniger psychologisch, vielmehr in einer verblüffenden Abstraktion gedacht und gespielt wurde. In Erinnerung bleibt auch eine neue Form des Gemeint- oder Angesprochenseins in vielen dieser Arbeiten. Und: Jedes Mal war man eigentlich gespannt auf das, was einen erwarten würde – weil man wusste, dass das Erwart­bare hier eher nicht stattfand. Aus der Erinnerung

Foto links Philip Frowein, rechts Zoé Aubry

Dauerdurchlauferhitzer Eine Idee von zukünftigem Theater blitzte hier mal eben auf. Und noch immer bleibt der Eindruck, dass vor fünf Jahren in Zürich, auch mit dem gleichzeitigen Start dreier Intendantinnen am Neumarkt, eine so starke Neuausrichtung der Institution Theater stattfand, wie man sie bis dato noch nicht erlebt hatte (s. TdZ 11/23). Vielleicht war es auf einmal genau das: ohne Anbiederung, mit offenen Armen und großem Charme wurde ein Publikum zu künstlerischer Auseinandersetzung auf hohem Niveau eingeladen. Da wurde zugleich ehrlich und groß gedacht. Verbindlichkeit schuf gerade das Schauspielhaus mit dem Engagement von acht Personen als fester Hausregie. Auch wenn die meisten von ihnen die Stadt als Wohnort wieder verließen (weil sie hier privat nicht ankamen), so haben sie doch bis zum Schluss dem Spielplan eine Form von persönlicher Wiedererkennbarkeit gegeben. In Erinnerung bleiben in jedem Fall: der Startschuss mit vielen best-of-Inszenierungen in den unterschiedlichsten Handschriften der neuen Hausregie – mitsamt dem vom Plüsch entkernten Pfauenfoyer und einem von Anbeginn verjüngten Publikum. Und

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Sebastian Rudolph und Patrycia Ziółkowska in „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt. Inszenierung Nicolas Stemann

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Thomas Irmer

Thomas Irmer

René Pollesch

René Pollesch Arbeit. Brecht. Cinema. Interviews und Gespräche

Arbeit. Brecht. Cinema. Interviews und Gespräche Theater der Zeit

René Polleschs Arbeiten prägten eine ganze Theatergeneration. Anlässlich seines plötzlichen Todes werden in dieser Neuerscheinung fünf Gespräche und Interviews zusammengestellt, die TdZ-Chefredakteur Thomas Irmer zwischen 2001 und 2021 führte. Er begleitete den Regisseur seit Beginn seiner Karriere.

Theater der Zeit

Paperback mit ca.100 S. 10,- € bis 20.5. , danach 15 € Jetzt bestellen: tdz.de/shop/produkt/pollesch

I love that accent, but what are you saying?

fallen auch nicht so schnell die Namen dieser Hausregie, weil sie hier kontinuierlich arbeiten konnte und dies künftig an anderen Häusern fortsetzt, wie Christopher Rüping, Leonie Böhm, Suna Gürler, Alexander Giesche, Wu Tsang – und eben auch Nicolas Stemann. Nicht zu vergessen der hauseigene Choreograf Trajal Harrell, der sich mit seinem Tanzensemble wie selbstverständlich in die offenen Spielformen einreihte. Zeitlich geschah das alles wie in einem Durchlauferhitzer. Denn schon nach einer halben Spielzeit war erstmal Schluss, und Corona legte sich – mit all seinen Auswirkungen sogar bis in diese letzten Wochen hinein – wie ein trübender Schleier auf diese Ära. Fast zwei Spielzeiten ein sehr eingeschränkter Betrieb. Es blieben zwei (!) letzte Jahre, in denen sich weder Haus noch Publikum unter spürbar anderen Bedingungen von Politik und Gesellschaft ausreichend erholen konnten, um weiterhin gut miteinander zu agieren. Auf einmal wurde gefragt: Existiert hier überhaupt ein zusammengewachsenes Ensemble? Ist dies der Grund, warum sich so wenig Ensemblestücke im Spielplan finden? Gibt es eine zu große Kluft zwischen Programmatik und Anspruch der Leitung gegenüber einer Erwartungshaltung von aussen (über ­ ­Publikum und Stadt) und innen (innerhalb des Betriebs)? Fragen, die bleiben und in der Kürze der Zeit einfach nicht beantwortet werden konnten. In der Zürcher Presse wurde jüngst der Vorwurf erhoben, dass dem Schauspielhaus finanzielle Rückstellungen aus Corona-Zeiten nicht aufgelöst wurden und zu einem schlechteren Geschäftsbericht geführt hätten. Ein bewusster Vorgang? Denn die Finanzlage des Hauses war einst der offizielle Grund für die Nichtverlängerung. Was kommt nun? Erst einmal eine Interimszeit zum Entspannen auf allen Seiten und mit einem Angebot, das sich zumindest die Politik wünscht – so wie sie einst mit dem Engagement der jetzigen Intendanz eine Programmatik passend zur damaligen ­ ­Diversity-Parole der Stadt gewollt hatte. Am Ende bleibt der Eindruck: Eine Rakete ist hier aufgegangen und am Horizont ­ verschwunden. Oder um bei Frisch zu bleiben: Es wurde gezündelt, weil es der Auftrag war. Aber man kann nicht Streichhölzer austeilen und schon vorher die Feuerwehr rufen. Abgebrannt ist zum Glück nichts. Im Gegenteil: Es bleibt ein Kapitel, das einmal Theater­geschichte schreiben wird. Weil es so in dieser Kürze und an d ­ iesem Ort gerade möglich war. Und nicht wiederholbar. T

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Report Tübingen

„Im Taumel des Zorns Episode 5“, Text Hannah Zufall, Regie Magdalena Schönfeld am ITZ Tübingen

Sechs Autor:innen schreiben eine Krimiserie Foto Alexander Gonschior

Mit bekannten Namen der Dramatikszene entwickelt das Tübinger Institut für Theatrale Zukunftsforschung ein Format für Serienjunkies Von Elisabeth Maier

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Report Tübingen

In Freiräume hineinschreiben Mit eigenen Stückentwicklungen hat der Autor:in und Regisseur:in Peer Mia Ripberger das innovative Profil des Hauses ebenso geschärft wie mit Uraufführungen neuer Stücke und mit ungewöhnlichen musikalischen Formaten. Das verleiht dem ITZ, wie die Tübinger:innen ihr Zimmertheater jetzt nennen, überregionale Strahlkraft. Das Crime-Projekt hat die erfolgreiche Autor:in Leonie Lorena Wyss aber nicht nur deshalb gereizt. In der dritten Episode hat they sich mit der krebskranken Holle beschäftigt, für deren Behandlung das Paar Owe und Enno die Geiseln in der Apotheke nimmt. Aus dem populären, spannungsgeladenen Krimi-Genre schöpft Wyss bestechende Tiefe. Klug taucht der Text sprach- und formstark in die Geschichte der sterbenskranken Frau ein, die Eva Lucia Grieser spielt. Krankheit und weibliche Körper in der Medizin haben Leonie Lorena Wyss interessiert. Zugleich analysiert they das knallharte Geschäft mit dem Tod, hat lange in Bestattungsinstituten recherchiert. „Den Autor:innen die Freiräume zu geben, die sie brauchen“, war Ripbergers Ziel bei dem kollektiven Projekt. Zwar hat Ripberger, als Autor:in der ersten und letzten Folge, den groben Plot vorgegeben. Es gibt eine gemeinsame Website, auf der die Autor:innen das Wissen über die Figuren teilen: „Mit dem Wiki arbeiten wir ständig“, Ripberger. Dennoch erzählt jeder und jede seine eigene Story. „Es war spannend, die Figuren weiterzuschreiben, aber sie zugleich in jeder Episode anders sprechen zu lassen“, findet Caspar-Maria Russo, der Teil zwei mit dem Titel „Und jetzt ein allererstes Fest“ übernommen hat. Mit Wortwitz und seinem feinen Gespür für Action-Szenen nimmt er den Journalisten Enno in den Blick, der über Nacht zu ­Geiselnehmer wird. Der Schauspieler Cyril Hilfiker demontiert die Figur, lässt auch die schwachen Seiten zu, wenn dieser Enno mit der Polizei verhandelt. Bei Russo dürfen die Figuren auch komisch sein.

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Lauretta van de Merwe in „Im Taumel des Zorns Episode 4“, Text Anaïs Clerc, Regie Isabella Sedlak

„Es hat mich einfach interessiert, wie es mit Enno weitergeht“, sagt Anaïs Clerc, die Autorin des Teils vier mit dem Titel „Wenn Pflanzen sprechen und Masken fallen“. Die poetische Sprache der Autorin, Trägerin des Osnabrücker Dramatiker:innenpreises, macht den Reiz ihrer Folge aus. Sie lenkt den Blick auf Cécile, die Leiterin der Krankenhausapotheke, die nur für ihre Pflanzen lebt. Die Geschichte der einsamen Frau erzählt Clerc sensibel, psychologisch tiefenscharf und doch mit viel Witz. Da tritt der eigentliche Plot in den Hintergrund, setzt eine ganz neue Geschichte frei. Was hat Clerc, die 2024 zu den Nominierten des Heidelberger Autor:innenwettbewerbs gehört, an der Arbeit im Kollektiv gereizt? „Wir haben viel geredet und uns gemeinsam Gedanken über die Figuren gemacht“, schwärmt die 32-Jährige. Von ihrem Studium des Szenischen Schreibens an der Hochschule ­ der ­Künste in Berlin kennt sie „das isolierte Arbeiten, da ist man meist allein mit seinen Texten“. Durch die Serie habe sie das gemeinsame ­Arbeiten an der Serie schätzen gelernt. Das Tübinger Serienprojekt sollte in der Szene Schule machen, findet Clerc. „Wir ­Dramatiker:innen brauchen diesen Austausch.“ Die Realität, die sie in der Regel erlebt, sehe anders aus. Die Konkurrenz, den Kampf um Preise und Stipendien erlebt die Autorin als knallhart. Dem setzt das Dramatiker:innenkollektiv von „Im Taumel des Zorns“ Wärme und kreatives Miteinander entgegen. Um ihre Figuren weiterzuentwickeln, ziehen alle an einem Strang. Auf der Terrasse des Zimmertheaters neben dem idyllischen Hölderlinturm, in dem der 1843 gestorbene Dichter seine letzten Lebensjahre verbracht hat, treffen sich die Künstler:innen. Da wird viel gelacht, zum Beispiel über die Formulierungen, die in den verschiedenen Folgen immer wiederkehren. „Himbeerpopöchen“ ist das geflügelte Wort. Seit der ersten Folge lachen alle, wenn der Kosename in der Serie immer wieder auftaucht. Eine Schlüsselrolle im dramaturgischen Konzept spielt die Musik von Justus Wilcken und Konstantin Dupelius. Die gemeinsame Arbeit genießt auch Hannah Zufall, die den fünften Teil der Episode geschrieben hat. Die 37-Jährige hat für

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Foto Alexander Gonschior

Die Generation Netflix für das Theater zu begeistern, fordert neue Formate. „Sehweisen ändern sich“, findet Autor:in Leonie Lorena Wyss. In Zeiten von TikTok und Reels verschieben sich Blickwinkel. Filmschnitt-Dramaturgie öffnet der Bühne Horizonte. Das Theater auf diesem Hintergrund neu zu denken, findet Wyss spannend. 2023 hat they mit dem Stück „Blaupause“ den Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts gewonnen; die Uraufführung der Coming-of-Age-Geschichte ist jetzt am Theater der Stadt zu sehen. Als Autor:in einer Episode ist Wyss, 1997 geboren, bei der Theaterserie „Im Taumel des Zorns“ am Tübinger Institut für theatrale Zukunftsforschung (ITZ) vertreten. Peer Mia Ripberger, Intendant:in des Zimmertheaters in der Universitätsstadt, hatte die Idee für das Projekt mit sechs Autor:innen. In sieben Folgen fiebert das Publikum bei der Geiselnahme in einer Krankenhausapotheke mit. Am Ende jeden Teils leuchtet in Neonlettern „Fortsetzung folgt“ auf. Mit diesem Spielzeit-Konzept ließ die Bühne aufhorchen. Derzeit sind die Folgen einzeln an verschiedenen Tagen zu sehen. Am 30. Juni und 7. Juli plant das ITZ einen Serienmarathon an einem Tag.


Report Tübingen das ITZ in Zeiten der Coronapandemie Audiowalks entwickelt. So machte das Team Theater auch in Zeiten der Lockdowns möglich. Das kollektive Arbeiten macht ihr Spaß. In „Verbrechen und Versprechen“ geht es nun um die Wurst. Wie im Film bietet das Serienformat die Chance, das Setting blitzschnell zu wechseln. Valentin Baumeisters offener Bühnenraum, den er für alle Folgen konzipiert hat, lässt sich mit wenigen Requisiten in ein neues Umfeld verwandeln. Licht und Requisiten ändern das Setting. Das Pflanzengefängnis, in dem sich Cécile in Episode vier einsperrt, steht ebenso für sich wie das Schlachthaus in Teil fünf. Da quieken Schweine im Todeskampf. Wie mit der Kamera schwenkt die Autorin Hannah Zufall die Szenerie auf einen Bauernhof. Den kennt die Geisel Merit aus ihren Jugendjahren. Die Autorin arbeitet seit Jahren mit dem Zimmertheater, kennt das Team. Sie habe die Rolle mit der Schauspielerin ­Seraina Löschau entwickelt. Am Rande des Sommertheaters 2023, dessen Text aus der Feder der Berliner Autorin stammt, feilten beide an der Biografie der farblosen Apothekenangestellten, deren Leben die Geiselnahme auf den Kopf stellt. „Ich habe lange genug den Mund gehalten“, schreit Merit und verblüfft mit dem Ausbruch Spieler:innen und Publikum. Gewalt und Sprachlosigkeit, die diese Frau in ihrer Kindheit erlebt hat, übersetzt Zufall in starke literarische Bilder. Hitzige Dialoge und Gedankenfetzen reißen Wunden auf.

In ihrer Doppelrolle fühlt sich Corinna Huber, Dramaturgin und seit diesem Jahr stellvertretende Intendantin des ITZ, wohl. Mit ihrer Kollegin Marleen Wengorz betreut sie die Produktionen. Als Autorin schreibt sie die sechste Folge. Es reizt sie, den Spannungsbogen für das Publikum über sieben Folgen zu halten. Obwohl die Regieteams bewusst auf Videotechnik verzichten, beginnt jede Folge mit einem Trailer, wie man ihn aus dem Fernsehen kennt. Da spielt Katarina Eckold mit dem Genre, führt die Figuren in knappen Clips ein. Für die Autorin Huber, die über das Schreiben zur Theaterpraxis gekommen ist, steht die Kunst des Vermittelns im Vordergrund. „Das Publikum kann jederzeit in die Folgen einsteigen, denn jede steht für sich.“ Allerdings beobachtet Huber bei sich selbst, „dass ich inzwischen jeder Folge entgegenfiebere“. Dazu brauchen die Regieteams nicht mal Cliffhanger, denn die Neugier auf das Ende der Geiselnahme lässt keinen kalt. Obwohl es die experimentierfreudige Dramaturgin liebt, die Möglichkeiten des Theaters mit filmischen Mitteln zu erweitern, stehen für sie die Diskurse im Vordergrund, die in der Serie verhandelt werden. Es geht nach ihren Worten um Moral, Gerechtigkeit und um das gnadenlose Geschäft mit der Krankheit. „Für diese Themen lässt sich die junge Generation begeistern, wenn wir mit Formaten arbeiten, die ihnen vertraut sind.“ T

Die Kleiststadt Frankfurt (Oder), die Dramaturgische Gesellschaft und das Kleist Forum Frankfurt (Oder) vergeben im Jahr 2025 zum 30. Mal den Kleist-Förderpreis für neue Dramatik. Bewerben können sich Autorinnen und Autoren, die zum Zeitpunkt des Einsendeschlusses am 31. August 2024 bislang nicht mehr als einen Text zur Uraufführung gebracht haben, mit deutschsprachigen, originalen Texten, die zur Uraufführung noch frei sind. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert und mit einer Uraufführungsgarantie am Theater Aachen verbunden. Bewerbungsverfahren www.kleistförderpreis.de

Kleist-Förderpreis für neue Dramatik

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck Die Theaterakademie August Everding veranstaltete eine Zukunftskonferenz der Darstellenden Künste. Es folgt ein Auszug aus dem jetzt erscheinenden Konferenzband.

SPECULATIVE THINKING

Kunstprozesse vor Kunstproduktion In die Zukunft geschrieben Von Adrienne Goehler

Ich beneide euch um die Möglichkeit des gleichzeitig möglichen to learn/unlearn.

Liebe Akademist:innen, Während die Biologie eine Generation mit 25 bis 33 Jahren misst, hat sich in der ­Soziologie eine Definition von Generationen als Alterskohorten von 15 aufeinander folgenden Jahren durchgesetzt. In diesem Zeitraum ändern sich die technischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bedingungen derartig stark, dass dies nicht ohne Auswirkungen auf die in diesem Zeitraum lebenden Menschen bleibt. In eurer Generation kumuliert, mit einer großen Gleichzeitigkeit, alles, einfach alles. Einerseits ist diese Gegenwart noch ein gewaltiger Echoraum der Brüche der 2020er Jahre, die die umfassendste Unsicherheit seit dem Zweiten Weltkrieg mit sich brachten. Die erste große Pandemie, die den Alltag bis in alle Poren hinein radikal veränderte; Zwangsstillstand für alles, was als Beziehung selbstverständlich war; der Krieg in Europa, der kein Wegschauen, wie noch bei den Kriegen zuvor, ermöglichte, löste Ängste mit Symptomen auf allen Ebenen aus; die Dürren und Überschwemmungen, die Knappheit an existenziellen Lebensmitteln. All das, begleitet vom Aufbäumen

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toxischer Männlichkeiten durch Größenund Allmachtsfantasien, weil sie mit ihren Kränkungen nicht umzugehen wussten ... all das zusammen genommen hat sich in tiefen Spuren in unsere Gegenwart eingeschrieben. Gleichzeitig entstanden völlig unbekannte, noch vor Kurzem unvorstellbare Allianzen zwischen Kunst, Wissenschaft, Bewegungswissen, zwischen Stadt und Land, einer zunehmend neugierigen Wirtschaft, die mit der herkömmlichen Ausbeutungslogik von allen und allem in eine Sackgasse geraten ist. All diese Öffnungen und Überlappun­ gen, die neuen Realitäten, die sich durch das Zusammenarbeiten ergaben, wurden möglich, weil es nach jahrzehntelang­ er Dis­ ­ kussion endlich genügend wissen­ schaft­­ lich begleitete Erprobungen mit dem Be­dingungslosen Grundauskommen gegeben hat, die alle belegten, dass die Menschen und die Zeit dazu da waren, die Gewissheiten der anderen und ihre ­blinden Flecken aufzuspüren. Ihr habt dem so eindringlichen wie einfachen Gedanken von Alexander von Humboldt, „Alles hängt mit allem zusammen“, zu neuem Leben verholfen und seid damit viral gegangen. Quer durch die Disziplinen habt ihr euch gemeinsam die

Freiheit genommen, alles scheinbar Gesetzmäßige, Alternativlose zu befragen, und konntet euch so der Herkules­­aufgabe stellen: what to learn and to unlearn in den Musentempeln Theater, Oper, ­Museum – was können und müssen sie sein, wenn sie nicht mehr vorwiegend Selbstversicherungsanstalten für Selbstgespräche der weißen, westlichen, halbwegs gut situierten, Mittelschicht sind? Brauchen wir die Institutionen Theaterakademie und Theater noch? Ja, sagt ihr, aber nur radikal anders, weil sich eure Bedürfnisse an die Kunst, an das Leben selbst verändert haben. Zu meiner großen Freude habt ihr den Künsten dazu verholfen, aus ihrem Käfig und aus ihrem Produktionszwang aus­ zubrechen, indem ihr immer wieder ­darauf hingewiesen habt, dass ihr durch die Förderstrukturen gezwungen seid, wie die Auto- und Textilindustrie unentwegt ein Zuviel produzieren zu müssen. Dagegen setzt ihr andere Arbeitszeiten und Rhythmen durch, legt Gewicht auf Prozesse, auf Übergreifendes. Es ist noch nicht so lange her, dass es zunehmend von Interesse war, in diversen Teams zusammenarbeiten, um zwischen Kunst, Handwerk, Wissenschaften, Tüftler:innen und Start-ups rauszu-

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Magazin Vorabdruck kriegen, was mit den Left­overs der fossilen Zeit anzufangen ist ... Eine ganz neue Generation von Theaterpublikum entstand, das die Bühne als ihren biografischen Ort begreift, an dem sie als Schüler:innen während der unterschiedlichsten Pandemien, die in immer neuen Formen auftauchten, ihre Klassenarbeiten schrieben, die Requisiten und die Werkstätten für sich entdeckten. Es war wesentlich eure Idee, nachdem ihr nicht einsehen wolltet, dass die Bühnen leer stehen trotz der tollsten Hygienekonzepte der Musentempel. Sie forderten euch ­heraus, Stücke mit ihnen zu ersinnen, und haben euch dazu gebracht, die Bewegung der 2020er Jahre aufzugreifen und weiterzuentwickeln zu „Artists for Future“ und meinten damit die Veränderung der Welt der Energie nicht nur durch Sonne, Wind, Gezeiten, sondern ihre Veränderung durch unversiegbare künstlerische Energien. Die, die die Welt verändern sollten, damit sie weiterbesteht, waren eben nicht mehr nur die anderen, sondern ihr selbst. Eine Haltung, die Artivist:innen schon in den 2010er Jahren einnahmen, damals noch marginalisiert. Es geht dem Artivismus darum, mit den unterschiedlichen Mitteln der Kunst die notwendige Transformation mitzubewegen, sie erfahrbar, spürbar, sicht-, hör- und fühlbar zu machen, kurz: die Transformation als ästhetische Herausforderung und Erfahrung zu begreifen. Ihr wart und seid angezogen von der Analyse des indischen Schriftstellers ­Amitav Ghosh, wonach „Die Klimakrise [...] eine Kulturkrise [ist] und damit auch eine Krise der Vorstellungskraft“1. Donna Haraway hat in mobilisierender Absicht ins selbe Horn geblasen und mit aller Dringlichkeit die Vorstellungskraft der Künste für diese unausweichlich nötige Transformationen eingefordert, ihre Verweltlichungen, um die menschlichen Beziehungen, Zeit, Arbeits- und Denkweisen als Ressourcen zu sehen, als Modelle für die Zukunft2. Was können wir (zurück-)geben und was brauchen wir für ein gemeinsames, würdiges Leben aller Lebewesen auf dem Planeten? Dies wurde plötzlich

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eine zentrale Frage in den Künsten. Dass diese Frage so viel Vorstellungskraft entfachen kann, so viel Zeit und Raum einnehmen, dass in Theatern und Museen transdisziplinäre Laboratorien entstehen, Aufführungen auf Bauernhöfen keiner Romantik dienen, sondern künstlerischen Forschungszwecken, die zunehmen und Auseinandersetzung mit der konkreten Wirklichkeit und ihren Veränderungs­ potenzialen sind, ist euer unschätzbar großes Verdienst. Um dieses gemeinsame Forschen zu unterstützen, gibt es einen großartig ausgestatteten Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit3, der auch in den 2020er Jahren, wie so vieles andere, der versäult denkenden Politik und ihrem verdammt falsch verstandenen Begriff von Kunstfreiheit abgetrotzt werden musste. Mit diesem wichtigen Instrument habt ihr die Hermetiken zwischen den Silos durchlöchert. Ihr habt einem „Rein-undraus aus der Kunst“ zur Durchsetzung verholfen, denn es erscheint schon länger ziemlich antiquiert und irgendwie ziemlich mono, jedenfalls crazy, eine reine Künstler:innenkarriere anzustreben und nur das ein ganzes Leben lang zu tun, weil man niemals aus der Kunst austreten kann. (Hat sich ziemlich lange gehalten, diese Idee.) Dass mit solcher Leichtigkeit ganz andere Biografien auch innerhalb der Künste entstehen konnten, verdankt­ sich der Einführung des Bedingungslosen Grundauskommens. Das war ein immenser Akt, lange schon von der Bevölkerung mehrheitlich gewünscht, schließlich finan­ ziert aus ehemaligen staatlichen Steuergeschenken diversester Art und Übergewinnsteuer, Steuern auf Transaktionen, Ressourcen, Luxus, SUV, Waffen. Deshalb erlebt ihr, anders als die Generation eurer Eltern, die Übernahme vieler Lohnarbeiten durch Algorithmen als Befreiung und immensen Zeitgewinn; die Tatsache, dass nervtötende, gefährliche oder zu schwere Arbeiten von Robotern übernommen werden, setzt Ideen frei und gibt die Zeit, anderes zu tun. Und dies mit einem Grundauskommen verbunden eröffnet neue Horizonte für einen sehr weit gefassten Kunst- und Lebensbegriff.

Ich ende, wie ich begonnen habe, ich beneide euch um die Nonchalance, mit der ihr eure prekär bezahlten Privilegien an den abgeschotteten Institutionen eingetauscht habt gegen satte Verbundenheit mit der Gesellschaft. „Es geht um die Fähigkeit der Menschen, Neues in die Welt zu rufen“, sagt Hannah Arendt. Das habt ihr in viele Richtungen getan, Glückwunsch! T

1. Ghosh, Amitav: Die große Verblendung. Der Klima­ wandel als das Undenkbare, übersetzt von Yvonne Badal, München 2017. 2. Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, übersetzt von Karin Harrasser, Frankfurt am Main 2018. 3. Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit: www.fonds-aesthetik-und-nachhaltigkeit.de.

EDITION BAYERISCHE THEATERAKADEMIE AUGUST EVERDING Learning for the Future Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste Herausgegeben von Hans-Jürgen Drescher, Johannes Hebsacker, Antonia Leitgeb und Daniel Richter Paperback mit 222 Seiten 22,00 € (print + digital)

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Magazin Bücher

Marke Müller Eine Studie zu Heiner Müllers ­Branding-Strategien im Kulturbetrieb Von Thomas Irmer

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Während die Theater im Moment nicht gerade fantasiereich sind, neue Ansätze zu Müllers Werk zu entwickeln, findet die Forschung zu diesem Autor immer wieder Möglichkeiten, das Feld zu erweitern. Müllers Interviews etwa waren schon mehrere Studien gewidmet wie eben auch Biografik und Werkdeutung seit längerem verschränkt sind. Nun legt Jens Pohlmann mit „The ­Creation of an Avant-Garde Brand“ eine auf seiner Dissertation fußende Untersuchung von „Heiner Müller’s Self-Presentation in the German Public Sphere“ vor. Für die 1980er beschränkt sich das auf die Bundesrepublik, danach verbleiben nur noch die wenigen Jahre bis zum Tod Ende 1995 mit um so vermehrten öffentlichen Auftritten im ver­ einigten Deutschland. Pohlmann, der zu Frank Hörnigks Stu­­ ­ denten an der Berliner Humboldt-Uni­ versi­ tät gehörte und so schon früh mit Spezial­ aspekten der Müller-Forschung in Berührung kam, lehrt heute an der kalifornischen Stanford University und war zuvor an der Universität Bremen an einem Projekt digitaler Forschungsmethoden in den Geisteswissenschaften beteiligt. All das ist erkennbar in dieses Buch mit eingegangen, das neben statistischen Grafiken zu Interviewpartnern und Kurven für Aufführungszahlen ein Paradox des immer noch geltenden Müller-Bilds zu erhellen versteht: Nämlich, dass der avantgardistische Autor mit seiner Kapitalismuskritik nicht nur Preisverleihungsgesellschaften verstörte, sondern auch zum begehrten Personal von Boulevardmedien werden konnte. Die BILD-Zeitung interessierte sich zeitweise für Müller auf ihre Weise, und in die ersten „Harald-Schmidt-Shows“ wurde er als im Backstage-Bereich schweigend zustimmen­ der Gutachter reinmontiert, sodass selbst ein Rainald Goetz glaubte (oder behauptete), das hätte er in echt erlebt. Die Frage, wie ein mit avantgardistischen Ästhetiken operierender Autor und Theatermacher die Sphäre der Massenkultur erreicht und in dieser eventuell wirkt, gleicht heute der popkulturellen Frage, wie man sich im Mainstream ohne den Verlust von Coolness und Authentizität behauptet. In dem weiten wissenschaftlichen Feld, das Pohlmann u. a. mit Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Buch „The New Spirit of Capitalism“ (2007) aufmacht, gilt das Interesse beispielsweise Müllers „Bildbeschreibung“ als Widerstand gegen marktgerechte Kom-

munikation und auch politische Heraus­ forderung des Kulturbetriebs. Das wird dann in der exzellenten Fallstudie zur Büchner-Preisrede „Die Wunde Woyzeck“ (1985) ausführlich dargestellt, mit der Müller bei der Entgegennahme des Preises das Ritual des renommiertesten (west)deutschen Lite­ raturpreises zugleich bedient und unterläuft. Die Rede ist kurz, in der für Müller typischen Montagetechnik gedrängt und so in ihrer referenzreichen Komplexität gar nicht für den Vortrag bei einer solchen Feier geeignet. „Wenigstens eine Rede hätte er halten können“, soll sich ein älteres Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung beschwert haben, berichtet Müller genau ein Jahr später im Gespräch mit Erich Fried (eine Pointe mit Bedeutung, die sich Pohlmann entgehen lässt). Die Rede enthält aber auch von Müller formulierte Positionen (Ulrike Meinhof als Woyzecks Schwester, die Mauer als Denkmal für Rosa Luxemburg), die für die Preisgeber kaum akzeptabel gewesen sein dürften. So habe Müller mit seiner Büchner-Preis­rede, die heute zu den wichtigsten Schriften des ­ Autors gehört, eine kritische Balance geschaffen, die wesentlich („a milestone“) zu seiner „brand recognition“ mit Wahrung ­seiner Avantgarde-­Aura im Kulturbetrieb beigetragen hat. T Jens Pohlmann: The Creation of an Avant-Garde Brand. Heiner Müller’s Self-Presentation in the German Public, Peter Lang 2023, 198 S., € 59,95

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Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Online), Nathalie Eckstein (Online) Mitarbeit Nathalie Eckstein (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de

Autorinnen / Autoren 5 / 2024 Walter Bart, Regisseur, Rotterdam Matt Cornish, Theaterwissenschaftler, Athens, Ohio Henning Fülle, Theaterwissenschaftler, Berlin Julia Gebhardt, Kulturwissenschaftlerin, Hildesheim Marie Gedicke, Regieassistentin, Braunschweig Henry Hübchen, Schauspieler, Berlin Klaus Lederer, Politiker, Berlin Iwona Nowacka, Übersetzerin, Szczecin Thomas Oberender, Autor, Kurator und kultureller Berater, Berlin Jacqueline Russell, Performerin, Calgary, Canada Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin Shirin Sojitrawalla, Kritikerin, Frankfurt am Main Staub zu Glitzer, Aktivistinnenkollektiv, Berlin Thomas Thieme, Schauspieler, Berlin Anna Volkland, Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin, Berlin Franziska Wenning, Regisseurin, Berlin Stephan Wetzel, Lektor, Berlin Martin Wigger, Theaterleiter und Dramaturg, Zürich Sabrina Zwach, Dramaturgin und Produzentin, Berlin

Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 79. Jahrgang. Heft Nr. 5, Mai 2024. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 05.04.2024 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Vorschau 6/ 2024 Vorschau Arbeitsbuch

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„F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig“ von und mit Nikolaus Habjan, Gastspiel des Schubert Theater Wien am Deutschen Theater Berlin

Foto Thomas Aurin

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Juni 2024 Neue Tendenzen im Puppen- und Figurentheater: Warum sich i­ mmer mehr Schauspieltheater für das Puppenspiel öffnen, wie die Ausbildung am Stuttgarter FITZ aufgebaut ist, Hausporträts und Berichte von ­verschiedenen Festivals der Sparte – das ist der Schwerpunkt.

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Dazu ein Ausblick auf den „Jedermann“-Sommer mit Philipp ­Hochmair in Salzburg und Thomas Thieme in Weimar sowie eine ­kritische Auswertung von Suzie Millers Spielplan-Hit „Prima facie“ nach einem Jahr auf deutschsprachigen Bühnen.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Stefan Keim

Haiko Pfost ist seit 2018 Künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festivals. Dieses Jahr präsentiert er vom 29. Mai bis 9. Juni in Köln, Düsseldorf, Mülheim (sowie Bonn und Wien) die letzte Ausgabe in seiner Verantwortung. 2007 gründete er mit Thomas Frank das Koproduktionshaus brut in Wien und leitete es bis 2013. Als Kurator, Dramaturg und Berater arbeitete er bei Festivals und Theatern. Pfost ist ausgebildeter Industriekaufmann und hat in Berlin Theater- und Religionswissenschaft sowie Psychologie studiert.

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Jedes Impulse-Festival unter Ihrer Leitung hat ein Stadtprojekt. Diesmal gibt es in Mülheim an der Ruhr ein Sommerbad namens „SCHWIMM CITY“. Was für steckt dahinter? HP: Es ist ein Bad für alle, ein utopisches Bad. Wir verlieren gerade immer mehr öffentliche Räume. Das zeigt sich besonders bei den Schwimmbädern. Private Pools sind eine der größten Wachstumsbranchen. Wenn man es sich leisten kann, badet man zuhause in safe spaces. Außerdem sind Schwimmbäder umkämpfte Orte. Wer darf da rein? Wer schließt wen aus? Das hat mit einem Verständnis von Demokratie und Gemeinschaft zu tun. Unser Bad für alle ist natürlich eine Illusion. Dennoch arbeiten wir an dieser Utopie. ˘ Und warum ist so ein utopisches Bad Theater? HP: Weil es eben auch eine Illusion ist, die sich erst durch die Bespielung realisiert. Ganz konkret geht es aber darum, lokale Initiativen und künstlerische Arbeit zusammenzubringen. Verschiedene Künstler:innen werden darin arbeiten, das Bad wird sich im Laufe der Bespielung immer wieder verändern, die Vorschläge der Besucher:innen für ihr „Bad der Träume“ werden zum Beispiel vor Ort von der Künstlergruppe Conte Potuto umgesetzt. Oder die Gruppe TachoTinta, ein junges Tanzensemble aus NRW, erarbeiten zusammen mit Unterwasser-Rugby-Mannschaften aus Mülheim und Duisburg eine Performance. Unterwasser-Rugby wurde ­übrigens in Mülheim erfunden. „SCHWIMM CITY“ wird jeden Tag geöffnet haben. Beim Blick auf den Showcase fällt auf, dass es politisch-kritische Themen wie Klassis­mus, Kolonialismus, Unterdrückung queerer Menschen oder Erinnerung an Nazi-­ Verbrechen gibt. Aber oft werden die in unterhaltsamen Formen präsentiert. Ist das ein Trend im Off-Theater? HP: Die Künstler:innen wollen komplizierte und politische Themen behandeln, damit aber auch möglichst viele Menschen erreichen. Das geht leichter, wenn man sich auch populäreren, ja Unterhaltungsformaten wie der Revue bedient. Wir zeigen aber auch Arbeiten, die dem Publikum ein bestimmtes Maß an Konzentration abverlangen. Die Auswahl der Jury, zu der auch immer eine Stimme des Publikums gehört, versucht dabei, ein möglichst breites Spektrum herausragender

und herausfordernder Produktionen zu zeigen. Den künstlerischen Anspruch herunterzufahren, kommt für mich nicht infrage. Die Formenvielfalt der Off-Szene wird seit Jahren von den Stadttheatern aufgesaugt. Gibt es noch ein spezielles ästhetisches Profil des freien Theaters? Oder liegt der ­ Unterschied nur noch in der Arbeitsweise? HP: Es sind vor allem die Produktionsbedingungen, die den Unterschied ausmachen. Florentina Holzinger war Freie Szene, bevor sie an die Volksbühne kam. Und dort macht sie nichts anderes als vorher. Eben unter besseren finanziellen Bedingungen. Ebenso Rimini Protokoll. Die passen sich nicht dem System an, sondern arbeiten als eigene Entität innerhalb eines Stadttheaters. Die Entwicklungsphase ist länger, es gibt andere Produktionsrhythmen und oft auch eigene Ensembles oder Expert:innen auf der Bühne. Wir haben in den vergangenen Jahren viel über Mindestlöhne gesprochen, es gibt zumindest in NRW eine Exzellenzförderung, mit der Gruppen über einige Jahre hinweg gefördert werden. Hat sich die wirtschaft­ liche Lage des Off-Theaters verbessert? HP: Wir hatten noch im letzten Jahr eine Akademie zu dem Thema. Bei der „Systemcheck“-Studie vom Bundesverband Freie Darstellende Künste kam heraus, dass viele Künstler:innen immer noch sehr prekär arbeiten. Gleichzeitig bedeuten die Mindestlöhne für die Häuser und auch für uns, dass alles teurer wird. Adäquate Honorare sind ein wichtiger Schritt und die Förderungen müssen sich dem anpassen, damit wir die Programmvielfalt beibehalten können. Seit 2018 gibt es Akademien als eine Programmsäule des Festivals. Ziehen Sie in Ihrem letzten Jahr eine Bilanz? HP: Wir hatten elf Akademien in sechs Jahren, wegen Corona ist eine ausgefallen. Da hat sich unglaublich viel Wissen angesammelt. Klassismus war zum Beispiel ein großes Thema für uns, da gehörten wir zu den Vorreitern. Auch den Rechtsruck und die Identitätspolitik haben wir reflektiert. Deshalb möchte ich im letzten Jahr einen Blick zurückwerfen und gleichzeitig in die Zukunft blicken. Mit unseren diesjährigen Akademien treten wir wieder in einen intensiven Austausch ein. T

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Foto Sophie Thun

Was macht das Theater, Haiko Pfost?


2.5.

20.5.2024 Die Berliner Festspiele werden gefördert von

Das Theatertreffen wird gefördert durch die

Medienpartner

Servicetelefon +49 30 254 89 100

berlinerfestspiele.de


OSTOPIA 2. —— 12.5.24 NATIONALTHEATER MANNHEIM

Weitere Informationen zu den Thementagen finden Sie auf unserer Webseite. Kartentelefon: 0621 1680 150 | nationaltheater.de

THEMENTAGE ZU 20 JAHREN »OSTERWEITERUNG« DER EU UND DER ZUKUNFT EUROPAS


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