Text und Erfahrung
Die rote Rosa nun auch verschwand. Wo sie liegt, ist unbekannt Weil sie den Armen die Wahrheit gesagt Haben die Reichen sie aus der Welt gejagt.27 Weiterhin berichtet Völker, dass Brecht am Tag nach Rosa Luxemburgs Ermordung Versammlungen in München besuchte.28 Warum legen wir auf diese Tatsachen wert? Weil das „Gedicht vom ertrunkenen Mädchen“ eine verborgene Hommage an Rosa Luxemburg enthält. Nicht, dass der Tod im Wasser, den sie fand, das unmittelbare Vorbild für Brechts Gedicht gewesen wäre. Wir wissen, in welch vielfältiger Weise alle seine Motive in immer neuen Konstellationen und Varianten auftauchen, sich stets neue Konfigurationen erzwingen. Es gibt aber im BertoltBrecht-Archiv ein Typoskript, auf dem der Titel für das Gedicht lautet: „Vom erschlagenen Mädchen“. Dies ist weder aus Brechts Shakespearenoch aus seiner Rimbaudrezeption oder auch in Hinblick auf das Motiv der Geliebten oder auf den Tod der Mutter einleuchtend. Dagegen weist eine Erinnerung des Jugendfreunds Münsterer auf die Verknüpfung des Gedichts mit dem Tod Rosa Luxemburgs: Am 27. Januar [1919] sind wir in einer Protestversammlung, in der die Brehm spricht und pathetische Verse zu Ehren Rosa Luxemburgs vorgetragen werden. Brecht hat es realer und düsterer gesehen. In seiner Ballade von der roten Rosa, die wahrscheinlich nicht sehr viel später entstand und mit der bitteren Erkenntnis beginnt: Die roten Fahnen der Revolutionen Sind längst von den Dächern herabgeweht schwimmt sie als einzige Befreite eines erfolglosen Kampfes die Flüsse abwärts.29 Nachdem es im Januar 1919 zuerst geheißen hatte, eine Menge Unbekannter habe die Leiche am Landwehrkanal verschleppt, eine Lüge, die von Anfang an nicht sehr glaubwürdig klang, brachten die Zeitungen, vor allem die Rote Fahne, und dann der Prozess im Frühjahr 1919 allen Versuchen der Verschleierung zum Trotz doch das Geschehen an den Tag. Zunächst wurde Rosa Luxemburg vor dem Edenhotel wahrscheinlich schon durch mehrere Hiebe auf den Kopf mit einem Gewehrkolben erschlagen. Die so vielleicht schon Ermordete erhielt in dem Wagen, mit dem ihre Mörder sie fortschleppten, noch einmal einen Schuss in den Kopf, und schließlich wurde der leblose Körper in den Landwehrkanal geworfen. Der Zeuge Rusch sagte im Prozess aus,
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