Theater der Zeit - 02/2019

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Neustarts: Hellerau und Kaserne Basel / Theaterkrise in Schwerin / Künstlerinsert: Forensic Architecture / Marcus Steinweg über Heiner Müller / Kolumne Josef Bierbichler / Ein Nachruf auf das Theater NO99

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Februar 2019 • Heft Nr. 2

Bye, Bye, Europe Gob Squad Tim Etchells, Robert Icke, Walter Meierjohann, Peter M. Boenisch


VOLKSBÜHNE ab Februar 2019 Unendlicher Spaß von David Foster Wallace Thorsten Lensing Gastspiel 02.02.19 Die Welt im Rücken von Thomas Melle Jan Bosse Gastspiel Burgtheater Wien 12.02.19

Die Edda neu erzählt von Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason Thorleifur Örn Arnarsson Gastspiel Schauspiel Hannover 19.04.19 Quartett von Heiner Müller Mizgin Bilmen 24.04.19

Megalopolis von Constanza Macras | DorkyPark Übernahme 21.02.19

Der Palast von Constanza Macras | DorkyPark Uraufführung 04.04.19

Allee der Kosmonauten von Sasha Waltz & Guests Gastspiel 02.03.19

Die Hand ist ein einsamer Jäger von Katja Brunner Pınar Karabulut Uraufführung 23.05.19

Ein neues Stück von Sasha Waltz & Guests Uraufführung 07.03.19 Immer noch Sturm von Peter Handke Dimiter Gotscheff Gastspiel Thalia Theater Hamburg 21.03.19

Lulu von Frank Wedekind Stefan Pucher 30.05.19 Das Bauhaus – Ein rettendes Requiem von Schorsch Kamerun Kooperation mit projekt bauhaus Uraufführung 20.06.19

www.volksbuehne.berlin


editorial

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S

eit zwei Jahren kursiert im Internet ein Video mit einem kurzen Ausschnitt aus Monty Pythons „Das Leben des Brian“, allerdings mit anderem Text. Man sieht John Cleese, Michael Palin und all die anderen in schwarzen Kutten in einer Hütte sitzen und debattieren. Doch anstatt über die Unterwande­ rung des Römischen Reichs zu sprechen, geht es laut neuen Untertiteln um die Europäische Union. „Was hat die EU je für uns getan?“, fragt Cleese in die grummelnde Menge. Die Antworten kommen zaghaft, doch die Liste wird immer länger: „Ökonomische Stabilität, Umweltschutz, Arbeiterrechte, Frieden …“ Damals schaute man noch spöttelnd auf den per Volksentscheid initiierten Brexit. Zwei Jahre später jedoch ist selbst den bösesten Satirikern der Insel das Lachen vergangen: „Der Brexit ist einfach nicht lustig“, wetterte Michael Palin jüngst in einem Interview. Über den Brexit zu schreiben, erklärt das deutsch-britische Performancekollektiv Gob Squad in unserem Schwerpunkt, fühle sich so an, als würde man gegen Windmühlen kämpfen. Der Zeitpunkt des EU-Austritts rückt näher, und doch weiß niemand genau, wie die Ehe zwischen Insel und Fest­ land geschieden werden soll, zumal am 15. Januar das britische Parlament Theresa Mays Brexit-Ver­ trag mit großer Mehrheit ablehnte. Wir haben Künstler aus dem UK gefragt, wie sie die derzeitige politische Situation einschätzen. Geantwortet haben neben Gob Squad auch der britische Regisseur Robert Icke, der derzeit in Stuttgart und Basel große Erfolge feiert, sowie der Künstlerische Leiter der britischen Performancegruppe Forced Entertainment Tim Etchells. Deutlich in ihren Texten ­werden die große Erschöpfung angesichts des politischen Desasters in Westminster, aber auch der unbedingte Wille, das jeweilige künstlerische Programm nicht aufzugeben. Weltläufigkeit und der Blick auf die lokalen gesellschaftlichen Verwerfungen schließen sich dabei nicht aus. Über Letzteres sprechen auch Walter Meierjohann, ehemaliger Intendant am HOME Theatre in Manchester, und Peter M. Boenisch, der in London Theaterwissenschaft lehrt. Angegliedert an diesen Schwerpunkt ist das Künstlerinsert über das Londoner Recherche- und Künstlerkollektiv Forensic Architecture in ­diesem Heft. Unter der Leitung von Eyal Weizman untersucht die Gruppe seit 2011 mit den Möglichkei­ ten der Architektur und der Medienanalyse Menschenrechtsverletzungen und staatliche Desinforma­ tion, so unter anderem den Fall des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme, der in dem Kasseler Internetcafé saß, in dem 2006 Halit Yozgat vom sogenannten NSU erschossen wurde. Ein Mord, von dem Temme nichts mitbekommen haben will. Um die Verschwisterung von Politik und Kunst geht es auch in Gunnar Deckers Reportage aus Schwerin. Am Mecklenburgischen Staatstheater ist die Stimmung schlecht wie nie. Wenngleich zu­ nächst Entspannung herrschte, als „Sparminister“ Mathias Brodkorb unter der neuen Minister­ präsidentin Manuela Schwesig aus dem Kultur- in das Finanzressort wechselte, scheinen Zahlen nach wie vor das ausschlaggebende Argument am Haus zu sein. Intendant Lars Tietje, unter Brodkorb 2016 ins Amt gehoben, wird vorgeworfen, das Theater mit unglücklicher Hand sanieren zu wollen. Um dies durchzusetzen, sorge er für ein Klima der Angst und Unterdrückung. Gunnar Decker hat mit den Beteiligten dieses Theaterstreits gesprochen. Wesentlich erfreulicher liefen in den vergangenen Monaten die Starts der neuen Intendanzen am Festspielhaus Hellerau in Dresden und an der Kaserne Basel ab. Während Carena Schlewitt, die ehemalige Intendantin der Kaserne Basel, als Leiterin des Festspielhauses in Hellerau für Perspektiv­ erweiterungen sorgt, unter anderem mit einem Festival für polnisches Theater, sucht Sandro Lunin an der Kaserne einen Nord-Süd-Dialog zu etablieren. „Lust am Widerspruch“ lautet dabei der Titel eines seiner Schwerpunkte. Mit unserem Stückabdruck „heiner 1– 4 (engel fliegend, abgelauscht)“ von Fritz Kater erinnern wir an Heiner Müller, dessen Geburtstag sich am 9. Januar zum 90. Mal jährte. Thomas Irmer sprach mit dem Philosophen Marcus Steinweg über die philosophische Dimension von Müllers Schaffen. „Wenn es eine Moral des Denkens gibt“, sagt Steinweg, „dann liegt sie nicht in moralischer Verklärung, sondern im Bemühen um Klarheit, was das Verständnis des Wirklichen, seine Analyse und politische Gestaltung betrifft.“ Eine Aussage, die wir mit den besten Grüßen in Richtung London adressieren. Besonders freuen wir uns, mit der Februarausgabe 2019 Anja Nioduschewski als neue Redak­ teurin von Theater der Zeit begrüßen zu dürfen. // Die Redaktion

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Inhalt Februar 2019

thema: brexit

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Bye, Bye, Europe Drei Statements zum Brexit

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Tim Etchells Wir haben unsere Taschen mit Steinen gefüllt Gob Squad Bis die Alarmglocke schrillt Robert Icke Niemand ist mutig genug, Stopp zu rufen

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Out of Touch Der ehemalige Intendant des HOME Theatre in Manchester Walter Meierjohann und der in London lehrende Theaterprofessor Peter M. Boenisch im Gespräch über den Brexit

künstlerinsert

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4

Forensic Architecture

8

Heimo Lattner Knochen lügen nie In ihrer Londoner Datenzentrale arbeiten Forensic Architecture mit atemberaubender Schlagkraft an der Aufdeckung von Verbrechen

protagonisten

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Gunnar Decker Der neue Mann von gestern Theaterkrise in Schwerin – Steht Intendant Lars Tietje auf verlorenem Posten?

kolumne

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Josef Bierbichler Wer es wagt, seine Stimme zu erheben Das große Schweigen über die Wahrheit der Mächtigen

protagonisten

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Michael Bartsch Nachbarschaftsstudien Carena Schlewitt blickt als neue Intendantin von Hellerau in Dresden wieder vermehrt auf Theater und Musik sowie nach Osteuropa

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Dominique Spirgi Translokales Welttheater Sandro Lunin setzt als neuer Künstlerischer Leiter der Kaserne Basel mit einem Nord-Süd-Dialog frische Akzente

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Holger Teschke Stiller Weltuntergang in Dänisch-Sibirien Bertolt Brechts Exil in Svendborg

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Madli Pesti Countdown beendet Ein Nachruf auf das estnische Performance-Ensemble Theater NO99

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inhalt

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auftritt

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Berlin „Crash Park – Das Leben einer Insel“ von Philippe Quesne (Dorte Lena Eilers) / „Haußmanns Staatssicherheitstheater“ von Leander Haußmann (Jakob Hayner) Bern „Das Missverständnis“ von Albert Camus in der Regie von Claudia Meyer (Harald Müller) Düsseldorf „Don Karlos“ von Friedrich Schiller in der Regie von Alexander Eisenach (Martin Krumbholz) Graz „Die Revolution frisst ihre Kinder!“ (UA) von Jan-Christoph Gockel & Ensemble in der Regie von Jan-Christoph Gockel (Hermann Götz) Meiningen „Wir sind keine Barbaren!“ von Philipp Löhle in der Regie von Annett Kruschke (Gunnar Decker) München „Der Spieler“ von Fjodor M. Dostojewski in der Regie von Andreas Kriegenburg (Christoph Leibold) Naumburg „Judas“ von Lot Vekemans in der Regie von Stefan Neugebauer (Gunnar Decker) Osnabrück „Nähe“ (UA) von Mario Wurmitzer in der Regie von Ron Zimmering (Jens Fischer) Paris „Kanata – Épisode I – La Controverse“ (UA) von Robert Lepage (Renate Klett)

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Im Strudel der Verweise Fritz Kater über sein neues Stück „heiner 1–4 (engel fliegend, abgelauscht)“ im Gespräch mit Thomas Irmer

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heiner 1– 4 (engel fliegend, abgelauscht) von Fritz Kater

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Depot für widerständige Kunst Der Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim – ein Zentrum für zeitgenössisches Theater, Performance und Tanz – feiert sein 25-jähriges Bestehen Mir nach! Die Glanzstoff – Akademie der inklusiven Künste in Wuppertal bildet Menschen mit Behinderung zu professionellen Schauspielern für Bühne, Film und Fernsehen aus Geschichten vom Herrn H. Über Lügenpresse und Theaterwahrheit im außermoralischen Sinne Bücher Falk Richter, Markus Metz / Georg Seeßlen und Theodor Fontane

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Meldungen

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Premieren im Februar 2019

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Marcus Steinweg im Gespräch mit Thomas Irmer

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stück

magazin 68

aktuell

was macht das theater?

Titelfoto: Gob Squad. Foto Ben Wolf / Grafik Flagge: Nicolas Raymond

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Forensic Architecture: „White Phosphoros“ (2012) Oben: Rafah, Gazastreifen, 11. Januar 2009, Foto Iyad El Baba/UNICEF. Rechts von oben nach unten: Fallujah, November 2004, Foto Yannis Behrakis/Reuters © CNN; Gaza, Januar 2009 © Reuters; Gaza, 12. Januar 2009 © David Silverman/Getty Images Screenshots von Forensic Architecture



Forensic Architecture: „77sqm_9:26min“ (2017). Fotos und Grafiken Forensic Architecture



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Knochen lügen nie

In ihrer Londoner Datenzentrale arbeiten Forensic Architecture mit atemberaubender Schlagkraft an der Aufdeckung von Verbrechen von Heimo Lattner

E

ine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Jahre 1985 zeigt den berüchtigten „Totengräber“ Clyde Snow in einem argentinischen Gerichtssaal. Links neben ihm folgen drei Vertreter der Justiz ­seinen Ausführungen zu einem Totenkopf, der auf einer Projek­ tionsleinwand zu sehen ist. Nach dem Zusammenbruch des ­argentinischen Militärregimes beauftragte die 1984 neu eingesetzte Zivilregierung neben anderen Experten auch den Forensiker Snow, die Verbrechen der Junta zu untersuchen und zu dokumen­ tieren. Snow und eine Gruppe argentinischer Studenten öffneten die Gräber Hunderter Menschen, die verschleppt, gefoltert und vom Militär getötet worden waren. Sie identifizierten menschliche Überreste und sammelten Beweise, die in einem wegweisenden Prozess entscheidend zur Verurteilung einstiger Junta-Anführer beitrugen. Snow, der davor schon an der Exhumierung der Gebeine Josef Mengeles, des Todesengels von Ausschwitz, beteiligt gewe­ sen war, war es erneut gelungen, mithilfe der Forensik auf einer epischen Suche nach Gerechtigkeit ein weiteres Kapitel politi­ scher Gräueltaten abzuschließen. Im menschlichen Körper gibt es rund 206 Knochen und 32 Zähne. Jeder von ihnen erzähle eine Geschichte, hat Snow einmal gesagt. Und: Knochen seien groß­ artige Zeugen, denn sie vergessen nichts und lügen nie.

Wenn es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, ist nicht darauf zu vertrauen, dass es Staatsapparaten daran gelegen ist, diese aufzuklären. Wenn Bürger staatliche Verbrechen in den ­Fokus nehmen, verkehrt sich der – in aller Regel von Staatsorganen in Auftrag gegebene – forensische Blick zwangsläufig zur „Coun­ terforensik“. Der 1970 in Haifa (Israel) geborene Architekt Eyal Weizman ist ein solcher Counterforensiker. 2011 etablierte er mit Mitteln des Europäischen Forschungsrates (ERC) einen neuen Wissenschaftsbereich an der Goldsmiths Universität in London: Forensische Architektur. Gemeinsam mit einer interdisziplinären Gruppe von Architekten, Künstlern, IT-Experten, Wissenschaft­ lern und Rechtsanwälten beschreitet er seither unter dem pro­ grammatischen Namen Forensic Architecture ein weites Feld, in dem Architektur sich zur Metapher für sämtliche ästhetische Methoden erweitert, die zur forensischen Untersuchung von ­ Sachverhalten herangezogen werden können. Die Mitglieder der Gruppe rekonstruieren Räume, Gebäude, Städte, ganze Regionen und re-inszenieren Tathergänge. Mit ihren Expertisen unterstüt­ zen sie Menschenrechtsorganisationen, Staatsanwälte und zivil­

Videodokumente, Karten, Funksprüche – In „Mare Clausum. The Sea Watch vs. Libyan Coast Guard“ (2017) untersuchten Forensic Architecture ein Flüchtlingsdrama vor der libyschen Küste. Foto Forensic Oceanography and Forensic Architecture, 2018


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gesellschaftliche Gruppen bei ihrer Beweisführung in Menschenund Völkerrechtsprozessen. Von der Prämisse geleitet, dass staatlich verübte Gewalt Spuren hinterlässt und die verantwort­ lichen Entscheidungsträger über die Macht verfügen, diese auch zu beseitigen, schaffen sie, unbeirrt von Morddrohungen, Beweise, die vor Gericht standhalten können. Die Vorgehensweise ist dabei vergleichbar mit der einer Detektei, an die Fälle herangetragen werden. Nach gewissenhafter Abwägung der politischen und ­juristischen Implikationen und gestützt auf die Frage, ob durch eine architektonische Herangehensweise relevante Beweise gelie­ fert werden können, trifft ein interner Vorstand die Entscheidung, ob ein Fall angenommen wird. Auch darüber, ob gegen Bezahlung oder ehrenamtlich gearbeitet wird. Aktuell besteht die Gruppe um Weizman aus rund 15 Personen. Stellen wir uns nun für einen Moment eine Wolke vor, aus der sich weiße Tentakel um die darunterliegenden Gebäude, ­Plätze, Straßen, Menschen schlängeln. Zerstörung. Verbrannte Haut. Zwischen Dezember 2008 und Januar 2009 zogen mehrere solcher Wolken am Himmel über Gaza auf. Militärisches Fach­ wissen, Zeugenaussagen und Projektilabfälle legten nahe, dass es sich bei den Wolken um weißen Phosphor handelte, den das israe­ lische Militär in diesen Tagen über den Köpfen der Menschen ge­ zündet hatte. Ein Untersuchungsbericht, der sich unter anderem auf die Expertise von Forensic Architecture stützte, wurde dem Genfer UN-Büro sowie dem israelischen Obersten Gericht vorge­ legt. Noch vor der abschließenden Anhörung erklärte das israeli­ sche Militär, keine Phosphorbomben mehr in besiedelten Gebie­ ten einzusetzen. Jede Wolke, die durch die Sprengung einer Bombe hervorgerufen wird, ist einzigartig, jede Wolke hat ihren eigenen Fingerabdruck, erklärt Weizman. In ihrer Londoner Hightech-Datenzentrale arbeiten die Counterforensiker mit atemberaubender Schlagkraft. Die Anfra­ gen übersteigen bisweilen ihre Kapazitäten. So werde ich in einer E-Mail höflich um Nachsicht gebeten, dass ein Interview nicht mehr rechtzeitig vor Abgabe des Textes bewerkstelligt werden könne. Neben der Produktion von Wissen liegt der Anspruch von Forensic Architecture darin, dieses auch zu vermitteln. Die Wur­ zel des Begriffs Forensik findet sich im Lateinischen forensis: zum Forum gehörig. Sie nutzen bestehende Foren oder arbeiten, wenn erforderlich, an der Entwicklung neuer. Auch in Ausstellungen und im Internet verschaffen sie Missständen Gehör. Ihre wachsende Reputation im Feld der Künste macht sie als Wissenschaftler allerdings auch anfechtbar, wie sich anhand ihrer Untersuchung eines der spektakulärsten Kriminalfälle der jüngsten deutschen Geschichte zeigt: Im November 2016, zehn Jahre nach dem Mord des „NSU“ an Halit Yozgat in einem Inter­ netcafé in Kassel, beauftragte das Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ Forensic Architecture mit der Untersuchung des Falles. Zum Tatzeitpunkt war auch Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, am Tatort an einem der Compu­ ter eingeloggt. Er will später nichts gesehen, gehört oder gar ge­ rochen haben und wurde vor Gericht entlastet. Forensic Architecture entwarfen anhand von Fotos und Videoaufnahmen, die auf der Internetplattform NSU Leaks öffentlich gemacht wurden, ein digi­ tales Modell des Internetcafés, bauten es im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) maßstabsgetreu nach und rekonstruier­

forensic architecture

ten darin mit Schauspielern mögliche ­Varianten des Tathergangs. Auch die Verbreitung des Schieß­pulvergeruchs und die Akustik des Schusses selbst wurden analysiert. Temmes Aussagen gelten demnach als zweifelhaft. Die E ­ rgebnisse aber wurden vom Deut­ schen Bundestag als nicht belastbar zurückgewiesen. Es wurde argumentiert, bei Forensic ­Architecture handele es sich um eine „Künstlergruppe“. Zur Wiederaufnahme des Prozesses kam es nicht. Die Akte plus Anlagen mit den Aussagen Temmes bleibt auf Anordnung von amtlicher Stelle bis in das Jahr 2134 unter ­Verschluss. Das im HKW entstandene Video „77sqm_9:26min“ ­wurde 2016 im Rahmen der documenta 14 gezeigt und katapul­ tierte Forensic Architecture 2018 schließlich auf die Shortlist des ­Turner-Preises. Forensic Architecture betreten das Kunstfeld in einer „post­ autonomen“ Weise. Ihre Untersuchungen sind konkrete Beiträge zu einem Verständnis sozialer und politischer Praxis im Umfeld zumeist symbolischer Kämpfe und befeuern die Debatten da­ rüber, ob die Kunstautonomie auch jenseits von Kulturtheorie und Kulturpolitik weiterhin bestehen kann. Auf der Kunstbiennale Manifesta, die 2018 in Palermo Station machte, präsentierten ­Forensic Architecture „Mare Clausum: The Sea Watch vs. Libyan Coast Guard Case“. Die raumgreifende Installation umfasste Videodokumente, Karten, Funksprüche und 3-D-Animationen ­ ­einer dramatischen Rettungsaktion auf offener See, bei der 2017 zwanzig Menschen ums Leben kamen. 47 Passagiere wurden offi­ ziell nach Libyen zurückverfrachtet, ein eklatanter Widerspruch zu einem der Eckpfeiler des internationalen Flüchtlingsrechts, dem Grundsatz der Nichtzurückweisung. Der von Forensic ­Architecture verfasste „Mare-Clausum-Bericht“ belegt, dass dieses Ereignis eine Konsequenz der drastischen Maßnahmen ist, die von Italien und der Europäischen Union zur Eindämmung der Migration im zentralen Mittelmeerraum umgesetzt werden. In einer Videosequenz ist eine Hand zu sehen, die, aus dem Wasser ragend, vergeblich nach Halt sucht. Ein Voiceover bemerkt erschreckend emotionslos: „Das Meer ist schnell für bestimmte Güter und Passagiere, langsam und tödlich für die Unerwünschten.“ Der Tod ist, wenngleich auch nur für einen kurzen Moment, nicht län­ ger eine Abstraktion, wenn es um politisches Schicksal geht. // Forensic Architecture (FA), 2011 gegründet, ist ein Recherche- und Künstlerkollektiv am Centre for Research Architecture der Goldsmiths Uni­ versity of London, bestehend aus Architekten, Wissenschaftlern, Künstlern, Filmemachern, Soft­ wareentwicklern, investigativen Journalisten, Archä­ologen, Juristen und Forschern. Unter der Leitung von Eyal Weizman untersucht die Gruppe mit den Möglichkeiten der Architektur und der Medienanalyse Menschenrechtsverletzungen und staatliche Desinformation. FA war im Auftrag ziviler Opfer, verschiedener NGOs und der UN tätig. Ausstellungen waren u. a. in der Londoner Tate Modern und im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu sehen. 2016 war das ­Kollektiv auf der Architekturbiennale in Venedig sowie 2017 auf der documenta 14 in Kassel vertreten. Im vergangenen Jahr war die Gruppe für den Turner-Preis nominiert. Foto Paul Stuart for New Scientist

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Die Zukunft wird verwirrend sein. Dieser Spruch in der Installation des britischen Künstlers Tim Etchells umreißt knallbunt und damit nahezu freundlich die derzeitige Situation in Großbritannien. Die Stunde des Brexits naht, doch wie wird er ablaufen und welche Folgen hat er für die Menschen? Wir haben Tim Etchells, das deutschbritische Performance-Kollektiv Gob Squad sowie den britischen Regisseur Robert Icke um Statements gebeten. Der ehemalige Intendant des HOME Theatre in ­Manchester Walter Meierjohann und der in London lehrende Theaterprofessor ­Peter M. Boenisch geben zudem Einblick in ein Land, das zutiefst zerstritten ist.


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brexit

Bye, Bye, Europe

Drei Statements zum Brexit Tim Etchells: Wir haben unsere Taschen mit Steinen gefüllt

B

Für eine Gruppe wie Forced Entertainment, die ihren Sitz in Großbritannien hat, sich seit den späten 1980er Jahren an   rexit“, so sagt man im Uneinigen Königreich, „meint Bre­ ­Ko­produktionen und Partnerprojekten beteiligt und regelmäßig auf Europa- und Welttournee geht, stellt der Brexit perspektivisch xit“, doch keiner weiß, was das eigentlich bedeutet. Links wie rechts – gleichgültig, wohin man sich auf der Suche nach einer vielleicht nicht mehr als eine missliche, ungewollte Störung dar. Unsere angeblichen Volksvertreter er­ Erklärung oder einem überzeugenden kohärenten Plan wendet – offenbaren die weisen sich als inkompetent, und wir wis­ sen – obwohl der Prozess weit fort­ Reden der meisten britischen Politikerin­ geschritten ist – noch immer nicht mit nen und Politiker nichts als ein explosi­ ves Gemisch aus heißer Luft und Lächer­ letzter Sicherheit, wie bitter der Tee ist, den sie uns letztlich einschenken. Für lichkeit. May glaubt, es wird schon alles gut gehen. Corbyn übt sich in gedämpfter ­unsere Projekte bekamen wir nie Förder­ gelder von Creative Europe oder aus Opposition: Man ist einverstanden, nicht ­anderen EU-Programmen. Insofern ver­ einverstanden zu sein. Allzu heftig soll lieren wir jetzt auch keinen etablierten der Widerstand ja nicht sein. Mäzen. ­Allerdings waren und sind wir Sprechen Sie uns auf keinen Fall natürlich beteiligt an Projekten und Insze­ an! Wir haben unsere Taschen mit Stei­ nierungen, die aus genau diesen Fonds nen gefüllt und laufen gemeinsam auf das tiefe Wasser zu, das uns vom Rest Eu­ finanziert werden. Diese Möglichkeit wird es künftig eher nicht mehr geben. ropas trennt. Wir schauen nicht hoch, sind gefangen in dem erbärmlich engen Eventuell – und das wäre der einzig posi­ tive Aspekt – wird das Pfund Sterling am Spielraum eines nicht bindenden Refe­ Ende mehr oder weniger genauso viel rendums von rein empfehlendem Cha­ rakter, sind entschlossen, zu springen, wert sein wie der Euro. Das ist für uns als einzutauchen und zu versinken. Wir wer­ Exporteure auf internationalen Märkten den untergehen oder für alle Zeit im gif­ Es wird sein – das Chaos, die Katastrophe, zunächst ein Vorteil, obwohl wir mit un­ der Brexit: Die Arbeit „Will Be“ (links, 2010) tigen Nass leben, unter Wasser, uns müh­ seren Gagen und Spesen auf Tour nicht von Tim Etchells (oben) scheint aus heutiger sehr weit kommen. Aber das wäre es sam durchschlagend, den Bestimmungen Sicht prophetisch. einer Vereinbarung folgen, die so mager dann auch schon. Ansonsten nur Negati­ Fotos Courtesy of the Artist / Hugo Glendinning ves, und es herrscht der gute alte Nebel. ist, dass niemand, gleichgültig, welcher Dickens lässt grüßen. Werden wir, statt politischen Couleur, ihr tatsächlich zu­ stimmen mag. Vielleicht durchleben wir der problemlosen Situation, in der wir auch das noch größere Vakuum, den Brexit ohne Vertrag. Wäh­ uns bisher befanden – nahezu völlige Freizügigkeit der Bewegung rend wir uns in diesem Scherbenhaufen dem vermeintlichen europaweit, die Möglichkeit, Projekte zu entwickeln, Produktio­ Knackpunkt nähern, hören wir den immer verzweifelteren Appell, nen zu präsentieren, aufzutreten, auf allen Ebenen mit europäi­ schen Partnern zu kooperieren –, künftig Gefangene sein eines „unsere Differenzen außen vor zu lassen und uns zusammenzu­ komplexen und kostenintensiven, zeitraubenden, internationalen, reißen“, da doch Dissens oder interner Streit unser Vorwärts­ kommen – den Weg zum Suizid im kalten Wasser, den wir offen­ bürokratischen Labyrinths der Pässe, Visaanträge und lästigen Steuererklärungen? Wir wissen es nicht. Werden am Tag eins nach bar kollektiv verüben wollen – nur verlangsamt. Es gibt kein Zurück! dem Brexit Flugzeuge legal und sicher auf der Gefängnisinsel

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thema

l­anden oder von ihr starten? Wir wissen es nicht. Wird unser Transporter bei der Rückkehr von den Shows in Amsterdam im April wochenlang im Fährhafen warten müssen, bis er nach Eng­ land zurückkehren darf, was unsere Pläne für die folgenden ­Wochen und Monate torpediert? Auch das wissen wir nicht. Wie andere internationale Unternehmen sind wir gezwungen, abzu­ warten. Verhandeln ist jetzt nicht möglich. Später – „wenn es so weit ist“ – werden wir – „so gut es geht“ – eine Lösung finden. In diesem politischen Albtraum der zwei Jahre, die seit der Abstim­ mung vergangen sind, bietet sich nichts, was uns hoffen oder er­ warten lassen könnte, dass die nächsten Schritte sorgsam und richtig gegangen werden. Da, wo wir – europäische Theatermacherinnen und Thea­ termacher aus Sheffield, UK – uns befinden, erweisen sich die massivsten Nachteile des ruinösen Brexits jedoch nicht in der vor­ stehend geschilderten, pragmatischen Hinsicht. Wir befürchten auch nicht, dass alte und neue Beziehungen zu Produzenten, Kura­ toren und Festivals in Europa in der zu erwartenden gedrückten Stimmung verloren gehen oder nicht ausgebaut werden. Wir ge­ hen davon aus, dass laufende Gespräche fortgesetzt werden, dass wir Chancen und Realitäten weiterhin europaweit und grenzüber­ schreitend leben können, in unserem künstlerischen Handeln, unserem philosophischen und politischen Denken auf internatio­ naler Bühne. Das alles wird es auch weiterhin geben, jedenfalls soweit wir dazu beitragen können. Es wird schwieriger werden, in komplexere Strukturen gezwängt, problematischer in der Finan­ zierung und Organisation, gewiss. Doch es wird weitergehen! Gleichwohl treibt uns die politische Realität um, die der Bre­ xit in Großbritannien offenbart und verstärkt hat. Was auch im­ mer es sonst noch war: Das Referendum ist eine Manifestation von Xenophobie, Rassismus, Angst vor dem Anderen und dem Anderssein. Getrieben von Sehnsucht oder Nostalgie, gilt es – so scheint es –, zu einem „Vereinigten Königreich“ zurückzukehren, das nur als historische Fantasie existiert: ein Land der Gerechtig­ keit und des Anstands, ein Land, das die dauerhaften ökonomi­ schen und anderen Grausamkeiten des Klassensystems vergessen macht; ein Land als internationaler Vermittler und Einflussneh­ mer, das – anders als das Empire – ohne imperialistisches Blut­ vergießen auskommt. Theresa May wird von unserem eigenen Xenophobia Express geliebt und geschätzt, stand sie doch schon als Innenministerin für die Politik des „toxischen Ambientes“, die durch Verelendung und Einschüchterung Migration überall im Land eindämmen sollte. Als Premierministerin missachtete sie von Anfang an die Rechte der im UK lebenden EU-Bürgerinnen und Bürger: Wenn sie sich für sie einsetzt oder ihnen Priorität einräumt, dann nur als Faust­ pfand in Verhandlungen. Gleichzeitig vergiftet sie mit ihrer ­Rhetorik permanent die gesellschaftliche Wahrnehmung von Ein­ wanderung. Seit der Brexit-Abstimmung ist die Zahl der Hassver­ brechen gestiegen, Bedrohung und Schikane gegen Nicht-Weiße beziehungsweise Menschen anderer Herkunft und anderer Spra­ chen nehmen kontinuierlich zu. Ganz subtil und ausgesprochen hässlich hat man sich darauf verständigt, dass der Brexit – zwi­ schen den Zeilen gelesen – am Ende „weniger“ oder „weniger sichtbare“ Fremde und „queue jumper“ (Drängler), wie May die EU-Bürger kürzlich nannte, auf dem Arbeitsmarkt bedeuten soll.

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Als die wahren Architekten des Brexits – wenn ein Crash zweier Fahrzeuge im Zeitlupentempo überhaupt Architekten haben kann – erweisen sich mittlerweile die rechten Tories, die in grausiger Zusammenhanglosigkeit parallel zu denen agieren, die nur noch Partikularinteressen im Sinn haben: die rechte Presse, die jeweili­ gen Medienmoguln oder Oligarchen, die Ideologen des freien Marktes, die von der chaotischen Deregulierung und der sozialen Spaltung profitieren und das Land mit dem Brexit in eine Position drängen wollen, in der es von jeglichen EU-Arbeitsrechten, Nor­ men und Menschenrechten befreit operieren kann. Wie aber bringt man konstruktiv ein Land voran, in dem es, wie in den vom ungezügelten Populismus heimgesuchten Län­ dern USA, Ungarn, Polen und anderen Staaten, auf rutschiger Piste rasant bergab geht? Hier wie dort will die Demokratie funk­ tionieren, wie man es von ihr erwartet, doch wird sie – online und offline, zu Hause und in der Ferne – von Manipulationen in Poli­ tik, Finanzen und Kommunikation unterminiert. Materiell wird von alldem in der Arbeit von Forced Enter­ tainment vermutlich wenig zu spüren sein – wenngleich wir uns über die Zukunft der Finanzierung von Kunst in dieser sich ­drastisch wandelnden politischen Landschaft durchaus Gedanken machen müssen. Spüren werden wir die Folgen allerdings da, wo wir als Menschen und Bürger leben und arbeiten. Wir müssen uns in unserer künstlerischen Arbeit mehr denn je der politischen Dimension stellen und dürfen die Ungleichheit von Chancen und Wahrnehmungen, die im Brexit-Referendum zweifellos eine Rolle gespielt hat, nicht länger ignorieren. Einen Teil des Preisgeldes, das wir 2016 mit dem IbsenPreis bekamen, werden wir für die Finanzierung von partizipato­ rischen Projekten und für die Entwicklung von Möglichkeiten für junge Künstler und Performer ausgeben. Wir werden uns noch intensiver in lokalen Zusammenhängen und bei der Nachwuchs­ förderung engagieren. Bisher waren wir privilegiert, konnten uns frei bewegen, kreativ sein, Kontakte ins Ausland knüpfen und inter­ national unsere Chancen nutzen. Heute suchen wir nach Wegen, diese Möglichkeit auch anderen zu öffnen. Wir arbeiten mit jun­ gen Menschen in unterschiedlichen Zusammenhängen in Groß­ britannien und mit Künstlerinnen und Künstlern, die in E ­ uropa heute noch nicht so bekannt sind wie Forced Entertainment. Vor allem aber sind wir in jeder Hinsicht entschlossen, den wichtigen und vitalen europäischen und internationalen Kontext unserer Projekte fortzuschreiben. Seit Gründung unseres Ensem­ bles 1984 war die Verbindung nach Europa für uns unerlässlich. Auch aus finanziellen Motiven, gewiss, doch in erster Linie aus kreativen und künstlerischen Gründen. Der Dialog und die Zu­ sammenarbeit mit Künstlern, Regisseuren, Programmmachern, Kuratoren und dem Publikum außerhalb des UK waren und sind uns ständige Inspiration und enorm wichtig für unsere Arbeit. Der Brexit wird, wenn es tatsächlich dazu kommt, gleichgül­ tig, in welcher Form er realisiert wird, eine Blockade und Barriere sein. Unser Engagement für das, was wichtig ist, wird er jedoch nicht stoppen. // Tim Etchells ist Künstlerischer Direktor des britischen Performance-Kollektivs Forced Entertainment. Aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese.


brexit

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Gob Squad: Bis die Alarmglocke schrillt

Ü

ber den „Brexit“ zu schreiben, ein Wort, eine Idee und eine Marke, die es schafft, etwas so Komplexes auf zwei Silben zu redu­ zieren, fühlt sich ein bisschen so an, als würde man gegen Wind­ mühlen kämpfen. Die Welt ist mit allen möglichen Meinungen zu diesem Thema geflutet. Sie erreichen uns als Push-Benachrichti­ gungen und Newsfeeds aus unseren Hosentaschen. Wie ein Ozean voll Plastikmüll. Die Fische darin sind wir, wir essen diesen Müll, verwechseln ihn mit Nahrung. Verfangen in einem World Wide Web aus bunten Plastikinformationen, ist es für uns kinderleicht, für je­ des Detail des laufenden Scheidungsdramas schnelle Lösungen zu finden. Die Welt ist voller Populismen zum Aussuchen, inklusive verlockender Narrative, die Ablenkung versprechen (denkt nicht zu

viel über den Plastikmüll in den Ozeanen nach). Es wird einem schwindelig dabei. Und nun wird uns dieses Plastik, das wir für Plankton hielten (Wissen ist Macht), umbringen. Die physischen Auswirkungen, die das Votum, die EU zu verlassen, auslöste, waren überraschend stark: ein irritierendes Gefühl von Verwüstung, Verlust, Versagen sowie eine surreale Entfremdung von uns selbst und von der Welt, ein merkwürdiges Empfinden stiller Trauer. Die Stimmung, welche die Menschen dazu veranlasste, für den Austritt zu stimmen, wurde mithilfe einer

Surreal – Als Gob Squad mit „Revolution Now!“ am Tag des Referendums in Norwegen gastierten, wurde ihnen zum Brexit gratuliert. Foto Frank Hoensch / bildbuehne.de

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Kombination von F ­ aktoren geschaffen, die vorher nichts mitein­ ander zu tun hatten. Links und rechts haben sich im politischen Spektrum neu aus­gerichtet. Wertvolle Globalisierungskritik sitzt plötzlich mit Nationalismus und Hass am selben Tisch. Am Tag der Abstimmung waren wir, Gob Squad, im äußers­ tes Norden Norwegens unterwegs, wo Tag und Nacht die Mittsom­ mersonne am Himmel steht, was das seltsame, surreale Gefühl, dass die Welt aufgehört hat, sich zu drehen, nur verstärkte. Man­ che Norweger gratulierten uns zum Wahlergebnis und machten die Situation damit noch surrealer. Wir gastierten mit „Revolution Now!“ in einem alten Kino, das im Foyer ein Poster von „Indepen­ dence Day: Wiederkehr“ hängen hatte. In den sogenannten „Welt­ nachrichten“ schlug Nigel Farage, der Anführer der UK Indepen­ dence Party, vor, den 23. Juni in Gedenken an diesen britischen „Independence Day“ zum öffentlichen Feiertag zu erklären (bi­ zarrerweise der gleiche Tag wie der Filmstart). Mittlerweile sind die beiden Hauptverantwortlichen dieser neuen Realität, James ­Cameron und Nigel Farage, von ihren Posten zurückgetreten. ­Einem Verständnis dessen, was das alles zu bedeuten hat, sind wir auch zwei Jahre später nicht nähergekommen, derweil die politi­ schen Akteure mit harten Bandagen darum kämpfen, ihre Ziele durchzusetzen. Als wir „Revolution Now!“ beim Arctic Arts Festival vor dem kleinen Grüppchen von Norwegern performten, fiel uns auf, dass die Sprache im Stück, welches sich mit den zahlreichen revolutio­ nären Bewegungen des 20. Jahrhunderts beschäftigt, dieselbe ist,

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die Nigel Farage verwendet hat, um seine Basis zu überzeugen. In unserem Stück geben wir vor, ein Theater (in diesem Fall ein Kino) zu besetzen, eine Aktion, die wir live auf einem Fernseher vor dem Gebäude übertragen in der Hoffnung, Kontakt mit „dem Volk“ aufzunehmen, damit dieses endlich aufhört, „das Spiel ­mitzuspielen“, und sich stattdessen auf die wirklich wichtigen Probleme dieser Welt konzentriert. Farage, Trump, Le Pen und Bolsonaro benutzen ebenfalls eine radikale, revolutionäre Sprache und heucheln eine Außenseiterposition vor. Sie behaupten, die etablierte Elite habe sich vom „Volk“ entfernt, und schwören, „das System zu zerstören“. Jedes Mal, wenn wir die Namen dieser Populisten und ihrer Bewegungen aussprechen, schreiben oder hören, ist es ein kleiner Sieg für sie, da es ihre radikale Agenda und ihren (erfolgreichen) Versuch, uns zu spalten, nur verstetigt (manche von uns sind an­ scheinend nicht mehr „das Volk“). So wie George Bush vor der Invasion in den Irak erklärte: „Entweder seid ihr für uns oder ge­ gen uns“, sind wir nun fest im Griff einer weltweiten Bewegung, die dich auffordert, eine Entscheidung zu treffen: Auf welcher ­Seite stehst du? Als Gob Squad und also als Kollektiv sind wir uns immer noch nicht im Klaren darüber, wie unsere Arbeit in der künftigen Struktur von EU und UK aussehen wird. Man kann sicherlich sa­ gen, dass unsere Freundschaft und unsere gemeinsame Arbeit ein Produkt der Europäischen Union sind. Die Uni-Austausche, die uns zusammengeführt haben, und die unkomplizierten Reise­ möglichkeiten zwischen unseren Ländern waren relativ neue Phä­ nomene, als wir vor 25 Jahren erstmals zusammenkamen. Wir hatten die Freiheit, zusammen zu leben und zu arbeiten. Genau das könnte nach dem Brexit durch einen höheren bürokratischen Aufwand erschwert werden, wobei es ein politisches Ratespiel ist, was die neuen Regeln und Gesetze bringen werden. Irgendwie werden wir einen Weg finden müssen. Als Künstler bleibt die Notwendigkeit, sich der Agenda der Polarisierung zu widersetzen. „Wir“ und „die“ sind Erfindungen, die dazu dienen, eine unterkomplexe Debatte aufrechtzuerhalten, die lediglich diese beiden Seiten kennt. Wir dürfen daher nicht auf­ hören, unsere eigenen komplexen und multiperspektivischen Ent­ würfe zu kreieren. In Großbritannien gibt es ganze Gebiete, die jahrzehntelang ignoriert wurden (einige unserer Familienmitglie­ der kommen von dort). In Deutschland ist eines von fünf Kindern von Armut betroffen. Die Geschichte lehrt uns, dass nie etwas ­Gutes dabei herauskommt, wenn man diese Missstände vernach­ lässigt. Das ist vielleicht einer der Gründe für dieses Chaos. Derweil schwimmt all dieser Plastikmüll im Meer, ein ­Problem, dem sich die Menschheit dringend zuwenden sollte. //

Gob Squad wurde vor 25 Jahren in Großbritannien gegründet. Unter dem Titel „I Love You, Goodbye (The Brexit Edition)“ lädt das deutsch-britische Performance-Kollektiv gemeinsam mit dem HAU Hebbel am Ufer am 29. März 2019 im HAU1 dazu ein, für nur eine Nacht aus seiner einzigartig binationalen Position heraus über kulturelle Missverständnisse, Identität und die Natur von Liebe und Hass zu reflektieren.

Aus dem Englischen von Erika Meibauer.


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Robert Icke: Niemand ist mutig genug, Stopp zu rufen

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Geschichten sind, dann ist der Brexit keine Geschichte über Euro­ pa oder die EU, sondern über Großbritannien selbst, über eine kleine Insel, die mit allen Mitteln versucht, ihre Fantasien wahr werden zu lassen, indem sie ihre Zukunft zerstört. Theater wird stumpfsinnig, wenn es seinen Fokus auf die Vergangenheit legt – und tödlich, wenn es die Vergangenheit ver­ klärt. Die Kernidee des Theaters – ein kollektiver Akt der Empa­ thie, in dem das Diffizile und Andere Seite an Seite betrachtet werden können – scheint der winzigen, abgelegenen, angsterfüll­ ten Insel, die der Brexit uns verspricht, diametral entgegengesetzt. Es ist noch nicht abzusehen, ob der Brexit unsere Möglich­ keiten, Ideen und Künstler über Grenzen hinweg auszutauschen, einschränken oder gar zerstören wird – ebenso wenig, ob er die europäischen Einflüsse hemmen wird, die das britische Theater seit nunmehr fünfzig Jahren inspiriert und bereichert haben. Aber es scheint sicher, dass, wie auch immer der Brexit letztlich ablaufen wird, auf die Förderung der Künste in Großbritannien sehr schwierige Zeiten zukommen werden. Aber vorläufig fürchten die Politiker den Mob. Je düsterer die Brexit-Vorhersage wird, desto wütender wird das Volk auf die Politiker – und desto hündischer versprechen die Politiker, das Er­ gebnis des Referendums zu beachten. Der Abgrund, über den das Land sich selbst manövriert hat, ist weniger schreckenserregend als die Angst, die die verschiedenen Lager voreinander haben. Und niemand, der mächtig genug ist, ist auch mutig genug, Stopp zu rufen. //

ch schäme mich momentan dafür, Brite zu sein. Der Brexit ist eine populistische Bewegung, vergleichbar mit all jenen, die wir in den vergangenen Jahren auf dem Kontinent haben emporschie­ ßen sehen. Die Zutaten sind zumeist dieselben: Grenzschließun­ gen; Angst vor Immigration, die von Opportunisten angestachelt wird; eine legitime, aber fehlgeleitete Wut sowie die Auflösung der Rhetorik in Zorn (rechts) und Empörung (links). Die Welt scheint sich zu spalten, wo sie sich vor siebzig Jahren vereinte.

Was den Brexit so ungewöhnlich und zerstörerisch macht, ist der absolute Charakter dieser Spaltungen: In Großbritannien hat sich eine scharfe Grenze gebildet zwischen denen, die in der EU blei­ ben, und denen, die gehen wollen. Es gibt keine Mitte. Ein politi­ sches System, senkrecht gespalten in links und rechts, ist e­ rneut gespalten worden, diesmal waagerecht, in remain und ­leave. Der zweiteilige Staatskörper wurde in vier Teile zerhackt. Alte Bünd­ nisse und Parteitreue scheinen entweder zu zerbröckeln oder ex­ tremer zu werden. Hat ein linker Remainer jetzt mehr mit einem linken Leaver oder mit einem rechten Remainer gemeinsam? Nie­ mand scheint es zu wissen. Wirft der Brexit Prinzipien über den Haufen? Offensichtlich. Theresa May, die für remain geworben hatte, führt nun eine Pro-Brexit-Regierung, und Jeremy Corbyn, der leave präferierte, soll dafür zuständig sein, sich ihr entgegenzustellen. Teilweise ­wegen dieses totalen Mangels an Überzeugung gibt es weder eine Regierung noch eine Opposition. Was es stattdessen gibt, ist Kleinlichkeit und Dummheit, Starrsinn und Unehrlichkeit. Beide Seiten behaupten, das Volk zu respektieren, obwohl sie in Wirk­ lichkeit Angst vor ihm haben. Immerhin hat das Volk 2016 zum Schlag gegen eine Gruppe verhasster und gleichgültiger Politiker ausgeholt. Der Wille des Volkes muss erfüllt werden. Aber was ­bedeutet dieser Wille genau? Der Stimmzettel des Referendums bot lediglich leave oder remain. Keine der beiden Seiten hat einen Anführer, der dieser Bezeichnung gerecht wird. Trump hat mit dem Brexit eine vergiftete, falsche Nostalgie gemein: die Sehnsucht nach nationalem Ruhm, nach Souveränität sowie das pseudo-revolutionäre Narrativ, die „Kontrolle wieder­ zuerlangen“. Indem es seiner eigenen Zukunft schadet, seinen Handel beeinträchtigt und sich selbst ärmer macht, versucht Großbritannien, in eine Machtposition zurückzukehren. Diese ­offensichtliche Lüge kann erst entlarvt werden, wenn sie implo­ diert. Solange aber scheint sie unanfechtbar. Doch wenn Lügen

Robert Icke. Foto Manuel Harlan

Je düsterer die Brexit-Vorhersage wird, desto wütender wird das Volk.

Der Regisseur Robert Icke ist Associate Director am Londoner Almeida Theatre. Seine „Orestie“ eröffnete im vergangenen Herbst die Spielzeit am Schauspiel Stuttgart. Im Januar hatte am Theater Basel seine Inszenierung von ­Arthur Millers „Hexenjagd“ Premiere.

Aus dem Englischen von Erika Meibauer.

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Out of Touch Der ehemalige Intendant des HOME Theatre in Manchester Walter Meierjohann und der in London lehrende Theaterprofessor Peter M. Boenisch im Gespräch über den Brexit

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alter Meierjohann war von 2013 bis 2018 Intendant des HOME Theatre in Manchester. Er lebte seit 2005 in Großbritannien, wo er ab 2007 unter David Lan als Hausregisseur am Londoner Young Vic arbeitete. Meierjohann studierte von 1995 bis 1999 Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ und inszenierte danach

unter anderem am Staatsschauspiel Dresden, Theater Freiburg, Schauspielhaus Graz und Residenztheater München. Der Theaterwissenschaftler Peter M. Boenisch lehrte von 2003 bis 2018 an der University of Kent und ist Professor für Europäisches Theater an der Londoner Royal Central School of Speech and Drama. Wegen des bevorstehenden Brexits sind die beiden deutsch-englischen Theater-„Expats“ nach Berlin umgezogen.


brexit

Von München nach Manchester – „The Funfair“ (HOME Theatre, 2015) von Simon Stephens nach Horváths „Kasimir und Karoline“ spielt in der Regie von Walter Meierjohann zwar noch auf dem Oktoberfest, thematisiert aber britische Befindlichkeiten. Foto Graeme Cooper

und denen, die über Jahrzehnte vernachlässigt wurden. Das hat nichts mit der EU zu tun – im Gegenteil, deren regionale Förder­ programme haben bisher viel aufgefangen. Ich würde aber nicht von Schlussstrich sprechen. Dieser Schritt heißt ja keinesfalls, dass ich mit dem Land und seiner Sprache nichts mehr zu tun haben will. Wir sind uns doch einig: Es gibt in Großbritannien fantastische Leute, reizvolle Menschen und tolle Künstler, mit denen ich auch in Zukunft zusammenar­ beiten möchte; es ist ja bei Weitem nicht so, dass dort nur Rassis­ ten leben und alles furchtbar ist. Ich musste aber raus aus dieser täglichen politischen Depression. Das ist privat in der Tat ein ­Rieseneinschnitt: Unsere Kinder sprechen wenig Deutsch, sie müssen aufholen und lernen, was hoffentlich auch eine Chance ist. Meine Frau ist natürlich ebenfalls total Anti-Brexit, aber wäh­ rend ich von Prinzipien spreche, geht es für sie um ihre Heimat, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hat.

Peter M. Boenisch: Herr Meierjohann, während ich seinerzeit mit meiner Frau nach England ging, sind Sie mit einer Engländerin verheiratet, Ihre Kinder sind dort geboren und aufgewachsen. Der Schritt, Brexit-England zu verlassen, ist bei Ihnen somit nicht nur beruflich ein gravierender Einschnitt. Was hat Sie zu diesem radi­ kalen Schlussstrich bewogen? Walter Meierjohann: Ich habe mich seit 2016 nahezu täglich mit dem Brexit beschäftigt. Der Brexit hat aus mir einen überzeugten Europäer gemacht. Alles, wofür er steht, steht fundamental dem entgegen, wofür ich stehe. Ich bin in Holland aufgewachsen, habe in Amerika gelebt und empfinde ein großes Unbehagen ange­ sichts der nationalistischen Strömungen. Großbritannien war seit Langem tief gespalten – nicht nur zwischen rechts und links, son­ dern vor allem zwischen den Klassen, zwischen den Privilegierten

Boenisch: Bei uns stand der Gedanke an eine Rückkehr schon vor Juni 2016 im Raum. Im vergangenen Jahrzehnt erlebte England einen beispiellosen gesellschaftlichen Umbau, der mit dem Schlagwort Neoliberalisierung nur ungenügend beschrieben ist. Der Staat hat sich etwa aus der Finanzierung der Hochschulen zurückgezogen und regelt dies nun allein über Studiengebühren. Diese wurden seit meiner Ankunft verzehnfacht. Die Studieren­ den bekommen dafür statt staatlicher Grants nun einen zu verzin­ senden Study Loan, den sie später von ihrem Einkommen wie eine Steuer in Raten zurückzahlen. Die Abwicklung dieser Loans ist privaten Finanzunternehmen übertragen, denen der Staat die Summe der ausgegebenen Studienkredite samt projektierter künftiger Zinsen überweist. Dadurch fließen heute ungleich mehr Gelder an diese Finanzunternehmen, die den Bankerfreunden der konservativen Politiker gehören, als früher direkt an die Univer­ sitäten gingen! An den Hochschulen hat die Abhängigkeit von den Studiengebühren zu einem toxischen Wettbewerbsklima geführt – nicht nur zwischen den Fächern, wo Kunst- und Geisteswissen­ schaften oft das Nachsehen haben. Auch Lehrende konkurrieren mit harten Bandagen um Studierende, die sich in ihre Kurse ­einschreiben. Ich habe erlebt, dass ein Departmentsleiter einer Kollegin, einer angesehenen Theaterhistorikerin, in einer Gre­mien­ ­sitzung öffentlich ins Gesicht gesagt hat: „Wenn unsere Studieren­ den keine Theatergeschichte mehr belegen wollen, sollten Sie sich nach einem anderen Job umsehen.“ Gleichzeitig ist Theater als Schulfach, wie auch Musik und Kunsterziehung, aus den Lehrplänen des English Baccalaureate ge­ strichen worden, sodass nur noch privilegierte Schülerinnen und Schüler mit Kunst in Berührung kommen. Das auf breite Partizi­ pation an Bildung und Kultur setzende Programm der LabourRegierung aus den 1990er Jahren wurde also nicht nur vollständig abgewickelt, sondern der gesellschaftliche Diskurs in eine Rich­

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Walter Meierjohann. Foto Graeme Cooper

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tung gedreht, die ich schon vor dem Brexit-Votum als zunehmend antiintellektuell wahrgenommen habe. Meierjohann: Auch in meinen letzten Monaten am HOME konnte man schon ein Gespür für den Brexit bekommen. Die Budgets für die nächste Spielzeit wurden dermaßen eingedampft, dass man dort kaum noch eigenproduzieren kann. Diese Kürzungen haben nur indirekt mit dem Brexit zu tun, aber mehr Geld wird es nach dem Brexit sicher nicht geben – nicht am HOME, nicht im briti­ schen Theater allgemein. Ich fürchte, das wird nicht gut ausgehen. Boenisch: Wenn wir die Auswirkungen des Brexits auf britisches Theater bedenken, sollten wir über die Besonderheiten des dor­ tigen Theatersystems sprechen. Die unterschiedlichen Produk­ tionsbedingungen – weitgehend ohne Subventionen und ohne feste Ensembles, im En-suite-Betrieb, in dem Inszenierungen nach kurzen Laufzeiten nahezu unwiederbringlich wieder ver­ schwinden – sind weithin bekannt. Es hat aber eine Weile gedau­ ert, bis ich begriffen habe, dass darüber hinaus Theater in Groß­ britannien eine komplett andere gesellschaftliche Rolle spielt. Kunst und Kultur sind keine selbstverständlichen Werte bürger­ licher Bildung. Theater ist in erster Linie Unterhaltung, wie Kino und Fernsehen. Darüber hinaus hat es allenfalls eine soziale Funktion, im Sinne des „Applied Theatre“. Nicht zuletzt deshalb hat mich Ihre Arbeit am HOME in Manchester fasziniert. Sie haben dort diese beiden grundlegend verschiedenen Theater­ ­ kulturen in einen Dialog gebracht, den es bislang in England mit Ausnahme von David Lans Londoner Young Vic nicht gab – ich sage ausdrücklich England, denn Schottland und Irland haben viel engere Beziehungen zur kontinentalen Kunst- und Theater­ szene. Sie haben ein anspruchsvolles Programm geboten, das sich auch an einem deutschen Haus hätte sehen lassen können, und haben neben Eigenproduktionen auch nationale wie internationale

Gastspiele gezeigt und koproduziert, etwa mit Philippe Quesne, Hofesh Shechter und auch mit Thomas Ostermeiers Schaubühne. Die „Rückkehr nach Reims“ hatte ja bei Ihnen Premiere. Meierjohann: Das HOME ist ein Dreispartenhaus für das 21. Jahr­ hundert. In der deutschen Tradition heißt drei Sparten: Schau­ spiel, Oper und Ballett – das HOME umfasst fünf Arthouse-Kinos, zwei Theaterbühnen und eine Galerie, und diese drei Kunstfor­ men sollten zueinander und miteinander sprechen. Das hat mich an der Aufgabe gereizt. Mir ging es darum, eine antinaturalisti­ sche Theatersprache einzuführen und nicht nur ein schönes Stück aufführen zu lassen. Das stellte schon eine große Neuerung dar. Bei uns hatte eine ausdrückliche Bühnenbildästhetik einen großen Anteil an den Inszenierungen; wir hatten Johannes Schütz am HOME, Stéphane Laimé, Steffi Wurster. Außerdem habe ich die Position einer Dramaturgin eingeführt, die am Haus ange­ stellt war. Das sind europäische, oder sagen wir ruhig, deutsche Produktionsweisen, wo die Engländer erst fragen, hä, warum, das kostet so viel Geld. 2013 wurden solche Ideen aber noch unter­ stützt – das war noch eine optimistische Vor-Brexit Zeit. Manches­ ter versuchte sich als international denkende Stadt zu profilieren, nicht nur mit dem Manchester International Festival, der Wille war da, auch für einen langen Atem. Es gab viel positive Reak­ tionen von der örtlichen Szene, die wir durch eine Reihe von ­Programmen eingebunden hatten. Wir haben gemeinsam daran geglaubt, anders Theater zu machen. Boenisch: Nun ist Manchester eine Großstadt, aber eben nicht London. Hat man dort ebenfalls diese Spaltung zwischen der zen­ tralen Stadt und der abgehängten Peripherie der Provinz gespürt, die ja beim Brexit-Votum eine entscheidende Rolle spielte? Meierjohann: Manchester selbst ist eine remain-Stadt, aber die Nachbarstadt Salford, keine zehn Minuten entfernt auf der ande­


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Boenisch: Die Mehrheit der britischen Theatermacher, genau wie die Mehrheit meiner Kollegen an den Universitäten, waren klar für remain. Rufus Norris, der Intendant des Londoner National Theatre, stellte nach dem Referendum in einem Interview die pro­ vokante Frage, ob Künstler deshalb „out of touch“ mit der briti­ schen Gesellschaft waren. Was denken Sie? Meierjohann: Seine Antwort war, Autoren in die Provinz zu ­schicken, um auf die Brexit-Unterstützer einzugehen, und er hat daraus das Stück „My Country“ gemacht. Damit habe ich meine Probleme. Natürlich soll man den Leuten zuhören, aber gleich­ zeitig sollte man doch gerade als Leiter des National Theatre ­Haltung zeigen, gegensteuern und beweisen, dass die Kunst bes­ ser ist als die Politik, kurzum, eine Alternative zur desaströsen politischen Einstellung bieten, indem Theater zeigt: Wir können und wir wollen über Nationalitäten hinweg zusammenarbeiten, wir haben Interesse aneinander. Das englische Theater ist für mich „out of touch“ aus dem gegenteiligen Grund: Rufus Norris war der erste Intendant des National Theatre überhaupt, der das Avignon-Festival besucht hat, das muss man sich vorstellen! Und er ist noch nie in seinem Leben in Berlin gewesen! Als er mir das erzählt hat, gingen mir die Augen auf. Ich frage mich, ob das eng­ lische Theater nicht dadurch dem Brexit einen fruchtbaren Boden bereitet hat, weil es vom gleichen insularen Denken bestimmt ist, das einfach nicht daran interessiert ist, Gastspiele aus dem Aus­ land einzuladen, nicht einmal fremde Stücke zu zeigen. Ist es nicht das wahre Versäumnis gewesen, lange vor dem Brexit auch mal ein französisches oder polnisches Stück zu spielen – auch am National Theatre? Boenisch: Von den an englischen Bühnen gespielten Stücken ist nicht einmal ein Prozent nicht auf Englisch geschrieben. Sie waren der erste nichtmuttersprachliche Intendant Großbritanniens. Meierjohann: Es gibt auch keine Pendants zu Luk Perceval oder Johan Simons, obwohl gerade in London viele ausländische Thea­ terregisseure leben. Die große Frage ist für mich: Wie viel Inte­ resse hat das englische Theater – und auch ich spreche bewusst nicht von „britischem“ Theater – wirklich an internationalem ­Austausch und an einer Haltung, die nicht rein „national“ bleibt? Aber – das Land ist nun mal eine Insel, man stößt überall an

Peter M. Boenisch. Foto privat

ren Seite des Flusses, ist eines der Zentren der leave-Bewegung. Meine Eröffnungspremiere am HOME war Horváths „Kasimir und Karoline“, in einer Bearbeitung von Simon Stephens, die wir „The Funfair“ genannt haben. Simon, der aus Manchester kommt, ließ aktuelle Befindlichkeiten in das Stück einfließen, ohne Zeit und Ort von Horváths Oktoberfest zu ändern. Es ging um Jugend­ liche, um Arbeitslosigkeit, seine Bearbeitung hat eine Sorge aus­ gedrückt. Es war ein ganz schön düsteres Stück. Es war zwar im Vergleich zum Brexit noch recht milde, doch das Erstarken einer neuen Rechten hat uns schon damals bewegt. Weil Sie vorhin von der Unterhaltungsfunktion des englischen Theaters sprachen: Diese Eröffnung lief komplett gegen die Erwartungen. Normaler­ weise eröffnet man mit Shakespeare, einer netten Komödie, die alle toll finden. Hier gab es nur zwei Reaktionen: Manche waren fassungslos, andere restlos begeistert, so etwas im Theater zu se­ hen: dass auf der Bühne über Manchester gesprochen wird, von einer Sorge, von aktuellen Problemen.

­ asser und fährt nicht einfach eben über die Grenze, um dort zu W tanken oder einzukaufen, weil’s da billiger ist. Es fehlt die tägliche Begegnung mit einem anderen Land, und Theater hat solche ­Begegnungen auch kaum hergestellt. Boenisch: Gibt es etwas Positives, das Sie aus dem englischen Theaterbetrieb mit zurück nach Deutschland bringen? Meierjohann: Sie haben vorhin den sozialen Aspekt erwähnt. Im Bereich der Arbeit mit jungen Leuten, mit sozial unterprivilegier­ ten und bildungsfernen Gruppen ist England viel weiter als Deutschland, das hat mich sehr beschäftigt und inspiriert. Das wird natürlich manchmal sehr schematisch und allzu didaktisch angegangen, aber wenn es gut geht, wenn Kollegen Theater lei­ denschaftlich als sozialen Auftrag begreifen, kann dies dem künstlerischen Anspruch nur zuträglich sein, weil man wirklich Leute erreicht – da kann man als Deutscher viel lernen. Was ich aber am meisten bewundere, sind die Idee und der Spirit des englischen Company-Modells, das sich vom deutschen Ensemble unterscheidet, vor allem weil keine Intendantenfigur mit all ihrer Macht an der Spitze steht. Ein derartiges hierarchie­ freies Gruppenmodell ist in Deutschland allenfalls mit dem freien Theater assoziiert. Es wäre mein Traum, eine solche Schauspiel­ kompanie jenseits des Stadttheatersystems zu gründen, mit inter­ nationalen Schauspielern, internationalen Autoren und internatio­ nalen Regisseuren, die internationale Gastspiele gibt; das ist mein Traum eines europäischen Theaters. //


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Der neue Mann von gestern Theaterkrise in Schwerin – Steht Intendant Lars Tietje auf verlorenem Posten? von Gunnar Decker

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o gibt es noch ein Theatergebäude, das so malerisch da­ liegt wie das des Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin? Vis-à-vis dem Schloss, das auf seiner Halbinsel in den See ragt, rechts und links zur Seite die mecklenburgische Gemäldegalerie und der Sitz verschiedener Ministerien. So war das bei den Schwe­ riner Großherzögen: Macht und Kunst sollten dicht beieinander sein, zumindest architektonisch. An diesem so repräsentativen Ort erwartet man keine Krise wie die jetzige. Aber sie ist da, der Streit um Generalintendant Lars Tietje eskalierte in den vergangenen Monaten so heftig, dass man über die Grenzen von Stadt und Land hinaus aufmerkte. Was ist da los, gerade jetzt, wo man doch gehofft hatte, mittels des ­neuen Theaterpakts der Landesregierung die seit einem Viertel­ jahrhundert schwelende Dauerkrise befriedet zu haben? Als ich mich dem Portal nähere, lese ich an einem darüber­ hängenden Banner den Satz von Arthur Miller: „Man möchte das kleine Lämpchen Humanität in die Finsternis tragen.“ Ein schö­ nes Motto, gerade weil es sich nicht vordergründig optimistisch gibt. Aber wer begreift es hier in seiner täglichen Arbeit als Credo? Rechts am Eingang ein Schaukasten mit dem Plakat von Ernst

Lubitschs Tragikkomödie „Sein oder Nichtsein“, die Steffi Kühnert hier im vergangenen Jahr so erfolgreich inszeniert hat. Da steht, dass die nächste Vorstellung am 24. November 2018 stattfinde. Ich glaube es erst nicht, putze meine Brille, gehe ganz dicht ran, es bleibt bei dem Datum, für das hier geworben wird. Und wir haben jetzt Anfang Januar 2019! Das ist nicht nur schlecht, das ist für ein Theater, gleich welcher Größe, unverzeihlich. Fühlt sich hier denn niemand mehr für irgendwas verantwortlich? Rückblende in den Herbst 2016. Der neue Generalintendant Lars Tietje und sein mit ihm angetretener Schauspieldirektor ­Martin Nimz sitzen mir zum Interview gegenüber. Sie sind hier von den Schwerinern, die ihr Theater lieben, freundlich empfangen worden. Das Haus war in guter Verfassung, Joachim Kümmritz, der es erfindungsreich seit fast drei Jahrzehnten durch alle Wirren von Wende und Nachwende geführt hatte, beendete seine Intendanz in Schwerin. Seine warnenden Worte zum Abschied habe ich behal­ ten. Er habe nun von Jahr zu Jahr nur immer gespart und abgebaut, jetzt sei man an dem Punkt angelangt, wo man sagen müsse: Wer noch mehr abzubauen fordere, der wolle bloß noch kaputtmachen. Alle halbe Jahre stand das chronisch unterfinanzierte Mecklenbur­

Macht und Kunst lagen bei den Schweriner Großherzögen dicht beieinander – ob das auch heute noch so ist? Foto dpa


staatstheater schwerin

gische Staatstheater vor der Insolvenz und musste mit Ex­ ­ trazahlungen vom für diese ­Unterfinanzierung verantwortli­ chen Land „gerettet“ werden. Dieses unwürdigen Spiels war nicht nur Kümmritz, der sich immer vor das Haus gestellt und sich an der kommunalen und Landespolitik abgekämpft hatte, müde geworden. Sein langjäh­ riger Schauspielchef P ­ eter Deh­ ler hatte solide gearbeitet, aber auch bei ihm war inzwischen viel Routine im Spiel, große künstle­ rische Überraschungen erwartete vom Schweriner Schauspiel nie­ mand. So war man offen für neue künstlerische Impulse, neue Handschriften, neue Gesichter. Gute Stimmung während des Gesprächs, das gerade ein­ mal zwei Jahre zurückliegt (siehe TdZ 11/2016). Lars Tietje, der aus Nordhausen kam, wo man das Schauspiel bereits abge­ wickelt hatte, stand dort im Ruf, die Oper vor dem gleichen Schicksal be­ wahrt zu haben. Vom Schauspiel habe er keine A ­ hnung, so sagte er mir damals, dafür habe er sich Martin Nimz, einen erfahrenen Re­ gisseur und besonnenen Menschen, geholt, der das Theater wieder stärker an eine nichtnaturalistische ­Formensprache heranführen wolle, ganz in der Nachfolge von Christoph Schroth, der das Schwe­ riner Theater in den 1980er ­Jahren zu einer der wichtigsten Bühnen der DDR gemacht hatte. Tietje und Nimz kannten sich aus Kassel, beide hatten dort unter dem Intendanten Christoph Nix gearbeitet, Tietje als Chef des künstlerischen Betriebsbüros und Nimz als Schauspieldirek­ tor. Nimz sagte 2016 (und wiederholt das auch heute noch), Tietje wäre in der Kasseler Zeit ein absolut zuverlässiger Partner gewe­ sen. Man schätze sich menschlich, ginge ehrlich miteinander um. Tietje nickte dazu. Aber spätestens im vergangenen Jahr kippte die Stimmung, nicht nur die zwischen dem Intendanten und seinem Schauspiel­ direktor, sondern in allen Sparten und auch nicht nur in den künstlerischen Bereichen. Man kann fast sagen: Es kam zum Auf­ stand der Mitarbeiter gegen den Intendanten. Vorwürfe standen plötzlich im Raum, Tietje schüre ein „Klima der Angst“, grenze Kritiker systematisch aus, zerstöre letztlich das Niveau des Hau­ ses. Der Spielplan des Mecklenburgischen Staatstheaters der letz­ ten Monate sei immer mehr ausgedünnt worden. In einem offenen Brief des Schauspielensembles ist die Rede von einer drohenden Umwandlung eines Repertoiretheaters mit überregionalem Ruf in eine „Eventbude“. Auch den vier ­Gesellschaftern (dem Land Mecklenburg-Vorpommern, der Stadt Schwerin, dem Landkreis Ludwigslust-Parchim und der Stadt

­ archim) wurde klar, dass das Staatstheater in eine existenzielle P Krise geraten ist. Wohin soll hier die Reise künstlerisch gehen?, so fragt man sich nun auch in der Landesregierung. Im vergangenen Januar, vor dem traditionellen Theaterball, machte der Generalintendant Tietje per Aushang bekannt, dass ­jeder bei der Veranstaltung Mitwirkende, der diese für politische Meinungsäußerungen nutze, mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu rechnen habe. Der harsche Ton überraschte. Was war gemeint? Eine kabarettistische Stelle im geplanten Programm hätte Tietje verärgert, so berichten Mitwirkende. Bei dem Satz einer PinocchioFigur „Ich liebe Nestlé!“ (und gleichzeitig wächst ihre Nase, der Lügendetektor) habe er den Unwillen des Sponsors Nestlé gefürch­ tet, heißt es. Die Stelle wurde gestrichen. Es war der Anfang einer bis heute nicht aufhörenden Reihe von Vorwürfen, Bezichtigungen, Dementis und Gegenvorwürfen. Der „Maulkorb“-Fall des Theater­ balls wurde zum Stein des Anstoßes. Warum gelingt es dem Inten­ danten nun jedoch nicht, die Lage wieder zu befrieden? Lars Tietje sitzt mir in seinem Büro gegenüber, er wirkt blass, lächelt angespannt und sagt, für die Form des Aushangs habe er sich bei den Mitarbeitern längst entschuldigt. Aber der Anlass dafür seien geplante Provokationen gegen die Landesregie­ rung gewesen – so etwas in der Art, wie dem vorherigen Kultus­ minister und derzeitigen Finanzminister Mathias Brodkorb ­Beutel mit Kunstblut zu übergeben, weil es ihm an Theaterblut fehle. Das habe er unterbinden wollen. Seine Kritiker sagen, Tietje habe zu viel Angst und verbreite darum selbst ein Klima der Angst. Er agiere wie ein Abwickler, ein Bürokrat auf einem Posten, der eine künstlerische Vision verlange. Aber die fehle ihm. Ein Kreis von Mitarbeitern, die er aus Nord­ hausen mitgebracht hat, hält fest zu ihm, singt geradezu Lobes­ hymnen auf seine menschlichen und fachlichen Qualitäten. Die Kritiker dagegen sagen, er baue ein Netz von persönlichen Abhän­ gigkeiten auf – Mitarbeiter auf leitenden Posten, die wissen, dass man es mit einer künstlerischen Biografie mit Schwerpunkt Nord­ hausen in einer möglichen Nach-Tietje-Ära auf jeden Fall schwer haben wird, anderswo wieder Operndirektor oder Ballettdirektorin zu werden. Also loben sie ihren Chef und projizieren die Konflikte im Haus auf die Zeit vor Tietje. Zu vieles sei hier zu lange unter der Decke gehalten worden. Wer den Vorgänger Kümmritz kennt, weiß, dass offene Worte am Haus jederzeit üblich waren. Ich frage danach Schauspieldirektor Martin Nimz. Er insze­ niert gerade in Bonn Eugene O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“. Wir treffen uns im Hüftgold am Ostkreuz in Berlin, einer lärmenden Touristenkneipe, die wir beide vorher nicht kannten. Eine „Eventbude“ der grellen Art, wo man offenbar sogar die dazu passenden T-Shirts ausgehändigt bekommt. Als wir nur zwei Glas Wein und kein Essen bestellen, wechselt die routinierte Freundlichkeit der Bedienung in unverhohlenen Missmut. So schnell geht die Kultur des Miteinanders bergab, wenn es bloß noch ums Geld geht. Geht es am Mecklenburgischen Staatstheater bloß noch um Geld, das eingespart werden soll? Nimz sieht die immer deutli­ cher werdende Marginalisierung des Schauspiels und wehrt sich dagegen. Sein Start 2016 mit „Faust“ war beachtlich. Darüber, dass sich Hannah Ehrlichmann als Margarete nach der Pause

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­ uälend lange zwanzig Minuten am ganzen Körper mit tödlich q weißer Kreide einrieb, debattiert das Schweriner Publikum bis heute. Die einen finden es großartig, die anderen furchtbar. Nimz’ Inszenierung „Vor dem Fest“ nach dem Roman von Saša Stanišić war ebenfalls beachtlich (siehe TdZ 11/17) – Geschichten aus der ostdeutschen Provinz, von einem Bosnier im Stil des magischen Realismus erzählt. Da der Roman in Hamburg Schulstoff ist, ka­ men ganze Schulklassen von dort zu den Vorstellungen nach Schwerin. Abgesetzt wurde die Inszenierung trotzdem. Nimz kann es nicht verstehen. Wer macht denn so was? Er kämpft auch um die neunte Inszenierung der Spielzeit, die aus Kostengründen gar nicht stattfinden sollte – ausgerechnet ein Außer-Haus-Projekt im sozialen Brennpunkt Großer Dreesch. Jetzt kommt das Geld dafür auch aus anderen Töpfen, aber das Desinteresse des ständig mit Zahlen hantierenden Intendanten daran verstimmte das Schauspielensemble schwer. Warum betreiben wir denn das alles überhaupt? Doch nicht allein makelloser Bilanzen wegen! So ringt Nimz auch um die versprochene siebzehnte Planstelle im Schau­ spielensemble. Tietje dementiert, dass er diese versprochen habe. Sechzehn Stellen und acht Produktionen – das ist sehr wenig für ein Staatstheater, im Vergleich: ein Stadttheater wie Chemnitz hat zwanzig Stellen im Schauspiel und zwölf Premieren pro Spielzeit. Manche bezweifeln, dass Tietje das Theater überhaupt liebt. Vielleicht aber die Oper. Gerade wird „André Chénier“ geprobt, ein weniger bekanntes Werk von Umberto Giordano. Vom Erfolg dieser Inszenierung hängt viel für ihn ab. Die „Tosca“ (eine mutige Wahl für ein Sommerevent!) bei den Schlossfestspielen im vergangenen Sommer jedenfalls floppte mit nur wenig mehr als fünfzig Prozent Auslastung. Das riss unerwartet tiefe Löcher in die Finanz­ planung – bei zehntausend Zuschauern weniger als erwartet und Kartenpreisen von 90 Euro! Dabei hatte Kümmritz dieses Format einst nur erfunden, um Extraeinnahmen zu erzielen. Versucht ­Tietje, das entstandene Defizit mittels zusätzlicher Einsparungen im laufenden Theaterbetrieb wieder auszugleichen, anstatt von der Stadt zu fordern, sich an den entstandenen Kosten zu beteiligen? Der Intendant jongliert gern ausgiebig mit Statistiken. Zwanzig Prozent erwirtschaftete Eigeneinnahmen, das müsse ihm erst einmal jemand nachmachen. Tietjes Theater, das spüre ich, besteht aus Papier. Für die Atmosphäre im Haus fehlt ihm offenbar das Sensorium, jenes „Talent zum Menschen“, von dem Tschechow sprach. Und inzwischen sind die Parteien so zerstrit­ ten, dass jeder die andere Seite der Lüge und Intrige bezichtigt. Ich rufe Matthias Mitteldorf an, bis zur Abwicklung des Schauspiels in Nordhausen Ensemblemitglied und danach ein von Tietje häufig geholter Gast für andere Formate. Mitte der acht­ ziger Jahre waren wir zusammen im 21. Panzerregiment der NVA in Eggesin-Torgelow, er als Zugführer, ich als Richtschütze. Ich weiß, er wird mich nicht belügen. Tietje tue ihm leid, sagt er, über seine Zeit in Nordhausen könne er nur Gutes berichten. Er habe sich ganz mit dem Haus identifiziert, alles für seinen Erhalt getan. Warum gelingt das in Schwerin offenbar nicht? Vielleicht habe er das kritische Potenzial des Schauspiels unterschätzt, vermutet Mitteldorf. Auf den immer stärkeren Vorbehalt gegenüber seiner Person habe er nicht souverän reagiert. Gewiss aber gibt es noch eine andere Ursache, die alles ent­ scheidende: In Nordhausen sollte er die Oper retten, doch nach

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Schwerin wurde er vom damaligen Kultusminister Mathias ­Brodkorb als Sparkommissar gerufen. Es war ein vergifteter Apfel, den man ihm reichte. Und so wird er hier immer noch als Fremd­ körper wahrgenommen, der wie von außen ins Haus hinein­ dirigiert, statt es energisch nach außen zu vertreten. Er sei kein „Barrikadenkämpfer“, sagt Tietje, sein Metier sei die Diplomatie. Selbstverständlich werbe er bei der Politik für das Haus. Dennoch müsse er das Gutachten der Unternehmensberatung Metrum mitsamt gewiss schmerzhafter Sparvorgaben umsetzen. Dafür habe man ihn geholt. Und diese „Konsolidierung“ sei erst 2020 abgeschlossen. Wie bitte? Das klingt ganz nach den kultur­ politischen Irrungen und Wirrungen von gestern, die mit dem „Theaterpakt“ von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) und Kultusministerin Birgit Hesse (SPD) korrigiert werden sollten. Ein grundsätzlicher Kurswechsel in der Kulturpolitik ­ Mecklenburg-Vorpommerns, der alle Beteiligten im vergangenen Jahr hörbar aufatmen ließ! Warum wirft Tietje das Metrum-Gutachten, auf dessen Grundlage Brodkorb seine desaströsen Theaterfusionspläne vor­ antrieb, nicht einfach in den Papierkorb und sagt: Wir haben jetzt gottlob eine neue politische Situation, lasst sie uns nutzen! Seine Kritiker halten ihn für einen Sparvorgabenmusterschüler: Er ­wolle die Vorgaben sogar noch übererfüllen. Ein Blick in den Spielplan gibt Tietjes Kritikern durchaus recht. Im Januar finde ich im Großen Haus nur zwei (!) Schauspiel­ termine, jenen vom Intendanten und von Teilen des Abonnements nicht geschätzten „Sommernachtstraum“ in der Regie von Jan Geh­ ler (eher ein Sommernachtsalbtraum, der in einer Büroszenerie spielt). Es gibt viele vorstellungsfreie Tage, da der Intendant der Auf­ fassung ist: besser weniger Vorstellungen als halb leere Säle. Aber damit zieht sich das Theater aus dem öffentlichen Raum immer weiter zurück, wird immer weniger wahrgenommen. Mein Ein­ druck ist: Das Staatstheater Schwerin befindet sich auf einer schie­ fen Ebene und wird tatsächlich, wenn es so weitergeht, in der völli­ gen Bedeutungslosigkeit einer „Eventbude“ versinken. Wer kann hier das dringend notwendige Aufbruchsgefühl vermitteln? Warum, frage ich Tietje, stellt er nicht die Vertrauensfrage? Das sei nicht der richtige Weg, bekomme ich zur Antwort. Die Gesellschafter haben ihn in einem Fünf-Punkte-Programm zur Krisenlösung aufgefordert. Sie fordern eine extern durchgeführte Mitarbeiterbefragung im Februar und März. Es könne sein, dass sich das etwas nach hinten verschiebt, meint Tietje und lächelt. Was er nicht sagt, ist, dass zur gleichen Zeit über die Verlänge­ rung seines Vertrages entschieden wird. Michael Jungrichter, der Vorsitzende des mit seinen 1200 Mitgliedern starken Theaterfreundeskreises, steht in der Tür. Auch er macht sich Sorgen um die Zukunft, aber will sich nicht gern in internen Streit einmischen. Die Stimmung seiner Mitglie­ der jedenfalls sei nicht gut. Im Dezember lief im Großen Haus fast nur „Im weißen Rössl“, und auch die traditionelle Neunte Sin­ fonie von Beethoven zu Silvester fiel 2018 zugunsten einer Dop­ pelvorstellung dieser Operette aus. Haben wir doch schon gese­ hen, winkten viele Mitglieder genervt ab. Was er sagen wolle, nicht mir, sondern den Verantwortlichen im Haus: Es gebe immer noch Karten zum in Kürze stattfindenden Theaterball. Der ist derzeit offenbar kein Renner in Schwerin. //


kolumne

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Josef Bierbichler

Wer es wagt, seine Stimme zu erheben Das große Schweigen über die Wahrheit der Mächtigen

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n der ersten Ausgabe 2019 der Wochenzeitung der Freitag schreibt die Regisseurin Angela Richter über ihren bisher letzten Besuch beim Wikileaks-Gründer Julian Assange in der ecuadoria­ nischen Botschaft in London. Assange lebt da seit bald sieben Jahren sozusagen im Exil. Er fürchtet eine Festnahme durch die britischen Behörden mit anschließender Auslieferung an die USA wegen Geheimnisverrats. Eine Auslieferung an Schweden wegen „min­ derschwerer Vergewaltigung“ kommt nicht mehr infrage, da Schweden das Verfahren gegen ihn 2017 einge­ stellt hat. Einzig verbliebener Interessent an ihm sind die USA. Seit März 2018 lebt Assange in der Bot­ schaft praktisch in Isolationshaft. Eine neue Re­ gierung in Ecuador hat strategisch umgedacht. Telefon und Internet sind für ihn nun nicht mehr zugänglich. Besuche sind nur mehr ein­ geschränkt möglich oder werden untersagt. Die Heizung wurde abgestellt und das Bett aus dem Raum entfernt. Assange schläft jetzt in einer di­ cken Daunenjacke auf einer Yogamatte. Das al­ les erinnert irgendwie an Flüchtlinge in Bayern, denen das Leben auf Anweisung der bayrischen Regierung mit volksnah eingängiger Fantasie so unerträglich ge­ macht werden soll, dass ihnen eine Rückkehr in die Kriegsgebiete, aus denen sie geflohen sind, erträglicher erscheinen möge als Asyl in der Obhut bayrischer Behörden. In dem einen wie dem ande­ ren Fall gibt es kein Aufbegehren amtierender europäischer Politi­ ker mehr gegen diese mittlerweile quotenträchtige Auslegung der Menschenrechte im unmittelbaren politischen Nahbereich. Was Assange immer wieder in allen möglichen Medien vor­ geworfen wird, nämlich dass er Egomane sei und Narzisst, ein leibhaftiger Unsympath, der durch sein arrogant abstoßendes Ver­ halten seine Lage selbst verschuldet habe, das hat Angela Richter, die Assange schon seit Jahren kennt, an ihm offenbar nie ent­ decken können und fragt deshalb folgerichtig: „Ist er dann nicht eine Blaupause für uns alle? Was ihm mitten in Europa seit Jahren widerfährt, zeigt, was jedem widerfahren könnte, der es wagt, ­seine Stimme zu erheben und die Wahrheit über die Mächtigen zu enthüllen. Und das nicht etwa in Russland oder in China, son­ dern im freien Westen.“ Damit sind die Unterschiede zu nichtdemokratischen Ländern nahezu verwischt. Das Wort „frei“ vor „Westen“ schreibt Angela Richter ohne Anführungszeichen. So frei sind wir eben nicht, dass in unsern Köpfen endlich Makulatur werde, was seit Beginn des Kalten Kriegs von Anfang an systemrelevante Lüge war, nämlich dass im

kapitalistischen Westen jene Freiheit blühe, die der sozialistische Osten zur kurzlebigen Schnittblume dekultiviert habe. Was soll ein Recht auf Freiheit eigentlich sein in einem System, das weniger als ein Prozent der Menschen so ausufernd alimentiert, dass sie über fast zwei Drittel des gesamten gesellschaftlichen Reich­ tums verfügen, während zwei Drittel der Menschen mit einem Zehn­ tel davon zurechtkommen müssen? Wer wacht über dieses Recht? Das Rechtssystem, das Teil dieses Systems ist? Die frei gewählten Regierungen, die Teil dieses Systems sind? Die Menschen, der Souve­ rän also, die ebenfalls Teil des Systems sind und von ihm mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geprägt werden? Wachen die wirklich noch über sich selbst? Womit denn, wenn es dazu beträchtlicher finanzieller ­Mittel bedarf? Wer verfügt im System über diese Mittel? Die vorgeblich Souveränen können es nicht sein. Ist also der Souverän doch ein anderes Tier? Souverän ist, wer über den Ausnahmezu­ stand verfügt, hat ein Staatsrechtler gewusst, der in der Nazizeit reüssierte. Bald ist souverän, wer über die Netzwerke verfügt. Warum haben es die neuen Kulturzerstörer mittlerweile in allen Ländern dieses „freien Wes­ tens“ so leicht, dieses System erfolgreich zu atta­ ckieren, indem sie es sprachlich dekultivieren und mit demselben Atemzug den Niedergang der jeweiligen nationalen Kultur beklagen, der die Ausrufung des Ausnahmezustands erfor­ dere: voran die USA, dahinter die Philippinen, Brasilien, Ungarn, Polen, Österreich, Italien; potenziell zu erwarten sind demnächst in diesem Kreis Frankreich, Deutschland, Spanien, Schweden etc. War­ um gelingt ihnen das so plötzlich und so leicht, geradezu von heute auf morgen? Die „Flüchtlingskrise“ war doch bestenfalls nur der Aus­ löser. Woher kommen die Mittel, die dafür nötig sind? Warum schweigen die, die zu diesem einen Prozent gehören, das über mehr als die halbe Welt verfügt und ausreichend Einfluss ausüben könnte für den Erhalt der kapitalistischen Demokratie – des Systems, das ihnen diesen ungeheuerlichen, in der Geschichte noch nicht da ge­ wesenen Reichtum doch erst ermöglicht hat? Die Antwort könnte sein, dass die meisten von ihnen mitt­ lerweile, wie man lesen kann, dem zum Doyen dieser wirkungs­ mächtigen Unkultur aufgestiegenen Präsidenten der Amerikaner huldigen, der sich in den Augen seiner Nachahmer auf vorbild­ liche Weise aller Rechte des demokratischen Systems bedient und gleichzeitig zur Einhaltung der Pflichten komplett unfähig zeigt. Nichts Neues zwar in diesen Kreisen, aber nun durch Trump politisch sanktioniert und von der breiten Masse der Dauer­verlierer getragen – allein durch den barbarischen Bruch mit den kulturellen Errungenschaften von Generationen. //

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Nachbarschaftsstudien

Carena Schlewitt blickt als neue Intendantin von Hellerau in Dresden wieder vermehrt auf Theater und Musik sowie nach Osteuropa von Michael Bartsch

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chon im Oktober 2016, mehr als eineinhalb Jahre vor ihrem Amtsantritt, hatte Carena Schlewitt bei ihrem ersten Dresdner Auftritt als künftige Intendantin erklärt, dass sie „Hellerau nicht komplett neu erfinden“ wolle. Das seit September 2018 laufende erste Halbjahresprogramm bestätigt den Eindruck, dass sich hier niemand auf Kosten der Vorgänger profilieren muss und auf Trümmern sein Wunschgebäude errichten will. Dieter Jaenicke, der nach neun Jahren zur Internationalen Tanzmesse NRW in

Düsseldorf wechselte, hinterließ ja eine stabile, im Bewusstsein des Dresdner Kulturbürgertums verankerte und international pro­ filierte Spielstätte. Und er zeigte sich in Hellerau als ein ebenso angenehmer Mensch wie Carena Schlewitt, vielleicht etwas eitler als seine unprätentiös auftretende Nachfolgerin. Man kann darüber spekulieren, ob dies an der ostdeutschen Herkunft der 1961 in Leipzig geborenen Theaterwissenschaftlerin liegt. Das Haltestellensymbol als Logo, das vor einem Jahrzehnt die Dresdner zum Besteigen der Straßenbahnlinie 8 Richtung Festspielhaus animieren sollte, ist dem schlichten Schriftzug „Hellerau“ gewichen. In der Ära Jaenicke haben sich die Besu­ cherzahlen im Europäischen Zentrum der Künste vervierfacht,


hellerau

Ein Spiel mit schnell wechselnden Bühnenidentitäten – „Fantasia“ von Anna Karasińska. Foto Magda Hueckel

43 000 kamen zuletzt jährlich. An der Ak­ zeptanz des der Gegenwartskunst und dem künstlerischen Labor verschriebe­ nen „Grünen Hügels“ in zehn Kilometer Entfernung vom Stadtzentrum muss die neue Intendantin nicht mehr arbeiten. Doch konstatiert sie ebenso die „gefühlte Grenze Waldstück“ am Hellerberg zum selbstbezogenen Dresden, die zugleich mental überwunden werden will. Auch ohne Zahlengrundlage lässt sich bereits jetzt sagen, dass die Überwin­ dung dieser „gefühlten Grenze“ zumin­ dest nicht schwerer fällt als zuvor. Die beiden „Floor on Fire“-Tanzspektakel zum Jahresende beispielsweise waren schon seit Anfang November ausverkauft. Die Fortsetzung dieses 2015 entwickelten For­ mats indiziert ebenso Kontinuitäten wie die Reihen „Feature Ring“, „Bandstand“ oder der „Dienstagssalon“. „Floor on Fire“ ist eine Art Jamsession des Tanzes, inspi­ riert vom Wettbewerb „Masters of Dance“ im Privatfernsehen. Klassische Tänzer, Breakdancer, Contemporary und Urban Dancer trafen aufeinander und brachten den Tanzboden im Großen Saal zum ­Glühen. Ein Event für Familien und alle Generationen. „Unseren Mitarbeitern vom Einlass­ dienst fallen viele neue Gesichter auf. Sie beobachten eine wechselnde Klientel“, be­ richtet Carena ­Schlewitt. Eine solche Wahr­ nehmung verbucht sie als ersten Erfolg. Bei ihrer Antrittspresse­ konferenz hatte sie spontan den Wunsch nach einem „heterogenen Publikum“ geäußert. Nicht zu verwechseln mit dem Buhlen um Besucherrekorde. Unter diesen Erwartungsdruck hatten die Stadt­ räte und die Kulturverwaltung Hellerau Dieter Jaenicke zu seinem Start 2009 gesetzt. Auch heute spürt die neue Intendantin etwas von dieser Rentabilitätserwartung an eine von der Stadt subventio­ nierte Kulturinstitution, wenn sie mit dem Dresdner Kulturaus­ schuss oder dem Kulturrathaus redet. Einer seltsamen Allianz von Kritikern aus SPD und AfD gilt Hellerau als zu elitär. Die Intendan­ tin zeigt unbeeindruckt eher Verständnis für solche Klientelpolitik und lädt die Politiker zum Besuch in Hellerau ein. Der erste Halbjahresspielplan folgt ein bisschen dem GoetheZitat „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“. In der Schle­ witt-Übersetzung bedeutet das „mit Bandbreite einsteigen“. Solche Vorsicht muss man nicht als Sicherheitsspielplan denunzieren. Sie hat vor allem etwas mit Akzentverschiebungen zu tun. Bei Dieter Jaenicke dominierte der Tanz. Er folgte damit nicht nur seinen

­ eigungen, sondern erinnerte auch an die Urzeit des Festspiel­ N hauses vor dem Ersten Weltkrieg: Nach dem Schweizer Émile Jaques-Dalcroze, der hier die Bildungsanstalt für Musik und Rhyth­ mus gründete, ist heute einer der beiden Seitensäle benannt. Er ent­ wickelt sich immer mehr zu einem Diskussions- und Begegnungs­ raum. Andererseits verstand sich Hellerau neben dem anfangs ­dominierenden Tanz stets von Anfang an auch interdisziplinär. Carena Schlewitt kommt vom Theater, folgt aber auch den Intentionen der Stadt, wieder mehr auf die Vielfalt der Genres ein­ zugehen. Insofern war der Auftakt Mitte September 2018 mit der belgischen Needcompany Programm, die für die Verknüpfung von Tanz, Theater und Musik steht. Die Performance mit Kriegsund Jugenderinnerungen nach der gleichnamigen Romanvorlage „Krieg und Terpentin“ des flämischen Schriftstellers Stefan Hert­ mans hielt leider nicht, was sie versprach. Großartig ließ die be­ tagte Erzählerin Viviane De Muynck die Textpassagen leben, aber deren Illustration durch die Company wirkte doch reichlich haus­ backen. Theaterfreunde konnten dann in den letzten beiden Novem­ berwochen einen Höhepunkt des Hellerau-Herbstes erleben: zehn Tage Nachbarschaftsstudien beim Festival „Polski Transfer“. Das passt zur erklärten Absicht der Intendantin, den Blick wieder mehr nach Osteuropa zu richten. Dreierlei Erkenntnis nahm man aus diesen quicklebendigen Tagen mit: wie stark das Absurd-­ Provokante in der Tradition von Sławomir Mrożek und Witold Gombrowicz in Polen fortwirkt, wie experimentierfreudig und stark in der Wahl der Mittel die freie Szene und die großen ­Bühnen nach wie vor sind und wie sehr Kulturkampf und Gleich­ schaltungsversuche der PiS-Partei bereits in den Kunstbetrieb ­hineinwirken. Kurzperformances von je einer Stunde boten einen an­ schaulichen Querschnitt. „Lerne klagen, ohne zu leiden“ hätte man beispielsweise „Mothers of Steel“ von Mădălina Dan und Agata Siniarska auch überschreiben können. Ein einziges Lamen­

Carena Schlewitt geboren 1961 in Leipzig, studierte Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin und arbeitete von 1985 bis 1993 an der Akademie der Künste in Berlin. Sie wirkte als Drama­ turgin und Kuratorin an verschiedenen freien Produktionshäusern ­(Podewil Berlin, FFT Düsseldorf, HAU Berlin) und bei internationalen Festivals (Theater der Welt, HAU Berlin). Von 2008 bis 2018 leitete sie die Kaserne Basel. Seit dieser Spielzeit ist sie Künstlerische Leiterin des Festspielhauses Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste Dresden. Foto Stephan Floss

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protagonisten

to zweier Klageweiber in allen Tonarten über Privatestes und die „böse Welt“ in einem White Cube. Geschichtsverklärung, ost­ europäische Nationalmythen und Rechtspopulismus werden hier ironisch aus der Opferperspektive zerheult und damit defor­ miert – allein schon die originelle Idee war den Besuch wert. „Fan­ tasia“ von Anna Karasińska im Großen Saal war schon in Polen zu Recht mit viel Lob bedacht worden. Wir sehen sieben Akteure in einem leeren Raum mit sparsamsten Gesten scheinbar zusam­ menhanglose Szenen performen. Keinem von ihnen ist eine klare Rolle zugeteilt. Einzig eine Stimme aus dem Off – die der Regisseu­ rin? – verrät uns ihre schnell wechselnden Bühnenidentitäten. Die Fiktion entsteht aus dem Moment heraus. Ein performtes ­Storytelling, bei dem die Imaginationskraft des Zuschauers stets herausgefordert wird. In Wrocław am Teatr Polski verhinderte zunächst die neue regierungstreue und inzwischen wieder abgelöste Theaterleitung die Fünf-Stunden-Bühnenadaption von Kafkas „Prozess“ in der Regie des polnischen Großmeisters Krystian Lupa. Am Nowy T ­ eatr in Warschau schließlich aufgeführt und zum Festival eingeladen, kann dieses Gastspiel nur mit Superlativen bedacht werden. Dras­ tisch und tragikomisch gerät diese Farce über das Ausgeliefertsein an eine anonyme Macht. Die freie Annäherung an den Stoff leuch­ tet tief in politische Verhältnisse wie auch in Kafka hinein. Für Tanz und Theater ist nun André Schallenberg in Hellerau zuständig, Moritz Lobeck für die Musik und die Medienkunst. Das biennale „Tonlagen“-Festival war bislang eher retrospektiv und monothematisch angelegt, beispielsweise mit der Fixierung auf

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John Cage oder Steve Reich und seine Minimal Music. Nun wird insgesamt wieder mehr Musik zu hören sein, was bereits das ­kleine Kammermusikfestival „4:3“ signalisierte. Das Interesse ver­ schiebt sich zudem in Richtung Gegenwartsschaffen und flottem Experiment. Der Schweizer Thom Luz lieferte mit seinem Gaudi „Unusual Weather Phenomena Project“ für Letzteres eine Kost­ probe. Der Tanz kommt deswegen nicht zu kurz. Die von William Forsythe geprägte Dresden Frankfurt Dance Company hat ja hier sozusagen verpflichtende Heimspiele. Nur die großen Namen hat Carena Schlewitt erst einmal auf das anstehende Frühjahr gescho­ ben, Sharon Eyal mit „L-E-V“ aus Israel beispielsweise sowie Anne Teresa de Keersmaeker und Meg Stuart. Für drei Jahre fördert der Bund die Zusammenarbeit von sieben deutschen Produktionshäusern, zu denen auch Hellerau gehört. Aber auch die regionale Veranstaltungskooperation etwa mit den Kunstsammlungen oder dem Militärhistorischen Museum will Carena Schlewitt intensivieren. Das gilt ebenso für die von öffentlicher Förderung nicht gerade verwöhnte freie Szene in Dresden und Sachsen, die im Mai einen eigenen „Parkour“ be­ kommt. Ein Geschenk gab’s aus dem Stadthaushalt im Dezember obendrauf: Die Sanierung des Ostflügels kann endlich angegan­ gen werden, sodass Probenzentrum und Künstlerresidenz abseh­ bar nicht nur ein Desiderat bleiben müssen. //

Mehr Musik, mehr Theater – oder gleich beides zusammen: „Unusual Weather Phenomena Project“ von Thom Luz. Foto Tabea Hüberli


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Translokales Welttheater Sandro Lunin setzt als neuer Künstlerischer Leiter der Kaserne Basel mit einem Nord-Süd-Dialog frische Akzente von Dominique Spirgi

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tacy Hardy ist weiß, aber ihre Seele schwarz. Die Autorin und Performerin aus Südafrika präsentiert in „Museum of Lungs“ ein Schicksal, das in diesem speziellen Staat durchaus typisch ist: Sie hatte Tuberkulose, eine schwere Lungenkrankheit, die aber über viele Jahre unentdeckt blieb. Unentdeckt, weil Tuberkulose die Krankheit der Schwarzen ist, der ausgebeuteten Minenarbei­ ter, während die weiße Bevölkerung kaum je betroffen ist. Hardy führt so ihr persönliches Schicksal auf unaufdring­ liche, aber umso eindringlichere Weise auf eine politische Ebene. Als privilegierte Weiße wird sie von der Seuche der Unterprivile­ gierten heimgesucht. Dass sie spät, aber letztlich erfolgreich die

notwendige medizinische Behandlung erfährt, ist für sie nur be­ dingt ein Segen. Sie bedauert vielmehr den Verlust ihrer Krank­ heit, erzählt sie auf der Bühne der Kaserne Basel. Es ist eine Krankheit, die sie mit der auch im Post-Apartheid-Staat noch im­ mer unterdrückten schwarzen Mehrheit verband. Auf der Bühne hat die südafrikanische Künstlerin als Alter Ego eine Glieder­ puppe an der Seite, die ihre psychische Verletzlichkeit physisch sicht- und spürbar macht. Diese Puppe schlägt eine Brücke zum Aufführungsort in der Schweiz. Entworfen und gebaut wurde die Puppe nämlich in der Werkstatt des Baslers Marius Kob. Damit ist aber erst ein Teil des multi­ kulturellen Konglomerats, das hier

Kaserne Globâle – „Museum of Lungs“ von Stacy Hardy (im Bild), Nancy Mounir, Neo Muyanga und Laila Soliman. Foto Ahmed Elsaaty


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protagonisten

Tanzfuror gegen aufoktroyierte Weiblichkeit – Diya Naidu, Chris Leuenberger und Shilok Mukkati in „Ef_femininity“ von Marcel Schwald und Chris Leuenberger. Foto Lukas Acton

z­ usammengefunden hat, beschrieben. Laila Soliman, die Regis­ seurin des Projekts, stammt aus Kairo. Und die beiden Musiker, die den Abend in eine atmosphärisch dichte Soundwolke eintau­ chen, stammen aus Alexandria und Soweto. „Museum of Lungs“ läutete Ende September 2018 die neue Ära der Kaserne Basel ein, die mit Sandro Lunin unter eine neue Künstlerische Leitung gestellt wurde. Lunin hatte zusammen mit seinem Musikchef Sandro Bernasconi mit einem kleinen Auftaktfestival unter dem Titel „Kaserne Globâle“ eine Visiten­karte für das Welttheater abgegeben, das das Kulturzentrum in den kom­ menden Spielzeiten inhaltlich prägen soll. Konzentrierte sich der künstlerische Austausch unter seiner Vorgängerin ­Carena Schle­ witt, die nach zehn Jahren in Basel nach Dresden ins Europäische Zentrum der Künste Hellerau weiterzog, auf den Ost-West-Dialog, fokussiert Lunin seinen Blick nun vermehrt nach Süden. Diese Ausrichtung kommt nicht überraschend. Der 1958 ge­ borene Zürcher hatte bereits lange vor seinem Antritt in Basel viel Wert auf den künstlerischen Nord-Süd-Dialog gelegt. In seinen zehn Jahren als Kodirektor des Zürcher Theaterspektakels zeich­ nete er sich als Brückenbauer zwischen dem Tanz- und Theater­ schaffen aus Europa, dem Nahen Osten und dem südlichen Afrika aus – und damit auch als Trendsetter. „Es ist ein zentraler Dialog, den wir heute führen müssen“, sagt er. „Das ökonomische Gefälle ist gigantisch; wir sehen ja, was für Auswirkungen das gesell­ schaftlich und politisch hat.“ Lunin versteht Bühnenkunst als Instrument von politischer und gesellschaftlicher Tragweite, wenn er sagt: „Wir müssen ande­ re Formen der Kooperation finden, um den Weg in eine bessere, gemeinsame Zukunft zu ebnen.“ Er sei aber kein Utopist, der be­ haupte, mit Theater und Musik die Welt retten zu können, wendet er sogleich ein.

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Mit seiner Ausrichtung auf den Nord-Süd-Dialog will Lunin die lokale Theater- und Tanzszene nicht marginalisieren, wie er be­ tont. Carena Schlewitt hatte aufstrebende Basler Theaterleute wie Marcel Schwald, Boris Nikitin, die Mitglieder der Gruppe ­CapriConnection und weitere mehr ans Haus gebunden und hin­ sichtlich der Einbeziehung der Szene vorbildliche Aufbauarbeit geleistet. Auf dieser auch beim Publikum erfolgreichen Schiene möchte Lunin nicht nur als Gastgeber, sondern vermehrt auch als Koproduzent weiterfahren. Umso mehr freut er sich, dass er mit seinem Welttheaterkonzept offene Türen einrannte, wie er sagt: „Ich wurde fast überrumpelt von entsprechenden Projektideen.“ Eine dieser Ideen stammt vom Basler Marcel Schwald, ei­ nem Theaterforscher, der sich auf der Suche nach neuen Themen und Formaten immer wieder auf neue und überraschende künst­ lerische Wege wagt. Zusammen mit dem Berner Tänzer und ­Choreografen Chris Leuenberger hat er ein spartenübergreifen­ des Projekt zum Themenbereich Transgender, Genderfluidität und Queering entwickelt. Speziell an seiner nun an der Kaserne Basel gezeigten Performance mit dem etwas sperrigen Titel­ „Ef_femininity“ ist, dass nicht nur die Grenzen der Geschlechter, sondern auch die von Kulturen überwunden werden. Auf der Bühne stehen, spielen, singen und tanzen neben dem Schweizer Leuen­ berger drei Künstlerinnen aus Indien: die Journalistin Shilok Mukkati, die Performerin Living Smile Vidya und die Choreogra­ fin Diya Naidu – zwei davon sind Transfrauen. „Chris Leuenberger und ich wollten schon lange ein Projekt zum Thema Weiblichkeit machen. Aber eines, das sich nur auf unseren westlichen Kulturkreis einschränkt, erschien uns als schwierig, weil wir in unserem eigenen Kulturkreis zu oft und zu schnell das Gefühl haben, für andere sprechen zu können und alles bereits verstanden zu haben“, sagt Schwald. Die zündende Idee kam, als Leuenberger im Rahmen eines Austauschpro­ gramms der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia in der indi­ schen Stadt Bangalore war. Schwald folgte ihm auf den Subkonti­ nent. „Wir trafen dort auf eine sehr spannende Gender-Szene und auf eine faszinierende Erzählkultur“, sagt er. Das Projekt wurde lanciert aus der Überzeugung heraus, dass das Thema in einem transkontinentalen Dialog offener, fragender und vor allem behut­ samer abgehandelt werden kann. Das Resultat kommt allerdings recht widerborstig daher. Der Abend weist rührend-komische Momente auf – etwa wenn Leuen­ berger sich daran erinnert, wie er als Kind auf dem Bauernhof in die Rollen der Tennisprinzessinnen Steffi Graf und Gabriela Sabatini geschlüpft ist. Dann wechselt das Geschehen abrupt zu brutalen und wilden Momenten, zum Beispiel wenn die Performerin Living Smile Vidya die wüsten Narben ihrer missratenen Operationen prä­ sentiert oder wenn Diya Naidu zum verzweifelten Tanzfuror gegen die ihr aufoktroyierten Weiblichkeitsvorstellungen ansetzt. Lunin, auch das zeichnet das Konzept der neuen Leitung aus, hat „Ef_femininity“ nicht einfach als Einzelproduktion auf den Spielplan gesetzt, sondern es in ein Schwerpunktprogramm zur Genderfluidität mit dem Titel „Lust am Widerspruch“ einge­ bettet. Und das mit starkem Einbezug des Konzertprogramms, das in der Ära Schlewitt nur wenige Berührungspunkte mit den Sparten Theater und Tanz zeigte, und mit politischen und gesellschaftsphilosophischen Hintergrundgesprächen. Hier hat


kaserne basel

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der Basler Dokumentartheaterspezialist Boris Nikitin unter dem Titel „Propagandagespräche“ eine eigene Programmschiene er­ halten, die sich über die gesamte Spielzeit ziehen wird. Auch die Basler Musiktheatergruppe CapriConnection, die 2005 von der Regisseurin Anna-Sophie Mahler und der Schau­ spielerin Susanne Abelein in Basel gegründet wurde, zog es nach Süden, nach Argentinien. Dort recherchierten sie Schicksale von Europäern, die im 20. Jahrhundert vor den Diktaturen, den Krie­ gen und der Armut auf dem alten Kontinent über den Atlantik flüchten mussten – ein historisches Spiegelbild der Situation Europas heute, das sich mehr und mehr bedrängt fühlt von ­ ­Menschen, die aus denselben Gründen aus ihren Heimatländern vertrieben werden. Das Projekt mit dem Titel „Hotel der Immi­ granten“ wird im März 2019 Premiere haben. Künstlerisch hat Lunin also durch seine starke Vernetzung mit der internationalen Szene und seinen offenen Zugang zur ­lokalen Szene rasch in Basel Fuß gefasst. Überdies hat er die ­Leitung des biennalen Theaterfestivals Basel übernommen. Seine nächste Herausforderung wird sein, die Kaserne Basel stärker als Produktionshaus zu etablieren – ein Weg, den Schlewitt bereits vorgespurt hat. Dabei hilft ihm, dass der Kanton Basel-Stadt seine Subventionen um eine halbe Million auf 2,6 Millionen Franken erhöht hat. Und die Tatsache, dass ab 2021 im Hauptbau der ehe­ maligen Militärkaserne, der viele Jahre als Schulhausprovisorium genutzt wurde und derzeit zum Kulturzentrum umgebaut wird, lange ersehnte Proberäume für die freie Theater- und Tanzszene entstehen sollen. //

Sandro Lunin, geboren 1958 in Zürich, absolvierte eine Ausbildung zum Primarlehrer, verbrachte dann Wanderjahre als Kellner, Alphirt und Techniker. Schließlich Regieassistenz 1985–89 am Theater Neumarkt Zürich, 1989–97 Ko-Leitung des Fabriktheaters Rote ­ ­Fabrik in Zürich sowie Gründung des Festivals Blickfelder – Theater für ein junges Publikum. 1998 wechselte Lunin als Künstlerischer Leiter zum Schlachthaus Theater Bern, wo er Schwerpunkte zum ­Nahen Osten sowie zu Zentral- und Südafrika setzte. Von 2008–17 kuratierte er das Zürcher Theater Spektakel, mit besonderem Fokus auf urbanen Tanz­­ und Theaterprojekten des globalen Südens. Im ­August 2018 übernahm Lunin die Künstlerische Leitung der Kaserne Basel. Foto Christian Altorfer

THEATERPREIS DES BUNDES Ausschreibung und Informationen zur Bewerbung auf der Website des Internationalen Theaterinstituts – Zentrum Deutschland: www.iti-germany.de

BEWERBEN BIS 15. FEBRUAR 2019!

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protagonisten

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Stiller Weltuntergang in Dänisch-Sibirien Bertolt Brechts Exil in Svendborg von Holger Teschke

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m Frühjahr 1939, kurz vor seiner Flucht nach Schweden, setzte Brecht ein kurzes Gedicht als Motto vor seine „Svendborger ­Gedichte“, die zwischen 1934 und 1938 entstanden waren und im Juni 1939 in Kopenhagen erschienen. Es klingt wie ein Resümee seines fast fünfjährigen Exils in Dänemark: „Geflüchtet unter das dänische Strohdach, Freunde / Verfolg ich euren Kampf. Hier schick ich euch / Wie hin und wieder schon die Verse, auf­gescheucht / Durch blutige Gesichte über Sund und Laubwerk. / Verwendet, was euch erreicht davon, mit Vorsicht! / Vergilbte B ­ ücher, brüchige ­Berichte / Sind meine Unterlage. Sehen wir uns wieder / Will ich gern wieder in die Lehre gehn.“ Aber es waren nicht nur Verse, die Brecht über den Sund an seine Freunde in Berlin, Prag, Paris, Moskau und New York schickte. In dem Svendborger Fischerhaus, das er schon im Au­ gust 1933 gekauft hatte, entstanden unter anderem sein „Dreigro­ schenroman“, die ­Stücke „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, „Die Gewehre der Frau Carrar“, „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ sowie die erste Fassung von „Leben des Galilei“. Dane­ ben kümmerte er sich um die Aufführungen seiner Stücke durch Ruth Berlau und Per Knutzon in Kopenhagen und um die „Mutter“-Inszenierung durch die Theatre Union in New York, schrieb Entwürfe für Drehbücher in London und zahl­reiche thea­ tertheoretische Schriften, die er später im „Messingkauf“ zusam­ menfasste. Es waren die produktivsten Jahre seines Exils – und die spannungsreichsten. Denn die Lehre, in die Brecht zwischen 1933 und 1939 in Dänemark ging, war bitter. Nicht nur die Politik der KPD vor und während der „Machtübernahme“ der Nationalsozia­ listen und die zunehmende ideologische Ausrichtung der kom­ munistischen ­Parteien Europas auf Stalins Direktiven entsetzten ihn. Angesichts der Moskauer Schauprozesse von 1937 und der Verhaftung seiner Freunde Sergej Tretjakow, Michail Kolzow, ­Carola Neher und Maria Osten e­ rkannte er auch, dass Stalin seine Macht mit ebenso skrupellosen M ­ ethoden festigte wie Hitler. Aber weil die Sowjetunion seine einzige Hoffnung im Kampf gegen den Faschismus blieb, vertraute er dieses Entsetzen nur seinem

im Juli 1938 begonnenen Journal an: „auch ­kolzow verhaftet in moskau. meine letzte russische verbindung mit drüben. niemand weiß etwas von tretjakow, der ‚japanischer spion‘ sein soll. nie­ mand etwas von der neher, die in prag im auftrag ihres mannes trotzkistische geschäfte abgewickelt haben soll. reich und asja lacis schreiben mir nie mehr, grete bekommt keine antwort mehr von ihren bekannten im kaukasus und in leningrad.“ (Januar 1939) Brechts Widerstand gegen diese Entwicklung bestand in ei­ ner unermüdlichen Produktivität. Obwohl ihn die Aufführungen seiner Stücke in Kopenhagen, Paris und New York nicht gerade aufheiterten, verlor er in „Dänisch-Sibirien“, wie er seinen Exilort auf der Insel ­Fünen nannte, nicht den Humor. Angesichts der zu­ nehmenden ­Angriffe auf sein Theater notierte er: „die moskauer clique lobt jetzt HAYS stück HABEN über den roten klee. das ist echter sozialistischer realismus. neu weil alt. hier schuf ein genie, unberührt von den moden und wirren seiner zeit. was ist form? hier ist inhalt. das stück ist ein trauriger schund, sudermann ist dagegen ein fortschritt. aber da sind menschen aus fleisch und blut. bekanntlich (?) hat die bühne für fleisch und blut pappe und rote tinte, die dann wie fleisch und blut aussehen.“ (27. Juli 1938) Ermutigung während solcher Kontroversen fand er nicht nur beim Stückeschreiben, sondern auch durch die Besuche seiner Freunde und Verwandten. Neben Karin Michaëlis, die auf der an­ deren Seite des Sunds auf Thurø wohnte und die Brecht-Familie nach Svendborg eingeladen und finanziell unterstützt hatte, ka­ men Walter Benjamin, Hanns und Lou Eisler, Karl Korsch, Fritz Sternberg und seine Freunde Otto Müllereisert und George Pfan­ zelt. Sie spielten Schach und brachten Nachrichten aus Deutsch­ land, die über Rundfunk und Zeitungen nicht zu bekommen ­waren. Auch wenn Brecht als „Hausbesitzer“ durch die dänische Fremdenpolizei weniger streng kontrolliert wurde als seine Mit­ arbeiterin Margarete Steffin, so musste er doch immer wieder um die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung und die Über­ weisung seiner Honorare und Tantiemen kämpfen. Deshalb griff er nach jedem halbwegs akzeptablen Auftrag und bewarb sich so­ gar um ein Stipendium der American Guild for German Cultural Freedom. Trotz seiner finanziellen Schwierigkeiten lud er bestän­ dig Freunde nach Svendborg ein, um der zunehmenden Isolie­ rung zu entgehen. Schon im Dezember 1933 schrieb er an Walter


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Benjamin: „Es ist hier angenehm. Gar nicht kalt, viel wärmer als in Paris … Wir haben Radio, Zeitungen, Spielkarten, bald Ihre ­Bücher, Öfen, kleine Kaffeehäuser, eine ungemein leichte Sprache und die Welt geht hier stiller unter.“ ­(22. Dezember 1933) Tatsächlich gelang es ihm und Margarete Steffin, Benjamin nach Fünen zu locken. Dessen Aufzeichnungen der „Svendborger ­Gespräche“ zwischen 1934 und 1938 gehören zu den aufschluss­ reichsten Zeugnissen von Brechts wirklicher Haltung gegenüber der politischen Entwicklung in der Sowjetunion. In den „Flüchtlingsgesprächen“ lässt er sein Alter Ego, den ­Physiker Ziffel, sagen: „Die schärfsten Dialektiker sind die Flücht­ linge. Sie sind Flüchtlinge infolge von Veränderungen und sie ­studieren nichts als Veränderungen. Aus den kleinsten Anzeichen schließen sie auf die größten Vorkommnisse, das heißt, wenn sie Verstand haben.“ Brecht verstand, was in Moskau und in der Welt vor sich ging. Neben den Stücken und Gedichten aus der Svendborger Zeit sind auch das „Haus mit dem dänischen Strohdach“, sein Garten und seine Bäume in die Literaturgeschichte eingegangen. In sei­ nem ­Arbeitszimmer mit Blick auf den Sund hingen die drei japani­ schen Nō-Masken, das chinesische Rollbild mit dem „Zweifler“ so­ wie der Hegel-Satz „Die Wahrheit ist konkret“, den er an einen Balken geheftet hatte. In der „Steffinischen Sammlung“ von 1938 beschreibt Brecht auch den Garten vor seinem Haus: „Über dem Sund hängt Regengewölke, aber den Garten / Vergoldet noch die Sonne. Die Birnbäume / Haben grüne Blätter und noch keine Blü­ ten, die Kirschbäume hingegen / Blüten und noch keine Blätter. Die

brecht in svendborg

Svendborger und Flüchtlingsgespräche – Bertolt Brecht und Walter Benjamin spielen Schach, 1934, Dänemark, Skovsbostrand. Foto unbekannt / Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv FA 07/028

weißen Dolden / Scheinen aus dürren Ästen zu sprießen. / Über das gekräuselte Sundwasser / Läuft ein kleines Boot mit geflicktem Segel. / In das Gezwitscher der Stare / Mischt sich der ferne Don­ ner / Der manövrierenden Schiffs­geschütze / Des Dritten Reiches.“ Nachdem Brecht und seine Familie im April 1939 nach Schweden hatten fliehen müssen, wurde das Haus an einen Nach­ barn verkauft, der dort bis 1952 wohnte und es dann an den Bild­ hauer Knud Knudsen weiterverkaufte. Der lebte hier mit seiner Frau bis zu seinem Tod im Jahr 1983. Danach wohnte die Familie Svendsen am Skovsbostrand 8 und verkaufte das Haus 1988 an die Gemeinde Svendborg. Die ließ es 1989 renovieren und übergab es 1995 dem Verein des „Brecht Hus“. Heute ist das be­ rühmte Fischerhaus mit dem Strohdach eine Arbeitsstätte für Künstler und Wissenschaftler, und die Mitglieder des Vereins kümmern sich mit dänischer Freundlichkeit um ihre Gäste. Günter Grass war hier zu Besuch, Siegfried Lenz und Eugenio Barba so­ wie zahlreiche Brecht-Regisseure, Schauspieler und Theaterwis­ senschaftler. Der berühmte Birnbaum ist zwar abgeholzt, aber noch immer kann man vom Bootssteg aus im Sund schwimmen und am Abend auf einer Bank im Garten Schach spielen. Oder Brecht lesen, dessen Werke im ehemaligen Arbeitszimmer in Ausgaben aus aller Welt versammelt sind. //

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Countdown beendet Ein Nachruf auf das estnische Performance-Ensemble Theater NO99 von Madli Pesti

A

m 31. Oktober 2018 gab das estnische Theater NO99 eine Pressemeldung über den gemeinsamen Beschluss der Beendi­ gung seiner Aktivitäten heraus. Diese Meldung schlug in Est­ land ein wie eine Bombe. In den darauffolgenden Tagen hatten alle etwas zu der 14-jährigen Geschichte des Theaters zu sagen. Die Emotionen schlugen genauso hoch wie die Superlative für die Beschreibung seiner Arbeit. Obendrein erklärte eine rechts­ populistische Partei, die für ihre Kritik an NO99 bekannt war, dessen Ende zu ihrem eigenen politischen Erfolg. Kann ein ­Theater tatsächlich eine derart einflussreiche Rolle spielen in ­einem Land mit 1,3 Millionen Einwohnern und 1,2 Millionen Theaterbesuchern im Jahr? NO99 begann mit einem Manifest – und endete mit einem. „Wir haben uns entschlossen aufzuhören. Die Entscheidung wur­ de gemeinsam vom gesamten künstlerischen Team getroffen. Wir alle stehen dazu, denn 14 Jahre lang haben wir die gleichen Ideale verfolgt, und heute stellen wir gemeinsam fest, dass es nicht ­länger in unserer Macht steht, diesen von uns einst bestimmten Idealen weiterhin in vollem Umfang in unserer Arbeit zu genü­ gen.“ Das Ende war allerdings von Anfang an Programm, da die Anzahl der Inszenierungen – 99 waren geplant, die einem Count­

down gleich rückwärts auf null gezählt werden sollten – begrenzt wurde. Jetzt wurde der Countdown bei NO30 eingestellt. Aber was für ein Theater war NO99, und warum ist seine Geschichte einer Würdigung wert? Man könnte die vielen interna­ tionalen Auszeichnungen und Auftritte anführen: Europäischer Theaterpreis „Neue theatralische Realitäten“ 2017, Goldene Triga der Prager Quadriennale für NO75 „Unified Estonia Assembly“ 2015, die große Installationsperformance NO40 „Sommernachts­ traum“ im Berliner Konzerthaus 2017 und die erste Einladung ei­ nes estnischen Theaters ins Hauptprogramm von Avignon 2015. Oder ihre internationalen Produktionen mit Sebastian Hartmann (NO92 „Stalker“, 2006), Sebastian Nübling (NO69 „Three King­ doms“, 2011, und NO58 „Ilona. Rosetta. Sue“, 2013) und Lorna Marshall (NO66 „Iphigeneia in Aulis“, 2012). Es besteht kein Zweifel daran, dass NO99 mit seinen Gründungsdirektoren ­Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo das estnische Theater in die ­europäische Arena führte. Die internationalen Gastspiele begannen 2006 in den deutschsprachigen Ländern mit einer witzigen politischen Show über den einheimischen Ölschiefer als Basis der Unabhängigkeit im Bereich der Energieversorgung (NO93 „Oil!“) sowie einer scharfen Satire über die Versuche, die Geburtenrate in dem klei­ nen Land anzuheben (NO88 „Hot Estonian Guys“). Im Rückblick erkennt man, dass NO99 mit diesen Themen seiner Zeit jeweils knapp voraus war, denn sie wurden bald darauf zu zentralen


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­ hemen der estnischen Gesellschaft, die darüber hinaus auch in T anderen europäischen Ländern eine Rolle spielten. Ein weiteres Highlight der NO99-Touren war ihre postdramatische Tour de Force über Kulturpolitik NO83 „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ von 2009. Die Performance, die auch die Position des Künstlers in der heutigen Zeit behandelte, wurde skandali­ siert, da sie die damalige estnische Kulturministerin verspottete: Ein Schauspieler in der Rolle des Künstlers „urinierte“ auf die Schauspielerin in der Rolle der Kulturministerin (zu erkennen an der für sie typischen Kleidung). Das Ganze war humorvoll und frech, aber auch auf die ernste Frage von Kunstfreiheit und Demo­ kratie gerichtet. Es ging nicht zuletzt darum, dass eine öffentliche Einrichtung wie ein Theater die Behörden, die für seine Finanzie­ rung zuständig sind, kritisieren kann. Die außergewöhnlichste politische Performance war jedoch NO75 „Unified Estonia Assembly“. Dieser inszenierte Gründungs­ parteitag als Weckruf für politisch passive Esten war wahrschein­ lich das meistdiskutierte kulturelle Ereignis in der Geschichte des Landes. Im Mai 2010 fand die Vollversammlung des Vereinigten Estlands vor 7000 Zuschauern statt – somit auch eine der größten Inszenierungen in der modernen europäischen Theatergeschichte. Obwohl NO99 bekannt gab, dass es sich dabei um eine künstle­ rische Performance handelte, hoffte ein beträchtlicher Teil des Publi­kums auf eine reale politische Kraft aus dieser Aktion. Die Kampagne der fiktiven Partei war rundum professionell gemacht: riesige populistische Plakate in den Straßen, dazu massive Wer­ bung im Internet, auf Facebook und Twitter etc. Der Parteitag glich den typischen Auftritten und Bekundungen bei dieser Art von Ver­ anstaltungen. Demokratie, Macht, Politik, Freiheit, Volksbegehren, die Rolle der Medien, Wahrheit und Lüge – alles wurde in dieser Performance problematisiert. Dass man dabei einem Theater bei der Gründung einer neuen Partei mit eigener Agenda zuschaute, sollte das Interesse an der politischen Partizipation befördern. Die Geschichte von NO99 lässt sich grob in zwei Abschnitte von jeweils sieben Jahren einteilen. Die erste Hälfte war durch die Entwicklung postdramatisch-politischer Inszenierungen gekenn­

Die Nachricht vom Ende des Theaters NO99 schlug in Estland ein wie eine Bombe – v.l.n.r. die Produktionen NO92 „Stalker“, NO75 „Unified Estonia Assembly“ und NO40 „A Midsummer Night’s Dream“. Fotos Tiit Ojasoo / Anna Tuvike / Ene-Liis Semper

zeichnet, die zweite mehr auf die Erforschung performativer ­Ästhetiken orientiert. In beiden Phasen blieb die Besonderheit der Truppe von Schauspielern wesentlich. Und das wurde europaweit erkannt und gepriesen. Warum waren sie so besonders? Im Kon­ text des europäischen Theaters stellten die Schauspieler von NO99 eine besondere Verbindung zwischen den deutschen und russischen Theatertraditionen her – und entwickelten so die Posi­ tionen des estnischen Theaters zwischen diesen beiden Polen wei­ ter. Wichtige Einflüsse aus dem deutschen Gegenwartstheater waren die politische Wachheit und die postdramatischen Ästhe­ tiken, aus der russischen Schule adaptierten sie die außerordent­ liche Ensemblequalität der Schauspieler. Als Repertoiretheater konnten die Schauspieler von NO99 über einen sehr langen Zeit­ raum zusammenarbeiten und den hohen Standard eines Ensem­ bles erreichen. Die allerletzte Vorstellung von NO99 wurde am 19. Dezem­ ber 2018 in Moskau gezeigt. NO43 „Filth“ versammelte neun Schauspieler in einem Geviert voll Schlamm. Es war auch jene Arbeit, für die sie ein Jahr zuvor beim Europäischen Theaterpreis in Rom gefeiert wurden. Zu den nicht geringen Leistungen von NO99 gehörte auch, dass in Estland seine Theaterarbeiten nicht nur im Feuilleton eif­ rig besprochen wurden, sondern manchmal sogar auf die Titel­ seiten der Tageszeitungen kamen. Es blieb eben nicht unter sich im Reich der Kunst, sondern mischte sich ein ins Leben außer­ halb des Tempels. // Madli Pesti ist Theaterwissenschaftlerin und Kritikerin in Tallinn. Sie hat NO99 von der ersten bis zur letzten Inszenierung begleitet. Aus dem Englischen von Thomas Irmer.


/ TdZ Februar 2019  /

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Auftritt Berlin

„Crash Park – Das Leben einer Insel“ von Philippe Quesne / „Haußmanns Staatssicherheitstheater“ von­

Leander Haußmann

„Das Missverständnis“ von Albert Camus

Düsseldorf

„Don Karlos“ von Friedrich

Meiningen „Wir sind keine Barbaren!“ von Philipp Löhle  München „Der Spieler“ von Fjodor M. Dostojewski  Naumburg „Judas“ von Lot Vekemans  Osnabrück „Nähe“ (UA) von Mario Wurmitzer  Paris „Kanata – Épisode I – Schiller

Graz

Bern

„Die Revolution frisst ihre Kinder!“ (UA) von Jan-Christoph Gockel & Ensemble

La Controverse“ (UA) von Robert Lepage


auftritt

/ TdZ  Februar 2019  /

BERLIN Das Ende vom Fliegen HAU HEBBEL AM UFER: „Crash Park – Das Leben einer Insel“ von Philippe Quesne Konzept, Regie und Bühne Philippe Quesne Kostüme Corine Petitpierre

ist ein Flugzeugwrack sowie eine Vulkan­insel

Doch fand sich in früheren Arbeiten immer

in der putzigen Dimension eines Kinderkarus-

auch eine Utopie des Möglichen.

sells zu s­ ehen – robben sich die Über­leben­den

Zwischen abheben und abstürzen, die-

todesmutig durch das zentimetertiefe Wasser

sen beiden Extremen des Lebens, war der

aufs Festland. Wo in einer kurzen Sequenz

Mensch bei Quesne zu schrägen Rettungs­

zuvor noch Quesnes knopfäugige Untertage-

manövern fähig. In „Crash Park“ ist die Welt

kreaturen aus „Die Nacht der Maulwürfe“

jedoch durch und durch entzaubert. Doch

durch die unberührte Natur wuselten, ist außer

davon muss man eigentlich nicht mehr erzäh-

Palmen und Bananen allerdings nichts mehr

len. Das ernüchternde Ende vom Fliegen. // Dorte Lena Eilers

zu finden. Willkommen im Niemandsland, dessen unbevölkerte Leere Denker, Literaten und Fernsehmacher seit jeher inspiriert hat, mal philosophisch wie in Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, mal soziologisch wie in William

Auf einen Hocker steigen, die Lunte zünden

Goldings „Herr der Fliegen“, zivilisations­ ­

und los! So sah er aus, der Traum vom Fliegen,

kritisch wie in Christian Krachts „Imperium“

als sich der französische Bühnenbildner

oder auf Action basiert wie in der Fernseh­

­Philippe Quesne 2003 mit „La Démangeai-

serie „Lost“ oder der Reality­show „Survivor“.

BERLIN Das Stasi-Musical VOLKSBÜHNE BERLIN: „Haußmanns Staatssicherheitstheater“ (UA) von Leander Haußmann Regie Leander Haußmann Bühne Lothar Holler Kostüme Janina Brinkmann

son des Ailes“ (Der Juckreiz der Flügel) zum

So schnurrt denn auch Philippe Quesnes

ersten Mal als Regisseur vorstellte. Es war ein

Dramaturgie nach den Prinzipien der Besiede­

durch und durch quesnesker Abend: poe-

lung ab, wobei er kaum ein Klischee sausen

tisch, skurril und von einem nachdenklichen

lässt. Der Zweig einer Urwaldpflanze wird in

Blick auf die seltsame Spezies Mensch ge-

der Hand eines Performers zum Regenschirm­

kennzeichnet. Gaëtan Vourc’h, ein sehr Quesne-

ersatz, mittels dessen er die Gruppe als Tou-

typischer Performer mit traurigen Augen, ver-

rist Guide über die Insel geleitet. Nach der

suchte mit allen Tricks, der Schwerkraft zu

Erkundung erfolgt die Aneignung: Nackt, die

trotzen und in den Himmel aufzusteigen. Ein

heiklen Stellen scherzhaft mit Blättern bedeckt,

Nur selten geschieht es, dass die Tätigkeiten

anderer Spieler stickte unablässig Federn an

beginnen einige der Möchtegern-Crusoes zu

eines Geheimdienstes in der Öffentlichkeit

sein Kostüm. 15 Jahre später sitzen diese

tanzen, doch ist diese Szene zu kurz und zu

verhandelt werden. Denn, das Wort sagt es,

melancholisch gestimmten Flugversuchler in

harmlos, als dass man sie als Beitrag zur De-

was Geheimdienste machen, ist geheim. Ge-

der Touristenklasse eines Charterfliegers, als

batte über kulturelle Aneignung hätte lesen

raten aber doch einmal die Umtriebe aus

hätten sie die Zeit, in der Fliegen noch ein

können. Vielmehr taucht ein weiteres Motiv

­dieser Halb- und Unterwelt an das Licht der

Traum war, längst vergessen. Abgebrüht und

aus Quesnes Arbeiten auf: die Reflexion über

Öffentlichkeit, setzt für gewöhnlich die Irrita-

absolut synchron absolvieren sie die Choreo-

das Theater. Einer macht etwas vor, andere

tion ein, dass sich diese oft nur schwer mit

grafie der Langstrecke, knistern mit den Ver-

schauen zu. Von der Vulkanspitze herab gibt

den unterstellten Zwecken (wie dem Schutz

packungen ihres Plastikbestecks, lassen Blech­

ein Dritter plötzlich Anweisungen. Der Regis-

einer demokratischen Verfassung) in Einklang

verschlüsse aus Getränkedosen knallen und

seur ist entstanden, die Kultur­produktion in

bringen lassen. Im Fall des Ministeriums für

ziehen sich müde, aber gekonnt die Schlaf-

vollem Gange. Fatalistisch, wie zu erwarten,

Staatssicherheit der DDR kann diese Kluft

brillen über die Augen. Eine Sinfonie der Ur-

schmückt alsbald ein Schild den Eingang

kaum besser studiert werden. Die Tätigkeiten

laubssuchenden und Abenteurer. Dies alles

zum Vulkan: „Private Ground“, die Party­

des MfS und seiner zahlreichen Mitarbeiter

sehen wir in „Crash Park – Das Leben einer

crowd steht schon bereit, eine Bar wird er-

sind durch hochsubventionierte Aufarbeitungs-

Insel“, Quesnes neuester Produktion, als Film.

richtet, ein DJ legt auf. Wo sind wir jetzt?

behörden bestens dokumentiert. Freilich unter­

Wenig später tragen Performer ein Pappflug-

Vielleicht auf einer der Trauminseln der franzö­

wandern auch heute Verfassungsschutz und

zeug durch den Raum, von dem man ahnt, siehe

sischen Überseegebiete? Darauf könnten die

Polizeibehörden politische Gruppen, rechte

Titel, dass es nicht lange oben bleiben wird.

Kostüme aus der Kolonialzeit hinweisen, in

durch V-Leute, linke durch eingeschleuste

der die Performer ganz am Schluss stecken.

Spitzel. Es ist zu vermuten, dass – sollten ei-

Mit Vorahnung lässt sich spielen, doch hier wird sie zum Problem. Recht stringent

2017 brachten auf Guadeloupe Nach-

nes Tages die Archive der westlichen Geheim-

dekliniert dieser Abend, was überraschend ist

kommen afrikanischer Sklaven den französi-

dienste offen stehen – sich dort Dinge finden

für Quesne, das jahrhundertealte Sujet der ein-

schen Staat vor Gericht, weil sie eine Neuver-

werden, die der Stasi zumindest nicht so un-

samen Insel durch. Nach dem zu erwartenden

teilung des Ackerlands forderten. Ein derart

ähnlich sind. Doch lautet die einhellige

Absturz – auf der nunmehr beleuchteten Bühne

politischer Abend will Quesnes „Crash Park“

­Meinung in Deutschland, wenngleich die Zeit

indes nicht sein. Seine Bilder bleiben unein-

der großen Enthüllungs- und Enttarnungs­

deutig, was nichts Schlechtes sein muss, aller-

hysterie der neunziger Jahre vorbei ist, dass

dings fehlt ihnen zugleich das Moment der

es schlimmer als die Stasi kaum geht, ja, die

Überraschung. Der Mensch ist ein Störfaktor.

Stasi zu den größten Übeln der deutschen

So viel wird auch in dieser Produktion klar.

Geschichte g­ehört – erregungsmäßig direkt

Die Entzauberung der Utopie – „Crash Park – Das Leben einer Insel“ von Philippe Quesne am Berliner HAU. Foto Martin Argyroglo

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Die Entmythologisierung der Stasi als klamaukige Mietshausfarce – „Haußmanns Staatssicherheitstheater“, uraufgeführt von Leander Haußmann himself an der Volksbühne Berlin. Foto Harald Hauswald

Szenerie. Am Ende verschwindet das Bühnenbild wieder, die Bühne ist leer. Als ob nur kurz einmal aus der Unterwelt der Geheimdienste ein kleiner Ausschnitt aufgetaucht wäre. //

Jakob Hayner

BERN Mit Schmerz und Würde nach der ­Doppelniederlage in der Weltkriegs-

in der Prenzlauer-Berg-Szene soll zersetzt

meisterschaft und Dieselfahrverboten in In-

werden.

KONZERT THEATER BERN: „Das Missverständnis“ von Albert Camus Regie Claudia Meyer Bühne Konstantina Dacheva Kostüme Barbara Kurth

nenstädten. „Stasi-Staat DDR“ hieß es 1990,

Nun sehen die Stasi-Leute in ihren von

und dieses Bild wurde über die Jahre ge-

Janina Brinkmann gestalteten Kostümen mit

pflegt, auch um den Führungsanspruch der

ihrem farblosen Büroschick und stereotyp

westdeutschen Eliten im sogenannten wie-

­alberner Herrenhandgelenksledertasche nicht

dervereinigten Deutschland moralisch zu legi-

nur lächerlich aus, sondern verhalten sich

timieren. Doch es regen sich mittlerweile

auch so. Sei es beim eifersuchtsfördernden

Bern unmittelbar vor Weihnachten. Die Stadt

auch kritische Stimmen. Martin Dulig, der

Besudeln des Schlafzimmers mit Sperma­

gleicht einer Mall, in der einen ständig je-

Ost­beauftragte der SPD, forderte kürzlich im

spritze, beim Khashoggi-mäßigen Zersägen

mand anbrüllt. Zerstreuung ist das Prinzip.

Bundestag eine Aufarbeitung der Nachwende­

eines letalen Kollateralschadens der Mission

Nirgendwo ein Augenblick der Ruhe, keine

zeit. Und an genau diesem Punkt setzt

(Kanarienvogel) oder beim Imitieren verschie-

Möglichkeit der Konzentration, der Versen-

„Haußmanns Staatssicherheitstheater“ ein,

dener Typen der DDR-Subkultur zum Zwecke

kung. Wirklich? Am Stadtrand, in einem

eine komödiantisch-klamaukige Farce über

der Unterwanderung. Ein deutlich an Sascha

unwirk­lichen Industriegebiet, findet die Pre-

den Stasi-Mythos in der Regie des Autors

Anderson erinnernder Spitzel-Dichter rezitiert

miere von Albert Camus’ „Das Missverständ-

selbst, der damit seine Rückkehr an die

schlechte Lyrik, Hauptsache ungereimt. Auch

nis“ statt. Es wird ein Abend des Gegen-

­Berliner Volksbühne feiert.

zahlreiche

glücks.

musikalische

Einlagen

unter­

Es beginnt in der Nachwendezeit, ein

streichen den Charakter eines gefälligen

In der westeuropäischen Nachkriegs-

ehemaliger inoffizieller Mitarbeiter (IM) rä-

Stasi-Musicals für die ganze Familie. Von ­

zeit und in den fünfziger Jahren war Camus

soniert über Lüge und Wahrheit, eine gute

Tragik keine Spur, zuletzt wird das Thema ­

eine wichtige Stimme des ethisch getönten

Lüge sei doch besser als die beschissene

als ein albernes Hofritual aus vergangenen

Existenzialismus, der das absurde, mecha­

Wahrheit. Ein ehemaliger Hauptamtlicher

Zeiten präsentiert.

nisierte, unfreie Dasein erst erlöst und sinn-

bläst zum Angriff auf die Bundes­regierung,

Der ernste Effekt dieser unernsten Dar-

voll sieht, wenn der Einzelne sich erhebt ge-

weil er um seine Rente betrogen worden sei,

bietung ist die Entdämonisierung der Stasi,

gen eine existenzielle Bedrohung – und auch

die Rache sieht er nun in Ostdeutschland

dargestellt als Verschwörung von Idioten. Die

im Untergang eine positive Gegenkraft in

auf der Straße. Zurück­gesetzte, Beleidigte,

umfassende Paranoia vor der Entstehung von

die Welt setzt. Eine bereits damals mit sei-

Erniedrigte? Wie war das noch, damals in der

Staatsfeinden brachte diese erst hervor – Un-

nem Aufstieg einhergehende Kritik, „weißes

noch intakten Stasi-Famielke, äh, -Familie

terwanderung als Prophylaxe für die Angst vor

­Schreiben“ zu produzieren und die Figur des

mit Liebe für alle? Rückblende in die End-

Unterwanderung. Das wird an dem dreiein-

Sisyphos als hermetischen Panzer jenseits

zeit der DDR. „Unser Beruf hat etwas Ro-

halbstündigen Abend trotz einiger Längen

konkreter, auch eingreifender Handlung zu

mantisches“, beginnt ­einer der Profi-Über-

recht heiter präsentiert. Beeindruckend ist

behaupten, führte zuletzt, da die Welt, beson-

wacher sein Lob der geheimdienstlichen

vor allem das Bühnenbild von Lothar Holler.

ders die französische, immer schneller aus

Einfühlung. „Wir erfinden Geschichten.“ Es

Der detaillierte Querschnitt eines dreistöcki-

den Fugen geriet, zu einer Neubefragung, die

folgt die Inszenierung eines Eifersuchtsdra-

gen Hauses fährt zu Beginn aus dem Verbor-

in Frankreich eine große Grundsätzlichkeit

mas in der Schattenregie des MfS. Das Um-

genen hoch und präsentiert quasi einen ge-

erlangte und bis nach Deutschland und wie

feld eines „negativ-dekadenten Elements“

heimdienstlich sezierenden Blick auf die

hier in die Schweiz übersprang.


auftritt

/ TdZ  Februar 2019  /

Die Geschichte kann düsterer kaum sein. Ein

ihren Spielern mit auf den Weg: fordert diese

Der Abend, so fragil und doch stabil zugleich,

Mann kehrt nach zwanzig Jahren in seinen

heraus, auf Einfälle zu verzichten, stattdes-

plädiert für ein Aushalten der Gegenwart, im

Heimatort zurück. Dort führen seine Mutter

sen, aus der Ruhe kommend, die Form zu

Schmerz, mit Würde. Und er gibt in Gestalt

(Heidi Maria Glössner) und seine Schwester

finden, die die Lesart verdeutlicht. Denn wir

eines überdimensionalen Verkehrsschildes,

(Irina Wrona) ein Gasthaus, in dem sie gut­

haben es hier mit keinem Missverständnis zu

welches nach Dréan hinweist, einen erstaun-

situierte Gäste ausrauben und ermorden. Sie

tun, es ist eine Tragödie, die zu entfalten wie

lich konkreten Hinweis. Es ist der Geburtsort

erkennen in dem Heimkehrer (Nico Delpy)

auszuhalten ist. In langen, fast schwerelos

von Albert Camus in Algerien – wo alles be-

aber nicht den Sohn und Bruder, wie auch

wirkenden Szenen sehen wir Figuren, die sich

gann. //

dieser sich zunächst nicht zu erkennen geben

selbst suspekt zu sein scheinen. Im Resultat

will – was ihn das Leben, Mutter und Schwes-

erleben wir stille Archetypen menschlichen

ter das Lebensglück kosten wird. Anders als

Verhaltens, denen das Private ebenso ausge-

jüngst Jürgen Kruse im Deutschen Theater in

trieben wurde wie den Spielern das Mätzchen-

Berlin, der das Stück verjuxte, auch anders

hafte. Nico Delpy als der ahnungslose Sohn

als Nikolaus Habjan in Graz, der die Vorlage

hat nur kurz Gelegenheit, sein prägnant-

verzwergte, verweigert der Abend in Bern

selbstbewusstes Spiel zur Geltung zu bringen,

ironische Verhunzung wie alle Arten zeit­ ­

da ist er auch schon hin. Man hätte ihn in sei-

genössischen Klamauks und präsentiert sich

ner sinnlichen Körperlichkeit gerne länger ge-

als ein total auf das Wort gestellter, zwangs-

sehen. Die Figur der Schwester, gespielt von

läufig enigmatisch wirkender Abend von ho-

der großartigen Irina Wrona, wird in dieser

hem Kunstanspruch. Der erste Teil spielt in

Lesart zum retardierenden Moment, die mit so

einem engen, expressiv ausgeleuchteten

wenig Aufwand so viele Gefühlsfacetten, die

­Hotelzimmer, in dessen Wänden, Decke und

Sanftheit, das Verlangen, die Skrupellosigkeit

Boden tiefe Risse klaffen, die sukzessive im-

und schließlich auch den Schmerz vorführt.

mer größer werden. Die Regisseurin Claudia

Mimisch und gestisch ein Ereignis der Lako-

Meyer nimmt sich viel Zeit mit der Geschichte,

nik. Sie und die im zweiten Akt deutlicher

Die Handlung des „Don Karlos“, des letzten

und diese Bedachtsamkeit gibt sie auch

­werdende Marie Popall als die junge Frau des

„Jugendwerks“ von Friedrich Schiller, ist so

Getöteten beherrschen die Szene, die im

verzwickt wie in keinem „Tatort“. Der junge

­Hades spielt, und steigern sich in ihren be­

Prinz begehrt seine gleichaltrige Stiefmutter

eindruckenden Schmerzensmonologen in eine

Elisabeth, mit der er schon verlobt war; die

Stille Archetypen menschlichen Verhaltens – in Claudia Meyers Inszenierung von Albert Camus‘ „Das Missverständnis“ am Konzert Theater Bern. Foto Tanja Dorendorf / T + T Fotografie

schonungslose

Unausweichlichkeit

Harald Müller

DÜSSELDORF Von heimlichen Hauptrollen DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS: „Don Karlos“ von Friedrich Schiller Regie Alexander Eisenach Bühne Daniel Wollenzin Kostüme Lena Schmid

hinein,­ Prinzessin Eboli ihrerseits liebt Karlos, lockt

die inzwischen selten ist im Theater. Aber not-

ihn in eine Art Venusfalle; der König Philipp

wendig.

wiederum ist scharf auf die Eboli; der Marquis Posa, ein edler Ritter, will Karlos für den Freiheitskampf in Flandern begeistern; der finstere Herzog Alba kommt dazwischen; der König verguckt sich in den Marquis, will ihn in seine Dienste spannen, worauf dieser zum Schein eingeht; am Schluss erledigt ihn und alles andere der steinalte Großinquisitor. Es gibt etwa ein Dutzend Möglichkeiten, den Thriller auf die Bühne zu bringen. (Das Meiste daran sind Schillers Erfindungen, auch den „Kronprinzenkonflikt“ hat es in der beschriebenen Form wohl nicht gegeben.) Man kann das ganze Konvolut an der Rampe aufsagen lassen, mit Mikrofonen oder ohne; man kann die Bühne hightechmäßig aufrüsten, um den spanischen Überwachungsstaat an die Gegenwart zu schmiegen; man kann von den circa siebentausend Versen fünftausend oder zweitausend streichen; man kann den spannenden Dialogen mit analytischem Interesse folgen und die Szenen entweder in einem historisierenden oder in einem abstrahierenden Bühnenbild spielen lassen.

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auftritt

/ TdZ Februar 2019  /

apparat; dennoch wirkt das Setting, aus dem

aber horcht er begierig in die furiosen Gedan-

die agierenden Personen meist punktuell her-

kengänge des Marquis hinein, fasziniert, hin-

ausgeleuchtet werden, etwas beliebig – eine

gerissen und beinahe neidisch: Denn Kacz-

leere Bühne, denkt man, hätte es auch getan.

marczyk lässt unter der Haut des engagierten

Lena Schmids Kostüme dagegen sind ge-

Kämpfers für die Freiheit eine verletzbare

schmackvoll an historische Vorbilder ange-

Seele aufscheinen. Dieser Mann brennt nicht

lehnt: zweifellos der Blickfang der Aufführung.

nur mit allen Nervenfasern für seine Sache,

Eine erste Überraschung erlebt man

er verbrennt mit ihr. Die engste Wahlver-

beim Aufschlagen des Programmhefts. André

wandtschaft scheint in dieser Aufführung

Kaczmarczyk, der Star des Düsseldorfer En-

zwischen ihm und der einsamen Königin Eli-

sembles, spielt nicht die Titelrolle, sondern

sabeth zu bestehen, die Lea Ruckpaul zart,

den Marquis Posa – wenn man so will, die

fast kindlich lauter anlegt. Einmal aber gerät

heimliche Hauptrolle. Auf den ersten Blick

sie außer sich: Vom König gedemütigt, stößt

mag es einleuchten, den Freiheitskämpfer

sie sich selbst das Gesicht blutig, wieder und

durch eine hervorragende Besetzung aufzu-

wieder. Im Original stürzt sie versehentlich,

werten. Auf den zweiten Blick muss man je-

der König erschrickt. Zuspitzungen wie diese

doch feststellen, dass Don Karlos als eine

machen etwas her, aber sie gehen auch zulas-

fragile, ja gebrochene Figur die größere Her-

ten der Vieldeutigkeit. Der Dramatiker Schil-

ausforderung darstellt. Jonas Friedrich Leon-

ler schlägt sich nie auf eine der Fronten. Die

hardi zieht sich als Karlos, der in kurzen

emanzipatorische Kraft zu entdecken, die in

Hosen sein Jahrhundert in die Schranken ­

den Frauenfiguren steckt, wäre allerdings

­fordert, achtbar aus der Affäre – nicht mehr

eine Tat gewesen. //

Martin Krumbholz

und nicht weniger. Von den Schauspielern hängt bei einem solchen Klassiker-Schwergewicht viel Mit Interesse am Text, in der Reflexion aber beliebig – Alexander Eisenachs Inszenierung von Schillers „Don Karlos“ (hier mit Jonas Friedrich Leonhardi und André Kaczmarczyk am Düsseldorfer Schauspielhaus. Foto Thomas Rabsch

ab. Die beiden stärksten Szenen des Abends

GRAZ

sind deshalb folgende: Erstens die Szene zwischen Karlos und der Prinzessin Eboli. Sie basiert auf beiderseitigen falschen Erwartun-

Das Prinzip Scheitern

gen: Karlos hoffte, seine Stiefmutter im Kabinett vorzufinden, die Eboli glaubt nun, dass der Prinz sie liebt. Vorzüglich spielt Lou

Alexander Eisenach streicht in seiner Düssel-

Strenger das schelmische Werben der Prin-

dorfer Inszenierung relativ wenig und „aktua-

zessin, ihre mähliche Desillusionierung und

lisiert“ äußerst beiläufig. Der Regisseur, der

dann den Umschlag in den Plan, Rache zu

auch als Autor hervorgetreten ist, nimmt den

nehmen.

SCHAUSPIELHAUS GRAZ: „Die Revolution frisst ihre Kinder!“ (UA) von Jan-Christoph Gockel & Ensemble Regie Jan-Christoph Gockel Ausstattung Julia Kurzweg

Text sehr ernst. Das hat Vorteile, in diesem

Die zweite herauszuhebende Szene ist

Fall allerdings den Nachteil, dass eine kon-

die zwischen dem König und dem Marquis.

Der Regisseur Jan-Christoph Gockel wird

krete Lesart kaum zu erkennen ist. Die Bühne

Wolfgang Michalek interpretiert den Philipp

2014 bei einem Gastspiel in Ouagadougou

von Daniel Wollenzin ist eine Turn- und Über-

fast ein wenig naturburschenhaft als Macht-

von der Revolution überrascht: Präsident

wachungsanlage mit Wachturm und Plexi-

maschine. Am Schluss wird er seinen nackten

Blaise Compaoré, nach der Ermordung des

glas-Schräge. Was erzählt das? Sicher ist der

Körper weiß schminken, sich einen Spitzhut à

„afrikanischen Che Guevara“ Thomas Sankara

Apparat der Inquisition ein Überwachungs­

la Goya aufsetzen – ein bizarrer Harlekin. Hier

27 Jahre lang autokratischer Herrscher, wird

Deutsch von Mirko Kraetsch

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Jaroslav Rudiš

15. Februar, 19.30 Uhr Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen www.theater-bautzen.de

BÖHMISCHES PARADIES Uraufführung


auftritt

/ TdZ  Februar 2019  /

vertrieben. Die Auseinandersetzung mit die-

nou spielt den Schauspieler Komi Mizrajim

sem Erlebnis sucht Gockel 2018 mit einer

Togbonou, der das Grab seines Vaters besu-

zweiten Theaterreise nach Afrika. Diese

chen will. Schauspieler Raphael Muff spielt

wiederum nutzt Komi Mizrajim Togbonou, ­

den Schauspieler Raphael Muff, der froh ist,

Schauspieler aus Gockels Revolutionsinsze-

nicht die Verantwortung für das P ­ rojekt zu

nierung „Der Auftrag: Dantons Tod“ von

tragen, und dennoch gerne eine tragende Rol-

2017, um angesichts des Todes seines Va-

le hätte. Schauspielerin Julia Gräfner spielt

ters nach Togo zu reisen, seine Wurzeln zu

die Regisseurin Julia Gräfner, die mit einem

suchen. Zurück in Graz bleibt Florian Köhler,

Puppenstück zur Franzö­sischen Revolution und

ebenfalls Darsteller aus „Der Auftrag: Dan-

Theoriefetzen aus G ­ ockels dramaturgischen

tons Tod“, und versucht sich an einer per­

Vorarbeiten in die vormalige französische Ko-

formativen Begegnung zwischen Jim Morrison

lonie reist und mehrfach alle Konzepte über

und Büchners Danton.

den Haufen wirft. Schauspielerin Evamaria

Dies alles sind Ausgangspunkte für das

Salcher spielt die Intendantin Evamaria Sal-

Film- und Theaterprojekt „Die Revolution

cher, die selbst nicht ganz an den Vertrauens-

frisst ihre Kinder!“, das im November 2018

vorschuss glaubt, den sie dem Projekt mit auf

am Schauspielhaus Graz seine Uraufführung

die Reise gegeben hat. Und Schauspieler

erlebte. (Der Film soll 2019 folgen.) Entstan-

­Florian Köhler spielt den Schauspieler Florian

den ist ein komplexes Koordinatensystem, in

Köhler, der in Graz bleibt, um, als Danton

dem Ideen- und Handlungsstränge gelegt,

kostümiert, abwechselnd Morrison-Songs und

verknüpft und gemeinsam zu einem roten

Büchner-Sätze einzustreuen, die von Schwer-

­Faden verwickelt oder besser: verfilzt werden.

mut zerfressene Seelenlandschaften bloß­

Denn zweierlei Reisen werden dabei verhan-

legen – wie schon bei Büchner ein radikal

delt: jene des Teams, das sich tatsächlich mit

egozentrischer Kontrast zur Revolution dort

Kamera und Puppen (von Michael Pietsch)

draußen beziehungsweise drüben.

auf die Spuren der Revolution im „Land der

Dieses durchaus komische Nebenein-

aufrechten Menschen“ begeben hat, und jene

ander von realen und in der Definition ihrer

eines Stadttheaters auf Selbsterfahrungstrip,

Realität ein kleines Stück verschobenen Per-

das Gockel in Afrika aus- und „auf die Gasse

sonen setzt sich in den zeitlichen Koordi­na­

setzt“, wie es in „Dantons Tod“ heißt.

ten fort. So werden die semidokumenta­ ri­

Zuallererst

scheinen

Über die Hybris des Theaters bei der Suche nach seiner realpolitischen Potenz – Das Filmund Theaterprojekt „Die Revolution frisst ihre Kinder!“ von Jan-Christoph Gockel & Ensemble am Schauspielhaus Graz.

Jan-Christoph

schen Filmsequenzen mit Aufnahmen der

­Go­ckel & Ensemble von sich zu erzählen, da-

Revolution von 2014 vermengt, um die reale

von, wie sie ihr Projekt entwickeln: von der

Reise des Jahres 2018 ins Revolutionsjahr zu

Reise, der Euphorie, den Unwegsamkeiten.

verlegen und die Darsteller zu Akteuren des

Großräumig wird dafür die Bühnenhandlung

inzwischen historischen Geschehens zu ma-

mit in Afrika gedrehten Videosequenzen über-

chen. Mit diesem Kunstgriff erhalten auch

blendet. Puppenkünstler Michael Pietsch

die scheinbar aus der Realität gegriffenen

einmal wird das Theater auf die Selbstreflexion

spielt den Puppenkünstler Michael Pietsch,

Rollen ihre – notwendige – fiktionale Dimen-

zurückgeworfen.

unterstützt wird er von den Marionetten Dan-

sion. Das Unternehmen entlarvt die realpoliti-

Ob da jemand zu viel gewollt hat? Na-

tons und Robespierres, die schließlich jenen

sche Potenz theatraler Kunst als Hybris und

türlich. Doch genau das ist letztlich Thema

von Thomas Sankara und Blaise Compaoré

hält den Anspruch auf ebendiese dennoch

des Abends: Mit allen seinen Mitteln (und mit

weichen. Schauspieler Komi Mizrajim Togbo-

hoch. Immer wieder und immer wieder noch

einigen mehr) schreit hier das Theater nach

Foto Lupi Spuma

Gob Squad I Love You, Good Bye (The Brexit Edition) 29.3. / HAU1 / Premiere / www.hebbel-am-ufer.de

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auftritt

/ TdZ Februar 2019  /

Relevanz, geht dabei genau jeden Holzweg zu

auch das unter den vieren umstritten ist: Ten-

Paarbeziehungen – Barbara und Linda (Anja

Ende und steht – ständig am Boden – auch

diere die Hautfarbe nicht eher ins Bräunliche?

Lenßen und Melina Sánchez) geraten sich ob

immer wieder auf. Schön, dass die Intendan-

Vermutlich aus Afrika, vielleicht aber auch aus

des exotischen Wesens des Ankömmlings in

tin Iris Laufenberg, inspiriert von Christoph

Asien. Gewiss ist nur, dass er in das wohlge-

die Haare. Für die eine ist er der lang ent-

Schlingensiefs „Operndorf“ in Burkina Faso,

ordnete Leben der vier einbricht – und schließ-

behrte Lebensinhalt, dem sie sich – schließ-

dafür Platz geschaffen hat. Und zwar auf der

lich liegt alles in Scherben, aber geht dann

lich sogar lustvoll stöhnend – hingibt, für die

großen Bühne. Schlingensief hätte das gut

doch weiter wie bisher, jedenfalls irgendwie.

andere eine potenzielle Gefahr, die man doch

gefunden. //

Hermann Götz

MEININGEN Auf schwankendem Boden MEININGER STAATSTHEATER: „Wir sind keine Barbaren!“ von Philipp Löhle Regie Annett Kruschke Ausstattung Rimma Elbert

Die Paarordnung erweist sich gleich zu

nicht in die eigene Wohnung lässt.

Beginn als überaus fragil. Rimma Elbert hat

Für Mario und Paul (Björn Boresch und

eine Bühne gebaut, die den Ton der Insze­

Vivian Frey) ist der Fall ohnehin klar: Was für

nierung von Annett Kruschke vorgibt. Der spie-

ein wilder, undankbarer Wüstling das ist! Paul

gelblanke, gelbe Bühnenboden wankt und

baut sich einen Schutzraum, das Material

schwankt, als sei man hier auf hoher See.

dazu angelt er aus den Tiefen des Klos. Er

Einmal beginnen sogar die Zuschauertribünen

formt sich daraus auch eine Maske und äh-

in den Meininger Kammerspielen zu beben.

nelt so plötzlich einem Schwein. Dann ist

Ein überaus merkwürdiges Gefühl. Ansonsten

Bobo oder Climt, wer weiß das schon, wie die

bietet uns Annett Kruschke hier ein grelles

heißen, verschwunden und Barbara tot – er-

Volksbühneninterieur aus frühen Tagen Frank

schlagen vom Mega-Fernseher.

Castorfs. Sogar das Klobecken auf der Bühne

Philipp Löhle hat mit „Wir sind keine

darf nicht fehlen, wo sie sich alle mal hin­

Barbaren!“ eine Art Boulevardstück mit teils

setzen, sich entleeren und aufstehend dezent

banalen, teils absurden Dialogen geschrie-

den blanken Hintern ins Publikum halten.

ben, die mit den Klischees von Heimat und

Provokation ist angesagt.

Fremde spielen. Es ist vielleicht als leichte

Das Volk ist immer da. Kaum ist es über die

Aus dem Off dröhnt gleich zu Beginn

Komödie mit (wenn auch dezent) mahnend

Bühne gezogen und links abgegangen, kommt

Lustgestöhn. Es kommt von drüben, von den

erhobenem Zeigefinger gemeint – jedenfalls

es von rechts schon wieder hervor. Es läuft im

neuen Nachbarn – lang und ausdauernd, ist

ist es das, was Annett Kruschke hier auf kei-

Kreis und heißt hier „Heimatchor“. Also kei-

das echt oder ein in Schleife laufender Porno?

nen Fall will.

neswegs schweigend, sondern mit Meinungen

Aber auf die Dauer stört es doch die Gewohn-

Sie forciert die Farce in all ihrer Derb-

beladen, die es uns im Vorbeigehen vor die

heitsordnung. Dann stehen die Nachbarn vor

heit – und das ist bei dem eher seicht dahin-

Füße wirft: „Hier sind wir, wir sind viele …“

der Tür, die haben genauso seltsame Jetzt-

plätschernden Text gewiss eine richtige Regie-

Dieses Volk definiert sich nach eigenen Wor-

Zeit-Berufe wie man selber – sie in der Fit-

entscheidung. Und so sehen wir zu Paolo

ten durch Arbeit und geregelte Freizeit. Ord-

ness-Ernährungsbranche mit irgendwelchen

Contes „It’s Wonderful“ dann auch viel Glit-

nung ist ihm sehr viel lieber als Chaos.

speziellen Facetten, er designt Geräusche für

zer und High Heels, viel Körper und einen

Philipp Löhle hat mit „Wir sind keine

Elektromotoren. Man redet und redet – ödet

herrlich brutalen, wenn auch jederzeit rhyth-

Barbaren!“ ein Stück für vier Personen ge-

sich zu viert genauso an wie zu zweit. Es gibt

mischen Umgang mit all den umherliegenden

schrieben, für zwei Paare – Barbara und Mario

ein Geburtstagsgeschenk von ihm für sie, nach

Dingen – und sei es den Klischees vom Eige-

sowie Linda und Paul. Vier aus dem Volke so-

dem Abrollen von gefühlten Kilometern von

nen und Fremden. //

zusagen. Soweit die Ordnung. Das Chaos­

Packpapier kommt es zum Vorschein: ein riesi-

element jedoch ist der Fünfte, der Unsicht­

ger Fernseher, mit dem man sogar Radio hören

bare, auf den sich alles immer mehr fokussiert.

kann. Die derart Beschenkte scheint wenig be-

Ein Fremder, der vielleicht Bobo oder Climt

eindruckt. Viel mehr beeindruckt sie der – für

heißt, man weiß es nicht so genau – ein

uns Zuschauer unsichtbare – Fremde vor ihrer

Flüchtling, ein Schwarzer noch dazu. Wobei

Tür, der Einlass fordert. Sofort ändern sich die

Gunnar Decker

Anreden gegen das Fremde – Der Heimatchor in Annett Kruschkes Inszenierung von Philipp Löhles „Wir sind keine Barbaren!“ am Meininger Staatstheater. Foto Marie Liebig


/ TdZ  Februar 2019  /

MÜNCHEN

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„Der Spieler“ eignet sich daher nur sehr bedingt als Vorlage, um auf der Bühne den modernen Kasinokapitalismus von heute zu ver-

Leerlauf am Roulettetisch

handeln.

Dostojewski

erzählt

nicht

von

Dostojewskis fieberhitzige Lust am Unter­ gang läuft leider nicht heiß – „Der Spieler“, inszeniert von Andreas Kriegenburg am Residenztheater München. Foto Matthias Horn

strategisch kühlem Gewinnstreben der Menschen, sondern von der fieberhitzigen Lust

RESIDENZTHEATER: „Der Spieler“ von Fjodor M. Dostojewski Regie Andreas Kriegenburg Bühne Harald B. Thor Kostüme Andrea Schraad

am Untergang. Die will offenbar auch Andreas

bremsen. Ganz sicher aber ist es eine Frage

Kriegenburg inszenieren. Von Harald B. Thor

der Besetzung. Thomas Lettow ist ein fantas-

hat er sich ein stählernes Spinnenungetüm

tischer, hoch begabter junger Schauspieler.

auf die Bühne bauen lassen. In der Mitte

Als Alexej Iwanowitsch aber ist er erkennbar

thront ein Roulettetisch, von dort ragen

nicht in seinem Element. Lettow bewältigt

mehrere Gerüstarme in alle Richtungen, wie

Textunmengen mit Bravour. Er kann die Texte

Bootstege mit Holzbohlen belegt. Weil sich

klar denken und diese Gedanken für die

„Mein ganzes Leben steht auf dem Spiel!“,

die Konstruktion fast andauernd dreht, ist

Zuschauer transparent machen. Er beherrscht

bricht es aus Alexej Iwanowitsch heraus. Die

auch das Ensemble in permanenter Bewe-

den Text im umfassenden Sinne. Als titel­

krankhafte Spielsucht des Generals, bei dem

gung. Vom zentralen Roulettetisch aus spur-

gebender Spieler aber müsste der Text ihn

er als Hauslehrer dient, hat auch ihn infiziert.

ten die Schauspielerinnen und Schauspieler

beherrschen. Vielleicht ist er noch zu wenig

Nämlicher General ist samt seiner Sippschaft

immer wieder ans äußerste Ende desjenigen

abgezockt, um sich so einer Figur restlos aus-

im fiktiven Kurstädtchen Roulettenburg ge-

Steges, der gerade zum Publikum zeigt. Weil

zuliefern. Kontrollverlust zuzulassen braucht

strandet. Dort hat er sich am Spieltisch so

der aber von der Drehbühne gleich wieder aus

eben auch: viel Erfahrung. Im Grunde ver-

restlos verausgabt, dass ihn nur noch das

dem Sichtfeld rotiert wird, müssen sie zur

langt „Der Spieler“ nach einem Darsteller wie

Erbe einer steinreichen Tante vor dem siche-

Mitte zurückeilen, um von dort aus auf dem

Thomas Schmauser, der nicht schaut, was er

ren Ruin retten könnte. Doch die angeblich

nächsten Steg wieder nach vorne zu sprinten.

mit der Figur macht, sondern geschehen

sieche Verwandte kreuzt plötzlich selbst in

Und immer so weiter.

lässt, was die Figur mit ihm macht. Doch

Roulettenburg auf und erweist sich als kern-

Das könnte zu einer Art hysterischen

Schmauser hatte den Part erst kurz vor sei-

gesund, bis auch sie sich vom pathologischen

Betriebsamkeit führen, wie man sie aus In-

nem Wechsel ans Residenztheater an den

Zockerzwang anstecken lässt.

szenierungen von Frank Castorf kennt, doch

Münchner Kammerspielen gespielt. Da kam

Es ist nicht allein die Profitgier, die

statt heiß zu laufen, läuft die Aufführung

er für die Rolle am Resi wohl nicht infrage.

­Dostojewskis Romanfiguren antreibt. Vielmehr

über weite Strecken lähmend leer. Vielleicht

Noch schwerer fällt die Hingabe an die

spielen sie eine Art russisches Roulette. Zwar

liegt es daran, dass der Riesenbühnenaufbau

Hemmungslosigkeit Charlotte Schwab als

ohne Kugel und Revolver, sondern wie im

zwar ein Hingucker ist, sich aber nur sehr

Erbtante. Schwab hat eine wunderbar kehlige

­Kasino üblich mit Jetons; und doch geben sie

schwerfällig dreht, was Tempo aus der Sache

Reibeisenstimme, doch die obsessive Spieler-

sich einem potenziell tödlichen Glücksspiel

nimmt. Und wahrscheinlich hätten sich Krie-

natur nimmt man ihr zu keiner Sekunde ab.

hin, das schlimmstenfalls mit der völligen Ver-

genburg und seine Dramaturgin Angela Obst

Weit besser schlägt sich Thomas Loibl, der

nichtung der Existenz endet. Alexej hat recht:

von ein paar Seitenerzählungen des Romans

die Gehemmtheit zum Wesenskern seiner

Es steht das ganze Leben auf dem Spiel.

trennen müssen, die den Spielfluss nur aus-

­Figur macht. Sein General hat sich offenbar


/ 44 /

auftritt

/ TdZ Februar 2019  /

bereits so stark verausgabt, dass er sich vor

Ist Judas ein Narziss, der nur um sich selbst

Scham nur noch in sich selbst verkriechen

kreist? Adrien Papritz, der junge Schauspieler

will. Sosehr er sich um Jovialität müht,

aus Luxemburg, hat etwas von jener vorder-

manchmal kann er die Worte bloß noch her-

gründigen Gefälligkeit der Erscheinung, wie

auspressen wie ein Glücksspielautomat mit

man sie sonst in televisionären Castingshows

Entladehemmung die Münzen. Den stärksten

findet. Etwas zu glatt für zweitausend Jahre

Eindruck hinterlässt Lilith Häßle als Stief-

Verratsgeschichte. Oder ist es unser eigenes

tochter des Generals, deren Zuneigung der

Vorurteil, dass wir enttäuscht sind, wenn wir

eigentliche Gewinn wäre, den hier alle abzu-

keine Zerrüttung in der Gestalt dieses ersten

räumen versuchen. Häßle spielt diese junge

Protagonisten des Verrats in der abendländi-

Frau als rotzgöriges Raubtierwesen mit

schen Geschichte entdecken? Nicht wenigs-

borderlinerhaftem Hang zur Selbstzerflei-

tens ein paar Falten oder graue Haare? Nein,

schung. So verdankt ihr die Aufführung zu-

dieser Inbegriff eines Verräters kommt daher

mindest eine Ahnung des fiebrigen Exzesses,

wie aus dem Fitnessstudio. Vollkommen frisch

von dem man sich deutlich mehr gewünscht

und unbeschwert. Wiegt der Verrat so leicht?

hätte. //

Christoph Leibold

Der Naumburger Intendant und Regisseur Stefan Neugebauer nimmt Lot Vekemans’ Ansatz auf, in Judas mehr als ein bloßes

NAUMBURG

Werkzeug

der

Heilsgeschichte

zu

entdecken, ihm gleichsam seine Privatheit zurückzugeben. Das macht er zum roten Fa-

Erotik des Verrats

den

seiner

Inszenierung.

Warum

wird

überhaupt jemand zum Verräter, und wie lebt er dann damit? Judas hängt sich auf, nach-

THEATER NAUMBURG: „Judas“ von Lot Vekemans Regie und Ausstattung Stefan Neugebauer

dem er Jesus an die Römer (mittels eines Kusses) verraten und seine dreißig Silberlinge Lohn erhalten hat. Von seinem Verrat also hat er nichts. Sein Handeln muss anderen

Zweitausend Jahre Verratsgeschichte – Adrien Papritz als Judas / Nietzsche in „Judas“ von Lot Vekemans, aufgeführt im Naum­burger Nietzsche-Haus, in der Regie von Stefan Neugebauer. Foto Torsten Biel / Theater Naumburg

Motiven folgen. Enttäuschte Liebe, pure Eitelkeit gar? Oder die Einsicht: Einer muss es Wer ist dieser junge Mann, der barfuß im Vor-

tun, damit Jesus zum Messias wird?

gelt. Glücklicherweise schützt die besondere

tragssaal des Nietzsche-Dokumentationszent-

Dem Abend gelingt es, eine Vielzahl

Atmosphäre in unmittelbarer Nähe des Nietz-

rums in Naumburg umherläuft, die sich setzen-

von Facetten in der Judas-Figur sichtbar zu

sche-Hauses vor allzu kurzschlüssigen Deu-

den Zuschauer ständig im unruhigen Blick?

machen. Der Text selbst scheint sich für diese

tungen. Ein Klavier auf der einen und ein

„Sind jetzt alle da, kommt noch jemand?“, ruft

Bedeutungsmöglichkeiten allerdings wenig

großes Kreuz auf der anderen Seite des Rau-

er immer wieder laut und heftig. Klingt wie der

zu interessieren, rutscht nicht selten in ein

mes verschieben Deutungsebenen. Für Neu-

Kasper aus dem Puppentheater, steht aber so

peinlich-vordergründiges Ansprechen des Pu-

gebauers Regie war die Vermischung von Judas

in Lot Vekemans’ „Judas“-Monolog. Es ist Ju-

blikums ab. „Einer hier hat keinen Eintritt

mit Nietzsche ein entscheidendes Element.

das, der verräterische Jünger Jesu, der sich uns

bezahlt. Der soll sich jetzt melden!“ Dabei

So hämmert Judas wütend auf dem Klavier

endlich erklären will, vielleicht auch Nietzsche,

geht es dann um die Frage: Trägst du nicht

herum, wenn er nicht weitersprechen kann –

der hier gleich neben dem historischen Haus

auch einen Judas in dir? Am Ende werden die

darin dem wahnsinnigen Nietzsche gleich,

von Mutter und Schwester umhergeistert. Frie-

Zuschauer animiert, Judas die Hand zu

der noch auf dem Klavier fantasierte, als ihm

den finden sie offenbar beide nicht.

schütteln. Der Pakt mit dem Bösen ist besie-

die Sprache schon abhandengekommen war.

FOKUS TANZ #5: BOYS*BOYS*BOYS*

9 1 0 2 FEB

u.a. mit Michael Turinsky, Serge Aimé Coulibaly & Rokia Traoré, Sorour Darabi, Xavier Le Roy, Saša Asentić

SHE SHE POP SWOOSH LIEU DENNIS SEIDEL DANIEL CHELMINIAK JOSEP CABALLERO GARCÍA ORATORIUM

WHO MOVES?!

ZEHN METER IN DEN WILDEN WESTEN QUEER B-CADEMY MELANCHOLÍA

KA

AMB H L E G A MPN

URG


auftritt

/ TdZ  Februar 2019  /

Auch Nietzsche wurde schließlich mit seinem

voller Montur ist noch beim Zähneputzen, die

„Gott ist tot“ ein Verräter der tradierten Meta-

Geschäftsfrau schon am Telefonieren, eine

physik.

Pensionärin mit dem Metalldetektor unter-

JOËL POMMERAT

Wie gläubig war Judas? In den 1970er

wegs auf der Suche nach etwas Wertvollem

Jahren entdeckte man in einer Wüstenhöhle

oder wenigstens jemand Hilflosem, für den

Papyrusrollen, die ein Judas-Evangelium

sie sich nützlich machen kann. Regisseur

enthielten. Lange kursierten sie auf dem

Ron Zimmering zeigt das große Huschhusch

Schwarzmarkt, wurden dabei fast völlig zer-

des Alltags in Anlehnung an Peter Handkes

stört. Waren sie echt? Jedenfalls versuchte

„Stunde, da wir nichts voneinander wuss-

man, viel Geld mit ihnen zu machen. Das ist

ten“. Dann geht er ins Detail, in die so proto-

auch das Skandalon, der innere Widerspruch

typische wie poetische Suche nach „Nähe“.

des Christentums bis heute, dem die Regie

So ist Mario Wurmitzers zweites Stück beti-

nachspürt: die Armut Jesu auf der einen Seite

telt, das den dritten Osnabrücker Dramatiker-

und eine reiche Institution Kirche auf der an-

preis und damit seine Uraufführung ge­

deren. Judas hat diesen Widerspruch als Ers-

wonnen hat. Der 26-jährige Österreicher

ter in sich selbst erkannt – und bejaht. Dieser

thematisiert darin so respekt- wie humorvoll

Weil die Figuren stets zu befürchten schei-

Sozialrevolutionär wollte den Aufstand. Für

innere Leere, äußere Einsamkeit sowie die

nen, emotionale und intellektuelle Klischees

ihn gab es nur das zu verändernde Diesseits

Tabuisierung des Todes.

zu reproduzieren, reißen sie Gedanken nur

KREISE/VISIONEN Regie: Frank Behnke

ETA Hoffmann Theater, Bamberg

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

und keinen auserwählten Sohn Gottes. Sein

Da ist die Selbstoptimiererin Lisa

an. Scheitern so immer wieder neu, kommu-

Verrat an Jesus ist also auch der Versuch, den

­(Denise Matthey). Nach dem Tod der Mutter

nikativ Nähe aufzubauen. So stottert Lisas

eigenen Überzeugungen treu zu bleiben. Es

hat sie der eigenen Karriere zuliebe den Kon-

Gatte: „Soll ich zum Abschied noch irgend-

gibt kaum eine weitere derart philosophische

takt zum Vater (Ronald Funke) minimiert, sich

was sagen? / Dass ein Teil von mir. / Dass der

Figur wie Judas. Vekemans dagegen will ihn

gleichzeitig auch ihrem Lebenspartner ent-

dich immer irgendwie … / Hilf mir doch mal.“

„menschlich“ zeigen. Ein Widerspruch?

fremdet. Die offizielle Beziehung funktioniert

Lisa: „Sag doch einfach: Bis bald.“ Keine Trä-

Judas trägt das Prinzip Verneinung

inoffiziell nur, weil das Paar selten gemein-

ne, kein Schmerz. Aber den Dialog begleiten

durch die Geschichte, indem er ein unsicht-

sam zu Hause ist. Nun steht der Gatte aber

ständige Wechsel von mimischen Ausdrucks-

bares Kreuz auf sich lädt – ohne jede Aus-

mit einem schleifchenverzierten Geschenk in

valeurs, die sofort zur Fratze gefrieren. Eine

sicht auf Erlösung. Frank Castorf nannte es

der Tür und schlägt vor, am Meer zu urlauben.

hilflose Suche nach einer wahren Empfindung.

eine „Erotik des Verrats“, die Spaß machen

Im Lärm der Brandung würde es doch nicht

Gesprochen wird artifiziell kühl: geradezu

kann. Jeder, der etwas Neues will, muss Altes

stören, dass sie sich nichts zu sagen hätten.

blaffend unfreundlich. Denn alle sind unzu-

ver­raten. Auch Judas hat also seine Mission.

Lisa aber macht Schluss: „Da ist nicht mehr

Oder wie Foucault wusste: Jede Institution

genug. / Ich hab lange gesucht. / Hab mich

konstituiert sich durch Ausschluss von Außen-

durchwühlt. / Aber das reicht nicht. / Tut mir

seitern, produziert Ketzer. Der erste Ketzer des

leid.“ So deutet sich der außergewöhnliche

Gunnar Decker

Sprachgestus des Stücks an. Das Formulieren

Christentums hieß Judas. //

wird immer wieder abgebrochen und rafft sich bestenfalls zu kargen Hauptsätzen auf.

OSNABRÜCK Stotternde Monaden THEATER OSNABRÜCK: „Nähe“ (UA) von Mario Wurmitzer Regie Ron Zimmering Bühne Ute Radler Kostüme Benjamin Burgunder

Als Passanten, Wanderer, Träumer, Malocher tritt das Stückpersonal erst mal stumm auf. Schlendert, läuft, stöckelt, schreitet, trottet, kickt scheinbar zielsicher über den elf Meter breiten, nur wenige Schritte tiefen Bühnenstreifen. Von links nach rechts. Ein Pilot in

Hilflose Suche nach wahrer Empfindung und Sprache – Ronald Funke und Denise Matthey in Ron Zimmerings Uraufführung von Mario Wurmitzers „Nähe“ am Theater Osnabrück. Foto Uwe Lewandowski

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auftritt

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frieden, ratlos empört. So treffen auch Lisa und ihr Vater aufeinander. Nach einem

PARIS

entkommen. „Mir wäre das vielleicht auch ­alles. / Das könnte ich womöglich ertragen. /

Zwischen Protest und Poesie

Wenn diese Distanz nicht“, sagt er, „da ist ein Widerstand …“ Der macht es ihm unmöglich, mit anderen in Kontakt zu treten. Auch Lisa ist nach der Trennung auf

die Misslichkeiten des Abends weniger den Spielern als den schleppenden Umbauten ge-

Schlaganfall versuchte er mit Glücksspiel und Onlinekontaktbörsen der Witwereinsamkeit zu

deren Regisseur anvertraut hatte. Dabei waren

schuldet, die es dem Publikum schwer machten, sich auf das Geschehen einzulassen. Ohnehin stand „Kanata“ unter einem dunklen Stern. Das Wort, aus dem später der

THÉÂTRE DU SOLEIL: „Kanata – Épisode I – La Controverse“ von Robert Lepage und dem Théâtre du Soleil

sich selbst zurückgeworfen. Existenzkrise.

Landesname Kanada wurde, bedeutet „Dorf“ und stammt aus der Sprache der Ureinwohner. Deren Geschichte sollte in einem drei­ teiligen Bühnenepos erzählt werden: ausgrei-

Bei ihrer Suche nach dem, was Halt bieten

fend und facettenreich, über Generationen

könnte, helfen surreale Erscheinungen, die

Robert Lepage ist dafür bekannt, dass seine

und Erdteile hinweg. Lepage ist ein Meister

sich mit beiläufigen Auftritten in die Dialoge

Stücke zur Premiere nicht fertig sind. Das hat

dieser Form – man denke nur an „The Seven

einmischen – wie die verstorbene Freundin,

mit seiner Arbeitsweise zu tun. Da er stets mit

Streams of the River Ota“, das von Hiroshima

die Lisa daran erinnert, wer sie einst war und

mehreren Projekten gleichzeitig beschäftigt

handelte und jahrelang um die Welt tourte.

was sie wollte. Auf eine ganz irdische Bot-

ist, werden die jeweiligen Proben für Wochen,

Doch diesmal war alles anders.

schaft laufen ihre Erzählungen hinaus: Klam-

oft auch Monate unterbrochen und bereichern

Im vergangenen Sommer setzte das

mert euch aneinander, nicht an Hoffnungen

sich durch die Pausen und Überlappungen.

Jazz­ festival Montreal Lepages szenisches

aufs ewige Leben. Dem Vater nehmen diese

Die verschiedenen halbfertigen Arbeiten be-

Konzert „SLV“ mit Betty Bonifassi ab, weil es

Gewesenen und Toten die Angst vorm Ster-

feuern sich gegenseitig, und die Proben ge-

wütende Proteste gab. Grund: Die Sängerin

ben, indem sie vom Alltag im Jenseits berich-

hen auch nach der Premiere weiter.

ist weiß und darf deshalb keine Sklavenlieder

ten. Schließlich kommen sich Vater und Toch-

Er liebt es, alles immer wieder infrage

singen, auch wenn sie es noch so toll kann.

ter näher – vor einer riesigen Leinwand. Er

zu stellen, die Reaktionen des Publikums zu

Es lebe die PC! Kurz danach traf der Vorwurf

kleckst in Pollock-Manier erste Behauptun-

verarbeiten und die Schauspieler mit Unvor-

der „Kulturellen Aneignung“ auch „Kanata“.

gen auf die Wand, formuliert sie in einem kre-

hergesehenem herauszufordern. Das hält die

Natür­lich wäre es besser gewesen, First-Nation-

ativen Schub zu Linien aus, sie bringt sich

Aufführungen frisch und verhindert jene ge-

Künstler miteinzubeziehen, aber in Mnouch-

unbeholfen mutig mit ersten pastosen Pinsel-

nüssliche Spielroutine, die er so sehr hasst.

kines internationalem Ensemble gibt es nun

strichen in das Gemälde ein. Beide nähern

Seine eigenen Leute können diesen Ritt über

einmal keine. Und den Vorschlag eines

sich sozusagen kunsttherapeutisch gegensei-

den Bodensee souverän, auch lustvoll bewäl-

­autochthonen Koregisseurs lehnte Lepage ab,

tig an. Was dank der beiden formidablen

tigen – für ein fremdes Ensemble ist er wohl

was nachvollziehbar ist.

Haupt­darsteller so gar nicht kitschig, sondern

eher angstbesetzt.

Während noch nach einer einvernehm­

anrührend funktioniert. Nun ist der Vater

Bei der Weltpremiere von „Kanata“ am

lichen Lösung gesucht wurde, stieg der geld-

auch bereit – abzugehen. Durch einen leicht

15. Dezember 2018 im Théâtre du Soleil in

mächtigste Koproduzent (die Kulturfabrik The

geöffneten Schlitz in der Bühnenrückwand.

Paris beschloss Ariane Mnouchkine, den Zu-

Armory in New York) aus dem Projekt aus; der

Wie ein Nachhall seiner Existenz ertönt Toco-

schauern das Eintrittsgeld zurückzuzahlen, da

Canada Council for the Arts folgte, und Lepage

tronics „Ich habe Stimmen gehört“. So er-

sie nicht die Aufführung, sondern nur „eine

sagte die Produktion ab. Aber das wollte das

weist sich „Nähe“ als ein ganz fein Komik

letzte Probe“ sehen würden. Sie hat Ähnliches

Théâtre du Soleil, ebenfalls Koproduzent,

und T ­ ragik ausbalancierendes Drama der Vor­

auch schon bei eigenen Produktionen ge-

nicht zulassen: Ariane Mnouchkine überzeugte

urteile,

und

macht; warum also nicht auch jetzt, wo sie

den Regisseur, der seit Jahren immer wieder

schlecht verheilten Wunden in sozial unter-

zum ersten Mal in der fünfzigjährigen Ge-

an dem Stück gearbeitet hatte, „Kanata“ nach

Jens Fischer

schichte des Theaters ihr Ensemble e­ inem an-

drei­wöchigen Endproben termingerecht in der

unreflektierten

kühlten Lebensräumen. //

Hoffnungen

Keren Levi

Footnotes 1. + 2.2. (for Crippled Symmetry)

fft-duesseldorf.de


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Kulturelle Aneignung oder überfällige Aufarbeitung der indigenen Geschichte Kanadas? – Robert Lepages „Kanata – Épisode I – La Controverse “ feierte seine Weltpremiere am Théâtre du Soleil in Paris.

­Cartoucherie herauszubringen, vielleicht auch

nicht so recht, was sie vom Leben wollen, bis

in der verzweifelten Hoffnung, in Europa neue

die Ereignisse um sie herum ihnen den Weg

Koproduzenten für die Fortsetzung zu finden.

vorgeben. Die Namen der beiden, Frederic

Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird

und Miranda, verleiten dazu, das Stück auch

das geplante Bühnenepos aber wohl nicht über

als schräge Übermalung von Shakespeares

den ersten Teil, der noch bis zum 17. Februar

„Sturm“ zu lesen, mit Tanya, einer drogen-

in Paris zu sehen sein wird, hinauskommen.

abhängigen First-Nation-Frau, als Ariel mit

Das wäre ein Jammer, denn trotz aller Unfer-

gebrochenen Flügeln, einem Schweinezüch-

umgebracht – eine schreckliche Szene, gerade

tigkeit lässt sich erahnen, wie viel Kraft, Klar-

ter und Massenmörder als pervertiertem

weil man den Mord nicht sieht, nur das Blut,

heit und Kunst darin stecken.

Pros­pero und dem Ausstellungsmacher viel-

das ans Fenster klatscht. Miranda ist erschüt-

Es beginnt mit einem Ausstellungs­

leicht als Caliban in einer umgedrehten Terra

tert über die Nachricht – in ihrer Trauer will sie

macher, der im Kanadischen Nationalmuseum

incognita. Lepage schmuggelt gerne solche

ein Porträt von Tanya malen, aber man sagt ihr,

nach First-Nation-Porträts sucht – ein Prälu­

Rätselspuren in das Geschehen hinein, man

dass sie das nicht darf ohne die Zustimmung

dium voller Selbstironie und Sarkasmus.

kann ihnen folgen oder auch nicht.

der Familie, und die wird sie nie bekommen.

Foto Dominique Martial

Gleich darauf sieht man einen Mann im Ein-

Miranda (Dominique Jambert) erkun-

Wieder geht es um den Vorwurf der kulturellen

baum über einen von Wald umgebenen See

det ihre neue Umgebung mit einer Mischung

Aneignung, und Miranda, eingeschüchtert,

fahren, ein magisches Bild von großer Poesie

aus Neugier und Empathie angesichts der vie-

flüchtet sich in die Abstraktion.

und Wehmut, ganz langsam und still, jäh un-

len Drop-outs auf der Straße. Sie freundet

Am Ende kommt das Boot noch einmal

terbrochen von einem Dutzend lärmender

sich mit Tanya (Frédérique Voruz) an, die

zurück. Diesmal fährt es nicht über den See,

Männer mit Motorsägen und Helmen, die den

durch Gelegenheitsprostitution überlebt. Sie

sondern hängt unter der Decke. Menschen

Wald abholzen. In der nächsten, sehr kurzen

möchte ihr helfen, stößt aber sowohl bei ihr

seilen sich ab, schweben zwischen Himmel

Szene wird einer schreienden Mutter ihr Säug-

als auch bei verschiedenen Behörden an ihre

und Erde wie im Traum. Der Einbaum ist kein

ling entrissen und einem Priester übergeben.

Grenzen. „Das Einzige, was wir für sie tun

Nutzgerät mehr, sondern ein kulturelles Sym-

Dieser Auftakt ist grandios und punkt-

können, ist, dafür zu sorgen, dass sie saubere

bol. Das Bild ist magisch und mysteriös, und

genau, und natürlich geht es dann erst ein-

Nadeln hat“, sagt eine ernüchterte Sozial­

es drückt mehr aus, als Worte es könnten.

mal ganz anders weiter, nämlich mit einem

arbeiterin. Die Autochthonen werden weder

Auch den Respekt vor dieser Kultur, die man

jungen Künstlerpaar, das sich in Vancouver

angeklagt noch verklärt; man begreift recht gut,

sich gar nicht unbefugt aneignen könnte,

ein viel zu teures Loft mietet. Er ist Schau-

was so viele von ihnen kaputtgemacht hat.

selbst wenn man es wollte. Dafür ist sie viel

spieler, sie Malerin, und sie wissen beide

Schließlich wird Tanya vom Schweinezüchter

zu stark. //

Renate Klett


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stück

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Im Strudel der Verweise Fritz Kater über sein neuestes Stück „heiner 1– 4 (engel fliegend, abgelauscht)“ im Gespräch mit Thomas Irmer

Fritz Kater, am 9. Januar jährte sich der Ge-

Zeit. Als er sechzig Jahre alt war, genau in

schreibt. Was für mich mit seinem Theater-

burtstag Heiner Müllers zum 90. Mal. Rund

dem Jahr 1989, als er sich danach noch ein-

text „Bildbeschreibung“ korrespondiert: die

zwei Wochen später folgte die Uraufführung

mal in eine junge Frau verliebte, mit dieser

Beschreibung eines Bildes, das wiederum ein

Ihres vierteiligen Stücks „heiner 1– 4“ am

Frau ein Kind bekam, gleichzeitig Intendant

Paar beschreibt. Das ist die private Seite. Die

Berliner Ensemble. Eine Geburtstagshommage?

des Berliner Ensembles wurde und während

intellektuelle Seite folgt im zweiten Teil, einer

Ich schreibe keine Theaterstücke, weil je-

dieser Zeit in eine ganz große Krise geraten

Montage aus den neunhundert ­Seiten seiner

mand gerade Geburtstag hat. Es gab aber

ist, als er als IM, als Mitläufer und Stasi-­

gesammelten Interviews auf 14 Seiten. Das

eine Absprache mit dem Berliner Ensemble,

Denunziant denunziert wurde. Und dazu kam

ist vergleichbar mit dem, was ich schon öfter

mit der Chefdramaturgin Sibylle Baschung,

sein größtes dramatisches Problem als Künst-

mit Romanen gemacht habe, etwas Episches,

ob ich nicht was schreiben könnte, zu Berlin

ler: Er hat sieben Jahre lang kein Stück mehr

in diesem Fall Essayistisches so zu verdich-

oder irgendetwas in der Art. Und dann dachte

­schreiben können. Diese Schreibhemmung in

ten, dass etwas Dramatisches dabei heraus-

ich, wenn schon BE, dann BE und nicht Ber-

ihrer ganzen Komplexität ist für mich der

kommt, hoffentlich. Sicher ist das der

lin, und wenn BE, dann natürlich Müller. Nor-

­zentrale Anlass zum Schreiben gewesen. Er

schwierigste Teil, weil er am nächsten am real

malerweise bin ich in vier Wochen fertig, in

war ja der Meinung, dass die Zeit für ihn

Gesagten dran ist, eben am wenigsten Kunst

diesem Fall brauchte ich anderthalb Jahre.

damals rückwärtsgesprungen sei. In einem ­

ist. Andererseits war es für mich wichtig, die

Ein sehr langwieriger Prozess. Weil ich das

Salto rückwärts, zurück vom Sozialismus in

unglaubliche Wachheit dieses Mannes, selbst

noch nie gemacht habe, über eine mir be-

den real existierenden Kapitalismus und das

unter den härtesten biografischen Bedingun-

kannte Person zu schreiben. Neben Einar

war für ihn ein Riesenproblem. Ich selbst

gen, nachzuzeichnen, als eine Figur, die mich

Schleef ist er für mich der wichtigste schrift-

­hatte in den letzten Jahren andere Probleme,

immer mehr an eine seiner eigenen Lieblings-

stellerische Einfluss nach 1945 aus Deutsch-

aber keine Schreibhemmung, trotz der Zeit,

figuren erinnert hat, den Herakles, der die

land. Abgesehen davon hab’ ich ihn besser

die es dann gebraucht hat. Mich hat wirklich

ganze Drecksarbeit machen muss und nie-

gekannt und mehr Zeit mit ihm verbracht als

die Figur als Theater­figur interessiert. Natür-

mals zur Ruhe kommt.

mit Einar Schleef.

lich mit dem Mehrwert, dass man viel von dem,

Der dritte Teil, eine Theaterkomödie,

was er gelebt hat, koppeln kann mit dem, was

zeigt den Versuch, Müllers letztes, dann doch

Es dürfte viele verschiedene Ansätze geben,

er geschrieben oder gesagt hat. Müllers Texte

noch entstandenes Stück „Germania 3“ im

ein Stück über Heiner Müller zu schreiben.

selbst sind ja immer aus persönlichen Erfah-

Berliner Ensemble aufzuführen. Das gelingt

Was war Ihr erster Impuls dafür?

rungen und Krisen entstanden.

nicht in meinem Stück, weil der Meister-­

Mir ist diese letzte Phase in seinem Leben

Müller nicht mehr mitmacht, irgendwie abgeEin direkt biografisches Stück ist es nicht,

hauen ist oder eben einfach krank, das weiß

kein Biopic, wie man es etwa aus dem Kino

man nicht so genau. Aber dafür gibt es einen

kennt. Eher eine Umkreisung, viel bekanntes

improvisierten Try-out, mit vielen heute noch

Material, das sich zu einem Fragmentbild

bekannten Menschen, damit die Maschine

gruppiert.

halt irgendwie weiterläuft. Und das ist dann

Mein Problem war: Wie kann ich eine ehe-

auch teilweise ganz komisch, wenn man so

mals so berühmte Person der Öffentlichkeit

sieht, wie dieser Scheißapparat einfach

in einen Theatertext bannen? Also sie vorstel-

­weiterlaufen muss, egal wie, weil alle dran-

len und zugleich darin anders zeigen? Da war

hängen, Spieler, Techniker, Offizielle, Presse.

relativ früh klar, dass das nur über ganz ver-

Alle eben. Wobei die Hauptfigur, der Verwal-

schiedene Perspektiven geht. Beim ersten

tungsdirektor, ja ganz klar meinem Freund

Teil, „heiner 1– 4“, ist der Trick gewesen, das

und heutigen Volksbühnen-Chef Klaus Dörr

aus dem Dänischen von Jana Hallberg (3 D, 3 H)

Fotobuch „Der Tod ist ein Irrtum“ von Brigitte

nachempfunden ist.

Maria Mayer, seiner Frau, von einem Paar be-

Und der vierte Teil, für mich der wich-

A story one cannot shrug off. Dagbladet Information

schreiben zu lassen, das seiner Lebenssitua-

tigste, ist einfach ein Monolog oder ein Fließ-

tion ähnelt. Ein Paar, älterer Mann, junge

text, der den letzten Tag von Heiner Müller

Frau, das sich diese Bilder anschaut, sie be-

fiktiv beschreibt. Ein Gang durch die Stadt

aufgefallen, als eine unglaublich dramatische

Mainzer Str. 5 · 80804 München Tel. +49 (0)89 36101947 info@theaterstueckverlag.de www.theaterstueckverlag.de

ab sofort in deutscher Übersetzung

Astrid Saalbach

VERBLENDET


fritz kater_heiner 1–4

/ TdZ  Februar 2019  /

Berlin, ein Gang in die Freiheit des Todes, wie Müller sagen würde „ohne Hoffnung und Verzweiflung“, die Augenlider abgerissen, ganz der Sonne der rasenden Wirklichkeit zugetan und ausgesetzt zugleich. Dieser letzte Teil geht am freiesten mit dem Material um und ruft auch einiges von ­Müllers weniger bekannten literarischen Kraftquellen auf. Bekanntlich ging er nicht durch Berlin, sondern ist im Krankenhaus gestorben. Das ist bei mir, wie auch in anderen Texten, der Versuch, mit Strudeln zu arbeiten. Mit einem Verweis, der auf anderes verweist, auf andere Texte, Leben, Situationen und natürlich immer auch auf Gegenwart. Oder besser gesagt, was ich dafür halte, oder noch besser, was sich davon für mich erschließt. Wer ist Heiner Müller für Sie heute? Für mich war das früher eine Mischung aus Idol und Rätsel. Heute würde man sagen: Kultfigur. Aber ein Klassiker ist er nicht geworden. Was klassisch ist, das wird gespielt. Was klassischer Kanon ist, wird im Theater gemacht. Aber Müller wird nicht gemacht. Oder jedenfalls selten. Als Regisseur und Intendant Armin Petras hätten Sie es mit in der Hand gehabt, Müller auf die Bühnen zu bringen. Na ja, immerhin hab’ ich ja „Medeamaterial“ und „Hamletmaschine“ gemacht, auch wenn das schon keiner mehr weiß. Ich hab’ dann

Fritz Kater, geboren 1966 in Bad Kleinen (Mecklenburg-Vorpommern), Umzug nach Ostberlin,

mehrfach, an verschiedenen Orten versucht,

dort Schule (Abitur), anschließend Wehrdienst in der NVA. Lehre als Fernsehmechaniker

Müller zu inszenieren. Und mir wurde es

abgeschlossen. Arbeit mit freien Theatergruppen im kirchlichen Bereich. 1987 Ausreise in

mehrfach abschlägig beschieden, will nicht

die BRD. Gelegenheitsarbeiten als Kellner, Regieassistent, Taxifahrer in Bayern. Erste

sagen: untersagt. Aber es wurde deutlich da­

Schreibversuche. 1990 Rückkehr nach Berlin. Ständiger Mitarbeiter einer Firma für Design-

rauf hingewiesen, dass es keine große Er-

Controlling in Berlin-Moabit. Seit 1990 schreibt Fritz Kater Stücke. Verheiratet, drei Kinder.

folgsquote haben würde. Ich habe selbst an

Nicht zu verwechseln mit: Armin Petras, geboren 1964 in Meschede, Regisseur, zuletzt Inten­

einem großen Stadttheater vorgeschlagen,

dant des Schauspiels Stuttgart, derzeit Hausregisseur am Theater Bremen. „heiner 1–4“

„Die Umsiedlerin“ zu inszenieren. Da wurde

wurde am 26. Januar am Berliner Ensemble uraufgeführt. Foto Fabian Schellhorn

mir mitgeteilt, dass das keinen mehr interessiert, und da hab’ ich es gelassen. Unter Protest. Schon aus Tradition, immer alles sein zu lassen, was denen nicht gefällt, aber unter

die Arbeiten von Sebastian Baumgarten mit

schon weil’s der unerfolgreichste Titel ist und

Protest (lacht).

Müller-Stücken. Und es gibt auch viele junge

ich den zweiten Teil von Castorf in Karl-Marx-

Leute, die sich dafür interessieren. Ich

Stadt nicht s­ehen konnte, weil später kein

Woran liegt’s?

glaube, da ist ein großer Widerspruch. Ich ­

Zug mehr zurück nach Berlin fuhr.

Ich würde sagen, die Zuschauer verweigern

kenne junge Leute von Schauspielschulen,

sich. Weil sie es teilweise nicht mehr hören

die Müller gerne machen würden, aber es gibt

Ist das Stück letztlich eine Totenbeschwö-

oder sehen wollen. Weil sie’s nicht kennen

in den Theatern eine große, von Kulturmana-

rung?

oder weil es zu kompliziert ist. Es gibt auch

gern betreute Besucher-Mittelschicht, die das

Müller hat gesagt, er macht Theater für die

eine Gegenbewegung, beispielsweise die erfolg­

gar nicht interessiert. Wenn das hier wirklich

Toten und weil Theater dafür da ist, die Toten

reiche „Zement“-Inszenierung von Dimiter

jemand lesen sollte, der einen engagieren

zurückzuholen, sonst können wir gar nicht

Gotscheff am Residenztheater München oder

kann: Ich würde sofort den „Bau“ machen,

überleben. //

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stück

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Fritz Kater

heiner 1– 4

(engel fliegend, abgelauscht) / die akte 1 und 2 sollten / könnten simultan / ver­ schnitten gespielt werden, da sie die identische zeitebene und strecke aus verschiedenen subjekti­ ven beschreiben anschließend 3 und 4 in der dargestellten reihen­ folge / Verweise: heiner 1 nach Fotografien aus dem Buch: Heiner Müller, Brigitte Maria Mayer: Der Tod ist ein Irr­ tum, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2005. heiner 2 nach: Frank Hörnigk (Hg.): Werke, Band 12: Gespräche 3. 1991–1995. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2008. heiner 3 nach einer Idee von Michail Bulgakow. heiner 4 mit Worten von Andrej Platonow und Phi­ lipp Poisel.

heiner 1 bildbeschreibung 1 m ja, es geht, scheint zu gehen, das handy funktio­ niert wieder a willst du … m später … ne freundin a gut, dann legen wir los … das ist das erste bild m das ist das erste … a sag einfach bild nummer eins m bild nummer eins a und dann fang einfach an mit: ich sehe, also ich sehe, oder was ich sehe, ist …, ok? m ja a und eine komplette beschreibung. du hast zeit, meinetwegen sechs oder sieben minuten für jedes bild m zum denken oder zum sprechen? a zum sprechen oder … am besten ist ja, gar nicht nachzudenken, einfach was sagen … einfach los­ legen … sich annähern m sich annähern a klar, an die menschen, an die welt m also … nur sprechen a ja … dann bin ich mir sicher, dass du dich selber überraschen wirst … und mich auch m ja naja … ich versuchs a ok fang an m ja, ich sehe diese menschen rauchen und trin­ ken … ne ziemliche menge. ich glaube, die trinken ziemlich oft. habt ihr damals alle, stimmts? a wer ist auf dem bild? m ist eine sie a wie alt ist sie? m ääh … a wie sieht sie aus? m weiß nicht, sieht jung aus, sehr jung, 23, 24 a was macht sie, was sagt ihre körpersprache? m die gucken sich zusammen ein buch an, gemälde

vielleicht … sie schaut so glücklich in das buch … ich glaube, er scheint ihr irgendwas zu erklären … ist lustig, weil wir dasselbe machen mit dem buch mit ihren bildern a er erklärt ihr was … m ja die gucken sich bilder an oder fotos und sie erklärt ihm was … a sie ihm? m ja a gut m und das lustigste ist, dass sie auf so nem ding sitzt … das ist so n … wie heißt das … nee, nicht so einer … so einer … a campingstuhl m genau campingstuhl … aber es ist drinnen … vielleicht ist es kalt draußen a wie schaut ihr gesicht aus? m mmh … a was für ein zimmer ist das? m ein schreibzimmer … ich denke, das ist sein schreibzimmer, sein wohnzimmer und auch sein schreibzimmer a und ne menge … m bücher und xeroxpapier, zeitungen … keine technik nur ne fernbedienung … und gemälde, ja die schauen sich bilder an und er will ihr was zei­ gen, was anderes und sie sagt, halt stopp, das bild, ich will über das bild sprechen … wie wir a und ihr gesicht … ist ganz weich … ganz zärtlich … m ja … oh ist 91, dezember, der zehnte ist so ne automatische beschriftung vom apparat … also die haben es sehr gemütlich … fühlen sich wohl … ich mag das ding … was ist das für ein ding … a aschenbecher vielleicht m so n ding, so n ständer, wo man was reintun kann, flaschen, zigaretten so n ding, nur für dro­ gen … mag ich a und n teppich m nee ist kein teppich a na linoleum … plattenbau … osten … plastik m mh … ist dezember und draußen ist es kalt … trotzdem bin mir sicher, dass da irgendwo ein fens­ ter offen ist … weil die rauchen, die rauchen ja ne menge a er trägt nur schwarze sachen m und sie blaue klamotten wie ne studentin … eine jeans und einen pullover und das isses a wie bei dir m ich glaub, sie ist n bisschen zu nah an ihm dran so mit m körper, so muss sie nicht machen, wenn sie die bilder guckt, scheint in ihn verliebt zu sein, oder was glaubst du? a kann sein m vielleicht übersetzt sie was für ihn aus dem buch … a warum? was soll sie übersetzen m kann doch sein … wenn du was zu übersetzen hast für jemanden, dann gehst du an den ran, so nah du kannst … a um die übersetzung besser zu machen … m na, um die gleiche luft zu atmen wie die person,

um zu sehen, wie es ist … was der so spürt … was mir gefällt ist, dass sie so gut spielt … a wie? m na, sie guckt so total ins buch und ist voll inter­ essiert und doch ist es noch etwas anderes, sie guckt ins buch und zur gleichen zeit schaut sie zu ihm … sie schaut zu tief ins buch und zu sehr über den rand … a weil sie es mag mit ihm zu sein … m vielleicht mag sie das buch nur wegen ihm … all die bilder a sie lügt ein bisschen … m sie kommen gerade irgendwoher, aus dem thea­ ter oder von ner party, sie hat noch die straßen­ schuhe an und er so hausdinger … ist schon spät … ich glaube, sie möchte einfach dableiben, bei ihm … sie braucht noch ne stunde, dann kann sie nicht mehr weg, keine u-bahn mehr und zu kalt draußen … a aber wer macht das foto? m oh, keine ahnung, keine ahnung, vielleicht n selbstauslöser, gabs doch schon, oder? a möglich … sehr möglich m aber es sieht so natürlich aus … in den 90ern, wenn du was programmiert hast, hat das doch be­ stimmt zehn sekunden gedauert oder 15, oder? mindestens … a ist möglich … m vielleicht ist während der wartezeit was passiert, was sie glücklich gemacht hat … a was denn? m keine ahnung a was? m ein satz, eine berührung, ein blick … ein kuss … ein scherz a küss mich m küss du mich doch 2 m das foto ist lustig, sie machen miteinander fotos vor dem spiegel a sie macht das foto m ja, aber miteinander, und sie ist ganz stolz und er findets amüsant a amüsant? m ja, und er ist so halb interessiert … die sind gar nicht mehr richtig angezogen, nach der dusche oder vorher, abends oder morgens … mach dein foto und lass mich in ruhe eine rauchen a beschreib mal, was du siehst, was is da drauf auf dem bild m also, sie ist halb nackt a mit was für ner pose? m na die spielt die karte, die alle jungen frauen spielen, ich habe brüste, ich habe ziemlich gute brüste a so frische m klar frische a wie du … du kannst froh sein, so ziemlich schöne früchte zu sehn … m ja … sie will ihm imponieren … bilder, bilder … ich kann dir auch bilder machen, aber vom rich­ tigen leben, verstehst du … a jetzt m warum nicht? a ok … gleich … / du, ist es jetzt abends oder mor­ gens? m hier oder da? / abends, wegen dem neonlicht a und was hat er an? m so n frotteebademantel für männer, für alte männer, gestreift / hast du auch so einen? / Ach


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guck … der gleiche noch mal, den sie anhat, fast gleich – hat er sich zweimal gekauft … wenn mal besuch kommt … lustig … alle die damen mussten den zweiten gestreiften anziehn … wär ne schöne serie … a scheint sich zu amüsieren … m ja, und sie macht ein gesicht, sie lächelt, als hätte sie was verbotenes gemacht a und er macht das gleiche gesicht? m ja a also dann haben sie vorher zusammen was ver­ botenes gemacht … was verbotenes m er hat ein sehr glückliches lächeln / ein bisschen müde, aber glücklich a er ist müde, aber sie nicht m er ist 60 und sie 24 a das ist das verbotene? m sie lehnt an ihm und sie mag ihn wirklich und er denkt: ok, wenn du bleiben willst, dann bleib … a mach, was du willst m mach deine verrückten spiele a du meinst, er ist nicht so beteiligt wie sie … m hey, er ist ein künstler und er hat seine gedan­ ken und seine probleme und er denkt ne menge a und sie ist sehr jung und er weiß das, dass sie eigentlich zu jung ist für ihn und dass das nichts wird m und manchmal denke ich, ob er nicht jetzt schon so n bisschen bedient ist a ich würd gern so n foto mit dir machen / dein handy m ok sorry, mein alarm, muss meine pille nehmen … a das machen von diesem foto lässt ihn zwei minu­ ten lügen … sie schreit, als sie das entdeckt, und er sagt: ich muss arbeiten, geh, geh schon, bitte m ich kann dem foto keinen namen geben a du musst m ich muss? a das ist das erste foto als frisches paar, aber es ist noch gar nicht klar, ob sie was zusammen machen werden, sie hatten was, eine art sex oder so was ähnliches … m ja, auf jeden fall. scheint die erste nacht zu sein … vielleicht tats ja auch weh … ihr oder ihm … a die erste nacht wär n titel … m nein, ich will … a was? m sie ist viel jünger, aber sie will … sie hat keine zeit zu verlieren … sie will leben, schnell und jetzt … schnell und hart und alles … a ja, warum nicht 3 m das bild ist schön, schöne brüste a deine sind noch schöner m ich finde, dass ist eines der ganz wenigen fotos, wo er richtig verloren aussieht a er? m ja a ok, was meinst du mit verloren? m er hat so nen blick, so verlorene augen a wohin schauen die augen? m sieht so aus, als schaut sie in den spiegel und er … ich glaub, die haben gerade … und er denkt: wo sind meine zigaretten? a zigarren m ich brauch was zu rauchen und dieses verrückte mädchen will jetzt unbedingt ein foto machen a obwohl ich lieber ne flasche whisky aufmachen würde

m naja, immerhin ist sie fotografin a obwohls fast ja eher so private fotos sind m na super privat … wenns so wäre, würden wir sie jetzt nicht sehen a naja, ist ja erst viel später veröffentlicht worden m hörst du, wie er seufzt a er seufzt? m klar, hörst dus nicht? a glaubst du wirklich? m ja, ja, ja a und warum macht sie den arm so hoch beim foto­ grafieren? m damit man die brust besser sieht … a dieses paar macht kunst, ist modell und maler zugleich m er ist ein bisschen verloren, aber sie ist glücklich, sie denkt, das war der moment, an dem ich dich hatte … für mich hatte a jetzt bin ich mit dir m jetzt hab ich ihn 4 m das ist schön, weil wenn ein mensch einen an­ deren liebt, fängt er auch an, die dinge zu lieben, die der andere macht … also hier raucht sie zum ersten mal zigarre … ich bin mir sicher, dass sie vorher pall mall oder marlboro oder camel ge­ raucht hat, aber noch nie zigarre a wie sitzt sie denn da? m sehr bequem, als würde sie zu etwas einladen a einladen? m dieses bild sagt: hey, ich hab alles, was du brauchst, was zu rauchen, was zu trinken und sex, was brauchst du mehr? a sie hat ziemlich schwarze haare m ganz normale pussyhaare, locken, trägt man heute nicht mehr … wann hat das eigentlich auf­ gehört? a du kannst alles haben, was du willst und das auch … m alle drogen, mein lieber … alle, von denen du träumst … a so richtig scheu ist sie nicht m nee, warum auch a mh m du glaubst, sie ist verrückt … aber es ist das ge­ genteil … sie hat nur diese eine chance … und sie muss sie nutzen … vielleicht will er sie nicht, wenn sie nicht alles gibt … a sie macht also theater für ihn m wieso theater? a naja m vielleicht hat sie so ein foto bei ihm gefunden und stellt das jetzt nach? a er hat es geschossen … m ja, vielleicht hat er gesagt: mach mal den mantel auf, zeig mal deine muschi … a und sie lacht m sie mag es a das spiel m ja a was meinst du, was für ein tier ist es, das sie nachspielt? m ich weiß nicht genau, weil im selben moment lächelt sie, und sie ist auch ein bisschen scheu und nicht scheu … das tier ist ein bisschen vorsichtig, aber in dem moment, wenn es auf dich losgeht, wird es dich packen und du stirbst an dieser um­ armung … sie versucht eine löwin zu sein, eine junge löwin, aber ich weiß nicht, ob löwinnen so verrückt sind wie sie … wahrscheinlich schon …

5 a auf dem bild ist nur ein tisch, ein schreibtisch m oh, und da liegen shakespeares sonette a und eine schreibmaschine m ist es bei ihm zu hause? a ja klar m und das, das ist ein haar, ein frauenhaar a und da ist alles in extremer ordnung und kein blatt papier, das nicht schon dreimal hin- und her­ gelegt wurde m und das frauenhaar a er konnte sieben jahre oder neun nicht schreiben, also keine dramen mehr schreiben, eine blockade m war das in der zeit mit dem mädchen a ja m deswegen ist alles so clean und aufgeräumt a ja, er hat alles vorbereitet für den fall, dass es wie­ der losgeht, dass er wieder kann, alle zettel, alle notizen m und die sonette a kannst du die nummern erkennen m 162 oder 164 oder 144 a und da ist noch ein bild m sieht aus wie aus m krieg / zweiter weltkrieg a und ein drache aus plastik m das ist komisch, die ersten vier bilder sind eine story, eine lovestory, und hier kommt plötzlich der break, eine ganz andere geschichte mit einem mal, verrückt … / da bricht was ganz anderes ein, ver­ stehst du? … die krise … a also ich kenn nichts anderes außer krise m du ja a ja, die arbeit, die realität m wieso glaubst du, die liebe ist keine realität? a weiß nicht m und dann sind da noch so ein paar fussel, ne … a flusen m genau, flusen … wenn man was ne ganze weile nicht benutzt hat, dann bilden sich so dinger … aus staub a warten auf den richtigen augenblick … m ja, ist ein guter titel … 6 a hier sind sie in kuba, sie nackt auf der terrasse vom hotel m sonnenuntergang, sehr schön a oder sonnenaufgang m sonnenuntergang / die will noch was … ver­ stehst du, das ist ein vorspiel a brauch ich nicht m ich weiß a sie ist so dünn m sie ist schlank, sie ist 24 a fast wie ein junge m waren sie verheiratet? a kein ring, aber verheiratet m doch, sie hat einen a stimmt, das einzige, was sie anhat m ist schön, sie ist so glücklich a sie sieht entspannter aus jetzt m klar, weil sie ihn jetzt hat, sie hat ihn jetzt wirk­ lich a sie muss keine spiele mehr spielen m ist ganz bei sich a weil er jetzt ihr gehört? m ja, das muss gut sein, ich meine, nicht immer diese jagd a willst du eine pause machen m warum? a du bist unruhig … du hast noch was vor …

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stück

m nee, was? a brauchst du keine pause? wie du willst … m schaut aufs display nein 7 m ich mag das sehr, so ein foto zu machen … mit allen auf dem fußboden a du bist ein herdentier m ja, bin gern zusammen mit leuten, die ich kenne und mag a ich reiche dir nicht m jetzt ja a die ganze gruppe, acht oder neun leute m alles künstler, sänger oder schauspieler a freunde, verwandte, alle gut drauf m abends nach einem konzert a die augen … die hatten spaß miteinander m und alkohol a mindestens m und der raum ist völlig leer a vielleicht haben sie hier getanzt vorher m und was haben sie da gemacht … urlaub? a vielleicht hatte er eine lesung … er ist oft einge­ laden gewesen m um alte stücke zu lesen? a vielleicht wollte er ihr einfach kuba zeigen, 93, 94 da gab es da ja noch sozialismus wie ein paar jahre vorher in der ddr … das war ja zusammen­ gebrochen … alles, was für ihn wichtig war, wofür und wogegen er gekämpft hat, und das wollte er ihr zeigen und erklären … damit sie ihn versteht und ihm näherkommt m ist er aus dem osten? a oh gott, na klar … und sie aus dem westen, aus bayern m und sie war noch nie in kuba, noch nie in ame­ rika? a ich würde dir so gern den malecón zeigen, das ist die straße in havanna, die am ozean entlangführt, eine große steinmauer, auf der alle am abend sitzen und singen und rauchen, aber niemand schaut zum meer, alle nach innen, in die stadt, zueinan­ der m warum? … weil sie sich mehr füreinander inter­ essieren? a weil das meer die eigentliche mauer ist, das meer ist das, was sie einschließt, was ihre flucht verhin­ dert m ich finde, sie schauen beide n bisschen high, also war das legal damals, ich meine, drogen? a irgendwie war da alles verboten und jeder machte, was er wollte m warum wollten die denn immer alle weg? a weil man es nicht durfte … weggehen m ich mag es, mit dir verbotene sachen zu machen a sie hat dinge mit ihm entdeckt, die sie nicht kannte, er hat ihr einen neuen kosmos gezeigt … sie fühlt sich wie jemand, der plötzlich durch hun­ derte von fenstern schaut, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt m und sie ist so stolz auf sich selbst und ihr leben, er hat ihr selbstbewusstsein geschenkt, sie ist nicht mehr so ein doofer hase aus der provinz, sie ist die frau von dem besten dramatiker der welt und sie ist selber eine künstlerin a und sie wird geliebt m ziemlich a schau das nächste …

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8 m oh sie ist schwanger. wo ist es passiert, auf kuba? a oder in italien m immer in den ferien a neues leben für ihn m ich bin mir sicher, er war nicht gerade happy, als er gehört hat, dass sie schwanger ist, weil er nicht die energie und die lust hatte auf ein kind a er hatte vorher schon zwei oder drei m die waren ihm egal, es gab nur das schreiben a vielleicht wollte er es nicht, aber als es kam, das baby, und jetzt war er stolz drauf m aber am anfang wollte er es nicht, ganz sicher a er hat ihr gesagt: das ist gar keine gute idee, du weißt, wie alt ich bin, aber dann, als er das mäd­ chen gesehen hat, es in seinen händen hielt, mit den gleichen augen wie die seinen m exakt die gleichen augen? a du wirst es sehen … da war er glücklich und stolz und verliebt und das herz ging ihm auf m sagt man das so? a kann man … m hier ist sie … gibts ja nicht … ist wirklich wahr … dieselben augen, dieselben haare, so hübsch … und als das mädchen drei jahre war, starb er? a ungefähr m das ist doch wahnsinn, diese nähe … ein alter mann mit diesen händen, diesen armen, die dieses sehr junge mädchen so liebevoll umfassen, diese beiden augenpaare, die sich anschauen, das ist doch absolute liebe, das gibts ganz selten a weil keiner bedingungen stellt m ja, ohne bedingungen, ohne versprechen, ohne neid a du meinst eifersucht m auch a er versucht dinge zu tun, die er noch nie in sei­ nem leben gemacht hat m er liebt seine frau und er ist auch stolz auf sie, weil sie es geschafft hat, ihn einzufangen, aber das mit dem kind, das ist total neu, von der kleinen ist er vollständig bezaubert a wusste sie es? m was? a dass es so wird m als frau kann man das nicht wissen, aber man kann es ahnen a wieso? m verstehst du nicht … a warum? m ist eben so a ich les dir jetzt ein gedicht vor, das er für seine tochter geschrieben hat, ein bisschen später m jetzt a ok a rezitiert das gedicht für anna von müller beschreib mal die farben von dem bild m schön a ja m nur grün, grau, schwarz … und doch schön … wie eine neugeborene katze … irgendwie dunkel, aber schön a vielleicht hat sie das licht abgedunkelt, um das kind zu schützen, es nicht zu blenden m warum ist sie so blond, die mutter ist auch nicht blond a ich glaube, er war es, als er jung war m er hat wieder angefangen, zu schreiben, als seine tochter kam a ja, aber nur gedichte m na und

a für ihn waren gedichte nicht so wertvoll wie dra­ matik m warum? a er war eben dramatiker m sie sieht genauso aus wie er, eine große stirn, die großen wangen und auch seine augen … so ein schönes baby … es ist dunkel, vielleicht ganz früh im krankenhaus a du bist ein jahr früher geboren worden, hattest du eigentlich schon zur geburt so riesige füße? m idiot … mein titel für dieses bild heißt: neugeboren a schöner titel m weil er stimmt 9 a ja, und die drei, die drei fotos sind aus münchen dann, anderthalb jahre später … aus dem kranken­ haus m ein jahr später a anderthalb m oh gott, er hat unheimlich viel an gewicht ver­loren a ja m er ist so dünn, so dünn a er hat da gerade eine operation hinter sich am hals … alles aufgeschnitten und rausgeholt m wie bei ner gans, wenn man die innereien raus­ holt? a ja, nur, dass die tot sind, wenn mans macht m sieht zehn jahre älter aus a 15, und 15 kilo weniger … sieht nicht mehr aus wie mitte 50 m ich denke er war 60 a ja, aber er sah jünger aus, heiterer, oder nicht? m doch … und dann, dann so … wahnsinn a das muss direkt nach seiner ersten operation sein m wieder ein bademantel, aber der hier ist viel zu groß und weiß, er verschwindet fast darin a und hier, das ist der himmel über münchen, total dramatisch, dark und blau und die wolken m wie sein zustand … das ist der sonnenaufgang a sonnenuntergang m sieht aus, wie der nächste morgen nach kuba, also sonnenaufgang … die nacht, die liebe, das kind … und dann das erwachen in deutschland … die krise, die krankheit, das ende a noch nicht m ist vom dach gemacht, vom dach des kranken­ hauses a ich weiß nicht, was mich immer beeindruckt, dass ich denke, er hat nie geweint, nie geheult … das ist immer mit so einer distanz, mit so einer unglaublichen klarheit … der hat alles beobachtet, der konnte nie anders, nicht ohne gefühl, total ge­ fühl, aber doch auch ein hauch kühle, ein hauch distanz … interesse an dem, was geschieht, bewun­ derung und interesse m das kind und die frau haben ihn besucht a sie haben nebenan gewohnt, so eine art boar­ dinghouse für die verwandten m und die bilder aus kuba und italien und in seiner wohnung, wo das junge mädchen ihre titten ge­ zeigt hat und ihre muschi, und jetzt, zwei jahre später siehst du, wie ernst das auf einmal ist … eine familie … die kämpft … zusammen a und er wusste, dass es nicht allzu lange sein kann, aber er wusste nicht, dass es so schnell kom­ men würde, das ende m er wusste nicht, dass es so schön sein kann, eine frau zu haben und ein kind und so … er hat es erst so spät erfahren


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a manche erfahren die gnade gar nicht, oder erst da oben, er spät, aber immerhin hier m versteh ich nicht a ich will dich kaufen, für zehn jahre, zwei millio­ nen oder vier m du spinnst a so wär das ganz einfach und so könnte ich leben m du spinnst, so viel hast du gar nicht a wär trotzdem gut … wär alles klar m ist so nichts klar? a diese sekunde ja, aber morgen wird alles anders sein … die hölle vielleicht m hast du angst? a immer … fast immer m zwei millionen a zwei? m ja, ist genug für mich a wenn du meinst m klar, ich bin auch nur eine schlampe, wenn es drauf ankommt a gott, gib mir all die schmerzen und all die scheiße, die früher war, aber gib mir mein leben zurück, wie es war, denkt er m gibts eben nicht … wenn es vorbei ist, ist es vor­ bei im leben, in der liebe a was ich am meisten mag hier, ist das m das bett? a nein, ist ein spiegel m da ist ein spiegel? a siehst du nicht, das licht auf dem boden von einem spiegel oder einem fenster? und da sitzt das kleine mädchen, seine tochter, und schaut, schaut hoch zu ihm. und er sitzt auf dem bett und schaut runter zu ihr und sie sitzt im licht und er sitzt da und daneben, neben ihm, ist ein loch in der wand, ein loch ohne tür, und da wird es dunkel, dahinter wird es schwarz, wird es nacht, und da wartet jemand auf ihn m der tod? a und da wird er irgendwann hingehen müssen und er weiß es m er sieht aus wie ein könig in seinem weißen ­bademantel a der könig stirbt m was? a ist so n stück m und im dunkel, im schwarz wartet jemand, der jäger, der teufel, ja der teufel und vor ihm sitzt sein kind … es sitzt im licht, aber das licht ist nicht von einem spiegel, nicht vom fenster, nicht mal von der sonne, das licht ist vom kind selber, das kind hat das licht gemacht, weil das kind ein engel ist, wenn es nicht weitergeht, braucht man einen engel a du bist mein engel m ich weiß, aber ich bins nicht

MONSTER TRUCK

PHAEDRA PERFORMANCE FEBRUAR 07 08 09 20 UHR

a ok und jetzt das dritte bild, das mit dem doktor, mit dem arzt m das ist ja wie eine farce a wie eine comedy m er ist so dick, zu dick für sein alter und seinen beruf a er ist so zufrieden m er ist der boss … und er hat viel geld und das haus und ne schöne frau und alles und er weiß es a und er schenkt leben, er kann leben verschenken, kein ganzes, aber ein jahr oder zwei oder ein hal­ bes … ein jahr, verstehst du, was das wert sein kann? er ist gott und er weiß es m ein jahr mehr mit all den schmerzen … keine ahnung, ob ich das wirklich wollte … a seine hand ist auf dem rücken von ihm … so be­ ruhigend oder beherrschend, auf jeden fall absolut dominant m und sein gesicht sagt: das ist normal, so sachen passieren auf dieser erde, du bist dem tod geweiht, es hat nichts mit dir zu tun, es ist so, du bist ein­ fach dran und wir tun unser bestes, nicht alles, aber unser bestes a sie sieht auch fertig aus m wie eine witwe, wie 35, 40 mit einem mal a guck, sie rauchen beide m ja, schräg, aber warum nicht, jetzt ist es ja auch schon egal a er sieht so müde aus m klar, kann nicht mehr schlafen, die schmerzen a und er war ja nebenbei auch noch intendant m was, wo? a na, vom berliner ensemble m wie hat er das gemacht? a na, weißt du, ist ne weile her für dich, aber tele­ fon gabs ja damals schon m ach was … mmh, die story ist so ein bisschen wie von ibsen, ein alter mann lernt ein junges mäd­ chen kennen, sie verlieben sich und sie kriegt ein baby und dann kommt die krankheit und der tod steht vor der tür a ja, aber dann gehts noch anders weiter, hier 10 a das ist ein halbes jahr später in los angeles, in der villa von feuchtwanger, auch ein schriftsteller, ein jude und antinazi, der hier gelebt hat und wo sich jetzt andere künstler aufhalten können, und da war er mit frau und kind und plötzlich, da in dem haus konnte er schreiben, also auch drama … da hat er sein letztes stück geschrieben m plötzlich gings wieder? a germania tod in berlin 3, da spielt hitler mit und stalin und alle eben von stalingrad bis zur wende 89

und das hat er da gemacht … auf einmal gings wie­ der … nach ner ewigkeit … hat das hingerotzt in drei, vier wochen m da steht er ganz links, ganz lässig und stolz wie ein cowboy und die anderen sind auch da … sieht aus wie von velázquez, die kronprinzessinnen a genau, und seine frau sieht man auch im spiegel, wie sie fotografiert m das ist ja sehr inszeniert a absolut m wir sind wieder da, wir sind die königsfamilie, wir haben überlebt, seht her a und siehst du da, in der mitte, das bild … erkennst du den … da auf holz gemalt oder gedruckt … m hitler? a genau m und der andere typ da, der hausmeister oder der nachbar oder so, wirft dartpfeile in das gesicht von hitler? a ja, das ist wirklich komisch m ich glaube, ich kann riechen, wie er die zigarre raucht und den whisky, und ich sehe wie er lang­ sam und ruhig durch die villa geht, die sonnen­ durchflutete villa und er hört das meer, aber er hat keine zeit da hinzugehen, zum meer, weil er muss schreiben, aber er hört die wellen und sie beruhi­ gen ihn und treiben ihn vorwärts zugleich a küss mich m klar a ich hab schöne bilder von dir m wieso, hier ist das original a ich mag das exitschild hier über der tür, wie in einem geschäft oder museum m er hat seine eigenen gedanken, er ist da, er liebt seine mädels, aber er ist bei sich, er guckt nieman­ den an a er braucht es nicht, er weiß, wo sie stehen 11 m da ist zum ersten mal kein mensch zu sehen a nur spuren von menschen m ein loft, eine fabriketage, plastikfenster a der abend vorher war ihr geburtstag, 28ter glaube ich, und das ist ihre wohnung, war damals der ren­ ner, in der fabriketage wohnen m ist es immer noch a 1994 ungefähr m ich mag die verschiedenen sorten von stühlen a und hinten hängt ein bild von ihr, man sieht eine brust, aber ohne nippel m das ist der nippel a ok m sie nimmt ihre brust von innen und zeigt sie, schaut was ich habe, das bin ich, das auch

QUAST+KNOBLICH

CASTING FREISCHÜTZ PERFORMANCE FEBRUAR 28 MÄRZ 01 02 20 UHR

TICKETS SOPHIENSAELE.COM FON 030 283 52 66 SOPHIENSTR.18 10178 BERLIN

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stück

a ein madonnenbild, aber nicht verschämt, son­ dern stolz m und auf dem tisch die flaschen und blumen und vorn die dreiräder und es ist morgens und nie­ mand ist im zimmer und sie wacht auf und der mann und das kind schlafen noch und sie sagt: ok, lass uns ein bild machen, ein stillleben, und sie lässt fast alles so, wie es ist … dann räumt sie ein bisschen müll weg und parkt das dreirad anders und macht noch mal das licht an und dann schießt sie das bild a ein bild des friedens m ein bild der liebe dieser frau zu ihrer tochter, zu ihrem mann und zu sich selbst a sie wollte ein still haben von diesem augenblick, eine momentaufnahme, das festhalten des glücks, vielleicht ist das überhaupt die idee von fotografie m das festhalten von leben … a und die andern schlafen und sie kann sie sehen und spüren, stärker, als wenn sie da wären m weil sie weiß, dass es der letzte geburtstag ist, der letzte geburtstag zu dritt 12 a ok, das letzte m das letzte? a ja / das letzte mit den beiden m mit uns beiden? a nein … niemals m wie du gesagt hast, er hat nicht geweint, aber sie, sie sieht total zerstört aus a aber du siehst, wie traurig er ist m er ist wieder im krankenhaus, dieselben klamot­ ten, der weiße königsmantel, scheiße a und er hat schlechte nachrichten vom doktor m vom fetten lustigen mann a und da ist ein plastikschlauch m und sie sieht zum ersten mal aus wie eine lady, eine black fancy lady, nicht mehr wie eine studentin a der doktor sagt: eine weitere operation macht kei­ nen sinn / ich werde gehen und du wirst bleiben m nein nein nein, ich lasse es nicht zu, du bist mein mann und ich liebe dich, scheißgott a ich bin ein alter toter mann und du bist eine jun­ ge frau, was soll das theater, geh jetzt m du hast keine ahnung / keine ahnung / was ich fühle a es ist das erste mal, dass sie ohne das kind sind m er ist wie gemüse, nichts denkt er, aber die ge­ danken fliegen durch seinen kopf. pass auf dein leben auf, pass auf das kind auf a aber was sagt sie zu ihm, was sagt eine frau zu ihrem mann in diesem augenblick? m ich weiß es nicht a noch nicht … das geld ist ok, das geld reicht, wir sind verheiratet, am anfang war ich dagegen, jetzt weiß ich, dass es gut war, zu heiraten … sie wird es schaffen, auch ohne mich … zwei jahre, dann hat sie einen neuen, einen, der zu ihr passt und der ihr ein normales leben geben kann … sie wird glück­ lich sein, am tag und in der nacht … manchmal wird sie an mich denken … sie wird andere probleme haben m lass mich allein, ich will jetzt allein sein … bin mir so sicher, dass er das gesagt hat a ich mag die perlenkette, die sie trägt, sie macht sie schön und stolz und klar m sie ist gar nicht stolz und klar, so ein mist … sie ist nur verzweifelt a musst du mal? m jetzt?

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a wieso nicht m ich könnte ihn umbringen, keine ahnung war­ um, aber ich bin so wütend auf ihn a warum? m weil er sich gar nicht verhält, weil er es akzep­ tiert, weil er so oberschlau ist, und sie sagt: gib mir ein zeichen, dass du mich liebst, lass mich noch fünf minuten hierbleiben, er spielt so scheiße und sagt: hey, jetzt will ich allein sein mit mir, mit mei­ nen gedanken a ich mag sie auf diesem bild am meisten, sie spielt nicht mehr: ich bin ein schönes mädchen, ich bin so jung, ich bin so sexy, fang mich, wenn du kannst … jetzt ist sie einfach nur traurig, sie liebt und sie ist nur traurig, sie hat keine kraft mehr, theater zu spielen m sie ist jetzt eine junge witwe mit einem kind, mit 28 ist man jung, wenn man ein mann ist, nicht wenn man eine mutter mit einem kind ist, ein kind von einem alten mann a geh jetzt auf die toilette, da kannst du in ruhe telef­onieren … mit deiner freundin m weißt du, dieser mensch war ein liebender …

heiner 2 discorsi 1/1991 wo gefragt wird, entstehen katastrophen ohne katastrophen, keine entwicklung, nur sumpf ein sumpf kann auch erinnerung provozieren ein chor zum beispiel, der produziert die schwer­ kraft, indem er einfach da ist, masse ist eine entwicklung provoziert, indem er die erkenntnis verweigert, also nicht der chor wie bei brecht, der alles weiß es gibt diesen schönen satz von dürrenmatt: brecht denkt konsequent, weil er an viele dinge konse­ quent nicht denkt und die lebenden sind nur delegierte, nur stellver­ treter der toten besonders im theater, die präsenz des schauspielers, der eben auch sterben kann mittendrin, einge­ klemmt im eisernen vorhang oder einfach so herz­ stillstand oder wenn so n scheinwerfer runterknallt poesie ist entstanden aus der unmöglichkeit, die antiken texte zu übersetzen ja, das gibt es auch im arabischen heute noch, so wortbüschel, unübersetzbar, weil es nicht reinpasst irgendwann hab ich gemerkt, ich schreibe jetzt was, dafür gibt es keine bühne mehr, oder noch nicht, das kann ich nur in meinem kopf denken, haben die natürlich trotzdem gemacht, so sahs dann auch aus die weber in apolda hungern und ich muss meine iphigenie in jamben setzen ja, goethe, das ist eine der ersten beschreibungen eines intellektuellen über die trennung von den massen du hast deine privilegien früh genossen naja, früh ist so eine sache, aber ja, die letzten zwanzig jahre, ja woher wusste goethe von den webern aus apolda seine geliebte, er hat seine geliebte besucht, hat geld dagelassen und ist früh am morgen mit der kutsche nach weimar zurück und dann an den schreibtisch du bist immer über die friedrichstraße zurück ja, hier gleich um die ecke, manchmal hab ich dro­ gen genommen und dann hier

hinter der friedrichstraße, dann spürte ich einen anderen körper wie ein knäuel, düster, diese schwere arbeit, diese ineffektive, glaube ich, hat diesen körper gemacht, diese heizer, diese stahl­ werker, diese waschfrauen … die soldaten in den filzmänteln alle waren zusammen nicht alle, aber viele und wussten die das? nein, nein, natürlich nicht in meinem kopf arbeiten vier oder fünf stücke ich weiß nicht, wie lange das mein kopf noch aus­ hält die schatten der vergangenheit ich hab nicht mehr viel zu fürchten außer meinen tod 2/1991 warum inszenieren sie so viel? weil ich es versprochen habe sie sind in bayreuth und am deutschen theater und sie sind neuerdings präsident der akademie der künste ost man hat mich überredet wann kommt ihr nächstes stück? keine ahnung, mal sehen, schiller hat mal sieben jahre nichts geschrieben sie müssen in der vergangenheit graben ja, stalingrad, da fängt es an, alles, was jetzt so spektakulär aussieht, ist ja nur ne folge der heilige krieg gegen die sowjetunion ja, der hat 1917 begonnen und ist jetzt zu ende ge­ gangen, aber kein sieg ist für immer gerhard stadelmaier schrieb über sie, hand in hand mit den sowjetischen panzern das bild ist voll gelungen das volk hörte nicht mehr auf sie das schreiben geht vor die moral wann kommt ihr nächstes stück? mal sehen 3/1991 in ihren werken wird oft berichtet, dass das leben ein schlachthaus ist und nur die größten schläch­ ter und intriganten sind erfolgreich im kampf ums überleben und erst, wenn das modell, auf dem die­ se welt beruht, verändert wird, kann es anders wer­ den ganz schöne zusammenfassung ihnen sind kollektive wichtig, gruppen, gibt es die überhaupt noch? es entstehen immer wieder kollektive in zeiten der not, nur wenn es ein akutes überlebensinteresse gibt, entstehen gruppen, die so lange halten, wie ihre not anhält sind sie archäologe? ich glaube nicht an den autor an sich / in alles, was ich schreibe, fließen erfahrungen vieler anderer menschen ein, auch vieler anderer autoren, die ich gelesen habe / das fließt alles mit ein, wird verwen­ det /es gibt nicht den einzelnen autor shakespeare hat alle seine stücke nach vorlagen ge­ schrieben und brecht auch ich denke, alle dramatiker von ibsen bis strindberg, die haben dann dieses familienzeugs gemacht, wahrscheinlich aber auch aus der örtlichen zei­ tung, denken sie an hedda gabler oder baumeister solness, das ist ja eigentlich tatort, also fernsehen, aber eben gut gemacht shakespeare hat italienische novellen gelesen und alle dramen der antike beruhen auf mythen


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ja, der begriff der autorschaft ist erst mit der heilig­ sprechung des privateigentums entstanden, vorher gabs das gar nicht, brecht, der jede menge prozesse verloren hat deswegen, sagte: ich kenne kein geisti­ ges eigentum beckett sagte: es gibt nur die alten fragen und die alten antworten naja und eben ein paar varianten gibt es wirklich keine neuen themen? Naja, es gab grad so nen spiegel-titel: der krieg des dritten jahrtausends wird der mit den asylanten sein, also arm gegen reich, aber da ist theater wahr­ scheinlich nicht das richtige genre, vielleicht doku­ mentarfilm das war nie anders, die völkerwanderung war auch nicht gerade ein hauptthema der kunst und ist ein einschneidendes erlebnis der menschheit gewesen, es geht doch meistens um wenige menschen, die in beziehung zueinander stehen, das problem ist doch eher das verschwinden des individuums es geht darum, zukunft zu verhindern / im prinzip hat das feindbild des stalinismus den sozialstaat nötig gemacht, jetzt ist alles, das andere, weg und das reine kapital kann sich durchsetzen, der unge­ hinderte zustrom der billigen arbeitskräfte in die zentren der produktion / es wird keine privilegien mehr geben, außer jung, gebildet und arbeitswillig zu sein / erfahrung, erinnerung und kultur spielen keine rolle mehr / nur noch im privaten bereich, der ausschließlich für den konsum vorgesehen ist aber ist es nicht aufgabe der kunst, nicht nur den moment zu zeigen, sondern auch seine geschichte und seine zukunft? ja, das war es gibt es ein befreites oder freies individuum? in augenblicken, ja / aber es gibt keinen gesell­ schaftlichen zustand, der freiheit ermöglicht / ich brauche kunst, um frei zu sein / kunst verbraucht menschen, kunst zerstört menschen, aber es macht sie frei / jedenfalls während der arbeit / wozu kunst, das ist uninteressant, das ist nicht meine frage die intentionen fürs schreiben werden beim schrei­ben verheizt und dann entsteht etwas neues und das neue hat meistens recht / was ich meine ist die existenz von sprache, das ist in dem sinne das material und das setzt sich durch / gegen ideo­ logie, gegen hoffnungen, gegen vorbilder die schönheit der poetischen darstellung ist freie selbsthandlung der natur in den fesseln der sprache ja, das hat schiller schon gewusst, das war sein pro­ gramm / erst recht, als er dann wusste, dass er krank war / dann hat er nur noch für sein werk gelebt, immer die faulen äpfel in der schublade /

so eine frühe droge wenn ich ein stück schreibe, gibt es nur einen raum und die grenzen des raumes kenne ich nicht novalis sagt: bei einem ernstzunehmenden autor wird aus willkür genie ja, bis hin zu den pausen bei kleist oder bei mir / der text sagt nicht die ganze wahrheit / das verschwie­ gene unsagbare, das ist dazwischen, das fällt auf warum schreiben sie nicht mehr? zündet sich eine zigarre an wenn keiner mehr kommt, keiner mehr hingeht / dann werden neue formen geboren werden / ganz einfach, von heute auf morgen 4/1992 in der gegenwart leben ist bewusstlos leben / das problem ist, ich habe in den letzten zwei jahren nichts geschrieben / ich habe keine zeit gehabt und ich lerne nur aus dem schreiben / sicher ma­ che ich erfahrungen, aber ich würde nicht sagen, dass sie neu sind / schklowski sagt über eisen­ steins film oktober den satz: oktober beschreibt das endgültige ende der warenwelt eben nicht für mich war diese welt aber wirklich vorüber / jetzt ist sie wieder da auf einmal / aber sie interes­ siert mich nicht ist der fall der mauer die liquidierung des sieges von stalingrad? ich weiß nicht, ich glaube nicht mehr an siege / alles ist nur für eine gewisse zeit so und dann dreht es sich wieder um / der kessel von stalingrad, das war dann das modell für den ostblock, abgren­ zung nach außen und zerstörung nach innen vielleicht war stalingrad das ende des sowjetischen traums oder seine gefriertruhe in der julirevolution in frankreich schossen die re­ volutionäre zuerst auf die uhren sie wollten eine neue zeit einführen vielleicht wollten sie sie einfach nur anhalten warum gibt es in ihren geschichten so viele engel? man braucht engel, wenn es nicht weitergeht / wenn man keine hoffnung mehr hat der schock für mich ist, dass sich die zeit umge­ dreht hat, die zukunft ist jetzt die vergangenheit, also natürlich nur, wenn man so alt ist wie ich was wir jetzt haben, diesen zustand, ist das etwas, was sich auf lange in die geschichte einschreibt? baudelaire sagt: langeweile ist der schmerz, verteilt auf die zeit / das ist es, was ich jetzt sehe brecht sagt: das erdöl sträubt sich gegen die 5 akte / ist das auch ihr problem? ja bestimmt

marx sagt: staat ist diebstahl darüber hat er seine dissertation gemacht der staat, der den förster anstellt und dann darf kei­ ner mehr in den wald, nur noch gegen geld zum holzholen ja und dazu gibt es eine lustige geschichte aus bul­ garien, aus dem tagebuch eines partisanen / mon­ tag: wir vertreiben die faschisten aus dem wald, dienstag: die faschisten treiben uns aus dem wald, mittwoch: wir vertreiben die faschisten aus dem wald, donnerstag: die faschisten treiben uns aus dem wald, freitag: der förster kommt und vertreibt uns und die faschisten aus dem wald … so ist es gekommen … der staat hat gesiegt und den wald dann überdacht … und die faschisten und die par­ tisanen dürfen einmal die woche in den wald und gotcha spielen … was ist gotcha? schießen mit farbkugeln / mich interessiert zu­ nehmend das, was verschwindet, und das, was ver­ schwunden ist im sinne von spurensuche? ich glaube an die kraft der toten gibt es dramatische momente? dramatisch können nur die verknüpfungen von momenten sein, nicht die momente selber woher nimmst du eigentlich die motivation zum dramatischen? mir reicht die welt scheinbar nicht aus, wie sie ist und wie hältst du dich fit, wie dämpfst du das ab / ab 17 uhr alkohol? so viel kann ich gar nicht trinken, um das abzu­ dämpfen und wenn du jetzt wieder schreibst? ja, das wird spannend 5/1992 was ist kunst und was machen sie zurzeit für kunst, wenn sie nicht schreiben? duchamp hat auf diese frage geantwortet: ich atme / das ist ja eine kunst, heute noch atmen zu können gibt es wahre und falsche kunst? es gibt nur gute und schlechte kunst, aber was das ist, weiß man auch erst später es gibt eine geschichte von shaw, ein junger dra­ matiker kommt zu ihm und fragt ihn: wie schreibe ich ein gutes stück, und shaw antwortet: es gibt nur eine einzige möglichkeit, suchen sie sich ein stück, das 100 oder 300 jahre erfolg hatte und schreiben sie das mit hand ab kunst stört ja auch die dummheit und die sicher­ heit ja, wenn sie neu ist, wenn sie etwas neues versucht, dann gibt es ja auch aggression gegen diese kunst,

Künstlerhaus Mousonturm Februar 2019 FRANKFURTER POSITIONEN 2019. GRENZEN DER VERSTÄNDIGUNG Daniel Cremer The Miracle of Love / Das Wunder der Liebe 27.1.–13.2. / Nicolas Henry A Place in the Sun 29.1., 2. & 3.2. / Jetse Batelaan/ Theater Artemis (.....) 31.1.–2.2. / Pascal Dusapin / Claus Guth / Ensemble Modern / IRCAM Lullaby Experience 2. & 3.2. / Susanne Zaun & Marion Schneider Es ist doch eine schöne Sache, über Kanzlerkandidaten zu reden und dabei Blutwurst zu essen 5.–7.2. / Ensemble Modern & Bridges – Musik verbindet Crossing Roads 8.2. andcompany&Co. Colonia Digital: The Empire Feeds Back! 14. & 15.2. / Ruby Behrmann & Liliane Koch DAMENGEDECK– Ein Rundgang in die Zukunft 15. & 16.2. / Rimini Protokoll (Begrich / Haug / Karrenbauer) DO‘s & DON‘Ts FRANKFURT/MAIN – Eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt 20.–23.2. / Marlene Monteiro Freitas Bacantes – Prelúdio para uma purga 22. & 23.2. / Tischkau PLAYBLACK 22.–24.2. Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main GmbH, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/Main

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weil sie verunsichert, wenn es zu wenig aggression gibt, dann stimmt etwas nicht mit dieser kunst kunst bedeutet immer irgendwie, keine angst vor dem tod / dialog mit den toten da mal raus zu sein ein paar momente aus dieser mörderischen schleife, gut zu sein, erfolgreich zu sein und so warum sind sie an das berliner ensemble zurück­ gekehrt? wieso zurückgekehrt, ich war noch nie hier sie haben es versucht ich glaube, man kann aus den trümmern wieder etwas machen, wenn man wieder ein theater macht, das um einen autor kreist um sie? ja, warum nicht, ich behaupte nicht, dass ich brecht bin, aber ich glaube, ich kann politische strömungen verstehen sie verstehen ihr eigenes leben als material? t. s. eliot schreibt: der druck der erfahrung treibt die sprache in die dichtung / das heißt einfach, man schreibt besser, wenn der erfahrungsdruck höher ist kann man einfach nur im material leben, gehört dazu nicht noch mehr zum leben? das ist aber so, dass alles leben material ist / man lebt nun mal im material / nur dass die differenz zwischen leben und werk immer größer wird literatur beschreibt die wahrheit über die wirklich­ keit / was heißt das? das faktische ist eben nicht deckungsgleich mit dem literarischen, aber beides kann wahr sein sie haben seit einiger zeit keinen dramatischen text mehr vorgelegt, aber was ist es denn, was sie schreiben wollen? zündet eine zigarre an man hat irgendwann einen lebensplan und dann fängt man an, zu warten, bis man das dann so machen kann / bis das dann so weit ist / bis es reif ist / aber es gibt so sachen, die ich seit 10 oder 15 jahren machen will, aber das geht jetzt nicht mehr / aktuell geht das nicht mehr, weil das jetzt verrutscht ist / durch das, was da passiert ist / in den letzten zwei, drei jahren, aber das neue, das interessiert mich nicht / weil ich das schon kenne / für mich ist das neue eben das alte und das alte endet in stalingrad / wo das volk der städter auf das volk der dörfler traf / und die aus dem dorf haben gewonnen? erstmal ja / aber der sieg ist immer das ende, nichts ist schwerer, als mit einem sieg klarzukommen / 6/1992 die existenz des autors ist die existenz außerhalb der gesellschaft … das stimmt, wenn wir von dramatikern reden, den­ ken sie an kleist, an grabbe, an büchner, an lenz und was ist mit molière, mit shakespeare, mit ­goethe? das waren hybride gestalten, unternehmer, thea­ terleiter und erst dann dramatiker / kein mensch weiß, was shakespeare wirklich geschrieben hat / goethe ist als dramatiker sicher überschätzt und molière hat seine stücke in und mit seiner truppe entwickelt jetzt sind sie auch theaterleiter, werden ihre quali­ täten als autor darunter leiden? im moment nicht, da ich keine zeit zum schreiben habe wie ist denn ihre augenblickliche gemütslage? von brecht gibt es einen schönen satz, der heißt: wir sind in einen kampf gekommen – kämpfen wir also

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halten sie sich für so bedeutend wie brecht? ja, in dem sinne, dass sich brecht für so bedeutend wie shakespeare hielt wo steht ihr nationalpreis von 86? hab ich einem kind zum spielen gegeben war der preis mit geld verbunden? ja, aber nicht mehr so viel wie früher, da waren es 100.000 mark, jetzt nur 60.000 dafür konnte man sich in der ddr ein landgut kaufen hatte ich keine zeit dafür sie schreiben keine stücke mehr, keine ideen, keine phantasie? keine zeit ich kenne sie nur mit whiskyglas, sind sie alkohol­ abhängig? sagen wir mal, ich liebe alkohol, wenn das abhän­ gigkeit ist, ok sie werden jetzt mit 63 vater / ein wunschkind? ja, doch, ich glaube, sonst würde es nicht stattfinden ich kann sie mir schlecht als familienvater vorstellen ich auch nicht wollen sie das üben? ja, ich will 7/1992 aus der sicht der deutschen industrie war der krieg vor allem ein krieg um arbeitskräfte / für die nazis aber ging es wegen der rassentheorie hitlers um die vernichtung von arbeitskräften / das westdeut­ sche wirtschaftswunder ist eine direkte auswirkung von auschwitz / alle deutschen großkonzerne haben in auschwitz arbeiten und experimentieren lassen / das ergebnis des zweiten weltkrieges, die verklei­ nerung deutschlands auf die industriell kräftige kernfläche westdeutschlands und die darauffolgen­ de jahrelange unterstützung durch die drei west­ mächte, stellt den grund für die finanzielle macht der heutigen brd dar / churchill wusste von der existenz der konzentrationslager spätestens seit 1941 / die ergebnisse waren geheim. weil ig-farben, thyssen und krupp da in enger kooperation mit amerikanischen konzernen ihre produkte auspro­ biert haben / eigentlich ging es für die amerikaner immer um die vernichtung der sowjetunion / die konzentrationslager waren große experimentier­ anstalten der deutschen industrie / das gas für die gaskammern haben nicht ss-leute erfunden / die engländer haben die inder noch vor die kanonen gebunden, die hatten nichts besseres / churchill war dann dabei, als die engländer ihre maschinen­ gewehre in ägypten an afrikanern ausprobiert ha­ ben / das ging schon besser / die atombombe in hiroshima war militärisch völlig sinnlos / aber sie musste ausprobiert werden / und die sowjetunion sollte einen denkzettel bekommen / die ddr ist ab­ gewickelt, die ig farben existiert immer noch ist auschwitz ein thema für das theater? ich weiß es nicht, ich glaube nicht, nicht direkt, aber es ist eine metapher für das jahrhundert / und vielleicht auch noch für das kommende / es geht um selektion, für alle reicht es nicht mehr, alle kön­ nen nicht überleben / also muss selektiert werden also ist selektion ein thema für das theater? auf einem der letzten schiffe, die deutschland rich­ tung amerika verließen, war ein kleiner, dicker, jü­ discher sportjournalist / dieses schiff wurde von deutschen u-booten torpediert und sank und dann saß dieser sportjournalist auf dem letzten ret­ tungsboot, das sich vom sinkenden schiff verab­ schiedete / und da stand eine junge mutter mit kind an der reeling / aber es gab keinen platz mehr

auf dem rettungsboot, da ließ der dicke sportjourna­ list sich hintenüber ins wasser fallen / in den atlan­ tik / und dann war platz da für mutter und kind / das problem unserer zivilisation ist, dass sie keine antwort auf auschwitz hat jetzt habe ich verstanden 8/1992 ihre biografie durchzieht wie ein roter faden eine art gleichgültigkeit / ist das realität oder verbirgt sich hinter diesem panzer aus gleichgültigkeit, zynis­ mus und ironie eine sehr verletzbare seele? das kann alles sein / aber in erster linie bin ich dra­ matiker / und wahrscheinlich ist das meine eigent­ liche existenz / und der rest wird dann eben immer mehr material mit der zeit früher waren sie jung und arrogant, und jetzt? alt und nicht mehr ganz so arrogant sie sind ein philologe / ein archäologe der gegen­ wart und der vergangenheit ja, ich glaube schon, der antrieb zur philologie ist gier / es gibt nicht nur neugier, sondern auch alt­ gier / einfach alles haben wollen / alles greifen wollen / alles wissen wollen montaigne biss sich immer in die hände und in die zunge, weil er so gierig aufs essen war naja, ich meine das eher so, dass kunst nicht geht, ohne alles haben zu wollen / kunst ohne hunger geht nicht / ich bin mit brigitte nach paris gefah­ ren, weil ich ihr die moderne zeigen wollte / aber das war auf einmal alles scheiße für mich / alles mist, und dann standen wir in dem raum von ­giacometti / und dann war das plötzlich ein tempel das erinnert mich an weekend von godard / du mit deiner frau am wochenende nach paris und dann passiert etwas unerwartetes die männer in belgrad fahren am wochenende zum schießen nach bosnien / das ist normal, das ist ihr weekend / wenn ich jetzt denke, dass meine frau bald ein kind bekommt / und dass dieses kind mein kind ist / und ich all diese endzeitszenarien eines tages erklären muss / ich weiß nicht, viel­ leicht ist es ja gerade gut, damit allein zu sein / da muss einem was einfallen du wirst deinem kind nur eine gewisse zeit von jahren begegnen genau / aber in dieser zeit wird es mich fragen was hast du vor am berliner ensemble? ist ganz einfach, ich will da meine stücke sehen das theater als einen ort der geschichtsschreibung brecht hat auf die frage geantwortet / ich will ein eigenes theater zur wissenschaftlichen erzeugung von skandalen lacht kommt die kultur von den siegern oder von den besiegten? von denen, die überleben und sich an die geschich­ ten der verlierer erinnern 9/1993 in den letzten tagen sind bei verschiedenen zeitun­ gen und redaktionen briefe und faxe eingetroffen, in denen es zu ihnen eine im-akte gibt das interessiert mich / heiner steht da? ja, heiner, später zement ich kenne die akte nicht / ich weiß nichts davon / das ist mir alles neu / ich kenne diesen führungs­ offizier nicht sie wissen nichts und sie hatten nie gespräche mit der staatssicherheit? natürlich hatte ich gespräche / ich war in einer posi­ tion, in der ich immer wieder mit denen geredet


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habe / es ging um kollegen, denen ich geholfen habe / es ging um meine eigenen reisen / ich weiß nicht, mit wie vielen hundert mitarbeitern der staatssicherheit ich gesprochen habe, ohne zu wis­ sen, dass sie bei der stasi waren / in jeder theater­ kantine saß da einer, mindestens einer / das war alles? es gibt nichts schriftliches von mir / keinen bericht oder so etwas / ich weiß nicht, was in irgendwel­ chen akten steht / sie werden beschuldigt, auch dann noch gespräche geführt zu haben, als es nicht mehr notwendig war, sich mit denen zu treffen wissen sie, der zeitpunkt, an dem man das jetzt ans licht bringt / am tag oder zwei tage vor der eröff­ nung des neuen berliner ensembles / macht sie das nicht stutzig? nein das ist doch absicht / dass man das hier jetzt damit sprengen kann / diese neue leitung und auch die vereinigung der beiden akademien / das ist doch kein zufall / das ist doch absurd, ich wusste immer, dass ich nicht in der heilsarmee bin / ich war doch ein erwachsener mensch / ich hatte es nicht nötig, mit denen zu reden / es gibt ein westraster, das ­besagt, die ddr war ein unrechtsstaat / es geht offi­ ziell darum, die geschichte aufzuarbeiten / aber in wirklichkeit geht es darum, die geschichte auszu­ löschen / es ist ganz schwer, in dieser giftgelade­ nen atmosphäre darüber zu reden sie wollen also nicht reden? ich habe doch gar keine ahnung von den dingen, die da stehen / ich muss doch erst mal das material kennen, bevor ich darüber schreibe oder rede warum schauen sie nicht einfach mal rein in ihre akte? ich hatte keine lust, mich durch die aktenberge und den müll durchzubeißen / jetzt werde ich es wahrscheinlich tun müssen, aber es interessiert mich nicht sie haben nichts geschrieben, aber die mitarbeiter der sicherheitsorgane? ja, sicher, hören sie, die stasi gehörte zum alltag, man hat das nicht so ernst genommen sie nicht, andere schon und für noch andere wurde es ziemlich ernst, die nämlich jahre oder jahrzehnte in bautzen einsaßen das weiß ich doch haben sie von der staatssicherheit geld bekommen? nein, niemals wie hoch war der ihnen zuerkannte nationalpreis dotiert? ich glaube 60.000, aber das hat doch überhaupt nichts mit der stasi zu tun / vielleicht behaupten

sie demnächst noch, das berliner ensemble ist auch von der stasi gesponsert / oder so etwas danke für ihre offenheit 10/1993 sie haben für die stasi gespitzelt es gibt keinen einzigen beweis / ich weiß, dass alle meine freunde ihre opferakten durchgesehen ha­ ben / nichts aber sie haben kollaboriert? ja, aber was heißt kollaboration / ich war ja nicht für die wiedervereinigung oder für das aufgeben der ddr / ich wusste, dass es zu ende geht / aber es gab diese hoffnung auf reformen niemand musste mit der stasi zusammenarbeiten ich musste gar nicht / ich habe es bewusst getan / ich dachte ich könnte etwas erreichen fühlten sie sich geschmeichelt / so nah an der macht zu sein? keine ahnung, vielleicht man hat sie zur systemstabilisierung benutzt? das kann man so sagen / jedes gespräch führt zu­ nehmend zu missverständnissen / ich weiß genau, wenn ich wirklich versuche, alles zu sagen, was ich denke, wäre es besser, das gespräch käme erst nach meinem tod heraus aber sie haben doch jetzt alles gesagt nein, ich habe nicht alles gesagt manchmal hat man den eindruck, die demokratie würde sie am schreiben hindern demokratie gibt es ja gar nicht / nur oligarchie was glauben sie, wird hinter der destruktion frei? wenn man alle illusionen abbaut, kommt man möglicherweise auf die wirkliche lage ist der körper der letzte widerstand und sei es nur auf dem theater? ja natürlich, der körper ist das letzte, was bleibt und was macht man, wenn der körper nicht mehr funktioniert es gibt noch den rausch / ich glaube, der rausch hat heute ein utopisches potential / in dieser funk­ tionalisierten gesellschaft / jede ekstase sprengt eine grenze / sonst ist es keine / natürlich lauert dahinter immer die gefahr der tod ja natürlich, was sonst 11/1993 wie ist das theater entstanden? also, es gab lange zeit keinen regen und da ist eine göttin rein in eine höhle und hat striptease ge­ macht / und das haben die anderen götter gesehen und mussten anfangen zu lachen / laut lachen / und dann hat es wieder geregnet / ja, so ging das

02./03.02.2019 To Da Bone (La) Horde (FR) 08./09.02.2019 Love Chapter 2 L-E-V/Sharon Eyal & Gai Behar (IL)

www.hellerau.org

15./16.02. Bandstand Indoor-Festival der Dresdner Bandszene

los und dann kam noch ne geschichte dazu irgend­ wann, damit man sich die gefühle besser merken kann was wäre das heute, diese geschichte? zum beispiel fatzer, vier leute, die sich nach dem krieg in einer wohnung in mülheim an der ruhr verstecken und auf die revolution warten aber es kommt keine revolution und es kommt keine revolution und dann sagt einer: aber der krieg hat uns nicht umgebracht aber bei ruhiger luft im stillen zimmer bringen wir uns selber um aber wo soll man hin fliehen, überall ist der mensch und dann sagt ein anderer der mensch ist der feind und muss aufhören ihre inszenierung, wenn man von den kritiken ausgeht, ist misslungen / sie sind gescheitert ja, wenn man es als soziologisches experiment sieht, ist es gelungen / sehen sie, die verpackung ist das, was gekauft wird, der rest wird nicht gesehen also für sie ist die negative kritik kein problem? das war mir schon klar, aber dass sie so eindeutig negativ ist, hätte ich nicht – sie haben von stalinistischen methoden in der kritik gesprochen die treuhand darf mit der ddr aufräumen, sonst nie­ mand / trauerarbeit ist nicht erlaubt, nur zerstörung sie sprechen oft von ihrem ekel am heute und hier, was meinen sie damit ich würde das nicht so dramatisch nehmen, sehen sie, ich habe eine schöne frau und ein kleines kind sie sind glücklich? fragen sie meine frau an welchem stück arbeiten sie gerade? wenn ich das wüsste, ich probiere an ein paar alten plänen herum, ich weiß noch nicht, welcher zuerst dran ist / das versuche ich gerade herauszufinden / fragen sie in ein paar wochen noch einmal nach ich kann nur hoffen, dass sie hier am berliner en­ semble die rolle spielen, die wagner in bayreuth gespielt hat, auch wenn sie nicht wie brecht die schublade voller stücke haben ich war leider nicht so lange in der emigration wieso leider? er hatte zeit für jede menge stücke und sie bräuchten jetzt die ruhe, die man in der emigration hatte, um stücke zu schreiben? ja, sowas ähnliches, ja aber worüber könnten sie schreiben, wenn sie über heute schreiben, was sind denn die geltenden werte heute? es gibt nur einen wert, das ist geld es ist bekannt, dass sie nicht mit geld umgehen können

22./23.02. Alles auf Anfang Antje Pfundtner in Gesellschaft (DE)

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das stimmt sie haben bedenkenlos gepumpt und auch ver­ pumpt und nun haben sie plötzlich geld schon seit zehn jahren etwa, vielleicht 15 sie werden jetzt 65, also rentner erst mal kriege ich wahrscheinlich keine rente, weil ich die papiere nicht zusammenkriege ihre tochter ist zwei jahre alt das ist schon ein problem / wie alt ist anna, wenn ich krepiere sie sind ein nomade wider willen ja, ich werde das nie hinkriegen, dass ich eine nor­ male wohnung habe, das kriege ich nicht hin sie sind jetzt verheiratet ja, das ja, das stimmt / als ich in den 50ern nach berlin kam, habe ich oft in der mitropa übernach­ tet / ich war nachts in den kneipen unterwegs / der stoff kam meist aus den kneipen sie haben sich in den letzten jahren ziemlich weit vom schreibtisch weglocken lassen, bereuen sie das? Nein, ich bereue nie etwas, das ist unpraktisch im ernst? hmm, das ist der epochenbruch, da ist was zu ende / ich schreibe gedichte seit einiger zeit / aber das baut die spannung nicht genug ab / es ist jetzt ganz schwer, ein stück zu schreiben ist mit dem untergang des sozialismus auch ihre unsterblichkeit in gefahr und stücke wie der bau erledigt? der bau ist ein stück über die zerstörung der land­ schaft durch utopie und das ist ein aktuelles thema, was bleibt, ist die form vielleicht wollen sie einfach nicht mehr zurück in die einsamkeit? ich weiß nur, wenn ich anfange zu schreiben, bin ich raus aus der welt / und das ist nicht so leicht gerade / hat auch was mit dem kind zu tun woher rührt ihre innere weigerung, glücklich zu sein? keine ahnung, das ist der dramatiker in mir gibt es etwas, was sie an berlin schätzen? den schmutz, den widerstand gegen die ordnung / schmutz ist leben / die angst vorm schmutz ist die angst vorm sterben möchten sie noch einmal jung sein? ich neige nicht zu überflüssigen betrachtungen 12/1994 wenn die zeit in das spiel eingreift, entsteht drama ja, das wesentliche an der künstlerischen arbeit ist ja die zeit, wo man sich dann entscheidet, das so oder so zu machen / wo das, was gestern noch total verboten war, plötzlich stimmt wie bei francis bacon, der seine bilder jahrelang umgedreht hat und dann nach zehn oder zwölf jahren gesagt hat: so, jetzt geht das oder sie einfach wieder übermalt hat ja oder zerissen oder oder noch mal versucht hat, das ganze als frau zu malen / das ging aber nicht, er konnte keine frauen malen warum nicht? der mann ist der passagier der frau der mann braucht die frau, aber nicht die frau den mann der kapitalismus braucht die frau als brennstoff, die hexe muss brennen, sonst läuft der laden nicht lulu als brennstoff, lolita als brennstoff, gretchen als brennstoff, johanna, käthchen als brennstoff und elektra und medea

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da gabs noch keinen kapitalismus aus ideen werden märkte deutsche bank genau das ist es, was hölderlin in den anmerkungen zu ödipus und antigone einen leeren transport nannte der tragische transport ist recht eigentlich leer es gibt nur noch märkte und dadurch entsteht eine ungeheure leere, es ist jetzt die frage, ob das der mensch aushält du glaubst, die menschheit braucht ein wozu ich glaube gar nichts / dschingis khan wollte auch nur einfach weg, weil da waren andere, die stärker waren als er, erst auf der flucht hat er kapiert, wies geht, wo seine stärken liegen, wie mans macht wie die rote armee im zweiten weltkrieg ja, stalingrad was ist da los mit stalingrad, ist das eine obsession von dir? nein, das war das purgatorium des kapitalismus, zusammen mit auschwitz, seitdem können sie alles machen, es gibt keine grenzen mehr, der limes ist überschritten das purgatorium als waschanlage ja, alles, was jetzt kommt, sieht nicht so schlimm aus, ist irgendwie niedlich / kann man in die oper stecken und weiterverkaufen die zeit hat die aufgabe der kunst, die toten vom druck des geldes zu befreien deswegen ist die oper voll, so schlimm kann der alltag in der bank nicht sein, wenn es abends so schön ist beim mozart der zweck der bürgerlichen gesellschaft, beschreibt benjamin, ist die verdrängung des todes ja, das zwischenschalten von immer mehr geräten schiebt den tod weg, aber es brutalisiert auch kunst ist das gegenteil, sie bedeutet die möglich­ keit, unser brot mit den toten teilen zu können wichtig ist, dass man wegkommt von dieser schwachsinnsidee, theater müsse aktuell sein wie benjamin sagt: wahrheit ist nicht die enthül­ lung, die das geheimnis vernichtet, sondern offen­ barung, die ihm gerecht wird ja, und dazu braucht es immer neue formen / leider hab ich sie noch nicht erinnert mich an brecht, wie der in kalifornien das kommunistische manifest in hexameter übertra­ gen wollte und feuchtwanger fragte, wie das geht brecht hats nicht hingekriegt natürlich nicht man kann nicht einfach irgendeine alte form nehmen nicht mal brecht der schon gar nicht, als er beckett las, hat er einen furchtbaren schreck bekommen und wollte einen film drehen über die produktion in sibirien, um sein weltbild wieder zu schließen und, hat auch nicht geklappt? nein, das erdöl sperrt sich gegen die 5 akte 13/1994 schreiben sie etwas zur zeit? nein, ich inszeniere den arturo ui von brecht ist das theater ein überholtes medium? glaube ich nicht dann habe ich wahrscheinlich nur gerüchte gehört / sie haben auch gesagt, dass das theater wieder einen nullpunkt finden muss ja, das stimmt, aber das ist etwas anderes, das kommt ja von ihnen – also aus asien / die idee der leere, also die meditation, dass man wieder eine innere leere zulassen muss, dass etwas neues hin­

einströmen kann, eine neue idee, ein neuer aus­ druck warum haben sie das gesagt, hat das etwas mit der derzeitigen lage zu tun? nein, das hat jetzt mit nichts zu tun, das war schon immer so / die voraussetzung für kreativität ist, dass man leere herstellen muss wollen sie auch einmal film machen? ja, irgendwann, wenn ich 90 bin lacht ich habe pasolinis medea gesehen/ sie haben ein stück medea geschrieben / hat er sie beeinflusst? ja, aber das stück habe ich schon früher geschrieben lacht ich gehe lieber ins kino als ins theater ich auch beide lachen wir koreaner interessieren uns besonders für das problem der wiedervereinigung in deutschland ich nicht sie nicht nein beide lachen wie beurteilen sie die rolle der intellektuellen in dem prozess der wiedervereinigung? ich glaube, die war sehr gering können sie koreanischen intellektuellen tipps zur wiedervereinigung geben? ich glaube kaum, dass ich das kann beide lachen schade ich denke, dass in einer welt, in der geld der obers­ te wert ist, man sich aufs schreiben und sprechen zurückziehen sollte sollen wir die politik den dummköpfen über­ lassen? ja, das ist besser meinen sie das im ernst? ja, die mittelmäßigen, die gehören an die macht ich verstehe nicht ganz ein künstler muss das unmögliche versuchen, nur dann entwickelt sich die kunst weiter war die sed eine kirche? ja, aber ohne musik beide lachen woran ist ihrer meinung nach die ddr gescheitert? an der ökonomie, ganz einfach, seit 1923 war das klar 1923? ja, da etwa war klar, dass es die revolution nicht in westeuropa geben würde, ab da war die revolution nur noch ein verteidigungskrieg, lenin hatte auf die deutsche revolution gehofft und damit auf die ökonomische hilfe, aber die kam nicht war das 1989 eine revolution? kommt drauf an, wie man es definiert, ich glaube eher nicht sie verdienen jetzt sehr viel geld ja, das stimmt, aber ich komme nicht klar mit der steuer lacht ich auch nicht lacht es gibt berichte, in denen steht, es gab mehr sexuelle freiheit in der ddr kann sein


fritz kater_heiner 1–4

beide lachen 14/1994 sie haben seit neun jahren kein stück mehr ge­ schrieben, warum? es gibt für mich keinen grund mehr / mir fehlt der traum, es gibt nur anhaltende gegenwart und dafür ist das fernsehen zuständig fehlen ihnen inspirierende ereignisse, die wende, der zusammenbruch des kommunismus, alles ­keine themen? das einzige, was an geschichtlichem passiert, ist der kapitalfluss und der ist unsichtbar 15/1994 als dir letzte woche hier in münchen die speiseröh­ re entfernt worden ist, hast du deine papiere, deine zettel bei dir gehabt / ein christ hätte sein kreuz mitgenommen

ja, ich nehme immer ein angefangenes manu­ skript mit ins flugzeug, wenn ich abstürze, war ich nicht schuld, dass ichs nicht zu ende gemacht habe, verstehst du? du sprichst sehr leise, du hast nur noch ein stimm­ band ja, ich muss sprechen lernen, a ist ganz schwer, ha kann ich schon und o und u? schwer und i? etwas leichter wie ist das so vor einer solchen operation? der ganze körper wird rasiert, die ganze vordere fläche wird gebraucht die operation an der speiseröhre ist, glaube ich, eine der schwierigsten, das ist ein schweres klavier­ stück ja sie sagen: den magen freilegen, wie liebermann, der sagt: zeichnen ist, alles unwichtige weglassen kannst du dich an die op erinnern? nein, nur danach, stunden später, schmerzen, etwas ist anders, postoperatives trauma gibt es das bei völkern? ein sechstel haben sie mir entfernt die sowjetunion ist auch ein sechstel ja, ein sechstel der erde ist auch weg und deine texte / haben sie dir geholfen? ich habe immer wieder versucht, mich gegen die schmerzen an meinen texten festzuhalten / das geht aber nur mit ganz dichten texten / mit ganz lyrischen, mit prosa geht das schwer / das muss sehr dicht sein oder sehr geformt / am besten rei­ me / dann hilft es gegen die schmerzen / wenn es eben sehr geformt ist du brauchst das schreiben ich muss dauernd meinen kopf beschäftigen / mit irgendwas / ein grund für diese krankheit ist sowieso, dass ich seit jahren keine möglichkeit gesehen habe, ein stück zu schreiben / es ist eine lebensfunktion und wenn das aussetzt, fehlt etwas / die motivation für ein kind, eine frau, ein spätwerk / leben lernen mit der halben maschine / der tod ist das einfache / sterben kann ein idiot wenn man sagt, dass du schauspieler bist, ist das verletzend? nein der dramatiker ist eigentlich selber schauspieler? man muss alles selbst spielen, was man die figuren spielen lässt 16/1995 dieses viele trinken bei ihnen ist doch auch eine flucht vor der wirklichkeit

Frau im Wald

die meisten zeitgenössischen schriftsteller trinken mehr als sie schreiben – gorki sie schreiben jetzt gedichte hier in kalifornien ja, warum nicht, denken sie an shakespeares ­s­onette sie schreiben nicht über die zeitenwende, sondern über einen älteren sterbenskranken mann, der ­alkohol zu sich nimmt in einem amerikanischen hotel sind sie dieser mann finden sie es gut zu schweigen nickt, beginnt zu schreiben 17/1995 zadek hat jetzt castorf und schleef als intellektuelle faschisten bezeichnet, ärgert sie das? nein er ist aus der intendanz ausgeschieden ja, er hat etwa sechsmal gekündigt und dann ge­ fordert, dass ich und noch ein anderer intendant gehen / das haben wir nicht gemacht ist damit das modell der fünf intendanten des ber­ liner ensemble gescheitert? anscheinend ja machen sie trotzdem noch weiter? sieht so aus was ist für sie der mensch? ich weiß nicht, was ein mensch ist, ich kenne nur seinen preis – brecht wie viele direktoren gibt es denn jetzt am be? einen der sind sie? ja vor dem arturo ui sah es so aus, als sollte christo am besten das be einpacken, jetzt, nach diesem unge­ heuren erfolg, wollen sie es noch einmal anpacken sehr witzig castorf kommt und macht den auftrag / 96 wird eigentlich nur noch brecht und müller gespielt ja, und ich mache mein neues stück sie haben es in amerika geschrieben ja, in santa monica in kalifornien da hat brecht auch gelebt ich war in der villa von feuchtwanger / im frühjahr, der größtmögliche abstand zu deutschland wovon handelt ihr stück? 20. jahrhundert, stalingrad bis mauerfall was hat theater mit geschichte zu tun? im theater gibt es weder vergangene zeit noch zu­ kunft noch gegenwart / es gibt nur die eigene zeit und das ist eine andere / und was hier auf der büh­ ne passiert, passiert immer, wenn es gut ist und was ist ihr antrieb, theater zu machen? das ungenügen an der welt, das ungenügen an der realität ist die quelle jeder inspiration / und diese

THEATER MARIE

aber es wurde doch alles reglementiert das nicht lacht aber wissen sie, ich habe oft gehört, dass die frauen in der ddr doppelt unterdrückt wurden das ist die übliche interpretation meinen sie? ja kann man sozialistische kunst überhaupt noch ­rezipieren heute? sehen sie, die statuen halten länger als die kulte das verstehe ich nicht ganz dante ist der letzte europäische künstler, der ein geschlossenes weltbild hatte, den katholizismus, der ist sicher falsch, aber dante war ein großer künstler was halten sie von der normalität? interessiert mich nicht als künstler / genauso wenig wie political correctness, das ist rinderwahnsinn rinderwahnsinn? ja, rinderwahnsinn das verstehe ich nicht / warum schreiben sie nur über krieg und schrecken? weil ich aufgewachsen bin in einer welt, wo krieg war, immer außen und innen, ich kenne keine an­ dere welt, auch jetzt nicht / worüber sollte ich sch­ reiben? haben sie lust korea zu besuchen? nein, ich glaube, dass sind beides schreckliche län­ der / nord und süd lacht sie sind ein katastrophenliebhaber, haben sie spaß an zerstörung und untergang? ja, wenn es nicht um mich geht

Frau im Wald Julia Haenni 31.1. / 1. / 2.2.2019 Schlachthaus Theater Bern

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stück

zwänge braucht man, die dinge, die einen dazu bringen, ins unbekannte, ins dunkle zu gehen gibt es etwas, was sie noch nicht gefragt worden sind? pause eigentlich nicht / eigentlich bin ich schon alles ge­ fragt worden was ist theater? theater ist krise, sonst hat es gar keinen bezug zur gesellschaft welche funktion könnte theater haben? ich meine, wenn man sich vorstellte, wir lebten in afrika, dann würde jedes jahr hitler begraben, je­ des jahr würde man die hitlerpuppe begraben / so lange, bis das irgendwann alle langweilt, bis keiner mehr kommt zu diesem ereignis, das wäre es und das ist es, was theater machen soll / es soll nicht künstlich die gewissenhaftigkeit aufpeitschen, sondern die toten begraben, die unlösbaren trau­ matischen erlebnisse begraben, nicht lösen und was ist gott? also, es gibt so eine geschichte eines autors: ein raumschiff im all und die entdecken nach langer irrfahrt ein riesiges skelett, so 40 mal 20 kilometer lang, nur riesige knochen, und das ist gott und der ist wohl tot und wie sollte es aussehen, das theater, das sie sich wünschen, ich meine, was soll passieren? keine ahnung, da gibt es doch tausend möglichkeiten zündet sich eine zigarre an von rosanow gibt es eine beschreibung eines theaterabends: die zuschauer applaudieren, die schauspieler verbeugen sich, die zuschauer gehen raus, an der garderobe vorbei, die garderoben sind leer, die mäntel weg, sie gehen raus aus dem theater, in die stadt und die stadt ist weg, keine häuser mehr da lacht

heiner 3 try out personen sauerbier verwaltungsdirektor, stell­ vertretender intendant 58 martin hauptdarsteller, jungregis­ seur 34 liander jungregisseur, intendant in der provinz 36 katja assistentin 24 carlos dramaturg 49 ilona schauspielerin 48 ecke schauspieler, ost 64 volka schauspieler, west, homosexuell 56 riediger schlapperer journalist 47 heiner intendant, dramatiker 65 studenten 1 büro sauerbier sauerbier ist er immer noch nicht da? katja nein sauerbier habt ihr jemanden zu ihm nach hause geschickt? katja klar, ich war jetzt dreimal da. und seine frau ist auch nicht aufzutreiben sauerbier keine ahnung, was wir jetzt machen

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katja keine ahnung, was wir jetzt machen sauerbier quatsch mir nicht alles nach katja der vorhang, der hintere vorhang vom ui ist gerissen, da müssen wir was machen. ist ja die ein­ zige vorstellung, die läuft. das können wir nicht schleifen lassen sauerbier halts maul, weiß ich selber telefon klingelt und was ist mit dem schleef, dem hochhuth, das läuft doch auch super katja ja liefe, wenn herr schleef so gütig wäre, seine vorstellungstermine einzuhalten sauerbier das gibts doch nicht, der arsch, ist der wie­ der nicht gekommen, no no no, den mach ich fertig katja sie haben wieder vergessen, ihm die 1000 mark an die pforte zu legen sauerbier was soll dieser irrsinn? katja irrsinn hin oder her, mit dem umschlag spielt er, ohne nicht, ganz einfach sauerbier halt die schnauze telefon klingelt ja be, sau… / nein, nein, wie kommen sie denn da drauf / nein, wir geben keine freikarten / nein, woher denn, bin ich krösus, vergessen sie es / ja ja, sie auch sich selbst, ja aber kreuzweise / gibts doch wohl nicht, wenn sie s-bahn fahren, wol­ len sie doch auch keine freikarten, aber im thea­ter muss es sein, sonst gilts nicht. frechheit katja wer war das? sauerbier keine ahnung, irgend so eine alte kuh katja dann war es die frau vom bürgermeister sauerbier was, wieso denn das? du bist doch total bekloppt katja hat vorhin schon mal angerufen sauerbier oh gott, ich dreh durch, warum sagst du das denn nicht gleich, du idiot. ich könnte dich vierteilen katja nach meiner inszenierung gerne sauerbier vergiss es katja er hats mir versprochen sauerbier vergiss es, dann ist der laden endgültig im arsch katja er hats mir versprochen sauerbier dann treib ihn doch endlich auf telefon klingelt ja, frau bürgermeisterin, was für eine ehre, ich bins, ihr ergebenster sauer… / vorhin, sie haben schon einmal, keine ahnung, keine ahnung, vielleicht die assistentin vom chef, die hat keine ahnung / ja, ne komische stimme, stimmt / für die premiere, natürlich. Wie viele / na klar, und für den ui natürlich. aber haben sie den nicht schon mal / ja klar, deswegen / klar, da kann man noch was entdecken und der herr gemahl kommen auch / nee, nee, so was, die spinnen doch. na der soll mal halblang machen, kommen alle noch früh genug ins grab / ja ja, dann bis dann, tschüssi / danke, danke, ja ja / nee, der kommt gleich, schreibt noch / ja, das neue. ja, das neue, ja, hat ne weile gedauert / ja, aber jetzt ist es da und wir sind dran. ja und wie wir dran sind / na klar wird das lustig, ist schon immer ein komi­ ker gewesen der chef, klar … / danke, tschüss tschüss / widerliche sau, zum kotzen, zum kotzen. du nimm einfach ein stück vom vorhang vom patzer, äh fatzer, das müsste passen

katja ist denn der patzer, äh fatzer ist abgesetzt? sauerbier na klar, läuft ja nicht katja und der alte weiß davon? sauerbier würd ich dir sonst den tipp geben? katja ja sauerbier was? telefon klingelt, beide starren auf das gerät keine freikarten, keine freikarten, nur über meine leiche. ja, wer ist da / och martin, na toll, du bist es, wo steckst du denn? / flughafen, na dann mach dich mal her, die bude brennt lichterloh, der alte taucht einfach nicht auf und in drei stunden steht hier der schlapperer vor der tür / ja, der riediger / ja, der idiot / warum? na, das war ne idee vom alten, dass wir ei­ nen try out machen, nur so zwanzig minuten, da­ mit der exklusiv was kriegt und nen guten vorbe­ richt schreibt und dann läuft die kiste wieder. vielleicht jedenfalls, bin mir nicht so sicher, ist aber unsre letzte chance, verstehst du? / mh … ja, tolle idee, du bist auch so ein hirni, der alte ist die ganze woche nicht aufgetaucht, keine einzige probe hat er gemacht / keine ahnung, besäuft sich oder ist weg mit seiner jungen dame, fotosession / und in zwei stunden steht der schlapperer vor der tür … wahnsinn / nee, der kann nicht warten, der hat gebucht, nach tanger, marokko, die dingslines fliegt nur einmal die woche und der muss in drei stunden wieder weg und wenn der nichts zu sehen kriegt, macht der uns fertig, der schlapperer. also was ist? du kommst? / also du kommst sofort? / nein! wieso nein?! / müde! ich denke, ich krepiere gleich … müde! katja lass mich mal. hi martin / du, das ist ja echt ein ding mit dir und wien, oder? ja, hab schon gehört, du musst ja wieder sensatio­ nell gewesen sein, naja in wien / da ist das ein heimspiel inzwischen für dich … / ja, bist du eben, ja, du bist der beste / nee, ohne quatsch / ja, du weißt es ja, warum auch nicht / wir hätten dich schon gebraucht hier / mh, hab schon gehört, müde, klar sind wir alle, im­ mer kurz vorm burnout … obwohls ja ne chance wäre für dich … ich mein, als spieler hast du ja schon alles, also wirklich alles, was man so errei­ chen kann … aber als regisseur … na wenns nicht geht … schade … / klar … schade / ja / mh / klar / na schade, dass dus nicht machen kannst, ist aber kein ding, der liander kommt gleich. der kümmert sich, tschüss! legt auf, lacht sauerbier wann hast du denn den liander angeru­ fen, das hat dir doch keiner gesagt? katja hab ich doch auch nicht … hab ich doch nur gesagt, damit martin sich rührt sauerbier und du glaubst, dass …? katja bin mir sicher, aber zur sicherheit sollten wir noch den liander anrufen … sauerbier naja, irgendeiner muss es ja machen, da hast du auch wieder recht katja wenn gar keiner kommt, mach ichs eben …


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sauerbier nur über meine leiche telefon klingelt katja martin, hundert pro sauerbier niemals! katja geh doch ran, wenn dus nicht glaubst sauerbier ja hier be, sauer… / aah, martin, wie gehts? brauchst du schlaftabletten oder n vorschuss? kannst du dir an der pforte ab­ holen, wie beim schleef. was der kriegt, mach ich bei dir auch möglich, hundert pro … / bist schon sehr … schon sehr müde, klar, sehr matt … / na, nach dem erfolg gestern kein wunder … / nee, für dich hab ich immer zeit, ja, die ansetzung vom ui / nee, machen wir, ganz wie du willst / du bist nun mal das teuerste pferd, ich meine das beste im stall / was, du willst vorbeikommen? wieso? / nein! du willst es probieren? / nur drüber sprechen … ok … aber immerhin du kommst? / ja! / ok! / ok, dann bis gleich, bis gleich, danke, martin, du bist … katja hallo! wahnsinn! siehste mal! sauerbier na dann kanns ja losgehen auf den monitor blickend was machen die da auf der bühne? katja viertes studienjahr, die üben marschieren. jetzt seit zwei stunden, für die wolokolamsker chaussee sauerbier sollen aufhören mit dem quatsch, sollen sich bereithalten, was haben sie für uniformen an? katja gar keine, nur adidas und stiefel sauerbier du katja, die sollen sich umziehen, eine hälfte russen, andere hälfte nazis und dann in die kantine! katja ok, kriegen die n essen umsonst, oder n kaf­ fee wenigstens? sauerbier spinnst du, hau ab, die können sich freu­ en, dass sie hier beim meister bei so nem projekt mitmachen können. jetzt fängst du auch schon so an, katja … mein schatz … komm mal her katja wann reden wir über meinen vertrag? sauerbier wenn du es geschafft hast, eine woche pünktlich zur probe zu kommen … katja katja ja? sauerbier hast du was mit dem dozenten? katja mit einem? telefon klingelt sauerbier aah, riediger! / großartig, dass sie anrufen! / ob bei uns was losgeht? … na was glauben sie denn,

dass wir den ganzen tag nur kaffee saufen und ihr blättchen lesen? nee, ohne spaß … bei uns ist alles so weit, also in zwei stunden / ja, der meister hat schon ordentlich hand angelegt, aber für heute haben wir 20 minuten, genau wie sie wollten / 30, nee, 30 sind zu viel, das war nicht abgemacht / oh gott, sie können nicht, warum? / was? / früher! / sie haben den flug umgelegt? / nicht tempelhof, sondern schönefeld, das heißt eine stunde früher, in einer stunde … oh, das wird knapp, sehr knapp / alternative? / verschieben auf in sechs wochen … nee nee, dann sind wir ja pleite, ich meine, dann siehts ja doof aus mit ihrem vorbericht … riediger, das können sie doch nicht machen, sie sind doch der einzige fähige kopf, der noch da ist … ich meine neben den ganzen betonköpfen … der noch neben dem beton da ist – und der kürzlich verstorbene vielleicht … na ist ja eben nicht mehr … hat sich in luft aufge­ löst, ha ha … / ach ja, natürlich, da haben sie recht … so toll war der ja am schluss auch nicht mehr, da haben sie schon recht … immer nur über die pissoirs zu ­schreiben und dass das mit den videos quatsch ist / naja, das finden sie ja aber auch, oder war das der aus frankfurt? / ach, den kennen sie gar nicht / na, ist ja n ding … dachte immer, dass sie sich alle absprechen, in der pause von der premiere: dau­ men runter, daumen hoch, eher runter meistens … naja, mir egal bin ja kein … muss ja nicht leben mit der angst vor ihrem stift / naja, stift ist so ne metapher von früher, klar / nein, sie müssen schreiben und sie können schreiben / nein, der meister ist leider nicht da, aber er hat vor­ gesorgt und vielleicht kommt er ja noch/ natürlich schicken wir ein taxi / selbe stelle, selbe welle, na klar, wie immer / in einer stunde, ja ja oh gott, jetzt wirds eng, heilige madonna schreit carlos, kommst du mal! katja schreit carlos, kommst du mal!! carlos kommt schleppenden ganges mit einer tasse kaffee carlos na, ist der alte immer noch nicht da? katja nee, du hast auch nichts gehört, carlos? hat seine zigarren nicht von der pforte abgeholt, selt­ sam … sauerbier sag mal, du hast doch das neue stück schon gelesen?

carlos ihr nicht? sauerbier klar, überflogen … überflogen hab ichs … hab aber noch was andres zu tun, oder? carlos hm … bin ich mir sicher sauerbier was brauchen wir denn noch so? ich meine bühne, kostüme, special effects? carlos ihr wollt ihn selber machen, den try out?/ das geht nicht! sauerbier ich hasse dramaturgen! carlos ich weiß! katja müssen wir … wir müssens machen, der schlapperer kommt in 50 minuten und der martin hoffentlich gleich … carlos der machts? na dann! ein glück martin, toll, der schießt ja bald durch die decke … habt ihr die kritiken aus wien gelesen? … wahnsinn … ich hab immer an ihn geglaubt … nur das neue hat eine chance … kommt er wirklich? katja glaub schon sauerbier also was … was brauchen wir … erzähl schon! carlos blättert gedankenverloren im manuskript … eine weile … dann also n paar schauspieler … sauerbier witzig! carlos panzer, maschinengewehre sauerbier schon besser carlos und … sauerbier was und, was noch … komm schon … was ist das wichtigste, fass es zusammen, am bes­ ten in einem satz … nein, in einem wort! carlos besinnt sich eine weile, dann lächelt er vulkan sauerbier was? carlos ja, ich denke, ein vulkan ist das wichtigste … ein ort, in dem alles versinkt … die zeit und der kommunismus … die wahrheit und die lüge … der feind und wir … wisst ihr … dieses wunderbare bild von ihm: dass der regen nicht fällt … nicht von oben nach unten, sondern umgekehrt. von unten nach oben. der schwarze regen, der von unten nach oben fällt … ich träume es manchmal, immer dann, wenn ich mir eine andere welt wünsche … natürlich ist das von benjamin und der wiederum hat es von dante … also aus dem purgatorium … ihr wisst schon … aber wie er das arbiträr verknüpft hat, das grenzt an … sauerbier ruft wenn ich mir eine andere welt wünschte … dann müsste ich das ja durchweg träu­ men, tags und nachts, im wachen und im schlafen katja wieso das aber zusammen … ich meine das bild und der vulkan …? carlos na, die tatsache des vulkanregens ist nun mal, dass er von unten nach oben regnet und dann erst wieder hunderte von kilometern entfernt dunkle wolken bildet, die die zeit versperren und

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stück

unsere wahrnehmung. aber auch die -ismen der herrscher und der besiegten … geschichte erzählen nun mal die sieger mit dem material und den figu­ ren der besiegten … sauerbier mh, vulkane … vulkane sind ja nicht ge­ rade stangenware … mh … scheiße …haben wir nicht ein paar berge … ja, wir haben doch noch ein paar berge vom pirandello und vom tell, der ist doch nie gebraucht worden, weil dem zadek das blattgold zu goldig war, zu bürgerlich … der wollte immer gold, aber plebejisches gold und dann ist er immer abgereist in die schweiz zum skifahren … weil das gold zu wenig plebejisch war katja ja, wir haben mindestens noch zwei pappber­ ge, na und? sauerbier na, die drehen wir einfach um und schneiden ein loch rein … versteht ihr? katja die berge einfach umdrehen? das zerstört aber die hierarchische dramaturgie und patriar­ chale heteronomie … sauerbier soll ja … carlos dramaturgisch gesehen ganz vorn, aber geht das? sauerbier muss gehen katja aber der tell ist noch nicht abgespielt! sauerbier geht schlecht, weil er ja nie rausgekom­ men ist katja war dem zadek zu bürgerlich … carlos nee, konnte keiner dialekt sprechen … also nicht richtig … ist er dann abgereist katja in die schweiz? carlos keine ahnung sauerbier ist das stück eigentlich lustig? carlos na lustig vielleicht nicht, aber welthaltig an­ gesichts des verschwindens der historie aus dem aktuellen diskurs interdisziplinärer akteure … sauerbier carlos, hallo … du hast zehn minuten zeit für eine strichfassung … carlos unmöglich … muss noch mit peymann tele­ fonieren … hat mich angerufen … katja wieso dich? sauerbier halt jetzt die schnauze … du kriegst 15 minuten … nicht länger als 15 minuten, du ver­ stehst schon, alles, was lustig ist und so sätze, die sich jemand merken kann … also, die sich der schlapperer merken kann … egal, was drinsteht, hauptsache, es klingt wie n filmtitel, ja katja so keywords, du verstehst schon carlos das ist unmöglich, nein, auf keinen fall, also ich weiß nicht, ob ich das in 15 minuten … sauerbier nun verschwinde schon, carlos … du bist doch der einzige, der sowas überhaupt kann … die anderen haben kein talent und das schlimmste: sie gehören in die bibliothek … aber nicht in ein thea­ ter … du verstehst doch als einziger, was der alte da überhaupt meint … das will doch heute gar keiner mehr wissen … so wehrmacht und panzer … also ich bitte dich … völliger quatsch, vergangenheits­ aids, sagt meine tochter. hau jetzt ab … carlos unmöglich, sorry … ich weiß wirklich nicht … martin steht in der tür freudig erregt ich mach dir ne fassung martin was? carlos na für den try out … und dann gehn wir zu­ sammen an die burg … hab schon mit peymann gesprochen heute … hab schon ne idee … hat k ­ einer aufm schirm … ich meine, wenns dir was sagt … sauerbier hau ab, carlos … bitte … carlos klar … martin, bis gleich, freu mich auf dich … geht ab

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martin ich habs gelesen … im taxi vom flughafen, es hat mich umgehauen … unglaublich. der alte hats nochmal geschafft, mein gott, sieben jahre nichts mehr geschrieben, was muss das bedeuten für einen, der gerade noch der größte europäische dramatiker war … und plötzlich … sieben jahre nichts … wie vor troja, zehn jahre windstille, die kamen nicht rein in die stadt und nicht mehr weg … die griechen … und dann so ein pferd geschnitzt wie aus einem baum … wahnsinn … sauerbier und dir gefällts wirklich? martin gefallen … das ist nicht das richtige wort … ich bin erschüttert … ich weiß nicht, ob ich es kann, aber er hat mich in der hand … ich meine, es schüt­ telt mich einfach nur … es ist wie ein beben … ver­ steht ihr mich nicht? pause katja doch, ich, ja … sauerbier ein beben … vielleicht von einem vulkan … martin sieben lange jahre und jetzt das … und jetzt das sauerbier also machst dus, oder nicht? martin wie aus einem traum erwachend was? sauerbier die einrichtung, wir brauchen nur 20 minuten … allerdings in … in 45 minuten martin wann gehts los, sauerbier? sauerbier na jetzt, martin martin die spieler wissen bescheid? katja naja, so ähnlich martin noch eine frage … katja klar … martin wo ist liander? sauerbier keine ahnung, der hats doch schon ver­ semmelt. hast du nicht den focus gelesen? martin nee, ich les keine kritiken, aber der spiegel war wohl andrer meinung? katja wer hat dir das denn …? martin meine frau katja sollte sie nicht … sollte sie niemals … ich werd sie anrufen, martin … es tut mir leid … aber wir beide kennen sie … sie kann nicht anders … sie liebt dich zu sehr … du weißt es … sauerbier also dann gehts jetzt los … martin … die warten schon auf dich martin ich weiß nicht, ich bin einfach zu müde … ich glaub, ich brech zusammen! sauerbier katja, bringst du bitte martin einen schwarzen kaffee und zwei brote mit kaviar katja auf wessen rechnung? sauerbier na das ist doch völlig egal, mach doch, was du für richtig hältst! katja dann auf deine … sauerbier katja … martin katja … gauloises mais katja gibts nicht martin dann die andern katja klar hast du ne idee … du hast doch eine … ich kenne dich doch … martin ich mach die monologe, nur die monologe: hitler, stalin, absolut zeitgleich, die größten ver­brecher der geschichte, völlig simultan, man wird nichts hö­ ren, gar nichts. nur rauschen, murmeln, malmen sauerbier du, martin, das hört sich großartig an und du, eine bitte habe ich aber martin ja? sauerbier wir haben einen vulkan besorgt, ver­ stehst du, nur für dich … für uns jetzt, aus dem die tasche fliegt, die asche meine ich!

zu katja du, du hast den doch schon abschneiden lassen, oder nicht katja mh, geh grad los, werd das kontrollieren läuft los. sauerbier hoff ich … idiot … die schmeiß ich raus … martin was? sauerbier also ist ne irre metapher vom alten, die zeit bleibt nicht stehen wie beim … wie beim wen­ ders, sondern die läuft rückwärts, von unten nach oben … hat uns der carlos erklärt … kluger junge … verstehst du? ein ausbruch ist immer eine feine sache … ein kassenknüller! so ein vulkan, das ha­ ben die nicht mal nebenan im friedrichstadtpalast! der ganze zweite akt ist auf dem vulkan aufgebaut martin woher weißt du das? sauerbier hat mir meine tochter erzählt und carlos … martin ich wollte den dritten machen sauerbier kannst du ja, dann schieben wir den zweiten nach. machen die jungen jetzt alle. kirsch­ garten, möwe, macbeth … erst mal den letzten akt … dann pause oder nicht, dann gehts von vorne los … macht keinen sinn, sieht aber modern aus … und du willst doch auch zum treffen, oder? martin völlig egal … hab da andre themen … war ich schon sauerbier pass auf, ich habs: fünf minuten mono­ loge übereinandergelegt und dann zehn minuten vulkan mit trockeneis, mit nebel, mit windmaschi­ nen, natürlich von unten nach oben. und alle scheinwerfer, die wir haben, ok? und dem schleef nehm ich sein laufband weg … für die witwen vom hitler … wenn die flüchten … dann laufen die auf der stelle … wie findest du das? martin ich weiß nicht, bisschen wilsonesk, oder? sauerbier telefoniert ja hör mal, gunter, beim ararat oder wie das ding heißt, da macht ihr mal n ordent­ liches loch rein und / wieso? wieso? weil du sonst rausfliegst / klar! und setzt da n teuer drunter / ja, n feuer / sag ich doch. bist du auch schon taub? / ja, loch reinbohren und teuer drunter machen, also feuer … das kann doch nicht … das kann doch nicht / die von der teuerwehr mach ich fertig … mach ich fertig / die penner, sieben mann … und wenn man die braucht … vier krank … zwei bei der weiter­ bildung … ja, babyschwimmen … das ist wirklich witzig, gunter … beim babyschwimmen … nee, im ernst … hilf mir mit dem ararat, ja … nee … ach was … das ist dumm … ja … ja … ok … machen wir … / ja, ich kauf den neuen wagen für die requisite, das ist ne gute idee, gunter, super, endlich mal n tipp. ruf du gleich bei mercedes an, die sponsern das / klar … haben ja auch dem hitler den wagen gestellt und der macht ja hier mit schließlich / klar, kannst du das denen so sagen … wieso nicht? … leben doch in ner demokratie … kann nicht so schwer sein / ja, mit rauch. und die asche / welche arche … welche arche? / die ist da raufgenagelt … runter damit, braucht kein mensch nicht … ilona kommt rein ilona oh martin, ich hab von deinem erfolg gehört, du übernimmst! ich freu mich so, ich hoffe, du hast eine rolle für mich … ich find das stück un­ glaublich … hab grad geheult … muss immer heu­ len wie ein schoßhund, schlosshund mein ich … martin ich weiß nicht … bin noch total müde … ich hab gestern abend das ding gestemmt … 4 einhalb stunden … quasi alleine … ilona ich weiß, martin … ich weiß … ich ja auch


fritz kater_heiner 1–4

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2 bühne

Kaserne

carlos hier die fassung, es war nicht leicht, aber jetzt ist es knackig. katja, hast du die kopien ge­ macht? katja nee … ist kaputt … der kopierer sauerbier hier der schlüssel zur intendanz, nimm den im zimmer des alten, der geht katja sieben mal? sauerbier besser zehn katja ok sauerbier sag mal spinnst du … bist du total ver­ rückt … das ist doch viel zu lang, ich hab gesagt fünf minuten carlos 20 minuten hast du gesagt sauerbier ja vorher, vor ner halben stunde … und was steht da oben drüber, das mit der handschrift, das kann doch keiner lesen … was ist das? carlos ist ein gedicht von mir … eine widmung für den meister und natürlich für euch … kommt auch in den neuen band … sauerbier wann hast du das gemacht? carlos na, eben sauerbier ich denke, du hattest keine zeit … ich dreh durch … kürzen, kürzen … katja! martin jetzt ist zu spät carlos außerdem machst du damit alles kaputt, ist ja nur noch das gerippe martin das ist absolut ideologisch, was der alte da zusammengeklaubt hat, total ideologisch … da kann man richtig auf die fresse fliegen, in der heu­ tigen zeit, dass ist nicht mehr wie bei euch, haupt­ sache gegen den staat, dann findens alle crazy, da musst du heute schon n bisschen früher aufstehen und mal nachlesen, was grade in ist, weißt du das? carlos ich glaube nicht, das sind allegorien, die der meister uns übergeben hat und die sind haltbar, haltbarer als brechts fabelkonstruktionen sauerbier mein gott, wo bleiben die denn, die ande­ ren. der schlapperer steht gleich vor der tür und hier ist noch nichts. nichts außer einer dramatur­ gischen konferenz, für die nicht einer eine müde mark zahlen würde. ich meine, macht euch das bitte klar, wenn ihr das ding heute hier versaut, dann machen die den laden wirklich zu, wies schil­ lertheater, und ihr könnt nach radebeul zum frei­ lichttheater, indianer mimen, oder nach hannover zum pornosynchron ilona bin schon da sauerbier oh ilona, wer hat dich denn eingeladen? ilona martin, wer sonst … oder soll ich wieder ge­ hen? martin? martin wie du willst, ilona

ilona was spiele ich, martin? martin gleich, gleich ilona ich glaube die geliebte von hitler martin ilona ilona ja … ah ja … eva braun, ja? aha, mit hund martin ich schau grad ilona wo wohnen wir denn, ich meine, ich mit hit­ ler? wie sieht die wolfsschanze aus? sauerbier ein vulkan ilona ok, ziemlich schräg sauerbier ja, auf dem vulkanausbruch ist alles auf­ gebaut und davor jede menge monologe ilona oh grüß dich ecke, küsschen ecke aua … nicht so doll, mein rücken, habs wieder im rücken, hab mich verhoben im garten, also vor­ sicht ilona ich nehme an, ecke ist hitler sauerbier ist der ararat jetzt abgeschnitten? katja sind dabei, sind dabei, hier ist das kostüm für ecke ilona na hör mal, das ist kein hitler, das ist n russe martin genau, ecke macht stalin, das größte mons­ ter in der geschichte der menschheit ilona ich denke hitler martin hitler kommt gleich ilona ah volka hallo katja volka, hier sind wir. der sieht wieder nichts volka hier habt ihr euch versteckt sauerbier was heißt versteckt, wir sind mitten auf der bühne volka deswegen ja, normalerweise treffen wir uns zum lesen doch nicht hier, weißte ilona wir lesen nicht, volka martin nicht nur, wir machen heute ein try out volka was für n ding? katja wir zeigen was vor, in ner halben stunde ecke hat mir niemand gesagt, kann den text ja gar nicht, unverschämtheit … was soll das? martin also geht es nicht … dann geht es eben nicht … machts gut … ich danke euch, dass ihr trotz aller umstände gekommen seid … aber man muss auch niederlagen miteinander teilen können und ich wüsste niemanden, mit dem ich das lieber täte als mit euch, freunde katja was macht denn der liander in der kantine? martin was, der ist in der kantine? sauerbier keine ahnung, vielleicht trifft der jemanden ilona sieht verdammt gut aus, ist wahnsinnig fotogen martin das stimmt ilona du auch und du bist noch jünger! martin ist mir egal … hab andere themen, an denen ich dran bin katja hier die texte

sauerbier danke, und den schlüssel? katja klar, hier … herr intendant sauerbier viel zu viel text ecke kann ich gar nicht lesen katja warum? ecke ist zu klein, viel zu klein katja dann geh ich nochmal, gib mir den schlüssel sauerbier nee, hier ecke, nimm meine lesebrille, damit gehts ecke dann kannst du ja nicht … sauerbier hab schon, mir reichts … kann ja kein russisch ilona wieso russisch? katja war n witz … seine art von … guck mal, was der abgeschnittene berg macht, ihr habt noch 20 minuten, ist klar, ja? … dann komm ich mit dem schlapperer volka lacht der riediger, der riediger ist ein selbstbe­ friedi- … also dann bin ich wohl hitler und du die drei witwen von brecht, ilona ilona nee, ich bin eva braun mit hund volka ist doch gestrichen, denk ich, bei mir ists ge­ strichen … bei dir nicht … versteh ich nicht. ist nur noch der monolog und du allein, chorisch die drei witwen von brecht, siehst du das nicht? … schau mal bei mir ilona klar, klar, bin ja nicht total … ecke der stalin hat sich ja versteckt, die ersten zwei wochen, als der krieg losging. das find ich einfach wahnsinn. stellt euch das vor, da bist du der zar vom größten land der erde, ein sechstel von der ganzen welt, und du hast schon gute sechs millio­ nen leute umgebracht und dann kommen die deut­ schen und siegen und siegen und der boss vom ganzen versteckt sich martin das ist doch eine großartige idee. du könn­ test dich verstecken und aus dem versteck, den wechselnden verstecken, probierst du mal den text ecke gehen denn die versenkungen? katja na klar, warum nicht? ecke letzte woche noch verboten, wegen dem un­ fall von der soubrette ilona welche soubrette? ecke gibts nicht mehr, ist weg jetzt, sitzt in der kan­ tine mit liander, hat jetzt nen neuen job, eher nachts ilona diese kuh und liander ecke mein gott, warst doch auch mal jung, ist zwar lange her … aber kann mich noch dran erinnern … gut sogar … nun hab dich doch nicht so ilona vergiss es und fass mich nicht wieder an, ja … ecke nur, wenn ers mir befiehlt. hab genug altes leder zu hause … katja, versteck doch mal in allen versenkungen ein paar texte, kleb sie da einfach an,

5.2. Corinne Maier Anfangen – Bericht über eine Recherche

20.2. Macht und Verwundbarkeit V Propagandagespräche von Boris Nikitin mit Abt Peter von Sury

10.2.–14.2. helium x Das grosse Drama

21.2. Modeselektor – Live Tour 2019

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stück

ich improvisiere dann sowieso. aber ich brauche noch eine rote fahne oder besser eine fackel katja ist verboten … von der feuerwehr ecke die ist doch nie da katja deswegen ja ecke dann eben elektrofackel katja besorg ich, versprochen ilona und ich bleib vorn auf dem laufband, ich fahr einfach von links nach rechts und wieder zurück und dann wechsel ich die kostüme von den drei witwen und dann bring ich immer das buch mit von dem brecht, wo er grad was bei einer seiner witwen abgeschrieben hat und da kann ich ja laut was zitieren draus. geht das, martin, was meinst du? martin keine ahnung, vielleicht n bisschen zu direkt, aber uns bleibt wohl nichts übrig volka ich versteh gar nichts, was soll denn das sein, das ist doch gar kein stück, das sind doch nur lauter holzkameraden, die da rumrutschen und so zitate von sich geben. das ist doch eher ne geisterbahn als ein stück … ich meine, wen interessiert denn thälmann und walter ulbricht … habt ihr denn da gar nichts sinnliches erlebt im osten, ich meine ihr hattet doch fkk angeblich und frauentagsfeiern und so … und wo sind überhaupt die dialoge? also für mich ist theater gute dialoge, da fängts an und da hörts auf … ich weiß nicht, das ist doch alles pappe, pappe, pappe carlos die dialoge, die hab ich doch gestrichen volka meine auch? carlos guck doch mal hier und hier und hier volka also, da bleibt ja nur noch hitler übrig, nur noch hitler … ach so, das bin ja ich … martin genau, volka, eigentlich ist das da 20. jahr­ hundert … eine allegorie … nur noch stalin und hitler und ein paar witwen. und hitler ist ein geist in seiner eigenen geisterbahn, monologe haltend, wie ein radio, das nur noch in eine richtung spricht. wie die deutsche bank, die werbung und e-mails verschickt. und nur noch in eine richtung, in rich­ tung konsument, das ist die warenwelt, im prinzip wie es hier steht: text absondernd wie sprechblasen über der stadt volka wieso über der stadt? martin keine ahnung, carlos, wieso über der stadt? carlos der meister wohnte ganz oben, in friedrichs­ felde, 14. stock. du konntest durch die betonspalte vom neubaudach nachts in den himmel sehen … in die sterne … in die zukunft martin krass ilona krass und poetisch zugleich sauerbier ich würde sagen, miserabel gebaut … und was hat er bei regen gemacht? … zu seiner ge­ liebten abgehauen … nach bulgarien … oder zur stasi carlos was ist denn mit dir los? bist du völlig be­ kloppt. ich gehe gleich … sauerbier sorry, war n ausrutscher, bin wieder da, bin wieder oben volka also muss ich nach oben, hätte immer ge­ dacht, hitler ist unten im bunker, im teppich, ein­ gerollt vorm anzünden, in der wolfsschanze carlos eben nicht, er ist oben, ganz oben, kurz vor dem absturz martin wie jason, dem sein schiff, die arche … auf den kopf fällt carlos die argo martin sag ich ja … wo ihm dann ganz oben die argo auf den kopf fällt … das schiff oben auf dem berg

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ilona dem vulkan martin als er es endlich erreicht hat, ganz oben auf dem berg. die tragödie des eroberers, jeder sieg ist eine niederlage im prinzip, volka … sauerbier telefoniert gunter / ja, die argo bitte oben dranlassen … nicht abbauen / welche arche? / na das ding da, der pappmaché­ kahn / arche? / ja, nee, genau, die dranlassen, nicht abbauen / schnauze, einfach wieder dranmontieren / ja, danke … bist n schatz volka gut, nur die schuhe, die hitlerschuhe, die pas­ sen nicht. sind mir zu klein, kann ich nicht meine anlassen martin nein, auf keinen fall, ausgeschlossen volka gut, dann steig ich aus sauerbier wieso … martin … wieso … das finde ich gut, das bringt eine persönliche note rein, martin, ich bitte dich … auf knien, wenn dus brauchst … auch finanziell … martin ist nicht mein interesse sauerbier ich schau mal nach m vulkan … sauerbier ab. ilona ziemlich persönlich, martin martin ja, ich sehs ein … entschuldige, volka, etwas, was nur du hast, was du niemandem überlassen kannst, dein gang um den berg, oben wartend auf die katastrophe, jeden augenblick prüfend mit dei­ nem schuh, fuß, fleisch, die welt … volka mh, schon gut, martin, ich weiß ja, ist deine erste inszenierung, aber macht nichts. wir ziehen das hier durch, zusammen, kein ding, ich mag dich … wirklich martin sitzt der liander immer noch im casino? katja klar, der wartet, bis du scheiterst, und dann lässt der sich bitten von sauerbier martin so ein arschloch katja ja, ist er, aber würd ich auch so machen, ist unsere letzte chance, sonst machen sie den laden zu martin und wie findest dus bis jetzt? katja so ok, aber noch nicht groß martin klar, zu dritt geht das auch nicht, da fehlt noch was, die historie, die weltgeschichte, sklaven, proletarier, soldaten, kanonenfutter … der rest eben, aber wir haben keine Leute mehr … ver­ dammt … so ein deutscher zwergenladen … keine größe … eben nicht die burg … katja na, wir haben noch die studenten im casino, weißt du, die immer marschieren üben für die wo­ lokolamsker chaussee martin das ist es! hol die, ich bring denen die bewe­ gung vom arturo ui bei und dann machen die die und dann verfremden die die und dann sterben die

schubst hast … die hier abgestürzt ist letzte woche, aber die hat noch was am bein angeblich und da hat sie mich runtergebeten in die kantine … nicht grad viel los hier bei euch, mh … martin keine ahnung, wovon du sprichst liander ich, also, ich sitz da so und dann kommt so ne ältere dame rein und sagt: hier ist der hund für eva braun, also, können sie den mal hochbringen, scheint ganz eilig zu sein. sie sind doch vom thea­ ter, oder? ist doch ein irrer auftritt, das kann ich kaum glauben. also, hier ist er, der hund von eva braun, lieber junger kollege carlos gibts nicht bei uns, die ist gestrichen … also die braun eva liander nein, nein, oh gott, was? … wie dämlich ist das denn, hilfe … also wirklich, entschuldigung! aber das geht doch nicht, martin, lass dir doch nicht deine inszenierung kaputtmachen. ich bitte dich … was sind denn das für laien hier um dich herum … dilettanten, stümper, blutige anfänger, sag mal! scheiß, scheiße! ihr habt die gestrichen die eva braun? … das ist doch schon allein ein stück für sich. mein gott … das ist ein großer fehler. das war in meiner inszenierung der große bringer martin kann ich mir vorstellen, hab ich gelesen … im focus stille liander also, wer hat den köter hier bestellt? … ich muss los … muss noch zu peymann … der hat mich eingeladen … immer dasselbe … ein erfolg und alle stehen schlange … also zum letzten mal … wer hat den köter bestellt? carlos keine ahnung martin schreit ilona! katja schreit ilona! … wo ist die denn? ilona kommt geschminkt, minirock, zehn jahre jüngeres outfit ohh, liander, du siehst ja fabelhaft aus … was machst du hier, spielst du mit oder über­ nimmst du von martin? ich würd gern die eva braun machen, den hund hab ich schon besorgt, der kommt gleich liander der ist schon da, mein schatz … hier ist er ilona hab ich mir ganz anders vorgestellt, aber wenn du ihn mir … carlos das gibts doch nicht martin hast du den hund oder den hund und lian­ der bestellt? liander also ich seh schon, ihr habt noch was zu klären. ich bind den hund hier mal fest und wenn ihr mich braucht, meldet ihr euch einfach, tschö auftritt schlapperer

pause und dann stehen die wieder auf und dann machen die das immer weiter und dann ist das wie eine uhr, wie ein zirkel, wie die weltgeschichte und das ver­ teilen wir dann um die welt, um den vulkan, um die gräber und die wiederholen dann jeden sechs­ ten satz so schleefmäßig, nehmen anteil am gan­ zen und doch nicht. sterben, werden wiedergebo­ ren, krepieren erneut, die alte maschine, es gibt nur die alten fragen und die alten antworten carlos beckett martin keine ahnung, ist nicht meine frage liander tritt auf mit hund hallo martin! martin hallo liander! was machst du denn hier? liander nur so, keine angst, bin mit der kleinen sängerin verabredet, die du von der bühne ge­

martin oh, herr schlapperer liander oh, herr schlapperer … was machen sie denn hier schlapperer mhm, so n try out, idiotische erfin­ dung, aber irgendwie müssen wir den laden ja ret­ ten. sonst machen sie noch n theater zu … haben sie auch geholfen, liander? liander nur mit dem köter. ich bin quasi hundeführer schlapperer na, wenigstens was … uraufführungen können se ja gar nicht liander gibts auch andere meinungen dazu schlapperer kenn ich nicht liander spiegel lesen sie nicht? schlapperer schau ich schon lang nicht mehr rein ilona besser so


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schlapperer wie war ihr name, gnädigste? katja vorsicht, vorsicht, der berg kommt, der berg, aufpassen ein riesiger lodernder vulkan kommt von der hinterbühne in langsamem tempo nach vorn gefahren, die klingel des eisernen geht in die musik eines streichorchesters über, der vulkan speit feuer, feuerwerkskörper, in der luft schwarzer regen von windmaschinen nach oben geblasen, auf dem vulkan hitler. unten in den versenkungen stalin, um den berg herum sklaven, soldaten, bauern und arbeiter, choreografisch den arturo ui nachahmend bis zum umfallen, das ganze geht etwa fünf minuten, dann stopp licht im saal, heiner tritt auf black

heiner 4 abschied ein kabel lag quer im parkett und verschwand ir­ gendwohin irgendwohin unter ein rotes tape über diesem tape die auflösung ein winziges lämpchen an einem tisch festgeklemmt wie eine boje aus ­metall / kleines gelbes licht absondernd das auf ein a4-blatt fiel auf dem mit kugelschreiber symbole zeichnungen und schraffuren angeordnet waren und nur eine wortgruppe zu lesen war noch mal daneben eine kaffeetasse die mehr stücke szenen ausbrüche und türenschlagen erlebt hatte als jeder hier / niemand konnte sich sofort an das dunkel gewöhnen jeder brauchte seine zeit aber dann wuchs das was man sah wie die tiefe des waldes / auf der bühne nur notlicht man konnte einen an­ gedeuteten berg erkennen der irgendwo oben ab­ geschnitten war wie ein zuckerhut nach der bowle / stellwände kulissen und ein paar löcher versen­ kungen die mit absperrband und schildchen ge­ schützt waren / eine maschinenpistole zwei paar stiefel schwere uniformmäntel und eine hitlermaske aus gummi warteten auf die wiederaufnahme der probe / aber noch war nichts zu hören als das knacken der berieselungsanlage die alle 30 sekunden kurz vor sich hin sprühte / jemand hatte sie angestellt vielleicht wegen der schwüle im raum oder einfach aus versehen / anscheinend war gerade pause und die schauspieler in der kantine / die ereignisse der letzten monate machten sich bemerkbar ich fühlte mich zerschlagen und hatte dauernd den wunsch mich hinzusetzen oder lange und möglichst unbe­ weglich irgendwo anzuhalten / unter dem schirm des lämpchens ballte sich dichter rauch wurde in den schirm hineingesogen und verschwand ir­

gendwo oben / meine gedanken kreisten nur um eines um mein stück / es füllte meine ganze zeit aus / sogar meine träume ich träumte dauernd dass es vor einem riesigen prospekt aufgeführt wurde / dass es abgesetzt wurde / dass es ein un­ fassbarer misserfolg / dass es ein erfolg gewesen war / im letzten fall so erinnere ich mich wurde das stück auf einem riesigen kriegsschiff gespielt / alle darsteller waren matrosen und sangen herrli­ che lieder / jemand gab dem autor eine laterne und er lief schwankend über die metallenen planken des schiffes unten war aber kein meer sondern ein prächtiger obstgarten in dem alles blühte und die zuschauer bei bier und eisbein johlten und applau­ dierten / im anderen fall also immer dann wenn mein stück durchfiel und das war deutlich öfter spielte das stück auf einer festung mit pappmaché­ mauern / der graf von monte christo beschwerte sich bei mir wieso ich die texte von dumas verändert hätte er würde sie seit 23 jahren spielen und hatte noch immer damit erfolg gehabt jedenfalls mehr als mit meinen ungehobelten versen / dann wieder lief eine soubrette auf die bühne deren mann ein junger dünner grufti aus leipzig immerzu ihren hustensaft in die höhe hielt / nicht ohne dabei so laut zu stöh­ nen dass seine gepiercten lippen sich im weißen gesicht aufwarfen / nun begriff ich dass ich zu spät zur generalprobe gekommen war „rüdiger schalt mal das licht ein“ ein kleiner gelber fleck wanderte langsam von der proszeniumsloge in die mitte der bühne traf auf eine abgeblätterte aufschrift „väter und söhne“ um dann über den an­ gedeuteten abgeschnittenen berg in eines der löcher auf dem boden zu versinken / aus diesem loch stieg nach einiger zeit ein herr der requisite mit mehreren falschen pistolen die er gleichmäßig um das loch herum verteilte um flugs wieder zu ver­ schwinden wie er gekommen war / es war heiß hier drin anders als draußen lag die luft auf den knien / schon hunderte male hatten diese leute sich geschminkt sich verwandelt sich verausgabt / sie waren wohl müde geworden durch diese lange saison / aber mein stück lag noch vor ihnen es war­ tete darauf aus der taufe gehoben zu werden wie man so schön sagt / „ich bitte mich nicht anzu­ schreien“ sagte schall plötzlich ganz leise / „dein schreien macht mich nur müde verstehst du mar­ tin“ volker zog ein riesiges weißkariertes taschen­ tuch aus seiner hose / hitler-volker gab stalin-schall sein taschentuch damit er sich seine wirklichen tränen aus dem altmännergesicht wischen konnte wegen seiner rückenschmerzen / stalin rotzte hin­ ein und gab den stofffetzen an hitler zurück „dan­ ke volker“ – „keine ursache ich kenne das“ antwor­

tete hitler / ich verzog mich / ich hatte genug gesehen / niemand würde das stück mögen / viel­ leicht in 20 jahren / vielleicht / ich ging einfach langsam rückwärts raus reihe für reihe stuhl für stuhl mich festhaltend im krebsgang / ich würde rübergehen zur kasse und mir einen abschlag ho­ len / einen vorschuss auf mein stück wie es schleef jeden abend gemacht hatte / und dann dann würde ich in die dreckige schreiende stinkende stadt ge­ hen und mir eine wurst kaufen mit senf und curry und dann an meine lieblingsszene denken / die in der liebknecht erschossen wird er in den mond schaut und die spree einfach weiterfließt ja / wer an die revolution glaubt muss dafür sorgen dass im körper enthusiasmus ist / überall möwen / öf­ fentliche radiotrichter arbeiteten laut gegen den schneesturm / dabei war die werbung nun fast nur noch bildlich kaum noch akustisch / mir schien das leben gut wenn nur die bäume raschelten wenn nur die blasmusik nicht anhielte / da am an­ deren ufer der spree vor der s-bahn ein stück zu­ kunft/ wie meine tochter eine / ein sonniges ge­ schöpf mit frischem leben gefüllt / ich laufe zu ihr da sie ohne aufsicht ohne mutter scheint / „wie weit weg ist der mond?“ fragt sie / ich habe alles schon vergessen muss noch einmal von vorn / „lass uns zum friedrichshain wandern“ schlägt sie vor „da ist pressefest“ / da gibt es auch zuckerwatte / jedenfalls früher / „und deine mutter?“ / „ich kenne keine farben in meiner heimat nur grau“ / der bus trägt uns vorbei am alex wo ich die silberne kugel des fernsehturms einst liegen sah neben der kirche genauso groß wie das heilige haus selber / und dann die vielen jungen leute aus aller herren welt / die frauen gingen langsam trotz ihrer jugend so vergnügt mit dem bier in einer hand und dem handy in der anderen / wahrscheinlich erwarteten sie einen sternenabend genau wie die kleine / ihre turnschuhe traten mit der kraft der gier und die blauen bilder auf den beinen und dem bauch sagten was dazu / sind eine bibliothek der zukunft mit namen und mit daten / also wird es eine zukunft geben also fuhren wir weiter / „du väterchen sorg dich nicht zu leben / all deine aufgaben will ich um mich arrondieren bis zur schmerzgrenze“/ draußen sprachen geprintete worte zu uns / das investment in berlin die rendite in münchen / stararchitekt unverwechselbare ein­ malige wasserlage mitten an der spree sundecks auf dem dach concierge smart home e-mobility ab 199.000 provisionsfrei / „all dies eingefallene le­ ben“ flüsterte ich ohne zu atmen / „wenn sogar die klasse stirbt na und dann bleibe ich allein und ma­ che ihre ganze aufgabe allein“ raunte sie in die

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stück

scheibe des hunderterbusses / „hier an den ufern der zeit wo die gepiercten tauben und die anderen rumscheißen will ich mich für dich stark ma­ chen“/ „na hervorragend“ sagte ich und schaute über ihr blondes haar das im wind zitterte aber hängenblieb / „natürlich war sie geflüchtet“ dachte ich aber woher ahnte ich nicht / „wozu warst du denn da“ / „nicht da zu sein davor hatte ich angst und da schrieb ich was auf was ich fand auf meinem weg“ / „wem kommt die wahrheit zu“ / „na dir der jugend wem denn sonst / „was soll die frage“ / die saatkrä­ hen kommen sowieso wieder wie weit sie in der ferne auch suchen / jetzt lag ein ausdruck der fremdheit in meinem gesicht und ich fragte das mädchen ob sie etwas dagegen hätte das kranken­ haus zu besuchen / es lag am rande des hains und hier hatte ich schon als kind öfter die zeit totge­ schlagen zum beispiel mit rostigen nägeln im fuß bei denen es dann immer vom arzt her hieß „ach das ist der junge mit der beinamputation“ / nicht lustig fand ich diesen witz damals und auch jetzt nicht / sie lachte als ich es zum zweiten mal er­ zählte und sies verstand verstand auch dass ich hier eine ärztin kennengelernt hatte die dr. neun­ malklug hieß und es auch wirklich war auf der kin­ derstation auf der der jüngste geboren wurde / viele jahre davor ging ich mit kathrin mit der ich zuerst zusammen war ihre schwester tina besu­ chen als sie ein neues geboren hatte und dann 4 oder 6 jahre später mit tina mit der ich dann ver­ liebt war wieder hierher / „weshalb bist du hier“ fragte sie mich / „weil es mein leben war ich bin halt losgelaufen und da und da angelangt“/ „eher angestoßen / lebst du vergessen / lass uns schauen / dir ist egal wie du lebst wenn du nur nicht stirbst“/ „nein so ist es nicht mehr / mein leben am rande der mongolischen steppe hat ja bald einen aus­ gang einen nachtportier“ / immer noch war die feuchtigkeit um uns und die kälte die mir lieber war als alle hitze und der staub des südens / „einen kaffee brauchst du“ / „können wir nicht gleich zum kiosk eine curry“ / desorganisation prangere ich an / „wo geht ihr hin“ fragte ein junger mann im rollstuhl die kraft der eigenen initiative zügelnd / „christus lief allein“ sagte die blonde /„ ursache un­ bekannt / wir nicht“/ und das war endgültig / und so schritten wir gemeinsam / ab drei ist man eine gruppe / ich erinnerte das ende der sechziger sei als die neunziger noch einmal aufgetaucht / das ende des chillens bei büchsenbier unter neubau­

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ten am leninplatz der kein denkmal mehr hatte aber immer noch billige plattenbauten / extrem nah am zentrum von denen keiner ahnte dass sie in 15 jahren ein vermögen wert werden würden und marzahn ein in-bezirk für künstler aus norway und den spanischsprechenden hemisphären / opi­ umsüchtige waren wenigstens sauber und zogen sich gern gut an vermerkte einst benn / „lebens­ sehnsucht und sucht die beiden dinge haben dich bestimmt“ flüsterte die junge blüte in ihre wald­ meisterbrause ohne abzusetzen / dabei schauten ihre blauen augen richtung entfernung und zuck­ ten kurz / denn da kam ein berliner bär mit krone auf dem fußgängersteig als eine komplette ich-ag herangehumpelt / sein fell war eher grau als braun aber er fror keineswegs konnte nicht frieren bei der ganzkörperbehaarung / hinter ihm und an den sei­ ten pferde / woher / vielleicht von der polizei oder vom verein machten hier und da halt rissen die pappen mit den alten würsten aus den städtischen betoneimern aus der vorzeit / dann waren sie doch lieber vegetarier oder veganer brauchten ziemlich lange unter dem schneematsch ihren salat zusam­ menzukauen / wieherten fraßen die eine oder an­ dere abgefallene gurkenscheibe oder sowas / jedes tier nahm die größtmögliche futterportion und machte dann kehrt / weiter weiter bis hinein in die u-bahneingänge wo es dann gemeinsam weiter­ ging als gruppe oder rudel oder eben herde / unter­ irdisch / in den röhren unter der stadt / nicht als passagiere der gelben waggons / sondern selber rennend / rennend / und den gesamten unterirdi­ schen verkehr blockierend / bis hin weit nach os­ ten / zurück vielleicht in die steppe / dann aber doch anhaltend und aufsteigend aus dem dunkel / nach friedrichsfelde hin / zum tierpark / wo die anderen lebewesen wohnten / weit draußen wo die straßen noch keine namen hatten aber schon nummern zum sich nicht verirren / „schmeckts“ fragte die kleine göre den gehandicapten / „wo das leben selbst eine entziehungskur ist gedeiht der boden der sucht“ antwortete er und stürzte den jä­ germeister herunter auf seine art / „und wenn du das atmen vergisst“ / „dann ist schluss auch kein ding“ / „heul doch“ / „hab ich schon“ / „mit mir ist die sonne des lebens aufgegangen und die sticht euch wohl in die augen was“ lachte sie / nebenan im pavillon aus sperrholz müssen zwei zwillinge auf den schoß vom berliner bär / dann blitzt es ihnen die augen weg wie ein atomunfall und sie sind ver­ ewigt vereinigt / mit bär und sich / und oma be­ zahlt kein ding / gegenüber da hinter der mauer der kirche brann­ ten viele kerzen / innen als wir dagegen waren das gesamte innere der kirche nicht gerade erleuchtet aber heller geworden / damals während der blues dröhnte aus mittelschlechten boxen / jeder wollte dabei sein und dagegen / jetzt wuchs dort verges­ senheitsgras himmelhoch nur n paar spatzen / und tote luft das gebäude stand leer bis auf einmal im jahr wenn kirchentag war und hässliche hässli­ che menschen aus der sogenannten provinz ange­ karrt kamen mit gelben t-shirts und grauen haaren zu zöpfen modelliert / ices ausverkauft bis auf die erste klasse ausverkauft wenn auch noch pokalfi­ nale war / keine bäuerin mehr in andacht gebogen nur geknickte leberblümchen sich hinter ord­ nungswidrig urinierenden touristen aus aller welt aufbäumend / obwohl ich dieses aus aller welt / wie es so schön heißt / schon immer bezweifelte / aber hier nicht diskutieren möchte

die kesse blondine stiefelte vergnügt hoch / sie wollte hoch auf den berg / wie alle jungen dinger unbedingt hoch wollten / immer schon / auf den sogenannten trümmerberg den höheren der zwei hügel im friedrichshain / den ungleichen brüsten meines friedrichhains meines heimatparks / ich keuchend hinterherschiebend den jüngeren ver­ sehrten im krüppelwagen ohne motor keuchend aber nicht nachlassend / überall saßen noch jünge­ re gutverdienende mit schlachtvieh im mund oder veganes wie die abgereisten pferde eben / oben war noch mehr wind und glitzer irgendwoher und so licht im himmel rot grün gelb von den kleinen friedlichen flugobjekten die wohl welche unweit ohne kosten zu scheuen etwas angeberisch für alle sichtbar in den himmel gejagt hatten / und deren farben wie blütenblätter dort im himmel von den kleinen lustraketen abgesprungen und auf das himmelszelt getupft für wenige sekunden wie glo­ ckentöne zu bewundern waren / alles aaahhhte und auch oohhte / die paare küssten sich hier weil sie etwas erlebt hatten den aufstieg nämlich und machten fotos von sich oder küssten sich noch ein­ mal oder machten fotos vom fotomachen oder vom küssen / wir küssten uns nicht weil wir drei ja kei­ ne paare waren / die kleine hub zu einer rede an / sie zeigte auf das oben / da war eine lichterkette und die zeigte wirklich an wo der himmel begann und die kleine glühte vor freude wie eine weitere lampe / „da ist sie die exakt genaue kurve der zu­ künftgen uns erwartenden welt könnt ihr es nicht sehen“ / wir sahen es aber nicht und fühlten es nur ein wenig leider / „ist es euch jetzt besser“ fragte sie / „gleich“ sagte der mann im stuhl und kippte im fa­ radayschen bogen die entweihte viertelliterflasche schnaps mit großem schwung in das tal fast wie ein ausdruckstänzer der moderne / wir sahen von hier oben aufs nahe viertel / die arbeitsplätze als wohnräume / glamourlofts wie in melbourne nur jetzt hier / modemanufakturen und intelligente minimalismusappartments mit work-life-balanceautos die aus der zukunft kamen ganz ohne staub / von hier konnte man sehen wie ein gursky ent­ steht oder business am bosporus / die kreative klasse vereint beruf und leben an einem ort wie das bestens geht zeigt ein malerstar aus gent auf der bühne meiner jugend / „nun ein globaler cam­ pus“ / „die nachbarn hielten uns am anfang für eine sekte weil hier so viele junge leute auftauch­ ten“ / „junge künstler wirken bei uns klassisch und die klassischen jung“ / es werde nacht / von hier oben sahen wir die stadt berlin / und die sonne glühte schon ein wenig orangerot dazu / als hätte sie lust zum zittern und zum untergehen da schrie das mädchen vor glück / unten hatte anscheinend die kapelle vom pressefest oder wie es auch immer jetzt hieß losgeschmettert / ein jeder mitarbeiter des imperialismus wollte dabei sein / auch wenn einige es vorzogen runterzulatschen aber dann überhaupt nicht tanzten oder fürderhin lässig nur an der seite standen die fitnessmuskeln auf dem stehtisch abgelegt / die schalltrichter brüllten schon ganz ordentlich den bossa nova der schuld daran war was nun passieren würde / es passierten erst einmal mehrere maskuline albaner die mit dem nachtzug hergefahren waren / sie machten schmuck aus leder für den arm und auch das steh­ len beherrschten sie / eine junge dame aus der südlichsten ukraine hatte sie gefragt warum sie nicht ryanair von tirana für 18 euro nach schöne­


fritz kater_heiner 1–4

/ TdZ  Februar 2019  /

feld nehmen würden darauf antworteten sie uniso­ no: „ich besorgs dir auch so“ / als die musik wech­ selte / tango war nun nicht mehr in / begannen viele mit den knochen und rümpfen exakt zu arbei­ ten ohne sich dabei zu sehr zu überanstrengen / es sollte ein bild nach innen und außen abgeben / die gäste warfen jetzt endgültig ihre freitag- und ande­ ren taschen ab und riefen örtliche und italienische mädchen herbei / um zur eigenen beköstigung mit blicken küssen zu können / die meist schwarzen trichter aus denen immer größere und schnellere klangwellen flutschten wühlten das abendliche le­ ben immer mehr auf und da und da standen noch zwei sich wohl vergessen habende pferde und blickten ziemlich neugierig auf die bewegungs­ künstler / hier und da auf diesem dreckigen mat­ schigen teilweise gelbgepissten berliner schnee stampften die johlenden und dem himmel schlug menschliches glück entgegen / alles war hier plötz­ lich möglich oder nicht „nicht alles alles“ sagte der gelähmte im gelähmtenwagen neben mir / „ver­ giss es“ sagte die kleine zu ihm „vergiss was du dir wünschst dann wird es wahr“ / „ist sie jungfrau oder hexe“ fragte er mich / „natürlich beides“ / „reib dir die hände kleines sonst wirst du frieren“ / „spürst du was großer“ fragte ich den sitzenden / „ich spüre alles nur nicht mich“ / „möchtest auch hopsen was“ / jemand stieß mich an gläser schep­ perten berliner kindl lief über meinen gelähmten freund zwei gläser lang leer / er schrie „scheiße ihr arschlöcher fickt euch doch“ / was sie garantiert auch tun würden aber noch war es nicht so weit / noch sang aretha franklin: „in the morning when i wake up / i will make my make up / a little prayer for you / to live without you / would only mean heartbreak for me“ / und ich sagte mir „ich will nie wieder so alt werden“ / „and i will walk and talk / in gardens all wet with rain … / that i never feel the pain” / den rumpf gebeugt nass wie gerade begos­ sen starrte mein freund in die angebrochene amb­ rosische nacht / er versuchte den italo-girls nicht auf den arsch zu schauen / er rauchte eine zweifel­ los krebsgenerierende camel mit filter um zu ent­ spannen / die kleine brachte ihm papierhandtü­ cher und rubbelte seine biertriefenden haare ab so dass fetzen grauen ökozellstoffs an seiner schläfe klebten / „naja“ sagte er „danke“ / der mond hatte sich schon weithin tiefer gelegt / die stadt stand in schwarzem schatten / wir bewegten uns weg vom swing / natürlich hätten wir gerne alle drei getanzt aber wir waren nun mal nicht an der reihe wie es schien / der sound knallte in unseren rücken / vor­ ne war es aber schon stockstumm in der ferne musste der fluss glänzen / der eingedickte wasser­ lauf mit den kleinen spielzeugeisplatten die sich gerade mal so heute oder gestern gebildet hatten / „immer wenn ich meine augen schließe sehe ich sie / es gibt kein mittel gegen erinnerung“ / „freu dich doch dass sie dir die memories nicht auch noch weggenommen haben wie deine beine“ sagte die kleine / „solln sie doch ist mir latte“ / plötzlich wurde ich gesprächig und vermeldete dass ich im gegensatz zum sitzenden der anscheinend früh das große glück gehabt und es dann auf abenteuer­ liche weise verloren ich das meinige erst sehr spät errungen hatte und nun aus krankheitsgründen leider auch ziemlich flott abberufen werden würde und was denn da besser sei / „na du trottel du bist natürlich besser dran / hast die ganze zeit rumge­ macht ohne was zu merken und krönst das alter mit liebe / ich hab alles früh verloren also so ein­

fach ist das du penner“ / die kleine schwang sich zum richter unseres kleinen disputes auf und be­ merkte freundlich „einmal tot kann man alles ver­ lieren auch die erinnerung auch das flüchtende glück also genießt genossen genießt auch die fins­ teren sterne bei denen das kupfer ganz innen liegt können träumen / genießt genossen denn der ur­ sprung der gefühle bleibt ein ort des lebens auch wenn die bäche verstopft sind die füße ab die zeit fast vorbei und so lange es tage sind sind es glück­ liche tage“ / „wo sie recht hat“ stammelte der andere / „und was ist deine liebe für eine väterchen“ fragte das luder mit fackeln in den augen / mir blieb nur zu antworten übrig: „sie stand mit verwaschenem t-shirt und sneakers in meiner lesehütte ihre augen sahen den verdienten ingenieur der worte mit zu­ neigung an / vielleicht weil ihr die kraft der worte und ihre setzung und das wissen dahinter unver­ ständlich und unerhört schienen / sie willigte ein bei mir zu sein und ich schickte sie nicht weg ich liederliche person / mir ergrautem und unbekann­ tem hatte sie zugesagt für mich zu gebären und täglich von mir geküsst zu werden / die junge frau wusste noch nicht ob der wortschnitzer mit ihr gehen würde / da ging sie einfach voraus / zog ihr t-shirt aus und ließ die höschen an die ihn an gardinen erinnerten / nichts war ihr die jugend nichts an­ scheinend ihr glück und er spürte nur das sausen der organe / nichts konnte er verstehen warum nur warum / die frau schlief dann ruhig wie ein tier / er sagte: „was auch immer du tust ist immer ist es besser als es je getan wurde / sprichst du meine liebste wünschte ich du würdest immer sprechen / und singst du wollt ich das du immer singest / auch wenn du kaufst oder verkaufst / und wenn du tanzt wünscht ich du wärst eine welle im meer so dass du tanzen könntest immer und immer und immer nur das was du tust / so einzigartig alles was du nur du einzigartig tust / jeden hauch einer sekunde du goldest goldene / mein stern meine sonne mein alles / leg deine hand auf mein herz und fliege / die nacht kommt am ende doch“ /// bei den letzten worten war die kleine in den brun­ nen am strausberger platz gestiegen / er führte kein wasser nur zerbrochene bierflaschen lagen hier glas um glas harte scherben kalt und silvester­ knaller von einst / sie stieg in ein imaginiertes meer / sie war eine schaumgeborene eine zwölfoder dreizehnjährige / vom alexanderplatz / punk will never die / welcher vater träumte heute von ihr in welch einem detmold oder darmstadt / vielleicht zählte sie die tage vielleicht fragte sie sich wann das leben beginnt / der falsche berliner bär kam vorbeigelaufen er hielt seinen kopf unter dem arm und trug brille er brachte sich nach hause zu den altstoffen / wohin sonst / es ging auf nacht zu / „wohin“ / „zur spree“ / und da waren wir besoffen und müde drei heilige könige an der jannowitz­ brücke / selbst der späti war schon verrammelt / „und was machen wir jetzt“ rief die kleine eine flasche zerschmetternd / der falsche bär war verschwun­ den wie er gekommen war / „und wie leben wir alter“ sagte sie zu mir / „warum will ich allein und frei sein wieso halte ich es nirgendwo aus / wieso tut ihr nichts / wieso“ / sie nahm eine scherbe und schlitzte sich in den arm eine vokabel entstand / und dann / sie versuchte in den fluss zu springen den eiskalten fluss mit den winzigen blöden eis­ platten drin / ich rannte / ich hielt sie / ich war wütend / ich schlug sie hart dann verband ich sie mit meinem hemd wie ich es in movies gesehen

hatte / der junge mann im rollstuhl fand tränen an seinem gesicht angebracht / heiße graupel auf kal­ tem grund / der rief: „ich bin doch noch so jung“ / dann schrie er: „was ich doch schon alles erleben durfte / ich hab furchtbar angst vorm tod / auch wenn es manchmal öde ist bin ich froh dabei zu sein / ich hab nix und niemand aber ein paar leute die ich kenne / und zwischen all dem sturm und regen / ist doch immer was was bleibt / wenn ich einmal gehen muss bitte halte meine hand / ich hab furchtbar angst vorm tod ich hoffe wir sind da nicht allein“ / ein polizeiwagen kam vorbei / wie vorher verabredet standen wir alle stumm und guckten weg / dann die bullen waren weg mussten wir lachen / wir reichten das letzte bier herum wie einige indianer es getan hatten und dann hielt ein großraumtaxi an / mein freund und die kleine stie­ gen ein / er fragte: „wohin“ / „wohin wohl zum krankenhaus ist doch logisch“ / ich gab ihm alles geld das ich hatte und klopfte aufs dach / noch ein­ mal ging die tür auf und die kleine rannte zu mir / „weine weine weine so viel du willst / hab keine angst vor morgen / hab keine angst vorm leben / ich … / den rest konnte ich nicht mehr richtig ­hören sicher hätte ich jahre später googeln können bei popsongs.de aber ich hatte schon verstanden / „die jugend“ dachte ich / dann war sie weg und der schnee vorbei / ich nahm das floß / ich nahm das floß / nicht das der medusa / das floß auf dem fluss raus aus der stadt / über das scheiß kleine eis / vorbei an der fischerinsel vorbei an meinem thea­ ter das ich gehasst hatte und geliebt hatte und nun wieder hasste / ich hatte mich seit wochen nicht gemeldet / und nun hatten sie mein stück ohne mich rausgebracht oder jedenfalls so ziemlich / ich zeige euch dass ich euch nicht brauche und dass ich gehen kann wann ich will / ich hasse euch alle / alles was nach mir ist wird sein als wenn es nie gewesen wäre / keine hat mich so verändert wie du / keine hat mich so bewegt / ich werde nie wieder so alt sein / danke mein schatz

© henschel SCHAUSPIEL Berlin GmbH 2018

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Magazin Depot für widerständige Kunst Der Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim – ein Zentrum für zeitgenössisches Theater, Performance und Tanz – feiert sein 25-jähriges Bestehen  Mir nach! Die Glanzstoff – Akademie der inklusiven Künste in Wuppertal bildet Menschen mit Behinderung zu professionellen Schauspielern für Bühne,

Geschichten vom Herrn H. Über Lügenpresse und Theaterwahrheit Bücher Falk Richter, Markus Metz / Georg Seeßlen und Theodor Fontane

Film und Fernsehen aus  außermoralischen Sinne

im


magazin

/ TdZ  Februar 2019  /

Depot für widerständige Kunst Der Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim – ein Zentrum für zeitgenössisches Theater, Performance und Tanz – feiert sein 25-jähriges Bestehen In Mülheim an der Ruhr, gelegen im Zentrum

Abnahme-TÜV der Leitung vor einer Premiere.

abend, der keine Angst vor popkulturellen

des Ruhrgebiets, eingekesselt von Duisburg im

So wurde uns zugemutet, krachend zu schei-

Referenzen hat. Der Aufführung von „Our­

Westen, Oberhausen im Norden und Essen im

tern, aber auch Erfolge zu feiern. Viele von

story“ folgte ein Vortrag zum Thema „Partizi-

Osten, liegt eines der wichtigsten Produktions-

damals sind bis heute mit erwachsen gewor-

patorische Raumplanung für ausgegrenzte

zentren für das freie Theater in Nordrhein-

denen Gruppen im Schuppen zu Gast.

Stadtteile“, vorgestellt von Omar Mohamad

Westfalen: der legendäre Ringlokschuppen

Mit den Jahren hat sich der Ringlok-

und Bridget Fonkeu. Mohamad und Fonkeu

Ruhr – Partymeile, Veranstaltungshaus, Ta-

schuppen auch jenseits des Ruhrgebiets ei-

erschlossen sich ihr Thema im Rahmen der

lentschmiede, Zentrum für widerständige

nen Namen gemacht: Renommierte Theater-

­Silent University, einer Wissensplattform für

Kunst – der nun 25 Jahre alt geworden ist.

macherinnen und Theatermacher wie die

Geflüchtete und Asylsuchende mit Ablegern

Einen beherzten Fußmarsch vom Stadtzentrum

Berliner Gruppe andcompany&Co., die Cocoon-

unter anderem in Stockholm und Athen. Seit

entfernt, etwas versteckt in einem malerischen

Dance Company aus Bonn oder die polnische

2015 gibt es sie dank des Ringlokschuppens

Stadtpark, durch den hin und wieder von einer

Regisseurin Marta Górnicka kehren immer

Ruhr auch in Mülheim. Hier finden Akademi-

­nahegelegenen Fabrik der Duft von frischem

wieder gern nach Mülheim zurück. Regel­

kerinnen und Akademiker, die derzeit nicht

Waffelteig weht, liegt das unter Denkmal-

mäßige Kooperationen, unter anderem mit

oder nur eingeschränkt arbeiten können, eine

schutz stehende bogenförmige Gebäude, das

der Ruhrtriennale, dem Theater Oberhausen,

Plattform und Öffentlichkeit. Untergebracht

um die vorletzte Jahrhundertwende als Depot

dem Schlosstheater Moers, dem Schauspiel

ist die Silent University Ruhr in den Räumen

für Dampflokomotiven erbaut wurde.

Dortmund, dem FFT Düsseldorf und dem

der dezentrale – eines mit dem Schuppen ver-

Seit einem Vierteljahrhundert ist der

Schauspielhaus Bochum, vernetzen das Haus

bundenen „Mitmach-Raums“ in der Mülhei-

Ringlokschuppen Ruhr nun ein Ort für Thea-

überregional. Das Impulse Theater Festival

mer Innenstadt. Sich nicht nur in der Künstler-

ter und Tanz, Kultur und Begegnung. Er bie-

hat in Mülheim durch den Schuppen eine

Bubble aufzuhalten, sondern sich sehr konkret

tet Künstlerinnen und Künstlern ein Forum

feste Spielstätte und ein wiederkehrendes ­

mit der Stadt und all ihren Herausforderungen

und einen Produktionsort. Wie wichtig der

Festivalzentrum.

auseinanderzusetzen ist den Macherinnen und

liebevoll auch Schuppen genannte Ort für

Das zwölfköpfige Team um den Künst-

darstellende Kunst jenseits des Mainstreams

lerischen Leiter Matthias Frense und die Ver-

geworden ist, insbesondere für den künstleri-

waltungsleiterin Andrea Friedrich stellt sein

Der Schuppen finanziert sich aus öf-

schen Nachwuchs, kann ich vielleicht am

Programm breit auf. Es will raus aus den

fentlichen Mitteln der Stadt Mülheim und des

besten am eigenen Beispiel veranschau­

Filterblasen, Schnittmengen schaffen, Ziel­

Landes Nordrhein-Westfalen. Diese Gelder

lichen. Denn hier kamen wir Erstsemester der

gruppen crossover denken und ungewöhnlich

decken jedoch gerade mal die laufenden Kos-

Bochumer Theaterwissenschaft in den nuller

kuratieren. Bei der Feier anlässlich des Jubi-

ten ab, der Löwenanteil für die Kunst kommt

Jahren zum ersten Mal mit unbekannten

läums im Dezember gab es keine großen

aus Drittmitteln, die das Ringlokschuppen-

Thea­tersprachen in Kontakt, die uns maßlos

­Reden oder kostspielige Feuerwerke. Es traf

Team durch Anträge bei verschiedensten För-

überforderten und unsere Sichtweisen auf

Kabarett auf Basisdemokratie. Und ein Vor-

derstellen selbst einholt. Es kann sich also

das Theater grundlegend erschütterten: René

trag auf eine wilde Party. Zwei Programm-

nicht ausschließlich auf die Kunst konzent-

Pollesch, Gob Squad, Monster Truck, um nur

punkte der Feier standen dabei exemplarisch

rieren, sondern muss sich ständig fragen: Was

einige zu nennen. Darüber hinaus ergaben

für die Arbeit des Schuppens in und für Mül-

wollen wir uns leisten? Was können wir uns

sich aber auch Arbeitsmöglichkeiten für uns:

heim: Den Anfang machte eine Aufführung

leisten? Und wie können wir dem Anspruch

In der Mitarbeit bei verschiedenen Theater-

von „Ourstory“, eines Stücks für Kinder von

an uns und die Kunst, die wir zeigen und pro-

produktionen freier Gruppen wie dem Bochu-

neun bis neunundneunzig. Erarbeitet wurde

duzieren, gerecht werden? Das ist oft schwie-

mer kainkollektiv oder Anna Kpok konnten wir

das Werk vom jungen Theaterkollektiv KGI –

rig gewesen. Doch dank seiner unermüdli-

uns in diesem offenen Haus (weiter-)ent­

Büro für nicht übertragbare Angelegenheiten.

chen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter steht

wickeln, ohne dass uns ständig auf die Finger

Als partizipatives Forschungsprojekt in einer

das Haus heute auf soliden Füßen. Entschei-

gehauen wurde, ohne Bringschuld, ohne einen

konsequenten Mischung aus Profis und Lai-

dend hierbei ist: Der Schuppen hat sich nie

en, entstanden die Texte mit allen Beteiligten

angebiedert, sondern ist einer klaren künstle-

gleichberechtigt in einem Writers Lab, orien-

rischen und politischen Haltung treu geblie-

tiert an Bini Adamczaks „Communism for

ben. Sein buntes Programm ist kein Ge-

Kids“. Ein theoretisch fundierter, basisdemo-

mischtwarenladen, sondern so divers wie das

kratisch entwickelter, knallbunter Theater-

Ruhrgebiet selbst.

Ein theoretisch fundierter, basisdemokratisch entwickelter, knallbunter Theaterabend – „Ourstory“ von KGI. Foto Björn Stork

Machern am Ringlokschuppen Ruhr seit seiner Gründung 1993 ein Anliegen.

Lisa Kerlin

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/ TdZ Februar 2019  /

Mir nach! Die Glanzstoff – Akademie der inklusiven Künste in Wuppertal bildet Menschen mit Behinderung zu professionellen Schauspielern für Bühne, Film und Fernsehen aus Die Marke Glanzstoff verbindet man mit der

unter professioneller Anleitung. Die Teilnah-

Fluss Aras ertrunken – Gerüchten zufolge er-

guten alten Elberfelder Textilindustrie, das

me ist kostenfrei.

mordet.

Glanzstoff-Hochhaus in Wuppertal prägt bis

Im Ergebnis hat die Akademie so

Der Anfang der Aufführung unter Regie

heute die Silhouette der Stadt. Die 2014 ge-

schon eine Reihe kleinerer Thea­ter­pro­duk­

von Bardia Rousta vollzieht sich sehr, sehr

gründete Glanzstoff – Akademie der inklusi-

tionen auf die Beine gestellt – zuletzt „Der

langsam. Der Großmutterfisch (Nora Krohm)

ven Künste knüpft nur dem Namen nach an

kleine schwarze Fisch“ nach einer Erzählung

ist nicht mehr der Schnellste mit seinen

diese Tradition an. Es handelt sich um einen

von Samad Behranghi im Theater am

eingetragenen Verein, dessen Ziel es ist, Men-

­Engelsgarten, der Spielstätte des koprodu-

schen ab 18 mit Handicap nicht nur in ihrer

zierenden

Freizeit das Theaterspielen zu ermöglichen,

„Fisch“, ein Märchen für Kinder und Er-

sondern sie vielmehr zu professionellen

wachsene, ist das bekannteste Werk Behran-

Schauspielern für Bühne, Film und Fern­

ghis, eines iranischen Journalisten, Lehrers,

sehen auszubilden. An zwei Tagen in der

Bürgerrechtlers und Sozialkritikers, 1939

­Woche arbeiten sie hier in einem Workshop

geboren und 1967, mit nur 28 Jahren, im

Schauspiels

Wuppertal.

Der

Parabel über Neugier und alltägliche Grenz­ erfahrungen – „Der kleine schwarze Fisch“ nach einer Erzählung von Samad Behranghi, in einer Koproduktion der Akademie der inklusiven Künste Wuppertal mit dem Schauspiel Wuppertal. Foto Uwe Schinkel


magazin

/ TdZ  Februar 2019  /

­langen blauen Flossen. Er überquert die leere Bühne, verirrt sich an eine Tür ins Freie, die natürlich verschlossen ist, findet schließlich einen ­Ohrensessel, schlägt das große Buch auf und beginnt vorzulesen, begleitet von einer aparten Livemusik (Svea Kirschmeier). Der kleine schwarze Fisch, wunderbar ge-

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Über Lügenpresse und Theaterwahrheit im außermoralischen Sinne

spielt von der im Rollstuhl sitzenden Flora Li,

Nichts ist mehr, wie es war. Eine ganze

evidente Klischees heruntergebrochen. Das

ist des ein­ tönigen Lebens an der immer

Branche geht in Sack und Asche, Redakteu-

erforderte die Form selbst. Dass nun einer,

­gleichen Stelle im Bach leid. Er möchte auf

re und Journalisten prangern unaufhörlich

weil er besonders erfolgreich sein wollte,

Reisen gehen und herausfinden, wo der Bach

die Schwierigkeiten ihres Berufs an, die ver-

die Methode gehörig überspannt hat, brach-

endet. Der propere Mutterfisch (Andrea Lück)

borgenen Abhängigkeiten und Rücksicht-

te ihn zu Fall. Der gefühlige Reportagen-

und alle Tanten und Onkel sind äußerst skep-

nahmen, den Erfolgsdruck, die Fixierung

journalismus, der seine politischen Urteile

tisch: Wohin wird den kleinen Fisch sein

auf human touch stories, die brutale Auf-

und praktischen Interessen hinter emotio-

Abenteuer führen? Und warum nimmt er

merksamkeitsökonomie, die Macht des Gel-

nalisierendem Betroffenheitskitsch verbirgt,

überhaupt den Mund so voll?

des und all das, was dem Ethos

wird aber noch mit dem Hin-

Nach und nach füllt die Bühne sich

einer nichts als der Wahrheit

weis verteidigt, dass man nicht

mit Gestalten, die von Sarah Prinz fantastisch

verpflichteten Presse entgegen-

den Rechten und ihren Lügen-

kostümiert wurden. Wie die Kaulquappen ei-

steht. Nun, ganz so hat es sich

presse-Vorwürfen

nes Teichs, in den der kleine Fisch gestürzt

dann doch nicht verhalten,

reden dürfe. Dabei ist es ­

ist. Die halten ihren Tümpel für die Welt und

nachdem Mitte Dezember be-

die ausbleibende Selbstkritik,

können nicht glauben, dass es etwas außer-

kannt wurde, dass im renom-

die das Einfallstor der Rech-

halb davon geben soll. Aber dass der Teich-

mierten Spiegel über Jahre

ten ist.

rand ihren Horizont begrenzt, kann den klei-

hinweg die schönsten Lügen­

Im Theater würde das

nen Fisch nur kurz irritieren. Er schwimmt

märchen veröffentlicht worden

alles natürlich nie geschehen.

weiter und trifft natürlich auf gefährliche Ker-

waren, was deren Verfasser zu

Theatermacher leben ja ge-

le: den Krebs, den Pelikan, der in seinem

einem mit Preisen überhäuften

Beutel kleine Fische wie den kleinen schwar-

Starreporter hatte werden lassen, der sich

Selbstkritik. Die Weltgeschichte wird in ihren

zen sammelt, den Sägefisch oder gar den

der Anerkennung der ganzen Branche

Widersprüchen auf die Bühne gebracht, die

­Kormoran, den gefährlichsten von allen. Der

sicher sein konnte. Noch die Nachricht

künstlerischen Mittel immer hinterfragt.

kleine Held schwimmt weiter, nachdem aus

selbst präsentierte Der Spiegel im reißeri-

Oder verhält es sich auch hier anders?

dem Bach ein Fluss geworden und dieser ins

schen Stile einer sensationslüsternen Ent-

­Bekommt man etwa auch in dieser Branche

Meer gemündet ist, hinaus. Was aber am

hüllungsgeschichte, als ob nicht gerade das

begehrte Auszeichnungen wie Theater der

Ende aus ihm wird?

Teil des Problems wäre. Der Fokus liegt

Jahres am ehesten, wenn man ergreifende

Die Parabel über Neugier, Abenteuer-

­allein auf dem Lügner – nicht aber auf all

Reportagen auf die Bühne bringt, reale

lust und die Fülle des Lebens eignet sich

jenen, die seine Lügen glaubten und glau-

Menschen, echte Tränen, erschütternde

­exzellent, um die Kreativität, die durch die

ben wollten, sie also erst möglich machten.

Lebensgeschichten, die auf Rührseligkeit ­

alltäglichen Grenzerfahrungen von Menschen

Ein Einzelfall? Wie bei dem spektakulären

statt Betätigung des Verstandes setzen?

mit Behinderung freigesetzt wird, künstle-

Prozess gegen einen jungen Star-Trader von

Und wird nicht auch bei den echten Men-

risch auf der Bühne umzusetzen. Kostüme

Goldman Sachs, der stellvertretend für die

schen an der einen oder anderen Stelle

und feinfühlige Regie tun ein Übriges, um

verbrecherischen Methoden der Finanz­

nachgeholfen, wenn ihre echten Geschich-

den einstündigen Abend zu einer kleinen

industrie verurteilt wurde? Geändert hat

ten dann doch nicht gut genug sind? Aber

Sternstunde und sicherlich zu einem Meilen-

sich seitdem wenig, auch das neoliberale

kann man im Theater überhaupt lügen? Ist

stein in Sachen Inklusion werden zu lassen.

Denken zeigt sich unerschüttert.

nicht das ganze Theater Lüge, Spiel,

das

Wort

wissermaßen von Kritik und

Er zeigt überdies auch, wie wichtig es ist,

Die betreffenden Spiegel-Reportagen

Geschehen zum Schein? Ja, ist es. Nur ­

Institutionen zu schaffen, an denen sich ­

folgten einem weitverbreiteten Muster: Ge-

dann nicht, wenn es das Gegenteil behaup-

Menschen mit Handicap professionell zum

sellschaftliche Zusammenhänge wurden auf

tet. Wenn das Theater sich auf dem Markt

Schauspieler ausbilden lassen können.

emotionale Geschichten reduziert. Das ist

tummeln möchte, auf dem die reißerisch

„Der kleine schwarze Fisch“ geht nun

schon an sich ein Problem. Dass die frei er-

aufgemachte Ware Information feilgeboten

auf Gastspielreise. Im Juli hat im W ­ uppertaler

fundenen Versatzstücke sich so wunderbar

wird, kann aus der theatralen Lüge keine

Theater im Engelsgarten eine neue Produk­

fügten und dass diese wiederum die herr-

ästhetische Wahrheit mehr werden. //

tion Premiere, basierend auf dem Buch „Mir

schende Meinung bestärkten, ist kein Zu-

nach!“ von Nadine Brun-Cosme. //

fall. Vollverblödete Provinzamis, unschul­ dige syrische Waisenkinder – so wurden weltpolitische Zusammenhänge auf pseudo­

Martin Krumbholz

Jakob Hayner

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magazin

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Die Sprache der Berater – „Unter Eis“ aus dem vierteiligen Zyklus „Das System“ von Falk Richter, den er als Regisseur 2003/04 an der Schaubühne Berlin umsetzte. Foto Arno Declair

sind, fällt auf, dass bestimmte geläufige Begriffe aus dem Arsenal der Altlinken inzwischen von der Neurechten gekapert wurden und einer semantischen Verwirrung dienen, wenn sie nicht überhaupt unbrauchbar geworden sind. So feiert der von Richter verwendete Begriff „das System“ bei der Rechten fröhliche Urständ; nicht viel besser steht es um die Herrschenden oder selbst um den guten alten ­Widerstand, den zu leisten sich Storch, Gauland & Co. so selbstverständlich geschworen haben wie vor fünfzig Jahren die Protagonisten und Adepten der studentischen Rebellion.

Der Theaterprojektmanager

Hochleistungsperformance abzuliefern hat, oder aber um die Masken der Sprache, hinter

Falk Richter: Disconnected. Theater, Tanz, Politik. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Alexander Verlag Berlin, 180 Seiten, 16 EUR.

„Wir leben in einer Übergangsgesellschaft“,

denen die Rechten Herrschaftsansprüche

stellt Falk Richter in einer seiner Poetikvorle-

und Bereitschaft zur Gewalt verbergen – stets

sungen fest. Es ist interessant, dass der 1969

sampelt Richter Floskeln und Sprachhülsen,

in Hamburg geborene Theatermacher einen

um sie in einen neuen Kontext zu stellen und

Begriff übernimmt, den Volker Braun einst

sie einer analytischen Durchleuchtung zu

auf einen ganz anderen gesellschaftlichen

überantworten. In Bezug auf seinen Stücke-

Zusammenhang gemünzt hat. Richter ver-

zyklus „Das System“ (erschienen bei Theater

Wenn Falk Richter das Theater pathetisch als

knüpft die Bezeichnung mit der Frage: „Wie

der Zeit, 2004) merkt Richter ausdrücklich

Ort der Sprache feiert, kommt man nicht

wird in Deutschland seit einigen Jahren neu

an, es handele sich bei den verwendeten Be-

umhin festzustellen, dass selbst ein aus­ ­

über Herkunft, Nation, Zugehörigkeit, Fami-

ratergesprächen keineswegs um eine Über­

gefuchster Profi wie er in die Bredouille einer

lie, Beziehung diskutiert?“ Offensichtlich tun

höhung oder Zuspitzung.

inflationär abgewerteten politischen oder

es „die Rechten“, also Menschen, die der AfD

Dieses

dokumentarische

Verfahren

und ähnlichen Gewächsen nahestehen, fun-

scheint Richter etwa von einer Elfriede Jelinek

damental anders als Leute wie Richter selbst,

zu unterscheiden, der es durchaus um Zuspit-

die für eine durchlässige, liberale und multi-

zung geht. Er versteht sich weniger als kreati-

kulturelle Gesellschaft eintreten.

ver Autor in einem althergebrachten Sinn als

pseudopolitischen Semantik gerät und kaum wieder herausfindet. // Martin Krumbholz

Das Theater, wie Richter es versteht

vielmehr als Theaterprojektmanager, der in

und in seinen Vorlesungen, die soeben im

großem Stil Kreative jeder Couleur zusammen-

Alexander Verlag erschienen sind, beschreibt,

bringt und ihre (autobiografischen) Beiträge

Markus Metz und Georg Seeßlen legen in ih-

soll sich mit relevanten Themen auseinander-

sammelt, filtert und dramaturgisch aufberei-

rer in der Reihe „Kapital & Krise“ des Verlags

setzen, in gesellschaftliche Diskussionen

tet. Dieses Selbstverständnis ist nicht frei von

Bertz + Fischer erschienenen Schrift „Kapita-

­einmischen und den politischen Diskurs vor-

einer gewissen Superstar-Attitüde. Symptoma-

listischer (Sur)realismus“ eine Ästhetik des

antreiben. Dabei versucht Richter den klassi-

tisch eine Formulierung wie folgende: „Sieben

„postmodernen Warenzirkus“ vor, eine Kritik

schen Autorenbegriff zu erweitern. Es geht

zeitgenössische Komponisten … haben im

des „Neoliberalismus als Ästhetik“. Darin

ihm weniger darum, Fiktionen zu entwerfen

Vorfeld Texte von mir erhalten und konnten

zeichnen sie eine Geschichte der Ästhetisierung

und Rollen zu erfinden, als vorgefundenes

sich dann entscheiden, für welche Besetzung

aller Lebensbereiche nach, die sich der Strate-

Material zu sichten und quasi zu recyceln. Ob

sie diese vertonen würden.“

gien des Surrealismus annimmt und in verkehr-

Kapitalisierung der Kreativität

es um die Effizienzideologie eines entfessel-

Was indes das politische Vokabular be-

ter Form aneignet: Management wird Kunst,

ten Marktes geht, in dem der Einzelne eine

trifft, mit dem Richters Analysen gesättigt

Fantasie zum Zwang und Subversion zur


bücher

/ TdZ  Februar 2019  /

­Normalität. Die Absurdität der Lebensverhält-

änderung zu bewirken, werden zum Stilmittel

applaus immer zu lesen war: „Da sitzt das

nisse wird dabei plastisch: Die Krisenhaftigkeit

einer Affektökonomie, die noch die Verhee-

Scheusal wieder!“, wie Fontane einmal iro-

der kapitalistischen Gesellschaft liegt offen zu-

rungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst

nisch anmerkte. Im Gegenteil: Viele Schau-

tage, „aber die Show geht erst richtig los“.

zum konsumierbaren Gut gestaltet. Die Kul-

spielerinnen und Schauspieler des Hauses

Historisch grenzen Metz und Seeßlen

turindustrie schafft es, aus ihnen noch Ge-

schätzten seine Kritik, darunter Stars wie

den „kapitalistischen Surrealismus“ vom „ka-

winn zu schlagen: Unlust wird selbst zur Lust,

Theodor Döring und Paula Conrad. Problema-

pitalistischen Realismus“ ab. Letzteren be-

der Crash zum Kick. Darauf muss auch Kunst

tischer war es mit den Intendanten, die der

stimme ein Paradigma der Alternativlosigkeit:

reflektieren, wenn sie dem Schrecken ein

preußische König persönlich berief, denn das

Der Kapitalismus erzeugt Krisen, Armut und

Ende setzen will; sonst webt sie mit am end-

Schauspielhaus wurde aus der Privatschatulle

losen Schrecken. Die Surrealisten sind dafür

des Monarchen subventioniert. Deshalb be-

ein Beispiel.

stimmte auch der Hofgeschmack den Spiel-

Markus Metz / Georg Seeßlen: Kapitalistischer (Sur)realismus. Neoliberalismus als Ästhetik. Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2018, 300 Seiten, 18 EUR.

In Form der Sensation hat die Verkeh-

plan, und neben französischen Lustspielen

rung jedoch Geschichte, die fest mit der Re-

und deutschen Klassikern standen heute ver-

klame verschlungen ist. Sie ist ein Kind der

gessene

Moderne, keineswegs nur ein Bastard des

Birch-Pfeiffer und Gustav zu Putlitz auf dem

Neoliberalismus. Schade nur, dass Metz’ und

Spielplan. Von denen hielt Fontane im Ver-

Seeßlens Umgang mit Begriffen dahingehend

gleich zu Shakespeare und Schiller wenig,

oft schwammig wirkt – im von ihnen kritisier-

und seine Verrisse waren ebenso drastisch

ten Sinne „kreativ“. //

wie gefürchtet. Aber in der Beschreibung Chris Weinhold

Erfolgsdramatiker

wie

Charlotte

schauspielerischer und inszenatorischer Stärken und Schwächen waren seine Kritiken so präzise und detailgenau wie seine Romane.

Zerstörung, aber er ist alternativlos, darum muss man sich in seinen Grenzen um eine

Das Scheusal auf Platz 23

möglichst „humane“ Lebensweise bemühen. Dagegen produziert der kapitalistische Sur­

„Je länger man das kritische Metier treibt, je

rea­ lismus einen neuen Sozialcharakter, der

mehr überzeugt man sich davon, daß es mit

die Alternativlosigkeit nicht nur anerkennt,

den Prinzipien und einem Paragraphenkodex

sondern die Krisen noch affirmiert und exzes-

nicht geht. Man muss sich auf seine un­

siv auslebt. Heute herrsche ein offener Zynis-

mittelbare Empfindung verlassen können“,

mus, der sich Widersprüche selbst ans Revers

schrieb Theodor Fontane im Oktober 1877.

heftet: Kritik der eigenen Praxis wird voran­

Da saß er schon sieben Jahre lang auf dem

geschoben, gar auf Gräuel verwiesen, um so-

Parkettplatz 23 im Königlichen Schauspiel-

dann mit einem Lächeln fortzufahren. Dabei

haus in Berlin und hatte von Sophokles bis

wird die Kritik nicht abgewehrt, sondern

Kleist fast alles gesehen, was bis dahin am

freundlich aufgenommen und noch zum eige-

Gendarmenmarkt über die Bühne gegangen

Wenn man sein Beharren auf Realismus als

nen dynamischen Moment verkehrt. Bürgerli-

war.

altmodisch abtat, konnte er auch sarkastisch

Theodor Fontane: Da sitzt das Scheusal wieder. Die besten Theaterkritiken. Hg. von Debora Helmer, Aufbau Verlag, Berlin 2018, 240 Seiten, 24 EUR.

ches wird als spießig, Bürokratisches als ver-

Fontane sollte dort noch weitere 13

werden. „Es ist jetzt Mode, von der Unbefan-

knöchert gebrandmarkt, dem gefälligst mit

Jahre sitzen und in seinen letzten Kritiken

genheit des Nichtwissens zu sprechen“, spot-

etwas Kreativität und Subversion auf die

zwischen 1889 und 1890 Ibsen und Haupt-

tete er in einer Rezension. Diese Unbefangen-

Sprünge geholfen werden muss.

mann als Erneuerer des europäischen Thea-

heit hat bis heute Konjunktur, nicht nur auf

Der Begriff der Kreativität wird ent-

ters begrüßen. Dabei brachte er es auf über

dem Theater. Sie ermöglicht den hohen mora-

kernt und gerät selbst zum Zwang, „kreativ an

siebenhundert Rezensionen, die er stets nur

lischen Ton und den verächtlichen Blick auf

seinem eigenen Gefängnis zu arbeiten“. Die

mit „Th.F.“ signierte. Aber die Leser der Vos-

den Reichtum des kultu­rellen Erbes und wur-

kreative Schaffenskraft wird zur Schaffung

sischen Zeitung wussten genau, wer sich da-

de seit je aus politischem Kalkül gefördert.

neuer Räume für den Warenmarkt – die Hori-

hinter verbarg. Fontane machte sich nichts

Wer beim Lesen dieser Auswahl der

zonterweiterung ist die „Kapitalisierung noch

daraus, dass ein bekannter Kritiker dieses

„besten Theaterkritiken“ den Humor und die

nicht kapitalisierter Lebensbereiche“. Von

Kürzel als „Theater-Fremdling“ verhöhnte,

Treffsicherheit der Rezensionen Fontanes

der menschlichen Fähigkeit wird die Kreativi-

weil er über keine akademische Ausbildung

schätzen gelernt hat, dem sei auch die vier-

tät zum Verwertungsinstrument, zur Ästheti-

verfügte. Dafür besaß er einen unbestech­

bändige Gesamtausgabe seiner Theaterkriti-

sierung des Alltags zum Zwecke der Vermark-

lichen Blick für Qualitäten und Mängel der

ken empfohlen, die Gabriele Radecke gerade

tung. Die Ästhetisierung setzt sich noch über

Aufführungen und Stücke und ebenjene

in der Großen Brandenburger Ausgabe des

jeden Inhalt hinweg, indem sie allein auf

„unmittelbare Empfindung“, die ihn zum An-

Aufbau Verlags herausgegeben hat. 2019 ist

Reiz, Affekt und Aufmerksamkeit setzt.

walt des Publikums und der Schauspieler

Fontane-Jahr. //

Schock und Schrecken, ehemals Inventar der

werden ließ. Es war keineswegs so, dass auf

Kunst – zumal des Surrealismus –, um Ver­

den Gesichtern der Darsteller beim Premieren-

Holger Teschke

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aktuell

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Kay Voges. Foto Birgit Hupfeld

Meldungen

heimliche Wirkung: als sähen ­Vergangenheit

schlossen, dem Kulturpakt des Freistaates

und Gegenwart einander an – auf misstraui-

Sachsen nur teilweise beizutreten. Dieser soll

scher Augenhöhe … Icke ist, als Überbrücker

mittels erhöhter Zuschüsse des Landes eine

von Kulturkreisen, fürs deutsche Theater eine

Rückkehr der Bühne zum Flächentarif ermög-

Entdeckung“, begründete Peter Kümmel,

lichen. Da Plauen die dafür notwendigen Gel-

Kritiker und Mitglied des Preis­komitees, die

der nicht aufbringen kann und ein Angebot

Entscheidung. Mit der Auszeichnung eines bri-

Zwickaus, den Plauener Anteil kozufinanzie-

tischen Künstlers wolle man auch für einen

ren, einen vergrößerten Einfluss Zwickaus zur

anhaltenden innereuropäischen Dialog im Jahr

Folge gehabt hätte, kam es zum Konflikt zwi-

des Brexit appellieren.

schen den beiden Städten. Plauen fürchtet, bei wichtigen Entscheidungen fortan kein

■ Der Schauspieler Ralph Jung erhält den

gleichberechtigtes Mitspracherecht mehr zu

­Erlanger Theaterpreis, der jährlich für beson-

haben. Ohne den neuen Vertrag kann das

dere künstlerische Leistungen vergeben wird.

Theater jedoch vorerst keine Fördermittel des

Ralph Jung ist seit der Spielzeit 2015/16

Landes abrufen. Die am Theater vertretenen

festes Ensemblemitglied am Theater Erlan-

Gewerkschaften forderten Ende Dezember

gen. Aktuell zu sehen ist er u. a. in Brechts

2018 von Politikern und Beschäftigten eine

„Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“,

baldige Klärung des Streits.

■ Kay Voges wird seinen Vertrag als Intendant

dessen Premiere im Zuge des Jubiläums­

des Schauspiels Dortmund nicht über 2020

wochenendes zum 300-jährigen Bestehen

■ Sachsen-Anhalt erhöht seine Subventionen

hinaus verlängern. Sein Weggang erfolge aus

des Theaters im Januar stattfand. Zu diesem

für die neun vertragsgebundenen Theater und

eigenem Impuls und sei nicht mit einem

Anlass präsentierten auch Karoline Felsmann

Orchester im Zeitraum 2019–2023 um fünf

Wechsel an ein anderes Theater verbunden.

und Susanne Ziegler ihr neues Buch „300

Prozent auf 197 Millionen Euro. Finanziert

Voges hatte 2010 die Leitung des Dortmun-

Jahre Theater Erlangen – Vom hochfürstlichen

wird die Mittelerhöhung zu gleichen Teilen

der Theaters übernommen. Erst kürzlich hat-

Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft“,

vom Land und von kommunalen Trägern. Da-

te er die Gründung der Akademie für Theater

erschienen im Verlag Theater der Zeit.

mit soll auch eine umfassende Angleichung

und Digitalität bekannt gegeben, deren Direk-

an die Flächentarifverträge für die Beleg-

tor er auch nach dem Ende seiner Intendanz

■ Das Staatstheater Cottbus hat seit Mitte

bleiben wird. Die Akademie wird voraussicht-

vergangenen Jahres eine eigene Ballett­sparte,

schaft in die Wege geleitet werden.

lich nächstes Jahr einen Neubau am Dort­

als deren Direktor der Stiftungsrat der Bran-

■ Mit Beginn 2019 wurde die Mindestgage

munder Hafen beziehen. Bereits ab dem

denburgischen Kulturstiftung Cottbus-Frank-

für Schauspieler am Theater Konstanz auf

Frühjahr 2019 soll deren Weiterbildungspro-

furt (Oder) Dirk Neumann berufen hat. Neu-

2300 Euro angehoben. Schon 2017 hatte

gramm in einer Interimsspielstätte am Thea-

mann, der seit 2006 am Staatstheater als

das Theater das Gehalt für alle über NV Bühne

ter Dortmund beginnen, im März werden erste

Ballettmeister im dortigen Musiktheater tätig

Beschäftigten erhöht. „Wir als Ensemble

Forschungsstipendien ausgeschrieben.

war, leitet nun das einzige theatereigene

freuen uns natürlich darüber, dass unsere

Ballettensemble im Land Brandenburg. Im ­

jungen Kolleg*innen besser bezahlt werden,

■ Der britische Autor und Regisseur Robert

September 2018 startete es im Großen Haus

als es der Tarifvertrag vorsieht“, sagt Georg

Icke (siehe auch Seite 15) erhält dieses Jahr

mit der Uraufführung von „Alice im Wunder-

Melich, Sprecher des Ensembles. Auch Prak-

für seine Inszenierung der „Orestie“ nach

land“ in der Choreografie von Torsten Händler.

tika ab drei Monaten werden am Theater Kon-

Aischylos am Schauspiel Stuttgart den Kurt-

stanz aktuell mit 600 Euro vergütet.

Hübner-Preis der Stadt Bensheim und der

■ Der Plauener Stadtrat hat den neuen

Deutschen

Grundlagenvertrag für das fusionierte Theater

■ Ab Sommer 2019 wird das Landestheater

Plauen-Zwickau

Altenburg saniert. Die über elf Millionen Euro

Akademie

der

Darstellenden

Künste. „Robert Ickes ‚Orestie‘ hat eine un-

zurückgewiesen

22.2. – 3.3.2019 brechtfestival.de

MEDIENPARTNER:

und

be-


teuren Sanierungsarbeiten sollen bis zum

auf 2,6 Millionen Euro erhöht worden. Im

Frühjahr 2021 abgeschlossen sein, pünktlich

Bereich Theater werden 2019 u. a. Projekte ­

zum 150-jährigen Bestehen des Fünfsparten-

des Schauspiels Leipzig, der Schaubude Ber-

hauses. Die Baumaßnahmen erfordern einen

lin und des Theaters Bremen gefördert. Nächs-

Umzug in Ausweichspielstätten. Dafür soll ein

te Bewerbungsfrist ist der 15. April 2019.

»Gameplay@stage« Theaterarbeit trifft (Computer)Spiel 5 Workshops

Theaterzelt für Schauspiel, Musiktheater und Ballett errichtet werden. Die Brüder­kirche und

■ Das Performing Arts Festival Berlin, das in

das Schloss werden für den Zeitraum Ver­

diesem Jahr vom 28. Mai bis 2. Juni stattfinden

anstaltungsorte für die Philharmonischen Kon-

wird, sucht für seine Nachwuchsplattform „In-

zerte. Kammerkonzerte und Puppentheater

troducing ...“ vielversprechende Künstler*­

werden so lange im Logenhaus stattfinden.

innen und Kollektive der freien Szene mit

ab Februar 2019

Arbeitsmittelpunkt in Berlin. Diesen soll, ge-

www.bundesakademie.de

aktuell

/ TdZ  Februar 2019  /

■ Das THEATER an der GLOCKSEE in Hannover

meinsam mit den vier kooperierenden Spiel-

erhält zu seinem dreißigjährigen Jubiläum

stätten Ballhaus Ost, HAU Hebbel am Ufer,

mit Lena Kußmann (*1979), Jonas Vietzke

Sophiensaele und Theaterdiscounter während

(*1980)

Fischer-Hartmann

des Festivals ein Raum für Präsentation, Dis-

Biennalen von 2016 und 2018. Letztere

(*1982) eine neue, verjüngte Theaterleitung.

kussion und Reflexion ihrer Arbeiten geboten

erregte mit einer schnell wieder aus dem ­

Kußmann und Vietzke traten bereits 2012 in

werden. Bis zum 15. Januar 2019 können

Stadtbild

die Künstlerische Leitung des Hauses ein und

Interessenten ihre Produktionen einreichen.

Statue für Aufsehen und Diskussionen. Maria

und

Milena

arbeiteten seitdem an einer programmatischen

entfernten

goldenen

Erdoğan-

Maria Magdalena Ludewig. Foto Simon Hegenberg

Magdalena Ludewig wurde 36 Jahre alt.

Neuausrichtung des in die Jahre gekommenen Theaters. Dieses will das Dreierteam zukünftig mehr in den benachbarten Stadtteilen verankern, zudem wird ein größerer überregio­ nalen Austausch mit Akteuren in anderen Städten angestrebt.

■ Die Reformbühne Heim & Welt in Berlin zieht um: in den Roten Salon in der Volksbühne Berlin. Seit ihrer Gründung 1999 hatte sie schon mehrfach den Ort gewechselt – war zuletzt in der Friedrichshainer Jägerklause angesiedelt. Die politisch orientierte Lesebühne

■ Die Schriftstellerin, Kuratorin, Journalistin und Aktivistin Alanna Lockward ist Anfang des Jahres im Alter von 57 Jahren überraschend verstorben. Sie war eine der wichtigsten Persönlichkeiten postkolonialer Debatten der neunziger Jahren. Besonders engagierte sie sich für die Repräsentation von people of colour in der deutschen und US-amerikanischen Kunstszene. Neben ihrer akademischen Tätigkeit gründete sie 1996 die politische Kunstplattform „Art Labour Archives“ und kuratierte 2012–2016 den interdisziplinären Roundtable „BE.BOP. BLACK EUROPE BODY

wird jeden Sonntag abgehalten, bei der ne-

POLITICS“, u. a. an der Londoner Tate Britain

ben Stammmitgliedern wie Roman Israel, Falko Hennig, Jakob Hein, Ahne, Heiko Wer-

■ Die Leiterin und Kuratorin der Wiesbaden

und am Maxim Gorki Theater in Berlin. Lock-

ning und Jürgen Witte regelmäßig Gastauto-

Biennale Maria Magdalena Ludewig ist im De-

ward schrieb mehrere Romane.

ren auftreten.

zember 2018 tödlich verunglückt. Ludewig arbeitete zuvor als freie Produzentin und

■ Der Internationale Koproduktionsfonds des

­Regisseurin, inszenierte u. a. am Hamburger

Goethe-Instituts fördert 2019 elf Kollabora­

Schauspielhaus, den Sophiensaelen Berlin

tionen mit Mitwirkenden aus 14 Ländern. Die

und auf Kampnagel Hamburg. Zusammen mit

Mittel dafür sind für die nächsten vier Jahre

Martin Hammer kuratierte sie die Wiesbaden

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

www

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aktuell

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Premieren Augsburg Theater P. Shaffer: Amadeus (D. Ortmann, 16.02.); B. Brecht: Baal (M. Mikat, 23.02.) Baden-Baden Theater L. Kajuiter/A. Deborde: Erben-Erben (L. Kajuiter/A. Deborde, 02.02.); J. Murray-Smith: Nur drei Worte (O. Kukla, 15.02.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater I. v. Zadow: Über Lang oder Kurz (S. Siegfried, 10.02.); J. Rudiš: Böhmisches Paradies (S. Wolfram, 15.02., DEA) Berlin Berliner Ensemble B. Qurbani/M. Behnke: Kriegsbeute (L. Linnenbaum, 22.02., UA) Deutsches Theater P. Høeg: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels (N. Schlocker, 12.02.); E. Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (A. Riemenschneider, 23.02.); n. R. Yates: Zeiten des Aufruhrs (J. Steckel, 28.02.) Maxim Gorki Theater n. F. Kafka: Ein Bericht für eine Akademie (O. Frljić, 08.02.) Sophiensaele Monster Truck: Phaedra (Monster Truck, 07.02., UA); V. Stern: La Dernière Crise – Frauen am Rande der Komik (V. Stern, 22.02.); M. Knoblich/H. Quast: Casting Freischütz (M. Knoblich/H. Quast, 28.02., UA) Theater an der Parkaue L. Desprein: Rohe Herzen (V. Metzler, 14.02., DEA); Zoom in: Dein Theaterexperiment. Ein Theater-Seh-Labor (U. Sewering, 27.02.) Bern Schlachthaus Theater Divine Museum (O. Ghayatt, 09.02.); Teach me to dance (N. Willimann, 21.02.) Biel / Solothurn TOBS A. Akhtar: The Who and the What (K. Rupp, 07.02.) Bonn Kleines Theater C. Pichler: Ich – Marilyn (C. Pichler, 02.02.) Theater F. Molnár: Liliom (S. Hawemann, 15.02.); M. Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus (C. Eberle, 21.02.) Bremen Theater S. Brohl: Boy (C. Renziehausen, 09.02., UA); A. Petras/F. Akin: Aus dem Nichts (N. Erpulat, 14.02., UA); M. Gintersdorfer: Nana ou est-ce que tu connais le bara? (F. E. Yao, 21.02.) Bremerhaven Stadttheater A. Badea: Ex­ tremophil (T. Egloff, 16.02.); T. Müller:

Planet der Hasen (T. Springer, 17.02., UA); F. Ebb/J. Masteroff: Cabaret (M. Zurmühle, 23.02.) Bruchsal Badische Landesbühne Z. Drvenkar: Magdeburg hieß früher Madagaskar (J. Bitterich, 01.02.); F. Kafka: Amerika (C. Ramm, 21.02.) Celle Schlosstheater J. Naber / S. Weigl: Zeit der Kannibalen (C. Millner, 01.02.); G. B. Shaw/A. J. Lerner/G. Pascal: My Fair Lady (A. Döring, 08.02.) Chemnitz Theater Stückentwicklung: The future is still unwritten (D. v. SchönAngerer/J. G. Brüggemann, 22.02.) Döbeln Mittelsächsisches Theater A. Wöhlert: Der Schauspiel-Liederabend. Die letzte erfolglose Band und die Braut (A. Wöhlert, 09.02.) Dortmund Theater H. Ibsen: Hedda Gabler (J. Friedrich, 15.02.); A. Basener/G. Jahnke: Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte (G. Jahnke, 16.02., UA); E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (A. Gruhn, 22.02.) Dresden Staatsschauspiel M. Frisch: Biedermann und die Brandstifter (N. Bremer, 08.02.); F. Schiller: Kabale und Liebe (D. Tavadze, 09.02.) Theater Junge Genera­ tion L. Seib/n. Gebrüder Grimm: Die Bremer Stadtmusikanten (L. Seib, 16.02., UA) Düsseldorf Schauspielhaus J. W. v. Goethe: Die Leiden des jungen Werther (F. Rosonsky, 03.02.); W. Shakespeare: Hamlet (R. Vontobel, 16.02.); M. Bulgakow: Hundeherz (E. Titov, 22.02.) Eggenfelden Theater an der Rott W. Allen: Eine Mitternachts-Sex-Komödie (P. Stemann, 02.02.) Essen Schauspiel G. Brant: Am Boden (F. Daniel, 23.02.) Esslingen Württembergische Landesbühne A. Braun: Stillleben (M. Neidhart, 07.02., UA); J. Steinbeck: Von Mäusen und Menschen (J. Esser, 09.02.); A. Woltz: Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte (G. Pagan, 16.02.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm The Miracle of Love / Das Wunder

Februar 2019

TdZ on Tour n 20.03. Buchvorstellung: Starke Stücke. Theater für junges Publikum in Hessen und Rhein-Main. Zoo-Gesellschaftshaus, Frankfurt n 23.03. Buchvorstellung: Von Tieren und Menschen. Neue Theater­ stücke aus Tschechien. Schauspiel Leipzig Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

der Liebe (D. Cremer, 01.02., UA) Schauspiel n. G. Hauptmann/E. Palmetshofer: Vor Sonnenaufgang (R. Vontobel, 01.02.) Freiburg Theater E. Walsh: Ballyturk (B. Kabuth, 01.02., DEA); Drin (T. Grebt­ schenko/M. Schmit, 16.02.) Gera Theater & Philharmonie Thüringen T. Walser: Ich bin wie Ihr, ich liebe Äpfel (H. Freytag, 15.02.) Gießen Stadttheater V. Woolf: Orlando (T. Krupa, 23.02.) Göttingen Deutsches Theater M. Bul­ gakow: Der Meister und Margarita (T. Georgi, 02.02.); R. Cooney: Außer Kontrolle (A. Thoms, 23.02.) Graz Schauspielhaus n. A. Tschechow: Der Kirschgarten (A. Dömötör, 08.02.); P. Löhle: Die Mitwisser (F. Braun, 15.02.) Halberstadt Nordharzer Städtebundtheater M. Meimberg: Familie Braun (S. Wirnitzer, 21.02.) Halle Neues Theater H. Ibsen: Gespenster (N. Eleftheriadis, 15.02.) Hamburg Schauspielhaus J. N. Nestroy: Häuptling Abendwind (C. Marthaler, 15.02.); T. Bernhard: Die Übriggebliebenen (K. Henkel, 16.02.) Thalia Theater F. Richter: I am Europe (F. Richter, 01.02.) Hannover Schauspiel M. Cecko/n. A. Barillé: Es war einmal … das Leben (Ł. Twarkowksi, 23.02.)

Hildesheim TfN • Theater für Niedersachsen n. B. Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder (L. Bunk, 16.02.) Innsbruck Tiroler Landestheater L. Hach: Die Geschichte vom Ungeheuer (I. Gündisch, 24.02., UA) Jena Theaterhaus Wunderbaum: Das nationale Lied (M. Scholten, 07.02.); t.: Sauce Hollandaise (K. Lenhart, 22.02.) Köln Schauspiel J. H. Khemiri: Ich rufe meine Brüder (T. Ertener, 27.02.) Konstanz Theater C. Lewinsky: Gerron (A. Gleichmann, 02.02., UA); I. Derksen: King A (I. Putz, 10.02.); L. Vekemans: Momentum (C. Meyer, 15.02.); Ist das noch mein Land? (T. Jäckel, 23.02.); M. Karge: Jacke wie Hose (L. L. Haas, 27.02.) Krefeld Theater E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (S. Mey, 15.02.); . Molière: Tartuffe (D. Baron, 16.02.) Landshut kleines theater – Kammerspiele F. Rauchbauer: Me Not Yet (F. Rauchbauer, 02.02.) Landestheater Niederbayern R. Alfieri: Sechs Tanzstunden in sechs Wochen (V. Wolff, 01.02.); E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (H. O. Karbus, 02.02.); W. Lotz: Die lächerliche Finsternis (W. M. Bauer, 15.02.) Leipzig Cammerspiele n. H. Ibsen: Hedda Gabler (F. Köpp, 27.02.) Schauspiel U. Höll: Disko (I. Panteleev, 09.02., UA); A.

AIDS FOLLIES EIN VIRUS-PANORAMA VON JOHANNES M◊LLER UND PHILINE RINNERT 21.02.–23.02.2019

THEATERRAMPE.DE


Ein Sommernachtstraum

EIN SOMMERNACHTSTRAUM von William Shakespeare Regie Holger Schultze Wiederaufnahme 22. Januar

DER PROZESS nach Franz Kafka Regie Moritz Schönecker Premiere 2. März

DIE AFFÄRE RUE DE LOURCINE von Eugène Labiche Regie Robin Telfer Premiere 21. Juni

TSCHICK nach Wolfgang Herrndorf Regie Susanne Schmelcher Wiederaufnahme 29. Januar

JUNK von Ayad Akhtar Regie Brit Bartkowiak Premiere 25. April

AUERHAUS nach Bov Bjerg Regie Ekat Cordes Premiere 22. Februar

DRIFT Uraufführung | von Ulrike Syha Regie Gustav Rueb Premiere 26. April

DIE DREIGROSCHENOPER von Bertolt Brecht Musik von Kurt Weill Regie Holger Schultze Premiere 23. Juni

ZWISCHENRAUM (ISTANBUL – HEIDELBERG) Uraufführung | von Zinnure Türe Regie Zinnure Türe Premiere 1. März

HEIDELBERGER STÜCKEMARKT Gastland Türkei 26. April – 5. Mai

DRACULA nach Bram Stoker Regie Christian Brey Premiere 29. Juni

Foto Annemone Taake

SCHAUSPIEL 2019


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aktuell

/ TdZ Februar 2019  /

SINN UND FORM Herausgegeben von der Akademie der Künste »Heute ist Sinn und Form die mit Abstand gelungenste deutschsprachige Kulturzeitschrift, in der die national wie international begehrtesten Autoren schreiben und bemerkenswerte Fundstücke der Geistesgeschichte erscheinen.« Alexander Cammann, Die Zeit

SIEBZIG JAHRE BEITRÄGE ZUR LITERATUR Heft 1 / 2019 enthält: IMRE KERTÉSZ Die eigene Mythologie schreiben · DANIEL KEHLMANN Die verdunkelten Jahre. Über zwei Romane Franz Werfels EMMANUEL BOVE Das Warten · CHRISTA BÜRGER Die Ordnung der Liebe. Marie de France ISABEL FARGO COLE Legenden des Wachstums LUTZ SEILER Der einzige Weg · WOLFGANG HILBIG Briefe an Ursula Großmann. Mit unveröffentlichten Gedichten. Vorbemerkung von Michael Opitz Gedichte von KORNELIA KOEPSELL, MAŁGORZATA LEBDA, THILO KRAUSE und DÉNES KRUSOVSZKY · GEORG KLEIN Junger Pfau in Aspik · GABRIELE KILLERT Die Kunst, das Unendliche hereinzubitten · JULIEN GRACQ Bewohnbare Welt · PATRICK MODIANO Zu Julien Gracq SIBYLLE LEWITSCHAROFF Erich Auerbach liest Dante als Dichter der irdischen Welt · ADAM ZAGAJEWSKI Über Tomas Tranströmer · GEORG STEFAN TROLLER / MARION NEUMANN Ein Gespräch über Heimat, Emigration und Verwandlung

SINN UND FORM erscheint zweimonatlich. Jahresbezugspreis einschließlich Versand 45,00 € (Inland) und 60,00 € (Ausland). Einzelheft 11 €. Vorzugsabonnement für Schüler und Studenten 34 €. Bestellungen für ein Abonnement und für Einzelhefte an: tableau, Neumagener Straße 27, 13088 Berlin, Tel. 030 / 4 23 66 06, Fax 42 85 00 78. E-Mail: bestellung@ sinn-und-form.de. Für 10 € erhalten Sie ein Probepaket bestehend aus einer neueren und einer älteren Ausgabe incl. Versand. www.sinn-und-form.de

Hampton/R. Pauls: Mund-Stück (A. Hampton/R. Pauls, 14.02.) Linz Landestheater O. Wilde: Ernst ist das Leben (Bunbury) (M. Rippert, 02.02.); Hans-Werner Kroesinger, Regine Dura: Mythos VOEST (H. Kroesinger, 22.02., UA) Theater Phönix S. Berg: Nach uns das All oder Das innere Team kennt keine Pause (B. Falter, 28.02., ÖEA) Lübeck Theater A. Camus: Caligula (M. Biel, 01.02.); B. Brecht: Die Dreigroschenoper (M. C. Lachmann, 09.02.) Magdeburg Theater n. A. Döblin/C. Zeller: Karl und Rosa. Für Geister Eintritt frei (M. Bues, 22.02.); n. M. Gorki/W. Buhss: Die Letzten (M. Peschel, 23.02.) Mainz Staatstheater V. Quijada: Twist (V. Quijada, 07.02., UA); H. Lewis/J. Sayer/H. Shields: Komödie mit Banküberfall (N. Ritter, 09.02.); G. Büchner: Leonce und Lena (K. Schmidt, 10.02.); S. Massini: In Memoriam Anna Politkowskaja (K. Herm, 14.02.) Meiningen Staatstheater G. Hauptmann: Die Ratten (M. V. Linke, 15.02.) Memmingen Landestheater Schwaben n. H. v. Kleist: Michael Kohlhaas (A. V. Freybott, 02.02.); n. M. Haddon: Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone (T. Ladwig, 08.02.) Mülheim an der Ruhr Theater an der Ruhr Subbotnik: Städte. Kampf um Troja (s., 05.02.) München Residenztheater H. v. Hofmanns­ thal: Elektra (U. Rasche, 15.02.) Münster Theater T. Fransz: Co-Starring (S. Sobottka, 02.02.); P. Marber/n. Molière: Don Juan (M. Letmathe, 22.02.) Wolfgang Borchert Theater n. B. Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder (M. Zanger, 28.02.) Neuwied Landesbühne Rheinland-Pfalz E. Jünger/n. J. Merchant: Rapunzelgrab (A. Lachnit, 01.02.) Nürnberg Staatstheater Bowie / Walsh: Lazarus (T. Nest, 02.02.) Osnabrück Theater n. A. Döblin: Rosa und Karl (S. Barthelmes/E. Wiese, 02.02.); F. Heinrich: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt (B. Ipsen, 16.02.); W. Mouawad: Verbrennungen (C. v. Treskow, 23.02.) Parchim Mecklenburgisches Staatstheater A. Steinhöfel: Rico, Oskar und die Tieferschatten (F. Voigtmann, 10.02.) Pforzheim Theater N. Haidle: Für immer schön (H. Hametner, 09.02.) Potsdam Hans Otto Theater F. Schiller: Kabale und Liebe (T. Rott, 08.02.); P. Høeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee (C. Thum, 22.02.) Regensburg Theater n. M. Shelley/N. Dear: Frankenstein (S. Brown, 02.02.); K. Soper: Wish List (O. D. Endreß, 08.02., DEA); B. Fäh/n. W. Shakespeare: Rose und Regen, Schwert und Wunde (Ein Sommernachtstraum) (J. Kracht, 23.02.) Reutlingen Theater Die Tonne D. Loher: Tätowierung (E. Urbanek, 21.02.) Rudolstadt Theater S. Sachs: Das Original (M. Fennert, 02.02.) Saarbrücken Saarländisches Staatstheater L. Hall/n. T. Stoppard/n. M. Norman:

Shakespeare in Love (B. Bruinier, 03.02.) Überzwerg – Theater am Kästnerplatz n. I. Keun/E. Otto: Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften (E. Otto, 03.02., UA) Schleswig Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester K. Gehre: Mörder Ahoi! (K. Gehre, 02.02.); C. Kettering: Keine Lieder (A. Becker, 14.02.) Schwedt/Oder Uckermärkische Bühnen F. Apke: Kurze Geschichte meines erfolgreichen Scheiterns (F. Apke, 28.02.) Stuttgart Junges Ensemble n. G. Stein: Rose ist eine Rose ist eine Rose (H. Biedermann, 23.02.) Tübingen Landestheater (LTT) C. Thorpe: Bestätigung (T. Weckherlin, 02.02.); n. R. W. Fassbinder/P. Märthesheimer/P. Fröhlich: Die Ehe der Maria Braun (C. Roos, 08.02.); L. Helmer/n. P. Highsmith/G. Lukas: Der talentierte Mr. Ripley (G. Lukas, 09.02.); A. Müller: Zuhause ist Krieg (O. Zuschneid/A. Müller, 14.02.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle n. F. Schiller: Wilhelm Tell (J. Neumann, 01.02.); n. C. Hein: Trutz (E. Stolzenburg, 01.02.); EURŌPĒ – eine Natio­ nalversammlung (J. Paucker/R. Schuster, 03.02.); Post-Europa (A. Andrzejewski/ A. Schopa, 04.02.) Wien brut S. Sourial: Colonial Cocktail Volume 1: Aperitivo (S. Sourial, 15.02., UA); Bodies and Accidents (G. Blaschke/J. Machacek, 21.02., UA) Burgtheater F. M. Mujila: Zu der Zeit der Königsmutter (P. Hauß, 23.02., UA); n. J. Roth: Hiob (C. Stückl, 24.02.) Wiesbaden Hessisches Staatstheater J. E. Lyons/P. G. Brown: King Kong (I. Limbarth/F. Bangert, 02.02.); n. J. Safran Foer: Hier bin ich (A. Altaras, 15.02.) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord A. Lepper: Sonst alles ist drinnen (M. J. Schuster, 16.02.) Würzburg Mainfranken Theater G. Kuijer: Das Buch von allen Dingen (H. Müller, 14.02.); H. v. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg (M. Trabusch, 16.02.) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater S. Mrozek: Auf hoher See (G. Stosz, 16.02.) Zürich Schauspielhaus H. Fritsch: Totart Tatort (H. Fritsch, 22.02., UA) Theater Kanton Zürich G. Grass: Die Blechtrommel (M. Keller, 24.02.)

FESTIVAL Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Frankfurter Positionen 2019 – Festival für neue Werke (24.01.– 08.02.) Hamburg Thalia Theater Um alles in der Welt – Lessingtage 2019 (18.01.– 03.02.)

TdZ ONLINE EXTRA

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Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de


impressum/vorschau

AUTOREN Februar 2019 Michael Bartsch, freier Journalist und Autor, Dresden Josef Bierbichler, Schauspieler und Autor, Ambach Peter M. Boenisch, Theaterwissenschaftler, Berlin Tim Etchells, Künstler und Autor, Sheffield Jens Fischer, Journalist, Bremen Gob Squad, Künstlerkollektiv, Nottingham / Berlin Hermann Götz, Theaterkritiker, Graz Robert Icke, Schriftsteller, Regisseur und Intendant, London Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Lisa Kerlin, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Dortmund Renate Klett, freie Autorin, Berlin Martin Krumbolz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Heimo Lattner, Künstler, Berlin Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Walter Meierjohann, Theaterregisseur, Berlin Madli Pesti, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin, Tallinn Dominique Spirgi, Kulturjournalist, Basel Holger Teschke, Schriftsteller und Regisseur, Berlin Chris Weinhold, freier Film- und Theaterkritiker, Leipzig TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2019/02

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IMPRESSUM

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Vorschau Künstlerinsert Franz Fühmann begann mit dem damals Neunjäh­ rigen einen Briefwech­ sel, schrieb ihm 1976 auch das Puppenspiel „Der glückliche Ritter von Trinitat oder Wie wird man Oberdisku­ tierer“. Joachim Hams­ ter Damms Bühnen­ bildarbeiten kreisen bis heute um das Puppen­ spiel als ästhetische Form der Stilisierung. Absurd-pittoreske Spielelemente finden sich auch in seinem jüngsten Bühnenbild zu Fontanes „Grete Minde“ in der Regie von Kay Wuschek am Volkstheater Rostock. Im Insert stellen wir ihn und sein ungewöhnliches, oft geradezu berückend somnambul wirkendes Werk vor.

„Grete Minde“ am Volkstheater Rostock. Foto Frank Hormann

/ TdZ  Februar 2019  /

Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Harald Müller

Wolf E. Rahlfs (l.) und Georg Heckel. Fotos Kerstin Jana Kater / A. T. Schäfer

Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Redaktion Dorte Lena Eilers +49 (0) 30.44 35 28 5-17, Harald Müller (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-20, Anja Nioduschewski +49 (0) 30.44 35 28 5-18 redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Claudia Jürgens, Eva Merkel (Korrektur), Erika Meibauer (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Dr. Johannes Odenthal, Kathrin Tiedemann Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Yann Bachmann, Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: Kollin Medien GmbH, Neudrossenfeld 74. Jahrgang. Heft Nr. 2, Februar 2019. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 07.01.2019

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Neustarts Bei den Landesbühnen dreht sich das Intendanten-­ Karussell vielleicht langsamer – aber seit dieser Spielzeit starten mit Georg Heckel am Landestheater Detmold und Wolf E. Rahlfs am Theater der Altmark in Stendal zwei neue Intendanten durch. Welcher Programmatik folgen sie? Was entsteht ortsspezifisch aus der ­Dialektik von Profilierung und Bandbreite? Wie unter­ schiedlich das Konzept Landesbühne ausgeprägt ist, zeigen diese beiden Theater: Detmold, mit eigenem Musiktheaterensemble, holt sich mit Heckel einen ehemaligen Operndirektor; Stendal, stark im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters, mit Rahlfs je­ manden, der Kinder und Jugendliche nicht als Publikum von mor­ gen, sondern von heute begreift.

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. März 2019.


Was macht das Theater, Marcus Steinweg? In Ihrem Vortrag „Subjekt der Über­

aktueller Autor. Wegen des kalten

stürzung“ von 2004, der für Ihre heutige

Blicks, den er aufs Wirkliche wirft.

Philosophie exemplarisch steht, be­

Mit Niklas Luhmann teilt er emotionale

riefen Sie sich auf einige Denkbilder

Enthaltsamkeit, oder mit Foucault:

­Heiner Müllers. Darunter die Aussage:

die kalte Intelligenz des Samurais.

„Solange eine Kraft blind ist, ist sie eine

Wenn es eine Moral des Denkens gibt,

Kraft.“ Wie sehen Sie diese Äußerung

dann liegt sie nicht in moralischer

Müllers heute?

Verklärung, sondern im Bemühen um

Jeder, der künstlerisch tätig ist oder

Klarheit, was das Verständnis des

schreibt, weiß um die Blindheitsan-

Wirklichen, seine Analyse und politi-

teile seiner Tätigkeit. Indem Müller

sche Gestaltung betrifft.

darauf insistiert, dass der Text klüger sei als der Autor, meint er auch, dass

Dass das Theater der Gegenwart dazu

Blindheit zum Schreiben gehört, als

eine Selbstlosreißung bedeutet – oder

Überstürzung, „kontrollierter Wahn-

bedeuten könnte –, ist ein weiteres

sinn“. Nicht im Sinne irgendeiner

­Paradox. Wie verstehen Sie das?

Künstlerromantik oder ­ eines Vulgär-

Im Theater, in der Kunst im Allgemei-

surrealismus, sondern als tägliche Er-

nen, im Denken geht es immer auch

fahrung – als Normalität – künstleri-

darum, sich gegen sich selbst aufzu-

scher Produktion. Ebendies nenne ich

bringen, sonst schließt man sich in

Überstürzung, die ich auch fürs philo-

narzisstische Fantasien ein. Wer nicht

sophische Denken reklamiere, eine

gegen sich selbst denkt, denkt über-

Art präziser Kopflosigkeit, ohne die es kein Denken gibt. „Denken ohne ­Geländer“ hat Hannah Arendt es genannt. Das erfordert Risikobereitschaft, Öffnung aufs Unbestimmte. Wer diesen Mut nicht aufbringt, erschöpft sich im Buchstabieren des

Marcus Steinweg ist Philosoph und nach Lehrtätigkeit an verschiedenen Hochschulen und Universitäten seit 2018 Professor für Kunst und Theorie an der Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. Am 24. Februar hält er im Müllersalon im Deutschen Theater Berlin seine Lecture „In der Gegenwart leben ist bewusstlos leben“. Foto privat

haupt nicht. Adorno hat das Dialektik genannt. Eine Unruhedialektik, die den Gegner in sich selbst ausmacht, statt sich ins Richtige zu retten. Aus meiner Sicht verspannt sich das deutsche Theater heute in Paradoxien zwischen altem Aufklärungsauftrag, Ver-

Bestehenden, reduziert sich zum Pro-

suchen neuer Dichtung, einem Selbstauf-

tokollanten der Macht. Kunst und Philosophie aber verbindet – Müller

Das impliziert Verzicht auf Schönfärberei.

trag zur Erforschung unserer Gegenwart

wusste das – Suspension von Realität. Es ist

Selbstverständlich ohne nach rechts zu ge-

und wenigen Exzessen, die das Theater in Rich-

ein gesteigerter Realismus, den uns Müller

hen. Rechtssein ist für mich ein Synonym für

tung Existenz-Kunst zu überschreiten suchen.

lehrt: ein Realismus, der den etablierten Rea-

Dummsein! Unschuld und Integrität aber

Oder bliebe da eine andere Bestimmung des

litätsvorstellungen opponiert.

bleiben Phantasmen. „Kein Mensch ist inte-

Theaters?

ger“, sagt Müller. „Niemand ist tabula rasa“,

Das Paradox ist Normalität. Es korreliert mit

Diese Realitätsvorstellungen spielen ja auch in

schreibt Adorno. In der Realität zu sein be-

der Kontradiktorik von Realität, ihrer Zerris-

einem weiteren Zitat Heiner Müllers eine Rolle,

deutet, von ihr kontaminiert zu sein. Ein­

senheit, die sich keiner finalen Synthese

auf das Sie Bezug nehmen: dass Kunst wesent-

verständnis ist Einverständnis mit dieser

beugt. „Gott ist tot“ heißt auch, dass wir über

lich – im Unterschied zum Journalismus – Ein-

­Verstrickung, wie Brecht nicht müde wurde,

nur arbiträre Kriterien verfügen, uns in der

verständnis bedeutet. Einverständnis womit?

es zu wiederholen. Das hat nichts mit Zynis-

Wirklichkeit durch ihre Beurteilung zu orien-

Einverständnis mit der Wirklichkeit, wie sie

mus zu tun, sondern indiziert ein Minimum

tieren. Die sich über sich selbst aufklärende

ist. Einverständnis ist nicht Gutheißung. Ein-

an R ­ ealismus und Erwachsenheit. Es geht

Aufklärung bejaht die Kompossibilität von

verstandensein bedeutet, sich der Komplexi-

darum, sich der Position der schönen Seele

Licht und Dunkelheit, Vernunft und Irrsinn,

tät, Unübersichtlichkeit und Inkommensura-

zu entziehen, die sich den unbequemen

Sinn und Nichtsinn etc. Sie resistiert dem

bilität der Realität zu stellen. Sich zu weigern,

Realitäts­ anteilen verweigert, indem sie sie

Tatsachenobskurantismus ebenso wie dem

ihre Kontingenz oder ontologische Indifferenz

aus ihrem Realitätsbild exkludiert, um sich

Obskurantismus tout court. Die Aufklärung ist

zu ignorieren. Für Müller war die moralisie-

faktisch damit politisch zu neutralisieren.

selbst ein Exzess. Solange sie sich darüber im Klaren ist, hat sie eine Chance, der falschen

rende Glasierung des Wirklichen keine Option. Hier liegt die politische Bedeutung seiner

Wie sehen Sie Heiner Müller heute? Ist er noch

Alternative zwischen Realismus und Idealis-

Position. Ich unterscheide zwischen einer ­

anregend für die zeitgenössische Philosophie?

mus zu widerstehen. //

Gutes-Gewissen-Linken und einer Heiner-

Heiner Müller bleibt für mich brisant: ein

Müller-Linken. Ich bin Heiner-Müller-links.

heute nicht weniger als zu seinen Lebzeiten

Die Fragen stellte Thomas Irmer.


JTK 10+

JTK 8+


Premiere am Fr, 25.01.2019

DIE BARTHOLOMÄUSNACHT

Nach dem Roman von Alexandre Dumas // Uraufführung Regie // Ewelina Marciniak Premiere am Sa, 16.02.2019 Deutsche Erstaufführung

HULDA

Oper von César Franck Musikalische Leitung // Fabrice Bollon Regie // Tilman Knabe Premiere am Sa, 18.05.2019

DIE KÜCHE

Arnold Wesker Regie // Amir Reza Koohestani

Karten THEATER.FREIBURG.DE

Telefon 0761 201 28 53 theaterkasse@theater.freiburg.de oder www.theater.freiburg.de Bertoldstraße 46 (Mo. – Fr. 10 – 18 Uhr / Sa. 10 – 13 Uhr) BZ-Vorverkauf im Umland Telefon 0761 496 88 88


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