Arbeitsbuch 2021: transformers – digitalität inklusion nachhaltigkeit

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EUR 24,50 / www.theaterderzeit.de

transformers

digitalität inklusion nachhaltigkeit


7.–28.5.22 stuecke.de Veranstaltet von

Gefördert von


Sarah Kilter

White Passing Amanda Lasker-Berlin

Ich, Wunderwerk und how much I love Di urbing ntent

Autor: innen th ter tage

Chris Michalski

When There's Nothing ft To Burn You Have To Set You elf On Fire

2. – 5.9. 5.9.2021 deutschestheater.de Mit freundlicher Unterstützung

Patty Kim Hamilton

Peeling O nges Und: Penda Diouf Rebekka Kricheldorf Milena Michalek Fiston Mwanza Mujila Jakob Nolte Thomas Perle Kevin Rittberger Ferdinand Schmalz Nele Stuhler Maria Ursprung JURY Lukas Bärfuss Fritzi Haberlandt Schorsch Kamerun PARTNERTHEATER Schauspielhaus Graz Schauspiel Leipzig


Spielzeit 21.22

Darf ich offen sein?


© MORITZ HAASE

SPIELZEITSTART 13. AUGUST


Staatstheater Braunschweig Woyzeck Büchner / Waits / Brennan / Wilson R: Ulrike Arnold ab 17.9.21, Großes Haus Feuerkopf (UA) Manfred Karge R: Manfred Karge ab 24.9.21, Kleines Haus Alles, was wir geben mussten Kazuo Ishiguro R: Felicitas Brucker ab 28.10.21, Kleines Haus Biedermann und die Brandstifter Max Frisch R: Markus Heinzelmann ab 5.2.22, Großes Haus Maria Stuart Friedrich Schiller R: Dagmar Schlingmann ab 25.3.22, Großes Haus Die Schritte der Nemesis (UA) Nikolaj Evreinov R: Yuri Birte Anderson / International Laboratory Ensemble ab 4.6.22, Kleines Haus

Roman Konieczny, Schauspiel



ALL IN

8 Ensembleprojekte zum Kosmos Identität

EMIL UND DIE DETEKTIVE Von Erich Kästner [8 plus]

SOON WE’LL MAKE LOTS OF LOVE Tanztheaterstück von Dafi Altabeb & Nini Moshe [12 plus]

RONJA RÄUBERTOCHTER

ENDE OHNE ANFANG

Choreographisches Theater von Felix Berner (UA) [14 plus]

ON THE OTHER SIDE

Ein analoger Algorithmus von VERAVOEGELIN (UA) [14 plus]

DER KATZE IST ES GANZ EGAL

Hybrides mobiles Theaterstück nach dem Kinderbuch von Franz Orghandl (UA) [9 plus]

STRUWWEL

Sommertheater für die ganze Familie im Robert-Koch-Park | Von Astrid Lindgren | Für die Bühne bearbeitet von Barbara Hass [6 plus]

Wilde Bühne für ein inklusives generationsübergreifendes Ensemble | Frei nach dem Kinderbuch »Der Struwwelpeter« von Dr. H. Hoffmann (UA) [10 plus]

DER ZINNSOLDAT UND DIE PAPIERTÄNZERIN

DAS KIND MIT DEM BADE AUSSCHÜTTEN

QUEERTOWNS

ALL GENDER*SPLAINING

Von Roland Schimmelpfennig | Puppentheater nach dem Märchen von Hans Christian Andersen [6 plus]

5 Städte, 5 Theater, 5 (digitale) Ferienprojekte [16 – 24 Jahre]

Kinderstück in drei Teilen von Kristo Šagor (UA) [8 plus]

Mobiles »JuWi-spielt« Klassenzimmerstück über Geschlechtsidentität [12 plus]

THEATER DER JUNGEN WELT LEIPZIG Karten: 0341.486 60 16 | www.tdjw.de



SCHAUSPIEL KOELN PREMIEREN 2021 22 NATHAN DER WEISE VON GOTTHOLD EPHRAIM LESSING REGIE: STEFAN BACHMANN PREMIERE: 10.09.2021 • DEPOT 1

UTOPOLIS KÖLN

VON RIMINI PROTOKOLL (HAUG/KAEGI/WETZEL) DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG: 15.09.2021 IN DER STADT

ODE

VON THOMAS MELLE REGIE: RAFAEL SANCHEZ URAUFFÜHRUNG DER FASSUNG 2021: 17.09.2021 DEPOT 2

ORLANDO

NACH VIRGINIA WOOLF REGIE: LUCIA BIHLER PREMIERE: 02.10.2021 • DEPOT 1

DER WILDE

NORTH / SOUTH FESTIVAL FEAT. MADE TWO WALKING / MADE ALL WALKING

BALLET OF OBEDIENCE

VON RICHARD SIEGAL/BALLET OF DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL URAUFFÜHRUNG: 10.12.2021 • DEPOT 2

BRUDER EICHMANN VON HEINAR KIPPHARDT REGIE: THOMAS JONIGK PREMIERE: 23.10.2021 • DEPOT 2

DIE LÜCKE 2.0

VON NURAN DAVID CALIS BEARBEITUNG DER INSZENIERUNG »DIE LÜCKE« (2014) REGIE: NURAN DAVID CALIS PREMIERE: HERBST 2021 • DEPOT 2

ENGEL IN AMERIKA

DOMPROJEKT (AT)

MOLIÉRE

EXTRAS

TRIPLE

GESPRÄCHSREIHE MIT KATHRIN RÖGGLA HERBST 2021

METROPOL

VON HERTA MÜLLER IN EINER FASSUNG FÜR DAS THEATER VON BASTIAN KRAFT REGIE: BASTIAN KRAFT URAUFFÜHRUNG: 22.10.2021 • DEPOT 1

VON RICHARD SIEGAL/BALLET OF DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL PREMIERE: 20.05.2022 • DEPOT 1

VON TONY KUSHNER TEIL 1: DIE JAHRHUNDERTWENDE NAHT TEIL 2: PERESTROIKA AUS DEM ENGLISCHEN VON FRANK HEIBERT REGIE: MORITZ SOSTMANN PREMIERE: MAI 2022 • OPEN AIR

ICH BIN EIN DÄMON, FLEISCH GEWORDEN UND ALS MENSCH VERKLEIDET REGIE: FRANK CASTORF PREMIERE: 21.01.2022 • DEPOT 1

ATEMSCHAUKEL

SVENJA

EINE VISUELLE ALPTRAUMANALYSE VON ANTA HELENA RECKE REGIE: ANTA HELENA RECKE URAUFFÜHRUNG: 29.04.2022 • DEPOT 2

VON OLIVER FRLJIĆ REGIE: OLIVER FRLJIĆ URAUFFÜHRUNG: 17.12.2021 • DEPOT 1

NACH DEM GLEICHNAMIGEN ROMAN VON EUGEN RUGE IN DER THEATERFASSUNG VON ARMIN PETRAS REGIE: ARMIN PETRAS URAUFFÜHRUNG: OKTOBER 2021 • DEPOT 2

RICHARD III.

NACH WILLIAM SHAKESPEARE IN EINER ÜBERSCHREIBUNG VON KATJA BRUNNER REGIE: PINAR KARABULUT URAUFFÜHRUNG: 23.04.2022 • DEPOT 1

NACH DEM ROMAN VON GUILLERMO ARRIAGA IN EINER BÜHNENFASSUNG VON DAVID GAITÁN REGIE: DAVID GAITÁN URAUFFÜHRUNG: 19.11.2021 • DEPOT 2

REICH DES TODES

VON RAINALD GOETZ KOOPERATION MIT DEM DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS REGIE: STEFAN BACHMANN PREMIERE: HERBST 2021 • DEPOT 1

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OBLOMOW REVISITED (AT)

FREI NACH IWAN GONTSCHAROWS ROMAN »OBLOMOW IN EINER ÜBERSCHREIBUNG VON NELE STUHLER REGIE: LUK PERCEVAL URAUFFÜHRUNG: 12.11.2021 • DIGITAL

(ALL FOR ONE/METRIC DOZEN/MY GENERATION) VON RICHARD SIEGAL/BALLET OF DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL PREMIERE: 11.02.2022 • DEPOT 1

FALSTAFF

EIN SHAKESPEARE-PROJEKT VON JAN BOSSE REGIE: JAN BOSSE PREMIERE: 18.03.2022 • DEPOT 1

MÖLLN 92/22

VON NURAN DAVID CALIS REGIE: NURAN DAVID CALIS URAUFFÜHRUNG: 08.04.2022 • DEPOT 2

ÄNDERUNGEN VORBEHALTEN. STAND 31.05.2021

NAHAUFNAHME

KEIN SCHLUSSSTRICH!

EIN BUNDESWEITES THEATERPROJEKT MIT KÜNSTLERISCHEN UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHEN INTERVENTIONEN ZUM NSU-KOMPLEX 21.10. – 07.11.2021

WUNDERSCHÖNES WELKFLEISCH

EINE STÜCKENTWICKLUNG VON UND MIT DER »OLDSCHOOL« DES SCHAUSPIEL KÖLN REGIE: DAVID VOGEL URAUFFÜHRUNG: FEBRUAR 2022 • DEPOT 2

BRITNEY X FESTIVAL 5. EDITION DES FESTIVALS JUNI 2022 • IN DER STADT


transformers digitalität inklusion nachhaltigkeit

Herausgegeben von Juliane Zellner, Marcus Lobbes und Jonas Zipf


bruno latour

prolog

Solange die Erde noch stabil schien, konnte man von Raum sprechen und sich darin und auf einem Stück ­Territorium, das wir angeblich besetzt hatten, platzieren. Was aber soll man tun, wenn das Territorium selbst an der Geschichte teilzunehmen beginnt, Schlag auf Schlag zurückgibt, kurzum: sich mit uns beschäftigt? Die Bedeutung des Ausdrucks »Ich gehöre (zu) einem Territorium« hat sich gewandelt: Er bezeichnet jetzt die Instanz, die den Eigentümer in Besitz hat! Das TERRESTRISCHE stellt nicht länger allein den Rahmen menschlichen Handelns dar, es ist vielmehr Teil davon. Der Raum ist nicht mehr der mit ihrem Raster aus Längen- und Breitengraden erfasste der Karto­grafie, sondern ist zu einer bewegten Geschichte geworden, in der wir selbst nur Beteiligte unter anderen sind, die auf Reaktionen anderer reagieren. Augenscheinlich landen wir mitten in der Geogeschichte. Sich in Richtung des GLOBALEN aufmachen hieß, auf einen unendlichen Horizont zu immer weiter fortschreiten, eine endlose Grenze vor sich hertreiben; wandte man sich dagegen der anderen Seite zu, hin zum LOKALEN, dann in der Hoffnung, die Sicherheit einer stabilen Grenze und die Geborgenheit einer festen Identität wiederzufinden. Dass es uns heute so schwerfällt zu erkennen, welcher Epoche wir angehören, rührt daher, dass dieser dritte Attraktor allen bekannt und zugleich vollkommen fremd ist. Das TERRESTRISCHE ist zweifellos eine NEUE WELT, ähnelt aber keineswegs der einst von den Modernen »entdeckten«, dann aber entvölkerten. Das ist keine neue Terra incognita für Forscher mit Kolonialhelm. ­Keinesfalls handelt es sich um eine res nullius, bereit zur Appropriation.

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Im Gegenteil, die Modernen migrieren auf eine Erde zu, ein Terroir, einen Boden, einen Landstrich, ein Gelände, egal, wie man es nennen will, das bereits besetzt, seit je bevölkert ist. Und das, seit Kurzem, von einer Vielzahl derer wiederbevölkert wird, die lange vor den anderen gespürt haben, wie notwendig es war, sich schleunigst dem Gebot der Modernisierung zu entziehen. In dieser Welt befindet sich der moderne Geist gleichsam im Exil. Er wird lernen müssen, mit jenen ­zusammenzuleben, die er bisher als Altvordere, Traditionalisten, Reaktionäre oder schlicht als Lokalpatrioten betitelte. Doch so alt dieser Raum auch sein mag, er ist für alle neu, da es, verfolgt man die Diskussionen der Klimaspezialisten, für die gegenwärtige Situation schlicht keinen Präzedenzfall gibt. Da haben wir die ­wicked universality, den universellen Mangel an Erde. Was wir Zivilisation, Kultur nennen, sagen wir die im Laufe der letzten zehn Jahrtausende angenommenen Gewohnheiten, hat sich, so erklären die Geologen, innerhalb eines erstaunlich stabilen geografischen Raums und Zeitabschnitts vollzogen. Das – von ihnen so bezeichnete – Holozän wies alle Merkmale eines »Rahmens« auf, innerhalb dessen man mühelos das Handeln der Menschen unterscheiden konnte – so wie man im Theater Räumlichkeit und Kulissen vergessen und sich auf die Handlung konzentrieren kann. Das trifft auf das Anthropozän nicht mehr zu, diesen umstrittenen Terminus, mit dem einige Experten gerne den gegenwärtigen Zeitabschnitt bezeichnen würden. Hier geht es nicht mehr um kleine klimatische Schwan­ kungen, sondern um eine das gesamte Erdsystem tangierende Erschütterung. Natürlich haben die Menschen schon immer ihre ­Umwelt verändert, aber dieser Begriff bezeichnete nur


sollte man sich freiwillig diesem Attraktor zuwenden, wenn man gerade dem Horizont der universellen Modernisierung entgegensegelte? Sich aus freien Stücken einer solchen Situation zu stellen, gemahnt an den Helden aus Edgar Allan Poes Novelle Sturz in den Mahlstrom. Was den einzigen Überlebenden, den alten Seemann von den Lofoten, von den Ertrunkenen unterscheidet, ist die kaltblütige Aufmerksamkeit, mit der er die Bewegung der Bruchstücke, die der Strudel um ihn herumwirbelt, beobachtet. Als das Schiff in den Schlund getrieben wird, klammert sich der Erzähler an ein leeres Fass und überlebt. Es gilt, so listenreich zu sein wie dieser alte Seemann: nicht daran glauben, dass man sich entziehen kann; nicht aufhören, mit wachen Sinnen zu beobachten, ­wohin die Trümmer treiben; so lässt sich möglicherweise blitzartig erfassen, warum einige Trümmerstücke in die Tiefe gezogen werden, andere Teile aufgrund ihrer Form dagegen als Rettungsringe dienen könnten. »Mein König­reich für eine Tonne!«

Textauszug aus: Bruno Latour, Das terrestrische Manifest. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. © La Découverte, 2017. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.

prolog

ihr Umfeld, das, was sie im präzisen Sinne umgab. Sie selbst bildeten weiterhin die Hauptfiguren, veränderten lediglich am Rande das Dekor ihrer Dramen. Heute sind alle: Dekor, Kulissen, Hinterbühne, das gesamte Gebäude, auf die Bühnenbretter gestiegen und machen den Schauspielern die Hauptrolle streitig. Das schlägt sich in den Textbüchern nieder, legt andere Ausgänge der Intrigen nahe. Die Menschen sind nicht mehr die einzigen Akteure, sehen sich zugleich aber mit einer Rolle betraut, die viel zu groß für sie ist. Dass man sich nicht mehr dieselben Geschichten ­erzählen kann, steht jedenfalls fest. Die Spannung ist auf dem Höhepunkt. Also zurück? Nochmals die alten Rezepte lernen? Mit einem veränderten Blick die tausendjährigen Weisheiten anschauen? Von den wenigen Kulturen lernen, die noch nicht modernisiert wurden? Ja, sicher, aber ohne sich dabei in Illusionen zu wiegen: Auch für sie gibt es keinen Präzedenzfall. Keine menschliche Gesellschaft, wie weise, subtil, achtsam, vorsichtig wir sie uns auch vorstellen, musste sich bisher mit den Reaktionen des Systems Erde auf das Handeln von acht bis neun Milliarden Menschen befassen. Die in zehntausend Jahren akkumulierte Weisheit, selbst wenn wir wieder zu ihr vordringen sollten, hat nie mehr als ein paar hundert oder tausend, bestenfalls ein paar Millionen Menschen auf einer eher stabil bleibenden Bühne Nutzen gebracht. Die Leere der gegenwärtigen Politik bleibt ein Rätsel, wenn man sich nicht klarmacht, wie beispiellos die jetzige Situation ist. Das kann einen wahrlich in Schockstarre versetzen. Zumindest können wir jetzt die Reaktion derer besser nachvollziehen, die sich zur Flucht entschlossen. Warum

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inhalt 10 prolog

15 BRUNO LATOUR

design und desaster

vorrede zur transformation des theaters. JONAS ZIPF im gespräch mit SILKE VAN DYK und FRIEDRICH VON BORRIES

Nachhaltigkeit / Inklusion / Digitalität

25 wann, wenn nicht jetzt?

30 endlich.

ein zwischenruf von ADRIENNE GOEHLER Nachhaltigkeit

36

save the world with this melody?

TINA LORENZ Digitalität / Nachhaltigkeit

wie wir theater und nachhaltigkeit zusammendenken können NICOLA BRAMKAMP

Nachhaltigkeit

39 „das ist alles von der kunstfreiheit gedeckt …“

47 wir, die unsichtbaren

NICOLA BRAMKAMP im gespräch mit HELGARD HAUG (rimini protokoll), JEAN PETERS (PENG!), ALEXANDER GIESCHE und ANTA HELENA RECKE.

Nachhaltigkeit

52

ostdeutsche of color zwischen marginalisierung und regimen der sichtbarkeit KATHARINA WARDA

gegen die tür

Inklusion

theater, inklusion und architektur – eine bestandsaufnahme JULIANE ZELLNER

Inklusion

57 die katze der inklusion

gespräch zwischen AMELIE DEUFLHARD und JONAS ZIPF

Inklusion

66 digitale erschließungen

eine utopie der zugänge, digitalität, diversität und theater MIRIAM MICHEL oder

Digitalität / Inklusion

72 krumme rücken offene augen

über plattformkapitalismus und inklusion. JONAS ZIPF im gespräch mit JOSEPH VOGL

Digitalität / Inklusion


80 parasiten

88

MARC SINAN

von heute auf morgen

94 ich, ein*e transformer*in

100 beyond digital

was bedeutet diversität und wie setzen wir sie im theater um? JULIANE ZELLNER im gespräch mit LISA SCHEIBNER und KATE BREHME

Inklusion

NENAD ČUPIĆ Inklusion / Nachhaltigkeit

108 über (post-)digitale bühnen BIRGIT WIENS Digitalität

oper, klima und der wandel

„Wechsel/Wirkung“ BERTHOLD SCHNEIDER, UWE SCHNEIDEWIND, CAROLINE BAEDECKER UND MANFRED FISCHEDICK

Nachhaltigkeit

113 von der pflicht zur kür

nachhaltigkeitsmanagement an der oper göteborg ANNETT BAUMAST

Nachhaltigkeit

120

Digitalität

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Biografien

SEITE 162

Impressum

SEITE 168

über transformation und das muffeln

für ein postdigitales theater von Judith Ackermann und Benjamin Egger

empathische feedbackschleifen

JULIANE ZELLNER im gespräch mit HORTENSIA VÖLCKERS

129

Nachhaltigkeit / Digitalität / Inklusion

digitaler humus

BETTINA MILZ Digitalität

133 la forza del destino

oder: die vernetzung der theaterlandschaft MARCUS LOBBES

Digitalität

für einen fonds ästhetik und nachhaltigkeit | FÄN

147 eskalation und enttäuschung

144

transformation zwischen bottom up und top down JONAS ZIPF im gespräch mit RAHEL JAEGGI und CARSTEN BROSDA

Digitalität Nachhaltigkeit Inklusion

raus aus den echokammern – aufruf zur kompliz:innenschaft! ADRIENNE GOEHLER und MANUEL RIVERA und 107 Stimmen aus Kunst, Wissenschaft und dem Dazwischen

Nachhaltigkeit

14–125 indikatorische notationen

MICHAELA ROTSCH


NOTATION_SFBODIES 00‘39~

INDIKATORISCHE NOTATIONEN von Michaela Rotsch zu STRANGE FOREIGN BODIES von Zufit Simon


Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Inklusion – die Themen der Großen Transformation unserer Zeit waren alle schon vor Corona da. Die Pandemie katalysiert und beschleunigt ihre Effekte. Ein oft gebrauchtes Bild, deswegen nicht weniger wahr: Corona zeigt uns im Brennglas, was los ist. Kein Zufall, dass wir gerade jetzt verstärkt über Rassismus und die Fleisch­industrie sprechen, über Klassismus und Bildung, über das Anthropozän oder die Veränderung unserer Innenstädte. Doch was ist das überhaupt, diese ominöse Transformation, von der auf einmal alle reden? Und was bedeutet sie für den Theaterbetrieb? Zum Einstieg in das Arbeitsbuch befragt JONAS ZIPF die Soziologin SILKE VAN DYK und den Architekten

FRIEDRICH VON BORRIES. Ein Gespräch über Begriffe und ihren Gegenstand, über Form und Inhalt, über das Erzählen und Erleben und darüber, ob sich die ganze Sache mit dem Theater noch irgendwie verändern lässt.

JONAS ZIPF: Unser Gespräch setzt den Einstieg und Rahmen für ein Arbeitsbuch zur Transformation des Theater­­ betriebs. Es steht unter dem Titel Transformers und widmet sich drei thematischen Schwerpunkten, mit denen wir ­Heraus­geber*innen die Transformationsthemen, die das Theater und den Kulturbetrieb betreffen, clustern. Die drei Schlagwörter lauten Nachhaltigkeit, Inklusion – wir spre­ chen bewusst von Inklusion und nicht von Diversität – und Digitalisierung. In unserem Buch versammeln wir Texte und Thesen, Ansätze und Ausblicke, skizzieren Prozessdesigns der Transformation. Als Pendant zu unserem heutigen Ge­ spräch steht am Ende des Buchs der gedankliche Austausch zwischen Rahel Jaeggi und Carsten Brosda. Da wollen wir darüber sprechen, wie das gehen soll: die große Veränderung und der Alltag der Theater- und Kulturbetriebe. Top down oder Bottom up? Mit euch möchte ich in dieses Buch einstei­ gen: Was ist das eigentlich, die Große Transformation, die gerade in aller Munde ist und so unendlich unterschiedlich aufgeladen wird. Wie ereignet sie sich? Wen betrifft sie? Und wen erreicht sie? Aber zunächst zum Transformationsbegriff selbst: Worin unterscheidet sich Transformation von Reform?

FRIEDRICH VON BORRIES: Ich sehe da zwei

Ansätze. Einerseits trägt die Reform das „Re“ in sich, also eine Vorstellung davon, dass es mal eine Form gegeben hätte, die es wieder herzustellen gälte. Andererseits sehe ich diesen Begriff stark im politischen Raum verortet, der häufig noch von der Vorstellung geprägt ist, dass Politik ein prägender gesellschaftlicher Treiber

sei, während wir bei den gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen andere Akteure erleben: Akteure aus Kunst und Kultur, aus der Zivilgesellschaft, aber auch aus der Wirtschaft. Ich verstehe Transformationsprozesse also so, dass es nicht mehr das Primat der Politik gibt, sondern – und darin besteht ja vielleicht auch ein Problem der Gegenwart – das Feld der Politik der Wirklichkeit hinterherhinkt, weil viele gesellschaftliche Bereiche sich bereits transformiert haben. Ich sehe den Unterschied zwischen den beiden Begriffen also darin, dass Reformen etwas beschreiben, was es schon gegeben hat und wieder herzustellen gäbe, also Re-Formieren, Transformationen dagegen von anderen, neuen Akteurskonstellationen ausgehen. In dieser Veränderung der Akteurskonstellationen zeigt sich dann auch noch ein dritter Aspekt: Denn ich glaube, dass die Transformation ein Verwandlungsprozess ist, in dem das ursprüngliche Wesen erhalten bleibt, sich zwar die Form verändert, aber das, was darin liegt, dennoch als Energie erhalten bleibt – nur eben transformiert. Anders als eine Revo­ lution, die alles umkehrt und grundlegend verändert, ist die Transformation ein langsamer Prozess.

JONAS ZIPF: In deinem Buch Weltentwerfen ent­ wickelst du allerdings eine „politische Designtheorie“ und beschreibst gesellschaftliche Veränderung als Gestal­ tungsanspruch an die kleinen und die großen Dinge. Um zunächst beim Abgrenzen der Begriffe zu bleiben: Würdest du dich als Transformationsdesigner bezeichnen?

jonas zipf mit silke van dyk und friedrich von borries

vorrede zur transformation des theaters

design und desaster. vorrede zur transformation des theaters

design und desaster

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FRIEDRICH VON BORRIES: Mir gefällt an s­ olchen Begriffen nicht, dass sie den gerade im aka­­ demischen Raum ständig wiederkehrenden, stark ­konkur­renzorientierten Versuch darstellen, Alleinstellungsmerkmale zu schaffen. Oft geht es dabei um ­akademische Selbstbehauptung oder -vermarktung. Was ich aber an dem Begriff mag, ist, dass eine Gestaltungsdimension nach vorne geschoben wird, also dass der Begriff einen Gestaltungsvorgang beschreibt – also dass Transformation nicht unwillkürlich über uns hinwegrollt, sondern gestaltbar ist, ein Prozess, an dem übrigens viele Menschen beteiligt sind, ob sie wollen oder nicht. Aus der Praxis eines Architekten heraus gesprochen fällt mir negativ auf, dass in den Transformations- und Nachhaltigkeitsdiskursen der Gegenwart diejenigen, die sich mit der Gestaltung von Veränderungen aktiv auskennen – also Architekt*innen, Designer*innen oder Künstler*innen – überhaupt nicht vorkommen. Im Rat für Nachhaltigkeit sitzen Sozialwissenschaftler*innen, die das alles beschreiben können; da sitzen Technikwissenschaftler*innen oder Ingenieur*innen, die alles technisch neu erfinden wollen – aber die, die genau die Zwischenschritte zwischen technischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Machbarkeiten machen, diejenigen, die mit diesen Möglichkeiten kreativ und gestalterisch, im wahrsten Sinne des Wortes, umgehen, die fehlen. Es ist mir also wichtig, daran zu erinnern, dass man die auch braucht: Ihr seht: Letztlich verstehe ich Begriffe wie Transformation und Transformationsdesign in ihrer praktischen Dimension. Zur theoretischen Begriffsdefinition würde ich lieber an die Sozialwissenschaftlerin in der Runde weitergeben. SILKE VAN DYK: Tatsächlich verwenden wir

den Begriff der Transformation mittlerweile relativ breit im Alltag. Der Begriff markiert, jenseits der alten linken Kontroversen zwischen Reformisten und Revolutionären, etwas dazu Querliegendes. Indem er tatsächlich breitere Akteurskonstellationen adressiert und auf unterschiedlichen Ebenen ansetzt, beschreibt Transformation einen Prozess der kleinen Schritte, der gleich­ zeitig auf ein radikales Ziel hin orientiert sein kann. Daher halte ich es für keinen Zufall, dass jetzt aktuelle Bewegungen sich nicht mehr im Gegensatz von Reform und Revolution verkämpfen und sich lieber darum bemühen, Transformationsprozesse anzustoßen. Ihre Fragestellung ist eine andere: Wie verhält sich, um auch beim D ­ esignbegriff zu bleiben, Transformation by Design zu Transformation by Desaster? Damit wären wir bei der eingangs erwähnten Wegscheide zwischen aktiver Gestaltung und durch Katastrophen erzwungener Transformation. Dieses Fragen danach, ob wir voranschreiten oder uns den Entwicklungen ergeben, kennzeichnet ja schon die globalisierungskritischen Bewegungen der 90er, erst recht aber die Klima- oder Emanzipations­ aktivist*innen unserer Zeit: Der Unterschied zu der alten

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Debatte zwischen Reform und Revolution besteht darin, dass diese Bewegungen – und das ist ein ganz entscheidender Punkt – auch radikal damit arbeiten, dass sich die Akteure der Transformation im Prozess der Transformation selbst verändern. Sei es durch neue Formen der Kooperation im Protest, das Erproben solidarischer Alltagsökonomien oder durch räumlich situierte Konzepte, etwa den Platzbesetzungen der Occupy-Bewegung. Auch wenn solche Praktiken in ihrer Wirkung bisweilen überakzentuiert und überschätzt worden sind und zu schnell und zu euphorisch zu einem neuen Gesellschafts­ modell aufaddiert wurden, so glaube ich trotzdem, dass die Idee, dass Akteure sich in Transformationsprozessen wandeln, extrem wichtig ist. Und mehr noch: dass sie auch ihre Ziele dynamisch modifizieren, dass bisweilen radikale Lösungen im Prozess denk- und lebbar werden, die es in den Anfängen vielleicht noch gar nicht gab.

JONAS ZIPF:

Für das Arbeitsbuch geht unser Ver­

ständnis des Transformationsbegriffs stark aus von Karl Polanyi, also vom historischen Rückblick auf das soge­ nannte lange 19. Jahrhundert, die soziale, gesellschaftli­ che, ökonomische und politische Entwicklung bis hin zum Dritten Reich. Polanyi beschreibt Transformation letztlich als Veränderung, die stattfindet, ob wir wollen oder nicht. Seine zwangläufige Frage ist, wer sie zu welchem Zweck, in welche Richtung gestaltet. Angesichts kommender oder laufender Transformationen haben gesellschaftliche Gruppen keine Wahl, diese zu verhindern, nur die Wahl, sie in ihrem Sinne zu gestalten. Entspricht das auch ­deinem Transformationsverständnis?

SILKE VAN DYK: Voll und ganz. Das, was Polanyi als Great Transformation bezeichnet, macht eine strukturell historische Dynamik auf, die sich möglicherweise auf heute übertragen lässt. Seine zentrale Idee ist es zu zeigen, dass es im Kapitalismus keine nicht eingebetteten Märkte gibt. Der Kapitalismus ist für sein Funktionieren immer darauf angewiesen, nicht-marktförmige Ressourcen, Strukturen und Institutionen für seine ­Reproduktion zu nutzen. Polanyi begreift diese Muster als Pendelbewegung: Auf Phasen der Liberalisierung, De­regulierung und Flexibilisierung folgen deshalb Gegenkräfte der Marktbegrenzung, -einbettung und -einschränkung. Was uns nun im Postwachstumskolleg in Jena interessiert hat, war die im Anschluss an Polanyi gestellte Frage, ob wir uns aktuell nicht in einer Konstellation befinden, die vielleicht nicht in jeglichem Sinne ähnlich, aber immerhin vergleichbar mit der Situation der Zwischenkriegszeit ist, die Polanyi analysiert hat: Ob auch wir uns in einer Phase befinden, in der nach radikalen Deregulierungen und Liberalisierungen verschiedene Kräfte miteinander um die Vorherrschaft neuer Formen der Einbettung und Regulierung ringen. Für die aktuelle Situation ist das Interessante an Polanyis historischer Analyse, dass man an den 1920er- und 30er-Jahren sehen


momentan immer häufiger, gerade im Osten Deutschlands, bemüht. In der Pandemie erklingt der Transformations­ begriff plötzlich auch in der Kultur. Die Kulturpolitische Gesellschaft, der Kulturrat, alle möglichen Dach- und Fachverbände verwenden diesen Begriff. Jeder verwendet ihn anders, einige Diskussionen verlaufen noch sehr unge­ nau. Schon steht der Vorwurf im Raum, dass der Begriff eine kulturpolitische Ummantelung für die gleichzeitig im politischen Hintergrund längst begonnenen Kürzungsdis­ kussionen sei. Lässt sich da von den historischen Analogien lernen? Welchen Einfluss können denn Gestalter*innen und Künstler*innen auf solche offenen Situationen überhaupt nehmen?

SILKE VAN DYK: Zwei Punkte dazu. Erstens gälte es, das vorhandene rebellische Potenzial in der Kultur oder Kunst zu analysieren. In der Kritischen Theorie wird die These der Kulturindustrie schon seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts untermauert: Kunst und Kultur finden, so die These, vornehmlich in ihrer verwerteten, angepassten und damit nicht mehr subversiven Form statt. Weitergeführt wurde der Gedanke in Ansätzen, die analysieren, wie im Neoliberalismus selbst Kritisches und Subversives in Ressourcen einer flexibilisierten Produktion und Gesellschaft umgearbeitet werden. Das könnte durchaus eine Rolle bei der Frage spielen, warum die künstlerische oder kulturelle Perspektive aus

FRIEDRICH VON BORRIES: Stellt euch vor, wir sollten ein nachhaltiges Gebäude entwerfen. ­ Die Techniker*innen schlagen vor, eine künstliche Be­ lüftungs- und Klimatisierungsanlage einzubauen, die optimal zu den Wind- und Wetterbedingungen passt, vollautomatisiert auf die Raumbelegung reagiert, die Jalousien betätigt usw. usf. Die Sozialwissenschaftler*innen stellen fest, dass die Nutzer*innen das überhaupt nicht mögen und total paralysiert reagieren, wenn plötzlich die Jalousie runterfährt und sie eigentlich nicht wissen, warum. Beide haben aber keine Lösung dafür, was sie jetzt machen sollen. Genau dafür, wie man mit diesem Dilemma umgeht, dass eine bestimmte technische Lösung rechnerisch, ökobilanzseitig perfekt aufgeht, aber von den Nutzer*innen nicht angenommen wird, braucht es die Leute, die Lösungen gestalterisch, explorativ, iterativ, spielerisch entwerfen und andere Vorschläge machen. Die kommen aber in unseren bis­ herigen gesellschaftlichen Problemlösungsmodellen nicht vor. Auch die ganze manageriale Praxis sieht doch ein iteratives und kreatives Vorgehen überhaupt nicht vor. Deshalb kommen die Unternehmen ja auch mit der Krise nicht zurecht. Ich behaupte dabei übrigens gar nicht: Künstler*innen, Gestalter*innen, Architekt*innen können es besser. Eher stelle ich fest, dass die bisherigen Problemlösungsmodelle an ihre Grenzen geraten sind und wir deshalb andere ausprobieren müssen. Ob die aus der Kunst, aus dem Design, aus der Architektur kommen – als gestalterisch agierender Mensch würde ich dazu ja sagen: Das entwerfen wir im Prozess und finden es heraus. Aber genau dieses zunächst ergebnis­ offene Arbeiten, das ständige Verändern im Prozess, was ja das Wesen von Transformation ausmacht, kommt als Handlungsmodell nicht vor. Das gilt es zu üben, zu lernen, zu erproben! SILKE VAN DYK: Gleichzeitig gibt es aber in den progressiven Bewegungen der jüngeren Vergangenheit eine Tendenz hin zur Technokratie, eine Tendenz dazu, sich an Kenntnissen der Wissenschaft festzuhalten

design und desaster. vorrede zur transformation des theaters

JONAS ZIPF: Ähnliche historische Parallelen werden

den aktuellen Transformationsdebatten so sehr herauskippt. Zweitens wird Gestaltung innerhalb des Bereichs der Kultur und Kunst vielleicht immer noch allzu sehr im engeren Wortsinne von rein ästhetischem Design verstanden und eben nicht im Sinne von politischer Gestaltung. Dabei postuliert doch schon vor hundert Jahren das Bauhaus ein breiteres Design-Verständnis: Dass ­Ästhetik immer politisch ist, dass jede Form einen Inhalt transportiert. Die Kernfrage macht sich tatsächlich an der in der Postwachstums- und Degrowth-Debatte ­gebräuchlichen Gegenüberstellung von Transformation by Desaster vs. Transformation by Design fest. Ein derartig breites Begriffsverständnis von Design beinhaltet selbstverständlich auch die künstlerische oder kulturpolitische Gestaltung von Transformation.

jonas zipf mit silke van dyk und friedrich von borries

kann, wie offen die politische Situation war. Es war nicht absehbar, von welcher politischen Seite die Wiedereinhegungen und Regulierungen, die postliberalen Antworten auf die Krise des liberalen Kapitalismus kommen. Heute wissen wir, dass sich Nationalsozialismus und Faschismus gegen die sozialistischen und kommunistischen Projekte durchgesetzt haben; auch heute lässt sich erkennen, dass es wieder verschiedene postliberale Projekte gibt, die auf eine Wiedereinhegung des Kapitalismus zielen. Zwar zeigen sich nicht alle erstarkten rechten und rechtspopulistischen Akteure als radikal neoliberalismuskritisch – das Spektrum ist äußerst heterogen, wie wir immer noch innerhalb der AfD, aber zum Beispiel auch bei den rechten skandinavischen Parteien sehen – wir erleben aber in Ungarn, in Polen oder auch in Frankreich eine im wirklich sprichwörtlichen Sinne national-soziale Politik, wie wir sie historisch in Deutschland auch von der NSDAP kennen, die tatsächlich ebenfalls ein postliberales Projekt der Wiedereinbettung ist. Damit zeigt sich die Offenheit der Transformation: Es gibt verschiedene Kräfte, die den Anspruch der Gestaltung erheben. Nicht jede postliberale Antwort oder jeder postliberale Protest ist emanzipatorisch oder progressiv. Auch wenn wir uns natürlich in einer ganz anderen Situation als in der von Polanyi analysierten Zwischenkriegszeit befinden, erleben wir doch eine ähnlich offene Konstellation.

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und dafür zu plädieren, diese umzusetzen. Das ist eine Entwicklung, die wir zum Beispiel in der Fridays-for-­ Future-Bewegung sehen, die das Motto „Listen to the Science“ als Scharnier versteht und dafür wirbt, dass die Politik jetzt endlich exekutieren soll, was die Wissenschaftler*innen schon lange sagen. Nehmen wir nur die Autorin und Aktivistin Naomi Klein, die den Klimawandel als ein Geschenk an die Linke beschreibt, weil er objektiv notwendig macht, was die Linke doch immer schon wollte. Ich halte diese Tendenzen für gefährlich, weil ich glaube, die Suspendierung von Politik, Streit und Auseinandersetzung ist undemokratisch, auch wenn sie aus den normativ richtigen Gründen erfolgt. Natürlich sollen wissenschaftliche Erkenntnisse eine zentrale Rolle spielen, sowohl was den Klimawandel oder die Pandemie angeht – aber die Entscheidung, was damit zu machen ist, ist einfach eine politische. Dieses technokratische Verständnis von Transformation, dass progressive Politik jetzt nur noch das umzusetzen habe, was die Wissenschaftler*innen ihr sagen, versperrt den Blick auf das, was Friedrich von Borries einfordert: die eher suchenden, kreativen Prozesse.

JONAS ZIPF: Ich möchte an dieser Stelle ein spezi­ fisches Transformationspotenzial des Theaters einbringen: das Erzählen von Geschichten. Und zwar in zweierlei Richtun­ gen: Zum einen als Erzählen von utopischen Geschichten, die nach dem fragen, was außerhalb dessen steht, was gerade möglich scheint. Was ist nach der Transformation? Welche Gelingensgeschichten beschreiben uns, wie wir zusammenleben wollen? Welche Dystopien zeigen uns, wo es hingehen kann, wenn die Transformation nicht gelingt bzw. gestaltet wird? Zum anderen als Mittel der Inklusion: Wir haben deswegen Inklusion als dritten Begriff bestimmt – und nicht etwa Diversität oder Emanzipation –, weil wir keine Zustandsbeschreibungen identitätspolitischer Stel­ lungskriege einbeziehen wollen, sondern lieber etwas be­ schreiben, was vielleicht als Gelingen in der Zukunft liegt. Das Geschichtenerzählen ist ein probates und dem Theater innewohnendes Mittel, um Hochschwelligkeit runterzu­ brechen auf Erzählweisen, die die Menschen verstehen.

JONAS ZIPF:

Der von Silke van Dyk beschriebene aktivistische Diskurs

geschrieben – Die Freiheit der Krokodile –, das kraft des

hat in den letzten Jahren dagegen in Teilen einen techno­

­Erzählens einer Geschichte einen Unterschied machen kann?

kratischen, szientistischen, wissenschaftsbezogenen Dreh

Da geht es um Krokodile unter dem Bett deines Sohns.

bekommen, der ihn per se stark elitär macht. Die Kunst

Um seine Angst vorm Einschlafen. Und dann erzählst du

kennt das ähnliche Phänomen der Avantgarde: Diejenigen,

ihm, dass er sich vorstellen soll, mit den Krokodilen

die die Transformationen gestalten wollen und können,

schöne Dinge zu machen, Eis essen zu gehen etc. und

denken voraus, wissen schon ein bisschen mehr, schauen

nimmst der Vorstellung der Krokodile somit die Gefahr.

über den Tellerrand. Dabei kann die Gestaltung der Trans­

Das ist doch eine Geschichte, die kraft der Imagination,

formation nur gelingen, wenn eine kritische Masse der Ge­

ganz ohne den Raum der Immersion, den du gerade für

sellschaft mitkommt – gerade, wenn wir uns noch mal die

das Theater eingefordert hast, einen mentalen Wechsel

Situation ausgangs der Weimarer Republik vergegenwärtigen.

evoziert. Und zwar in der elementarsten Form des

FRIEDRICH VON BORRIES: Da regen sich

bei mir sofort Anti-Theater-Reflexe. Was du „Geschichten erzählen“ nennst, nenne ich Imagination von Zukunft,

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von möglichen Zukünften, extrem unwissenschaftlich, total spekulativ. Das ist eigentlich etwas, das Politik können sollte, sich aber kaum traut und schon gar nicht macht. Aber alle gestalterischen Dimensionen machen es, natürlich auch das Theater. Der große Unterschied zwischen Theater, Design und Architektur besteht aber darin, dass Design und Architektur immer auch die Mach­barkeitsebene in den Blick nehmen: Wie setzen wir Zukunft denn nachher technisch und ökonomisch um? Das machen die Theaterleute nicht. Das Erzählen von Geschichten alleine reicht nicht. Denn Geschichten werden erzählt, und andere hören der Geschichte zu; d. h. wir haben einen aktiven und einen passiven Part, wir haben einen Produzenten oder eine Produzentin, und wir haben Konsument*innen. Genau das ist der falsche Weg. Wir leben doch in einer Zeit, in der ein ganz großer Teil der Bevölkerung extrem gut informiert ist und Situ­ ationen ständig mit historischen Dimensionen über Kenntnisse von Problemen vergleichen kann. Das Kernproblem für gelingende Transformationen besteht nicht in fehlendem Wissen, sondern im Zutrauen, im Sich-vorstellen-Können oder auch in mangelnder Erfahrung. ­Dafür brauchen wir keine Vermittlungsräume, in denen mir Neues erzählt wird, sondern Erfahrungsräume, in denen Menschen erfahren können, dass etwas möglich ist. Erleben, erfühlen, erspüren. Eigentlich muss das Theater aufhören, Theater zu sein, und zum performa­ tiven Raum werden, in dem es keine Zuschauer*innen mehr gibt, die passiv etwas konsumieren, sondern jede*r Beteiligte zur*m Performer*in seiner*ihrer möglichen Zukunft wird, da rausgeht und sagt: Ich hab hier was gespürt, ich hab hier was erlebt, ich war Teil von etwas, das mir glaubhaft werden lässt, dass eine andere Zukunft möglich ist. Theater können nur dann zum Mit­ gestalter von Transformationen werden, wenn sie ex­ perimentelle, geschützte Räume des Erlebens und Mitgestaltens öffnen. Da ist das Theater in seiner ­didaktisch-aufklärerisch-erklärenden Tradition einfach immer noch auf dem falschen Dampfer! Hast du nicht selbst ein Kinderbuch

­Geschichten-Erzählens überhaupt: der Gute-Nacht-­ Geschichte für dein Kind. In einer Form, die jeder kennt und für jeden funktioniert. Liegt darin nicht ein elementar inklusives Potenzial?


FRIEDRICH VON BORRIES: Daran sieht man doch, dass Geschichten etwas sehr Spezifisches sind und sich von Erfahrungsräumen unterscheiden. Der große Unterschied besteht in der erlebten Empirie: In dem Moment, in dem mir ein Erfahrungsraum eröffnet wurde, erlebe ich eine Erfahrung und keine fiktive Geschichte des Gelingens, von der ich gar nicht weiß, ob sie auch mir gelingen wird, gelingen kann oder wie wahrscheinlich das Gelingen ist. Erst wenn mir tatsächlich ein Erlebnis widerfährt, ich einen Erfahrungsraum betrete und nicht die Geschichte von jemand anderem höre, erst wenn ich auch mit mir selbst eine andere Erfahrung mache, dann entsteht das zumindest temporäre Potenzial für Veränderung. Das ist vielleicht auch der Unterschied zwischen gestaltender Kunst und literaturbe­ zogener Kunst. In der Bildenden Kunst, im Design und der Architektur geht es um reale, physische Räume, in denen ich etwas erlebe und erfahre. Solche Kunstwerke erlebe ich fast immer durch physische Ko-Präsenz, ­während Geschichten und Literatur die Vorstellung von etwas Abwesendem vermitteln. Daneben möchte ich noch einen anderen Vorbehalt zum Versuch des Triggerns von Veränderung durch Geschichten formulieren: Es ist ein Phänomen politisch motivierter Kunst, auch in Architektur und Design, dass diese oft innerhalb ihrer Disziplin nicht die beste ist … JONAS ZIPF:

Warum ist das so?

FRIEDRICH VON BORRIES: Das weiß ich nicht. Ich beobachte es nur. Zum Beispiel an meiner ­Diskussion mit Produkt- und Industriedesigner*innen. Ich sage zwar immer, dass jedes gute Industriedesign auch gutes Soziales Design sein muss und jeder, der ­gutes Soziales Design macht, das auch mit einer Gestaltqualität nach klassischen Gestaltungskriterien ­versehen soll. Wenn man sich aber die Wettbewerbe für Social Design anschaut, dann sind viele eingereichte Arbeiten nach klassischen Gestaltungskriterien einfach nicht so gut. Genauso in der Bildenden Kunst: Es gibt viele Künstler*innen, die mit so etwas wie „Klimakunst“ nichts zu tun haben wollen, weil sie die Sorge haben,

design und desaster. vorrede zur transformation des theaters

beziehen sie eine starke Wahrhaftigkeit. Die Autor*innen werden oft eher als Zeitzeugen denn als Literaten eingeladen. Aus einer soziologischen Perspektive sind diese Geschichten aber total unwahrscheinlich. Hier wird etwas gefeiert, für seine Wahrhaftigkeit, für einen Wirklichkeits­ sinn, das empirisch betrachtet äußerst selten passiert: Wie Didier Eribon aus einem subproletarischen Haushalt zum besten Freund von Foucault und gefeierten Pariser Intellektuellen wird, das ist eine absolute Ausnahme­ geschichte. Diese Geschichte kommt aber dennoch als Gesellschaftsanalyse daher und suggeriert damit ­Möglichkeitsräume, die es zwar prinzipiell gibt, die aber extrem unwahrscheinlich sind.

jonas zipf mit silke van dyk und friedrich von borries

SILKE VAN DYK: Ich finde auch, dass es mehr Geschichten braucht, Gelingens-Geschichten, die Erfahrungsräume schaffen, die die emotionale Ebene ­berühren; die damit anschlussfähig für eigenes Erleben werden und einfach über eine rein kognitive Wissens­ vermittlung hinausgehen. Aus einer soziologischen ­Perspektive sehe ich aber auch Grenzen des Geschichtenerzählens. So schön das mit der Inklusion klingt, so wahnsinnig schwer ist es, Geschichten über strukturelle Zusammenhänge, insbesondere strukturelle soziale ­Ungleichheiten zu erzählen. Geschichten brauchen Personen, handelnde Akteure, sie brauchen eine Form von Konkretion, Identifikationsmöglichkeiten. Es gibt bestimmte Dinge, die sich hervorragend in Geschichten erzählen lassen; es gibt aber gerade große strukturelle Probleme und Zusammenhänge, die wir eher in Daten und Statistiken sehen und die wahnsinnig schwer in ­solche Geschichten zu übersetzen sind. Geschichten des Gelingens, z. B. über solidarische Ökonomien, nachhaltige Nachbarschaften etc. bergen immer das Risiko, Möglichkeitsfiktionen zu erzeugen, dabei aber kleine Nischengeschichten zu bleiben. Um die einfache und spannende Form der Geschichte nicht zu verlassen, ­benennen sie die strukturellen, oft unsichtbaren Zu­ sammenhänge, die dem Gelingen eben sehr häufig ­entgegenstehen, nicht. Der Impuls könnte dann sein zu sagen: „Seht her, geht doch! Man muss es nur wollen.“ Manchmal aber muss man nicht nur wollen, sondern auch können. Die hinderlichen Zusammenhänge können wir häufig nur durch aufwendige, repräsentative und komplexe Studien erfassen. Erfahrungen von Sexismus oder Rassismus lassen sich natürlich auch auf der Mikroebene des individuellen Erfahrungsraums problematisieren, aber ihre strukturelle Dimension verschwindet in den Geschichten. Noch mal zu den Möglichkeitsfiktionen: Es gibt Geschichten, die stark affizieren und sich als Beispiele für die Veränderung oder gar Überwindung gesellschaftlicher Verhältnisse darstellen, ohne dass diese aber so einfach zu überwinden sind. Um beim Thema der sozialen Ungleichheit zu bleiben: Wir erleben aktuell einen anhaltenden Boom der sogenannten Arbeiterkinder-­ Literatur, eine Konjunktur der literarischen Verarbeitung von Klassenerfahrung und Herkunft. Die Bücher von französischen Autor*innen wie Annie Ernaux, Didier ­Eribon oder Édouard Louis, genauso wie im deutschen Kontext Deniz Ohde, Christian Baron und einige weitere, erzählen etwas, das wir alle schon lange wissen, über das auch sozialwissenschaftlich extrem viel geschrieben worden ist: die Bedeutung von Klassenzugehörigkeit und sozialer Herkunft für den Lebensweg. Trotzdem hat dieses sozialwissenschaftliche Wissen nicht in der Weise gezündet und für eine breite öffentliche Debatte gesorgt, wie es diesen Erfahrungsberichten gelungen ist. Sie sind in der Regel biografisch und leben davon, dass sie zwar autofiktional, aber eben nicht reine Fiktion sind. Daraus

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sich ihren Ruf als Künstler*innen zu ruinieren. Denn aus einer starken politisch-inhaltlichen Agenda entsteht nicht zwangsläufig auch eine starke künstlerische Form.

JONAS ZIPF:

Das ist ein spannender Punkt für ein

Arbeitsbuch, in dem wir versuchen zu beschreiben, wie das Theater die drei großen Transformationsthemen beackern kann. In diesem Kontext kommt der Rolle von Kunst, Kultur und Theater aus unserer Sicht immer zwei Dimensionen zu: Die der potenziellen Gestalter*innen von Transformation, aber auch die als Teil der Transformation selbst. Ob es die durch neue digitale Erzählweisen und Distributionswege veränderten Gewohnheiten der Zuschauer*innen sind oder die CO2-Bilanz des Theaterbetriebs als integralem Be­ standteil jeder künftigen Ressourcenverwaltung: Auch in dieser Hinsicht sind die Theater keine Elfenbeintürme, die sich im Vakuum der Kunsttradition verschließen können.

SILKE VAN DYK: Ich frage mich da als Sozialwissenschaftlerin, ob man die Form so vom Inhalt abschirmen kann. Darin liegt ja offenkundig die Sorge, durch Aktionskunst oder anderweitig politisierter Kunst den Nimbus der Unabhängigkeit zu verlieren. Vielleicht ist es aber auch so, dass die „klassischen“ Qualitäts­ kriterien für ästhetische Formen den sich so stark transformierenden Feldern nicht genügen bzw. ihrerseits ­elitär oder ausschließend sind und zu den verfolgten inhaltlichen Zielen gar nicht (mehr) passen. Gerade wenn soziale Ungleichheit ein so zentrales Thema für Transformationsbewegungen ist, auch und gerade im Zusammenhang mit der ökologischen Frage, dann müssen wir doch auch beim Hochhalten der ästhetischen Form fragen: Setzt sich hier ein bürgerliches Kunst­ verständnis gegenüber den Künstler*innen und Gestalter*innen durch, das einen anderen Anspruch oder eine andere Idee von Kunst verfolgt als diese selbst? Und wessen Kunst grenzt das aus? FRIEDRICH VON BORRIES: Diesen Punkt finde ich sehr wichtig, da in der Nachhaltigkeitsdebatte immer wieder die Frage aufkommt, ob Kunst und Kultur nicht die vierte Säule der Nachhaltigkeit sein müssten. Es stimmt ja: Um die Große Transformation zu ermöglichen, brauchen wir auch Kunst und Kultur. Deshalb ist genau diese Frage nach Qualitätskriterien wichtig. Es ist unheimlich schwierig, über Qualitätskriterien von Kunst zu reden. Und dabei fällt mir auf, wie die Kräfteverhältnisse zwischen den Themen der Transformation und der rein fachlandschaftlichen Brille verteilt sind: Einerseits gibt es die Kulturstiftung des Bundes, die Kunstförderprogramme aufsetzt, bei denen man Summen ab 60.000 Euro beantragen darf; andererseits gibt es den Fonds für Nachhaltigkeit, der ebenfalls künstle­ rische Projekte fördert, da darf man bis 60.000 bean­ tragen. Natürlich geht mit den Geldsummen so etwas wie Durchdringungstiefe einher. Bösartig gesprochen

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scheint genau da die Grenze zu verlaufen, an der die richtige Kunst erst anfängt.

SILKE VAN DYK: Wir sollten bei der Diskussion über die Qualität oder Durchdringungstiefe noch mal auf die Seite des Publikums und der Zielgruppen schauen. Wir sprachen angesichts des Transformationspotenzials von Kultur vorhin von der Anschaulichkeit und notwendigen Personalisierung von Geschichten. Daraufhin hatte Friedrich von Borries geantwortet, dass die Schwelle dadurch umgangen werden kann, dass nicht nur Geschichten erzählt werden, die die Leute passiv als reine Rezipient*innen hören, sondern dass Erfahrungsräume erzeugt werden. Da möchte ich widersprechen und darauf hinweisen, dass die Leute ja auch mit selbst gemachten Erfahrungen in Möglichkeitsfiktionen verharren können. So lässt sich bei den Occupy-Bewegungen vor zehn Jahren beobachten, dass äußerst reale ­Erfahrungen der Partizipation und Gemeinschaft, des Teilens und Konsens-Findens auf den besetzten Plätzen zu einer radikalen gesellschaftlichen Transformationsperspektive hochskaliert wurden, ohne die komplexen Rahmenbedingungen jenseits der Plätze in diese Perspektiven einzubeziehen. Auch die Erzeugung von Erfahrungsräumen schützt so nicht ganz vor Möglichkeits­ fiktionen, weil sie dazu einladen können, Praktiken vorschnell zu verallgemeinern. FRIEDRICH VON BORRIES: Also, wenn ich mich mit meinen Studierenden, zu denen ich mich in einem hierarchischen Verhältnis befinde, weil ich sie ­bewerte und sie mich nicht – wenn ich mich mit denen vor einem Seminar zusammensetze und ihnen sage: Ich bin auch ein Lernender, und ich lerne von euch, und wir sind ganz offen, und wir duzen uns miteinander, und es ist alles ganz supipupi, dann ist das die eine Angelegenheit. Wenn ich mit denen am Anfang des Semesters eine ­Yogastunde mache, wo ich selber Schüler bin, und die sehen: Dieser von Borries kriegt es nicht so gut hin wie ich, aber er bemüht sich auch, und er hat auch Schmerzen, und manches kann er – das hätte ich ja gar nicht gedacht –, und anderes kann er nicht, dann haben sie eine Erfahrung gemacht, die eine andere Angelegenheit ist als das reine Gespräch, in dem ich die flache Hierarchie in einer Kunsthochschule beteuere. Auch wenn es eine Fiktion bleibt und ich am Ende so eine Note geben muss und wir ein Wissensgefälle und einen Hierarchieunterschied behalten, so ist es trotzdem etwas anderes, wenn wir eine physische, sinnliche Erfahrung geteilt ­haben. JONAS ZIPF:

Mir als Theatermann fällt es dennoch

schwer, das Eine vom Anderen zu unterscheiden. Das Beispiel mit dem Kind und den Krokodilen zeigt doch, dass auch das, was Silke van Dyk Möglichkeitsfiktionen nennt, einen realen Unterschied machen kann. Friedrichs Geschichte ist


und seiner Angst eine Erfahrung der Veränderung. Zwar kei­ ne physische, ko-präsente, immersive Erfahrung, aber eine Selbstwirksamkeitserfahrung. Das ist auch eine Erfahrung. Für mich liegt der Unterschied an einer anderen Stelle, und zwar genau an der eben beschriebenen Schwelle der Förde­ rung durch die Kulturstiftung des Bundes. Was kommt denn mit der Frage nach dem oberhalb und unterhalb der 60.000 zum Ausdruck? Da gibt es ein elitäres Kunstver­ ständnis auf der einen Ebene und alles das, was es sonst noch so gibt, auf einer anderen. Es gibt den Spielplan und die großen Positionen, und die kosten viel Geld, insbeson­ dere das Musiktheater. Die Transformationsthemen finden im Theater allerdings bislang größtenteils innerhalb einer anderen Kategorie statt. Sie bilden die Peripherie des Spielplans, sind oft abhängig von externen Finanzierungen durch Dritte, dürfen auch gerne mal von einer Freien Grup­ pe irgendwo im Stadtraum beackert werden. Beliebt ist dabei auch die transdisziplinäre Zusammenarbeit mit So­ ziolog*innen oder Architekt*innen, aber das Abo-Publikum darf dann weiter Meistersinger auf der großen Bühne sehen, dafür wird das Zehnfache an Ressourcen aufgewandt. Das ganze Feld dazwischen ist doch aber das interessante im Sinne der Transformation. Das ist da, wo auch Publikums­ transfer und Erfahrungsaustausch, um den Begriff aufzu­ greifen, entstehen. Ich mach dafür ein Beispiel: In den letzten Jahren habe ich ein einziges Mal so etwas wie Inklusion mit und rund um Theater erlebt. Und das ausgerechnet in Wiesbaden, bei der Wiesbaden Biennale, also leider auch im Rahmen des Ausnahmezustands eines Festivals. Da wurde das Foyer des Theaters in einen realen Rewe-Markt verwandelt, man konnte über eine historisch für die Kutsche von Kaiser Wil­ helm gebaute Rampe ein Autokino auf der großen Bühne befahren, in einer anderen Spielstätte des Theaters wurde ein Boxring eingebaut, und umgekehrt sind die künstleri­ schen Interventionen samt und sonders in den städtischen Raum rausgegangen. Das Theater war inside-out, offen für einen anderen Teil von Menschen. Und die sind auch dage­ wesen, alle: sowohl die Teile der Bevölkerung, die vorher kaum im Theater gesichtet wurden, als auch die dort übli­ cherweise anwesenden Zuschauer*innen. Ansonsten erlebe ich im Theater oft den rein verbalisierten Anspruch an ge­ nau diesen Austausch. Alle im Theater reden davon, dass sie die bisher nicht zuschauenden Zielgruppen erreichen wollen, aber sie erreichen sie nicht.

FRIEDRICH VON BORRIES: Total konstruiert. Muss ich jetzt erst mal so als Arbeitshypothese in den Raum stellen. Auch als in Wiesbaden Aufgewachsener sage ich: total konstruiert. Ich glaube ja, dass man mit diesen Widersprüchen leben muss, dass das ein Teil der Transformation ist, von der wir hier sprechen, im Gegensatz zu den Vorgängen einer Revolution oder auch einer Reform. Dass man mit der Gleichzeitigkeit von Unter-

schiedlichem leben muss und auch, dass das Theater, überhaupt jeder Kunstraum, den Anspruch haben kann, soll, muss, sozial wirksam zu werden. Dabei aber eben einfach trotzdem elitär ist, und bleibt. Diesen Widerspruch muss es, glaube ich, einfach aushalten. Man kann versuchen, zwischendurch mal ein Kinderbuch zu schreiben, und man kann versuchen, zwischendurch mal eine Aktion zu machen, mit der man ganz viele Leute erreicht, die normalerweise nicht ins Theater gehen. Aber worin besteht denn dann eigentlich der Erfolg? Wäre es tatsächlich ein Erfolg, wenn die Meistersinger nicht mehr gespielt werden, oder wäre es erfolgreicher, wenn die Leute, die sonst Deutschland sucht den Superstar gucken, jetzt in die Meistersinger gehen? Erzielt es eine langfristige Wirkung, dass ich jetzt einmal mit meinem Auto die Rampe hochfahren durfte und im Theater ja gar nicht Theater gespielt wurde, sondern, wie du sagtest, sich ein Autokino befand? Wie gesagt: Ich glaube, dass man die beschriebenen Widersprüche nicht auflösen kann. Diese Aktionen werden nicht nachhaltig das Besucherprofil des Wiesbadener Staatstheaters geändert haben; die Maifestspiele werden elitär wie immer bleiben. Diese Gleichzeitigkeit bleibt bestehen: Man muss beharrlich daran arbeiten, dass immer mehr Sachen von der Off-Bühne auch mal ins Große Haus kommen, und diesen Mut weiterhin immer wieder aufbringen, auch wenn sich dadurch das Publikum nicht verändert. So viel zur Inklusion der Stadtgesellschaft im Stadttheater. Was ist aber mit der Inklusion von anderen Wesen? Mein nächstes Seminar nenne ich Postanthropozentrisches Design und stelle darin die Frage, wie z. B. das Theater aussehen soll, das für die Tiere da ist. Und für Steine und für Pflanzen. Ich weiß: Das klingt jetzt erst mal absurd. Aber wenn wir das Mensch-Natur-Verhältnis im Zuge der Großen Transformation wirklich überdenken wollen, wenn wir die bürgerlichen Konventionsherkünfte des Theaters wirklich sprengen wollen, dann müssen wir an diese ganze Anthropozentrik unseres Tuns und Denkens und Handelns ran.

SILKE VAN DYK: Als Soziologin würde ich auf die Inklusionsfrage gänzlich anders antworten. Vielleicht bin ich noch zu sehr mit der Ungleichheit zwischen Menschen befasst, um bei den Fragen des Anthropozäns anzukommen. Aber beim Blick auf die empirisch vorhandene und sich in der Pandemie noch massiv verstärkende Ungleichheit sind wir, glaube ich, schon bei einer ziemlich zentralen Frage der Inklusion, nämlich inwiefern klassische Positionen der Inklusion, der Diversität, sich eigentlich für eine Klassenperspektive und für die damit verbundenen Ausschlüsse eignen. Parallel zu den aktuellen Debatten des Rassismus und Sexismus lässt sich eine anhaltende Form von Klassismus konstatieren. Daher würde ich ganz anders fragen als ihr beide: Nicht danach, ob sich neben bildungsbürgerlichen auch Leute aus einem subproletarischen Kontext ins Theater bewe-

design und desaster. vorrede zur transformation des theaters

Imagination statt, aber dennoch erlebt das Kind mit sich

jonas zipf mit silke van dyk und friedrich von borries

zunächst nur eine Geschichte und findet innerhalb der

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gen, sondern danach, wie ihr Zugang zu materiellen und vor allem auch kulturellen Ressourcen grundsätzlich geregelt ist. Es sollte nicht darum gehen, wie wir Arme ins Theater bringen oder Prekäre zu Engagement und Buchlektüre motivieren, sondern wie wir Ausbeutungs-, Diskriminierungs- und Ungleichheitsverhältnisse gemeinsam überwinden – nur so werden Theater- und Kunsträume zu offenen Räumen und nicht zu Räumen, in die die künstlerisch ambitionierten und interessierten Akademiker*innen mit großem Gestus die weniger Privilegierten einladen. Es müssen Räume werden, die wirklich von unterschiedlichen Seiten und Gruppen erschlossen werden können! Soziologisch betrachtet führen viele dieser Zugangsangebote und Aktionen wie in Wiesbaden die nicht klassische Kultur- oder Enga­ gementklientel letztlich vor. Zugespitzt formuliert wird da so ein bisschen ein kleines Treppchen ausgebaut, um sagen zu können: Guck mal, da kannst du jetzt ganz leicht hochgehen und musst auch gar keine Angst haben, und da ist auch ein Geländer und so. Aber die Frage, ­warum die Person eigentlich normalerweise an der Treppe gar nicht vorbeikommt, tritt in den Hintergrund. Wir müssen stattdessen fragen: Wie können wir Klassen­ verhältnisse, Ungleichheitsverhältnisse als Inklusionsoder Identitäts- oder Antidiskriminierungskontext ­thematisieren, ohne dass wir die dahinterstehenden Ausbeutungszusammenhänge de-thematisieren?

FRIEDRICH VON BORRIES: Ich möchte

die Frage provokativ wenden und auf das bestehende Theaterpublikum beziehen. Gerade in Wiesbaden wäre es doch maximal inklusiv, wenn man ganz normal die Meistersinger gespielt hätte, aber pro Karte die 1.000 Euro genommen hätte, die sie nun mal kosten, statt sie mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren – das Große Haus wäre natürlich trotzdem voll gewesen, denn es gibt genug reiche Wiesbadener*innen –, und sich dann über­ legen würde, welche Kultur man mit den gesparten ­Geldern bzw. den neu vereinnahmten Geldern finanzieren kann. Die ehrliche Frage lautet doch: Wer spricht in diesem Land eigentlich wann und aus welchem Grund von einer Inklusionsperspektive?!

SILKE VAN DYK: Genau. Und: Was wird öffent-

lich gefördert?

FRIEDRICH VON BORRIES: Ja. Was würde

dann öffentlich gefördert? Für mich klingt Inklusion sonst nur nach der Legitimationskrise einer bürgerlichen Kultur. Eine Krise, die vielleicht dazu führt, neue Formate zu finden, um neue Zielgruppen zu öffnen, die aber nicht kommen, anstatt einfach zu sagen: Lasst uns in Ehre sterben; lasst die Oper das werden, was die chinesische Oper in China ist; da gehen Touristen hin, da zahlt man viel Geld, und das gibt es irgendwie an ein, zwei Orten in China; das reicht. Warum muss jede Großstadt in

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Deutschland eine Oper haben, mit einem klassischen Opernprogramm, zu dem ein Publikum mit einer Altersstruktur von 60+ und einer Einkommensstruktur von 60.000+ hingeht, höchstens ergänzt um ein paar Jugendliche mit bildungsbürgerlichem Hintergrund oder mit Aufstiegsphantasmen, die denken, dass sie über kulturelles Kapital zustande kommen. Warum denkt man die Sache nicht so? Aber das traut sich keiner! Das Gleiche gilt für die Museen, die zwar ebenfalls Bildungsprogramme machen und sich zu öffnen versuchen, im Grunde aber auf Tonnen von Sachen sitzen, die keiner mehr ­sehen will, die auch völlig irrelevant geworden sind. ­Zumindest braucht man diese Sachen nicht in jeder zweiten Stadt. Wenn ich griechische Antike sehen will, geh ich doch nicht ins städtische Museum, wo ein paar Vasen und Scherben rumstehen, sondern fahre nach Athen, das reicht mir ein Mal im Leben, ich brauche das nicht ein Mal in der Woche. Lasst uns doch mit dem Geld, mit dem Raum, mit den Werten was anderes machen.

JONAS ZIPF: Diese Provokation trifft. Sie markiert genau den Punkt, warum ich das Theater vor einigen Jah­ ren verlassen habe und eine breitere Verantwortung ge­ sucht habe. Heute bin ich nicht mehr Teil einer Künstleri­ schen Theaterleitung, sondern Kulturverantwortlicher einer Stadt. Und zwar einer Stadt, die keine Oper hat, auch kein wirklich großes hochkulturelles Behältnis – einer Stadt, die für sich ziemlich dezidiert entschieden hat, dass 40 Prozent des kommunalen Kulturetats in kulturelle ­Bildung fließt. Denn letztlich wird die Forderung, die du aufmachst seit der sogenannten Neuen Kulturpolitik der 1970er-Jahre, seit Konzepten wie Hilmar Hoffmanns ­„Kultur für alle“ diskutiert. Im Kulturinfarkt steht diese For­ derung vor zehn Jahren eins zu eins genauso drin. In den Jahrzehnten dazwischen wurde die kulturelle Bildung, die Kunst- und Theaterpädagogik, Programme der Education, des Outreach etc. additiv aufgebaut. Jetzt haben wir hier in Jena 40 Prozent Mittel für kulturelle Bildung und errei­ chen mit diesen Mitteln im Großen und Ganzen trotz fort­ gesetzter Anstrengungen an allen möglichen Ecken und Enden trotzdem wieder mehr Spitze als Breite. Teilweise ist die kulturelle Bildung dann eine verkappte Elitenförderung. Das Plus an Geld beispielsweise in einer Musikschule geht eben nicht nur in die aufsuchende Arbeit, in Schulkoopera­ tionen in Problemvierteln, sondern an die Professoren­ töchter, die Klavier lernen und Wettbewerbe gewinnen – beispielsweise in einer Volkshochschule nicht nur in Sprachkurse zur Integration von Geflüchteten, sondern auch in Kochkurse für Oberstudienräte. Und leider zahlen die Leute für beide Angebote dieselbe demokratisch vom Stadtrat legitimierte Gebühr. Unter dem Strich lautet die kulturpolitische Aufgabe im Sinne der Inklusion doch aber immer: Wie können wir die Bedürfnisse der gesamten Stadtbevölkerung in einer gerechten Art und Weise abbil­ den? Von daher trifft die Provokation ins Ziel: Alle Bedürf­ nisse und Angebote sind legitim, es stellt sich aber die F ­ rage


der Zugänge – da gehört die Preispolitik zentral dazu – und

sprechen wir nicht nur über neue Theater-Digitalformate,

der Quantität.

die in diesem Jahr beispielsweise schon einen substanziel­ über eine Neu-Formatierung der Arbeitsweise hinter den

Thematik verbinden und euch beide fragen, was ihr den

Theater­kulissen: So hat Ulf Schmidt bei der Dramatur­

Theatermacher*innen empfehlt. Transformation heißt Ver­

gischen Gesellschaft schon vor zehn Jahren eine kollektive

wandlung: Das Neue entsteht nicht, ohne etwas Altes zu

Arbeit im Writer’s Room gefordert; seit Jahr und Tag zeigen

lassen, sonst würde es weiteres Wachstum bedeuten.

sich Betriebsdirektoren immer unzufriedener mit den Markt­

­Davon können Theatermacher*innen ein leidvolles Lied

monopolisten der Theatersoftware Theasoft oder Opas.

singen. Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Inklusion gehen

Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Dennoch scheint

nicht einfach zusätzlich, oben drauf, oder an der Peripherie

es, als seien die Theater und Kulturbetriebe seit Jahren

eines fortbestehenden Kernbetriebs. Diese überragenden

kaum vorangekommen, als träten sie auf der Stelle. Wie

Themen lassen sich nicht einfach im Rahmen einer zusätz­

kommen wir in die Transformation? Was muss sich ändern?

lichen Arbeitsgruppe oder Klausurtagung weiter vor sich herschieben. Wie schaffen die Theatermacher*innen diesen fundamentalen Switch ihres Mindsets? Was empfehlt ihr ihnen?

SILKE VAN DYK: Wir diskutieren tatsächlich auf unterschiedlichen Ebenen. Eine Empfehlung an den Kulturbetrieb geht eben weiterhin vom bestehenden Kulturbetrieb aus und nicht von der Klassenperspektive, die ich aufgemacht habe. Solche Empfehlungen führen zwangsläufig zu symbolischen Angeboten an „die da unten“: Dann sind „wir da oben“ bereit, „die“ an unserer bürgerlichen Kultur zu beteiligen und machen manchmal unser Theater zu einem Rewe-Markt oder so, damit wir beweisen können, dass unser Angebot auch gelingen kann. Dabei bleibt aber die eigentlich substanzielle ­Frage an bürgerliche Kultur nach Qualitätsmaßstäben und auch nach Angebotsquantitäten trotzdem genauso bestehen: Warum werden Boulevardtheater oder Musicals nicht subventioniert, die Oper aber schon? Oder umgekehrt: Kann man diese Bereiche – die Meistersinger, das MKG – ohne eine radikal andere Klassenpolitik inklu­ dieren? Ohne dass die Zugänge einfach nur regressive, symbolische Handreichungen sind, die letztlich sogar die zugleich weiter bestehenden Klassenverhältnisse noch verfestigen?! JONAS ZIPF:

Danke für die Spiegelung. Lässt sich

FRIEDRICH VON BORRIES: Ich mache einen utopischen Vorschlag. Jedes Theater sollte endlich seine Schizophrenie anerkennen und sich klonen und sagen: Wir doppeln uns und halbieren uns, aus einem Theater werden zwei, die sich die Räume und andere Ressourcen teilen. Das eine Haus macht ein Theater, wie wir es kennen, also die behutsame Überführung von deutschem Sprechtheater in zeitgenössisches Diskurstheater für Akademiker*innen. Die andere Hälfte probiert für fünf Jahre etwas gänzlich anderes aus. Was dieses gänzlich Andere ist, wissen wir alle und wissen wir alle nicht. Denn es ist ja gänzlich anders. Der eine mag Rewe-Super­ märkte einrichten, der andere mag Theater für Haustiere machen, der Dritte mag Projekte mit migrantischen ­Jugendlichen machen, der Vierte mag Klassiker der ­türkischen Theaterkultur aufführen. What ever, I don’t know. Und dann setzt man sich nach fünf Jahren zusammen und redet mal. Und denkt und diskutiert. Weil die Transformation nur aus Erfahrung kommen wird. Sie wird nicht aus Analysen, nicht aus Beschreibungen kommen. Auch die Transformation des Theaters wird in der Transformation passieren, als Prozess, in dem man sich Freiräume schafft, ausprobiert und danach gemeinsam da­ rüber diskutiert, und nicht im Sinne eines Vorschlags oder einer Beschreibung. JONAS ZIPF:

Damit kommen wir zu unserem Aus­

diese systemische Betriebsblindheit auch auf die anderen

gangspunkt zurück: Corona als Brennglas. Eigentlich bie­

beiden Transformationen der Nachhaltigkeit und der Digi­

tet uns Corona genau die Experimental- und Reagenzglas-

talisierung übertragen? Ist es auch da so, dass wir Kultur-

Situation, von der du gerade sprichst. Allerdings müssen

und Theaterschaffenden im Grunde wie der beleidigte

wir wahrscheinlich jetzt schon im Konjunktiv Zwei – leider

­Thomas Gottschalk dasitzen und uns wundern, dass wir

nicht im Futur Zwei – sprechen: Corona hätte uns diese

immer noch das samstäglich wärmende Lagerfeuer der

Situation geboten. Wenn wir etwa auf die Digitalisierungs­

Wetten-Dass-Sendung ausstrahlen, aber immer weniger

ebene im Theater schauen, dann hat das nur sehr bedingt

Menschen kommen? Dass es eben nicht reicht, die Saal­

stattgefunden: Die meiste Aktivität war geprägt von

wette und den Wettkönig zu reformieren, sondern sich die

­Aktionismus, davon, irgendwie präsent zu bleiben für sein

ganze Senderstruktur transformieren muss? Im Kontext

Publikum, auch von beruflicher Verzweiflung, kulturpoliti­

der Nachhaltigkeit gibt es ja erste Gedanken in die radikale

scher Angst, selten aber vom gründlichen Versuch, die

Richtung, die Friedrich vorhin in den Raum gestellt hat:

eigene Struktur anzufassen, die eigenen Produktionsweisen

Frank Raddatz, Bruno Latour oder Thomas Oberender for­

zu verändern und zu adaptieren. Eigentlich bot Corona

dern ein neues Theater des Anthropozäns, ein Theater, das

dazu die ideale Krisensituation, gerade im Hinblick auf die

sich die Natur zurückerobert. Im Kontext der Digitalisierung

staatlichen Kulturträger: Wirtschaftlich abgesichert durch

design und desaster. vorrede zur transformation des theaters

len Teil des Berliner Theatertreffens ausmachen, sondern

jonas zipf mit silke van dyk und friedrich von borries

Von daher möchte ich in einer Schlusskurve den Appell von Friedrich mit der Postwachstums- und Degrowth-­

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Kurzarbeit, zumindest was die Festangestellten anbe­ langt, im Bereich der Orchester sogar mit einer Lohnfort­ zahlung von gewerkschaftlich durchgesetzten 100 Pro­ zent. Während Freischaffende gleichzeitig lange darum kämpfen mussten und müssen, nicht automatisch aus der KSK raus und in Hartz IV zu fallen. Und trotzdem war diese Zeit von ganz viel Mehrbetrieb und Weiterbetriebsamkeit geprägt, vom alten Muster des „Immer noch mehr vom Selben“. Da ist noch wenig Bewusstsein für Transformation by Design. Das führt, wenn es so weitergeht, eher zu Trans­ formation by Desaster. So zumindest unser Eindruck als Herausgeber*innen des Arbeitsbuchs. Konjunktiv Zwei: Man hätte diese Chance sehr früh definieren müssen, zu Beginn des ersten Lockdowns im März des vergangenen Jahres, diese Phase nutzen und den Theaterbetrieb neu erfinden können. So ist das aber nun mal mit der Zeit­ diagnostik: Hinterher sind wir immer klüger. Das vorliegende Arbeitsbuch stellt jedenfalls den Versuch dar, diese Chance noch mal aufzugreifen und dennoch zu nutzen. Vielleicht liegt ja auch ausgangs der Pandemie noch ein Rest dieser Chance in der Luft. Immerhin befinden wir uns auch weiter­ hin in einer intensiven Phase des aktivistischen Protests, auch innerhalb der Theater, und stehen vor einigen bedeut­ samen politischen Umwälzungen, nicht nur finanzpolitischer Natur, sondern gesamtpolitisch und gesamtgesellschaft­ lich.

SILKE VAN DYK: Da verläuft tatsächlich die eindeutige Trennlinie: Zwischen Transformation by Design und by Desaster. Ich glaube ja, eine ganz fatale Situation entstand gleich zu Beginn der Pandemie. Ich kann das anhand der sozial- und kulturwissenschaftlichen Textproduktion beschreiben. Nicht wenige Autor*innen sind sofort davon ausgegangen, dass die Pandemie durch eine Transformation by Desaster den Einstieg in eine neue Welt ebnen könnte. Ich weiß nicht, wie viele Texte ich aus dem Nachhaltigkeits-, Postwachstums-, DegrowthSpektrum gelesen habe, die a) den radikalen Kategorienfehler gemacht haben, die akute Bedrohung durch die Pandemie mit dem langsamen Klimawandel gleichzusetzen, der noch dazu räumlich und personell externalisiert, nämlich genau dort zuerst seine negativen und desaströsen Folgen zeigt, wo die Menschen am wenigsten zu diesem Wandel beitragen – und b) auf die Idee verfallen sind, die auch vor Corona schon anliegenden Transformationsprozesse so stark mit einem Hoffnungsdiskurs zu verknüpfen, dass das Wünschbare, nämlich

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der Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft, plötz­ lich als wahrscheinlicher imaginiert wurde. Immer wieder war in unterschiedlichen Varianten zu lesen, dass jetzt ja alle auf Flug- und Urlaubsreisen verzichtet haben und damit bestimmt ganz viele erkennen werden, dass sie das gar nicht brauchen. Jetzt, ein Jahr später, sehen wir: Genau das ist nicht eingetreten, weil nämlich ziemlich viele Menschen ziemlich viel vermisst haben. Es ist ein fundamentales Problem, wenn Zeitdiagnosen das Wünschenswerte zum Wahrscheinlichen ausrufen und dabei die Macht- und Kräfteverhältnisse einfach ausblenden, die dem entgegenstehen. Das ist auch extrem ahistorisch: Wir wissen aus Extremsituationen in der Vergangenheit, zum Beispiel aus Kriegen oder anlässlich großer Naturkatastrophen, dass plötzlich ganz viel geht, was vorher undenkbar war. Nur ist es damit dann auch schnell wieder vorbei, das sind radikale Ausnahmesituationen, die eben nicht organisch und automatisch in Transformation by Design münden. Das muss ich leider nüchtern feststellen. Und es ist im Moment erstaunlich leise in der Debatte. Ich lese nicht mehr so viele Texte von denjenigen, die mir vor einem Jahr erzählt haben, was jetzt alles besser werden kann, warum dieses und jenes nun vielleicht eintritt oder doch nicht eintritt. Diese Schwäche der sozial- und kulturwissenschaftlichen Zeitdiagnose gab es auch nach Occupy, als man sich im Nachgang immer mal gewünscht hätte, von den so vielen euphorischen Stimmen in Wissenschaft und Zivilgesellschaft auch mal was darüber zu lesen, warum so vieles nicht geklappt hat und welche Verheißungen nicht eingetreten sind. Das im Blick zu behalten, heißt natürlich nicht, dass wir nicht nach emanzipatorischen Ansatzpunkten in der Krise suchen sollten, dass wir nicht nach historischen Beispielen schauen und nicht auch im Kultursektor die Frage nach der Transformation stellen sollten: Wie kann eine Situation by Desaster etwas anstoßen, das darüber hinausweist, das Räume öffnet? Wenn wir noch mal an die Pendelbewegungen von Polanyi denken: Führt uns die Pandemie vielleicht doch schneller als gedacht in ein post-neoliberales Zeitalter? Was wird die Rolle des Staates nach der Pandemie sein? Werden Privatisierungen im Gesundheitswesen oder die Ausbeutung von Pflegekräften in Zukunft vielleicht nicht mehr ganz so geräuschlos vonstattengehen? Wie können wir aus der Ausnahmesituation der Pandemie lernen und dazu kommen, die Transformation selbst in die Hand zu nehmen?


wann, wenn nicht jetzt? ein zwischenruf von adrienne goehler

eine irreversible Mutation des globalen Klimas und der Bewohnbarkeit des Planeten Erde. Bruno Latour2

Into the Great Wide Transformation Es hat eine verdammt lange Zeit gebraucht und die immer insistierendere Haltung solch unumstößlicher Autoritäten wie Bruno Latour oder Donna Haraway, bis auch in der Kunst angekommen ist, dass sie ebenfalls auf dem Fundament kolonialer, patriarchaler und ressourcenzerstörender Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise steht und dass es kein Wegducken mehr vor der Schärfe des Klimawandels geben kann. Es muss ­gehandelt werden. Von allen. Jetzt. Punkt. Wir brauchen die Vorstellungskraft der Künste für diese Transformation, ihre „Verweltlichungen“, ein schönes Bild von Donna Haraway, um die menschlichen Beziehungen, Zeit, Arbeits- und Denkweisen als Ressourcen zu sehen, als Modelle für die Zukunft, die schon längst begonnen hat, jenseits der noch eher hermetischen Räume der Selbstvergewisserung der Künste wie Museen und Theater. Die Kunst wird sich auf vielfältige Weise neu sortieren müssen. Sich des großen Koordinaten­ systems bewusst werden, in dem sie steht, zwischen ­Klimawandel, damit zusammenhängenden Migrationsbewegungen, sich ausweitender sozialer Ungleichheit

und maßlosem Ressourcenverbrauch. Werden künftig noch dieselben Themen/Fragen/Zustände/Visionen in denselben Räumen vor demselben Publikum verhandelt werden? Wie kann sich künftig Überfluss, Fülle, Verschwendung in den Künsten zeigen? Werden die Künstler*innen und ihre Gemeinden weiter von Festivals zu Biennalen jetten können wollen und ­wollen können? Wird Nachhaltigkeit, als globale Gerechtigkeit verstanden, ästhetisch ein Anliegen? Wie wird spürbar, dass die Künste in der Pandemie system-, vor allem aber gesellschaftsrelevant sind? Hat es Demons­ trationen eines hungrigen Publikums für die Öffnung unserer Orte gegeben? Die Theater, Museen, Kinos haben die ausgeklügeltsten Hygiene- und Abstandskonzepte: Wieso gehen sie eigentlich keine Allianzen mit Schulen ein? Eine Mathearbeit auf der Bühne, Biounterricht vor großer Leinwand im Kino, Kunst­­unterricht im Museum, das würde sich ins Gedächtnis brennen und ziemlich sicher neues Publikum erschließen.

It matters! Die zehn reichsten Milliardäre verdienten an Corona mehr als Impfungen für alle Menschen kosten würden. Oxfam zufolge braucht es für Impfstoffproduktion, ­Verteilung und Impfung weltweit 141,2 Milliarden Dollar3. Eine ihrer älteren Studien belegt, dass das eine – reichste – Prozent der Welt­bevölkerung mehr als doppelt so viel klimaschädliches Treibhausgas ausstößt wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. Dieser Fakt der sich verschärfenden

adrienne goehler

Wir befinden uns gegenwärtig nicht in einer ökologischen ­Krise, im Sinne eines temporären Ausnahmezustands, sondern erleben

wann, wenn nicht jetzt?

Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung braucht ein kommen Grund aus ermöglicht Entschleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit1

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sozialen Ungleichheit wird in den Nachhaltigkeitswissenschaften als systemisches Risiko bewertet.4 Die Weltbank geht bis 2050 von 143 Millionen Menschen aus, die wegen des Klimawandels ihre Heimat verlassen müssen.5 Eine über sich selbst hinausweisende Kunst muss so etwas künftig auf dem Zettel haben. Denn eine weltweit ökologische Transformation ohne sozialen Ausgleich ist nicht vorstellbar. Dort, wo Menschen Bedrohung, Angst und Armut ausgesetzt sind, wo sie mit ihren Fähigkeiten oder mit ihrem Wunsch, zu gestalten und nützlich zu sein, nicht gefragt sind, erodiert die Basis von Sicherheit, von Empathie für die anderen, für die sie umgebende Welt, für den Planeten. Ein würdevolles Leben für alle geht also nur, wenn die Begrenztheit der weltweiten Ressourcen, der Klimawandel und Klimagerechtigkeit wesentlicher Maßstab des weltweiten Handelns werden. Verknüpft mit der praktischen Kritik an den unausweichlichen Begleiterscheinungen der kapitalistischen Ideologie des „höher, schneller, weiter, reicher, mehr“, die jedem wie auch immer gedachten nachhaltigen Leben entgegensteht. Dann erst wird der Blick darauf frei, dass Menschen, bezogen auf ihre Lebensgrundlagen, annähernd angstfrei sein müssen, um sich selbst als Subjekte der Veränderung zu erleben und Anteil an der sie umgebenden Welt nehmen zu können. Ein angstfreies ökonomisches Dasein ist die beste Voraussetzung, um die eigenen Geschicke selbst in die Hand nehmen zu können und mehr Kopffreiheit zu haben für die Fragen, wie will ich eigentlich leben mit und in der mich umgebenden Natur. Dabei wäre ein ein kommen6 so etwas wie Hammer und Amboss, Grund aus um das eigene Glück zu schmieden. Ermächtigung zur Selbstermächtigung eben, um „Gegenwartsmeister*innen“7 sein zu können. Corona verschärft die Verhältnisse – auch in den Künsten – ökonomisch, wie die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns betreffend. Aus dem Förderungsfüllhorn der BKM gab es Gewinner*innen, aber eben auch sehr viele Verlierer*innen. Die Fördermodalitäten wurden zwar ge­lockert, es braucht nicht unbedingt ein Produkt zum Schluss, haben sich aber nicht grundsätzlich geändert; es bleibt bei den infantilisierenden und ressourcenausbeutenden Behauptungen des „eben ganz neu gedachten“, des „noch nie dagewesenen“. Wir sind weiterhin gefangen in der Logik von Innovation, Einmaligkeit, Wettbewerb, ­Formalität, Kontrolle und rigidem Zeit­management. Zunächst hat die Pandemie das Diktat der Beschleunigung und Selbstoptimierung schlagartig in sein Gegen­ teil verkehrt und uns – die Freiberufler*innen, Solo­selbst­ ständigen, die Nicht-Angestellten und Nicht-­Abge­si­­cher­ten – in das Paradoxon verstrickt, aus einem ­rasend schnellen Leben heraus bis zum Stillstand zwangs­entschleunigt worden zu sein. Aber wegen der damit einhergehenden, beängstigend steigenden harschen, ökonomischen Unsicherheit sitzen wir seither im

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kleineren Hamsterrad des Homeoffice, in Bademantel und Hausschuh, und schreiben weiterhin Anträge über Anträge, stellen uns super aktuell, super innovativ, super digitalisiert dar und warten auch noch im April auf die ­Novemberhilfen … Wollen wir uns das wirklich weiter antun: „Ich stelle einen Antrag, also bin ich! Ich habe einen Antrag bewilligt bekommen, also bin ich Künstler*in!“? Wir brauchen einfach andere, entschleunigte, nachhaltige Förderstrukturen (siehe „Aufruf zur Kompliz:innenschaft, für einen Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit | FÄN“, S. 144) Hartmut Rosa kennzeichnet die Corona-Zeit als die Gleichzeitigkeit von Erschöpfung und Ruhelosigkeit, von Beschleunigung von Zeit und Daten und eine Ent­ wirklichung des Raums und des Sozialen. Wie kann die erzwungene Entschleunigung zu einer selbstbestimmten werden? Wie können wir die kostbare Erfahrung der Entschleunigung in unserem Denken und Handeln bewahren? Wie könnte die Erfahrung des Pandemischen eine grundsätzlich andere Art zu denken, zu essen, zu reisen, zu wirtschaften, Kunst zu machen etc. ermöglichen, um auf den sich vollziehenden Wandel ­angemessen zu reagieren? Wir könnten der chorischen Rede der Künstlerin und Aktivistin Anna Rispoli folgen, über Verteilungsgerechtigkeit, Prekarität und Nachhaltigkeit.8 Wann, wenn nicht jetzt, könnten wir uns daran erinnern, dass eine Hauptstadt Laboratorium für Veränderung sein muss, und deshalb die Regierenden der Stadt höflich oder besser insistierend auffordern, statt uns durch Antrag auf Antrag zu jagen, die Künstler*innen und Soloselbstständigen der Stadt zu Pilot*innen des ein kommens zu machen; so nahe wie möglich an Grund aus der Bedingungslosigkeit, jedenfalls ohne Zwang zur Produktion, aber mit der Erwartung, den Wissenschaften über die Erfahrung zu berichten und dies mit allen Mitteln der Kunst. Wir würden mit dieser Freiheit zu Chronist*innen der Pandemie, zu Pilot*innen der Transformation. Mit der Perspektive, dass Alle das Grund aus kommen kriegen müssen, damit es wirklich bedingungslos sein kann. Diese Art von Aus- und Aufbruch würde sich gar einer Mehrheit erfreuen können. (Siehe Nachtrag) Wie wäre es, wenn sich die Künste aufschwingen würden, als Erste ihre Boxen zu verlassen und danach handeln zu können, was wir längst verstanden haben: dass alles mit allem zusammenhängt. Dafür gibt das Grund aus kommen den Möglichkeitsraum. Für ein neues Verständnis von Avantgarde, das sich in Zusammenhang sieht, mit dem was auf der Welt passiert. Mir fällt ein Satz der Trobadora des Aufbruchs in der DDR, Irmtraud Morgner, ein: „Mein Antrieb wäre nicht, Kunst zu machen; mein Antrieb wäre, Welt zu machen. Natürlich mit der größtmöglichen Wucht an Worten“.9


Nachtrag. Was Andere zum Grundeinkommen sagen: __ 494.549 Menschen unterschrieben die Forderung der Berliner Modedesignerin Tonia Merz nach einem Grundeinkommen für Soloselbstständige als Soforthilfe, zunächst auf die Corona-Zeit begrenzt. Damit eher Helikoptergeld als Grundeinkommen, aber dem Gedanken der Bedingungslosigkeit folgend, weil schon Jede*r selber am besten wüsste, was das jeweils Wichtigste für sie/ihn sei.10 __ Das Deutsche Wissenschaftsinstitut | DIW Berlin begleitet mit einer Studie 1.500 Proband*innen, die drei Jahre lang monatlich 1.200 Euro kriegen; mehr als zwei Millionen Menschen bewarben sich um die Teilnahme.11 __ Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP fordert angesichts der Corona-Krise ein Grundeinkommen für knapp drei Milliarden. Menschen in 132 Entwicklungsstaaten. Mit dem Grundeinkommen könnten Personen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, während der Pandemie zu Hause bleiben; dies könne die Ausbreitung des Coronavirus bremsen.12 __ marktforschung.de ermittelt im Februar 2021 eine Präferenz der Bevölkerungen für das bedingungslose Grundeinkommen |BGE in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Schweden: „In allen vier Ländern ist die Unterstützung für ein bedingungsloses Grundeinkommen sehr hoch und tendenziell steigend“. In Deutschland unterstützen 55 Prozent der Befragten das Konzept des BGE; das Votum hat sich durch die Pandemie verstärkt, unabhängig von Alters- und Einkommensklassen. Besonders hohe Zustimmung gibt es bei den Selbstständigen (63 Prozent), während Verbeamtete eine kritische Sicht haben (28 Prozent Zustimmung).13 __ Im Wahlprogramm der GRÜNEN steht zur Abstimmung: „Kulturschaffende sollen für die Zeit der Corona-Krise mit einem Existenzgeld von 1.200 Euro im Monat abgesichert werden. Um kreatives Schaffen langfristig finanziell unabhängig zu machen, setzen wir uns dafür ein, ein Pilotprojekt des Grundeinkommens für Kulturschaffende – eine Kreativsicherung – zu realisieren“14. __ Und selbst der Papst propagiert: „Das Grundeinkommen könnte die Beziehungen auf dem Arbeitsmarkt umgestalten und den Menschen die Würde garantieren, Beschäftigungsbedingungen ablehnen zu können, die sie in Armut gefangen halten würden.“ ... „Maßnahmen wie solch ein Grundeinkommen können dazu beitragen, dass die Menschen frei dazu werden, das Verdienen des Lebensunterhaltes und den Einsatz für die Gemeinschaft zu verbinden.“15

schleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit, Parthas Verlag 2020. Layout: ©anschlaege. 2 Bruno Latour: Kampf um Gaia, Suhrkamp 2020. 3 https://www.oxfam.de/ueber-uns/publikationen/oxfams-bericht-covid-19-auswirkungen-ungleichheitsvirus und https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/klimawandelungleichheit-reichste-1-prozent-schaedigt-klima-doppeltso-stark 4 Diskussionspapier Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS)I, „Systemische Risiken und Dynamische Strukturen“, 2017. 5 https://www.welthungerhilfe.de/informieren/themen/klimawandel/klimafluechtlinge-klimawandel-und-migration/ 6 Ich will Sie einladen, das bedingungslose Grund ein kommen als

Gedanke des Verdienstes, der Lohn für Leistung; es schwingt letztlich zu wenig Freiheit mit. Gleichwohl benutze ich den Begriff weiterhin alternierend, weil er breit eingeführt ist. 7 Postulat der Dramaturginnen Maria Milisavljevi, Maxi Obexer, in: taz, 21.04.2021. 8 https://www.festwochen.at/einkommen-die-bedingungsloserede 9 https://schriftsaetzer.wordpress.com/tag/robert-menasse/ 10 https://www.change.org/p/finanzminister-olaf-scholz-undwirtschaftsminister-peter-altmaier-mit-dem-bedingungslosen-grundeinkommen-durch-die-coronakrise-coronavirusdeolafscholz-peteraltmaier-bmas-bund-hubertus-heil 11 https://www.diw.de/de/diw_01.c.797109.de/erste_langzeitstudie_deutschlands_zur_wirkung_des_bedingungslosen_ grundeinkommens.html 12 https://unric.org/de/23072020-grundeinkommen/

ein bedingungsloses Grund aus  kommen weiterzudenken, weil

13 https://www.marktforschung.de/aktuelles/marktforschung/

Auskommen den Bezug herstellt zu dem individuellen Men-

bedingungsloses-grundeinkommen-je-laenger-die-krise-

schenrecht und den Gedanken daran, „was man zum Leben braucht“. Es schimmert auch die Idee des Miteinander-Auskommens, des Zurechtkommens durch. Bei Grundeinkommen indes dominiert der auf bezahlte Arbeit bezogene Aspekt, der

wann, wenn nicht jetzt?

ein ein braucht Grund aus kommen | Grund aus kommen ermöglicht Ent-

andauert-desto-groesser-der-zuspruch-in-der-bevoelkerung/ 14 https://antraege.gruene.de/46bdk/kapitel_5_zusammen_ leben-11305/12815 15 Vorabdruck Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2020.

adrienne goehler

1 Adrienne Goehler: Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung

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NOCH nic


cht gesichtet

NOTATION_SFBODIES 00‘54~


tina lorenz

endlich.

Das Jahr, in dem sich das Theater endgültig dem Digitalen annähern würde, war 2014. Da war ich mir sicher. ­Gerade hatte nachtkritik einen Artikel von mir zum Streaming aus dem Theater veröffentlicht1, im Jahr zuvor war ich erstmals in Dortmund gewesen und hatte mir in einem Festival-Setting angesehen, wie das Schauspiel, zusammen mit dem örtlichen Chaos Computer Club, ein für mich radikal neues Theater machte – eines, in dem die Erzählweisen des Internets mit den Erzählweisen des Theaters verschmolzen. Die Nerds hatten während des Cyberleiber-Festivals2 aus dem oberen Foyer des Schauspielhauses einen temporären Hackspace gemacht, und da dachte ich schon, dass das vielleicht noch was würde, das mit den Nerds und den Theaterleuten. Aber es ist ja immer leichter, sich das Außen einzuladen, dorthin, wo man selber noch die Kontrolle und die Deutungshoheit über sich und sein Wirken hat. Selber rausgehen und sich in andere Kulturkreise bewegen braucht dann immer noch ein bisschen mehr Mut. Weshalb das Jahr, in dem sich das Theater endgültig an das Digitale rangetraut hat, erst ein Jahr später war. Da saß ich nämlich zwischen den Jahren in Hamburg. Genauer gesagt im Hamburger Congress Centrum CCH, in dem zwischen 2012 und 2016 der Chaos Communications Congress, das jährliche Großtreffen des Chaos Computer Clubs, stattfand. Noch genauer gesagt hing ich im Kidspace rum, der riesigen Zwischenetage, gefüllt mit Legosteinen, Retrokonsolen, Anfänger-Lötkram, Chaos, Krach und unfassbar vielen Nerdkindern, die das von klein auf so kennen. Auf einmal jedenfalls stand da dieser Typ. Dreiteiler. Kariert. Der etwas ver­ loren in der Gegend rumguckte und dann mit einem „Ha, dich kenn ich!“ auf mich zukam, offenbar glücklich über ein bekanntes Gesicht, wenn auch aus einem anderen Kontext. Kay Voges war auf den Congress gefahren, und

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damit hatte sich das Theater endgültig aus seiner analogen Komfortzone getraut. Die 2010er-Jahre waren für den Themenbereich „Theater und Digitalität“ sehr vielversprechend gestartet (okay, Herbert Fritsch war schon vorher losgerannt und hatte seit 2001 die Texte zu seinem hamlet_X in einem Wiki gesammelt): 2012 schrieb die Intendant*innengruppe des Deutschen Bühnenvereins im Rahmen der re:publica einen Wettbewerb aus, der neue Formen der Inszenierung für digitale Kanäle prämierte.3 Die Baye­rische Staatsoper fing an, ausgewählte Produktionen zu streamen (und das Theater Ulm auch, dieser ­heftige Underdog der digitalen Pionierarbeit!). Auch die erste Vereinbarung des Bühnenvereins zum Thema Streaming (eingebettet in einen Vorstoß zur Reformierung des Urheberrechts), in dem Vorschläge zur Ver­ gütung und zur Vertragsgestaltung für die an einem Stream beteiligten Ensembles gemacht wurden, stammt aus der Jahreshauptversammlung 2012.4 Das Thalia Theater veranstaltete 2012 ein erstes Barcamp zum Thema Internet und Social Media (ohne Internet)5. 2013 wurde die Konferenz „Theater und Netz“ von der Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik ins Leben gerufen (mit Internet)6. 2014 stand mit Kay Voges zum ersten Mal ein Intendant eines deutschsprachigen Stadttheaters auf einem CCC-Congress. Und dann passierte … Nichts. Die zweite Hälfte der 2010er-Jahre war dann irgendwie überwiegend geprägt von Ratlosigkeit gegen­ über diesem seltsamen Phänomen namens „Internet“. Dortmund hatte mit seinem Theater eine Nische besetzt und zu seinem Markenzeichen gemacht, ansonsten schien man den digitalen Wandel zumeist aussitzen zu wollen. Natürlich: Ein paar mehr Stadt- und Staatstheater legten sich Facebook-Accounts zu (und fragen sich bis heute, was sie damit eigentlich machen sollen und


endlich.

komplette Wertesysteme auf den Kopf stellen kann. Wenn es will. Oder wenn es muss. Mittlerweile hat sich wohl jedes Theater im deutschsprachigen Raum mit digitalen Formaten auseinandergesetzt und eruiert, wo es eigentlich steht im digitalen Kulturwandel. Dabei sind an vielen Stellen auch die ­Desiderate des am Theater lange Zeit ignorierten Innovationsstaus zutage getreten: Man hat gemerkt, dass Abteilungen schlecht ausgestattet, Personal nicht hinreichend geschult und Infrastruktur nicht angemessen entwickelt worden ist. Auf der anderen Seite hat sich aber auch die eigene Haltung den digitalen Ausspiel­ kanälen gegenüber gewandelt. Der vorherrschende ­Diskurs ist nicht mehr einer, der den physischen Raum gegen den digitalen ausspielt und – wie früher oft ­gehört – eine pauschalisierende Wertung vornimmt, sondern einer, der sich fragt, ob man eigentlich an der Aura des Produkts erkennt, ob das jetzt ein Live-Stream ist oder nur die temporäre öffentliche Ausspielung einer Aufzeichnung. Im Gegensatz zu früher tragen wir die Begriffe Ko-Präsenz, Liveness, Immersion und Durch­ lässigkeit nicht mehr als Monstranz und Beweis unserer unverrückbaren analogen Existenz vor uns her, sondern versuchen, sie auf die neuen Gegebenheiten, die neuen Bühnen anzuwenden. Was beispielsweise heißt es für einen als live empfunden werden sollender Theaterabend, wenn die vierte Wand im Stream nicht mehr durchlässig ist, und mit welchen Mitteln können wir diese Durch­ lässigkeit wieder herstellen? Was bedeutet es für die autopoietische Feedbackschleife, wenn der gemein­ same Raum auf einmal ein digitaler ist? Und wie können wir Ko-Präsenz für uns umdeuten, wenn keine Körper­ lichkeit mehr involviert ist? Wir sind noch ganz am Anfang einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Digitalen. Aber irgendwann – und hoffentlich bald – werden wir auch dieses Themenfeld öffnen, in die Intersektionalität überführen und in einer kritischen Reflexion betrachten müssen, wie genau wir die Digitalisierung unserer Branche und unserer Kunst eigentlich umsetzen wollen. Dann sprechen wir vielleicht darüber, wie digitale Methoden im Betrieb eingesetzt werden können, um Hierarchien zu verflachen. Oder wie Automatisierung von Prozessen dabei helfen kann, die am Theater arbeitenden Menschen vor Burnout zu schützen. Oder warum wir eigentlich einer umfassenden Open-Access-Strategie verpflichtet sein müssten. Und wie man Digitalisierung eigentlich nachhaltig gestalten kann, angefangen von den verbrauchten Kilowattstunden und der Herkunft unseres Stroms, bis hin zu den unerträglichen Ausbeutungsszenarien, die wir in der gesamten Herstellungs- und Verwertungskette unserer modernen Elektronik sehen, vom LithiumRaubbau bis zur Entsorgung unseres Elektroschrotts zum Beispiel in Ghana. Auch die Frage, wie Software und deren Nutzung nachhaltig, offen und nachnutzbar gestaltet werden kann, gehört hier dazu. Hier einzusteigen

tina lorenz

warum sie die Betreuung eines Instruments, das sich eigentlich so gar nicht für Marketingzwecke eignet, noch mal in die Marketingabteilung einsortiert haben). Einige Theater experimentierten mit digitalen Formaten, aber weit weniger als zuvor. Vielleicht hatte Effi Briest 2.0 sie abgeschreckt, eine sehr verunglückte Social-­MediaInszenierung aus dem Jahr 2012,7 in der die Werbeagentur Jung von Matt maßgeblich mit Regie geführt hatte, und mit der man nicht interagieren durfte, um die Figurendialoge nicht zu stören. Die Ehrenrettung für das Format „Social-Media-Inszenierung“ sollte tatsächlich noch acht Jahre auf sich warten lassen.8 Während der mobile Datenstandard LTE um 2010 herum in Deutschland ­Verbreitung fand und wir damit selbst unterwegs zunehmend mit dem Internet verbunden waren, wurden am Theater eher Mammutprojekte im Schauspiel wie ein achtstündiger Faust (Nicolas Stemann, 2011)9 oder ­Dionysos Stadt (zehn Stunden, 2018)10 gefeiert, in der implizit auch die Abkehr von der permanenten Erreichbarkeit mitzelebriert wurde (in der Oper kannte man das Prinzip ja schon etwas länger …) Dem gegenüber stand ein launiger, aber begreiflicherweise auch kurzlebiger Trend des Live-Twitterns aus dem Theater.11 Noch im Jahr 2018 titelte die Neue Musikzeitung anlässlich der Jahreshauptversammlung des Bühnen­ vereins in Lübeck, dieser würde einen „Kulturwandel“ anstreben.12 Zentrale Teile der Tagesordnung: der wertebasierte Verhaltenskodex für die Eindämmung von Machtmissbrauch und Übergriffen am Theater und die Digitalisierung. Während der wertebasierte Verhaltenskodex noch auf der Jahreshauptversammlung selbst als Minimalkonsens mit Vorschlagscharakter verabschiedet wurde (und auch das nicht ohne Widerstand), blieb es im Themenkomplex Digitalisierung zumindest vonseiten des Bühnenvereins aus beim interessierten Exkurs, dem keine strukturellen Taten folgten. Dass das Staatstheater Augsburg Ende 2019 VR-­ Brillen für ein hybrides Opernprojekt anschaffte, war angesichts dieser Entwicklung zwar kein Zufall, sondern logische Fortführung, wäre aber vermutlich ein Einzelfall-Leuchtturmprojekt in einer ansonsten immer noch am analogen Zeitalter klammernden Theaterlandschaft geblieben. Das gemächliche Tempo, in dem sich die Theater der Digitalität gerne angenähert hätten, haben die globalen Ereignisse der Jahre 2020 und 2021 und die damit einhergehende Schließung der Bühnen für die längste Zeit seit 1944 gehörig beschleunigt. Die Realisierung einiger Theater, dass der eigene Facebook-­ Account, den man vor ein paar Jahren noch in der Marketingabteilung geparkt hatte, nun quasi über Nacht die einzige Möglichkeit war, überhaupt noch mit einem Publikum in Kontakt zu treten, muss hart gewesen sein. Dass dann an ganz vielen Häusern überhaupt etwas passiert ist – irgendetwas! – sowohl im ersten wie auch im zweiten Lockdown ein halbes Jahr später, zeugt davon, dass Theater in kürzester Zeit Berge bewegen und

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in eine differenzierte Debatte, die vielleicht keine Patent­ lösungen für diese globale Problematik mitbringt, in der aber ein klarer Wille der Theaterbranche erkennbar wird, hier bewusste Entscheidungen zu treffen, wünsche ich mir für 2022. Die Spielzeit 21/22 am Staatstheater Augsburg trägt unter anderem auch deshalb das Motto „endlich.“. Der Begriff steht dabei sowohl für den Stoßseufzer, mit dem wir die Öffnung unserer physikalischen Spielorte wieder herbeisehnen, als auch für die Endlichkeit natürlicher Ressourcen, die Endlichkeit des Zeitfensters, in dem wir uns gegen den immer unaufhaltsamer werdenden Klima­wandel stemmen können, für die Endlichkeit unserer Kräfte, und letztlich auch für die Endlichkeit eines Theaters, in dem die Verschwendung der Kunst in allen Facetten propagiert wird, ohne Rücksicht auf Verluste. In einer Auseinandersetzung mit der Endlichkeit von Ressourcen in der Welt können wir nicht ausblenden, dass ein Theaterbetrieb derzeit nicht sonderlich nachhaltig agiert. Am plakativsten sehen wir das derzeit ­vielleicht daran, wie Theater mit Arbeitskraft umgeht. Es gab mal ein spannendes Interview in Theater der Zeit mit einem Coach zum Thema Machtmissbrauch an Theatern, in dem er berichtete, dass Theater in ihrer ­Personaldecke mitunter einen exorbitant hohen Krankenstand hätten. Er wertete das als Zeichen dafür, dass hier Mitarbeitende möglicherweise „verschlissen“ würden und eine gewisse Flucht anträten.13 Auch Hubert Eckart, Vorsitzender der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft DTHG, beschreibt in seinem FAZ-Interview von 2019 ähnliche Zustände: „Vorne verkünden wir die Menschenrechte, hinten wirst du angeschnauzt.“14 Die Digitalisierung kann Machtmissbrauch an Theatern nicht verhindern, kann nicht dafür sorgen, dass ein respektvoller Umgang miteinander herrscht und dass die Leute, die dort arbeiten, weniger angeschnauzt werden, um bei Hubert Eckart zu bleiben. Aber kluge Automatisierung könnte helfen, die Kraftressourcen von ­Mitarbeitenden zu schonen und in Gebiete zu verlagern, in denen wir Menschen den Maschinen noch haushoch überlegen sind: in das Bearbeiten komplexer, vielschichtiger Felder, die Empathie und Miteinander verlangen. Im 21. Jahrhundert müsste niemand mehr Tabellen abtippen, Social Media Posts anhand von Premierendaten anlegen, eine Monatsdispo von Hand entwerfen oder Tickets auf Sicht kontrollieren. Alleine die Stunden, die ich am Theater schon mit stupider, repetitiver Handarbeit verbracht habe, würden ganze Monatsabrech-

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nungen füllen – wir alle, die wir am Theater arbeiten, egal, in welcher Funktion, haben diese Tätigkeiten, die eigentlich Maschinen machen könnten. Wir werfen ­derzeit menschliches Personal auf sämtliche Arbeiten am Theater und wundern uns dann, dass wir zum einen keine guten Leute mehr finden und zum anderen, dass die, die da sind, sich irgendwann mit Burn-out in das innere Bienenzüchten abmelden. Die vielbeschworene Gefahr, dass Automatisierung Arbeitsplätze abschafft, besteht dabei gerade am Theater nicht. Der Kern von Theater ist seine Menschlichkeit und nur, weil unsere administrativen Prozesse irgendwann vielleicht nicht mehr so handgemacht sind wie unsere Schuhe, Kostüme und alles, was die ­Cacheur*innen mit Styropor zaubern, heißt das nicht, dass wir die Menschen damit aus der Gleichung nähmen. Im Gegenteil: Vorderhaus-Mitarbeitende beispielsweise, die nicht mehr nur zur reinen Ticketkontrolle an den Eingangstüren stehen, sondern die im Gegenteil diesen Aspekt einer Maschine überlassen, könnten sich stattdessen auf ihr eigentliches Kerngeschäft – Hospitality – konzentrieren, da sind Roboter nämlich notorisch miserabel drin. Ein Künstlerisches Betriebsbüro, das seine Disposition nicht händisch mit quergelegten Worddateien, Excel, Papier und Stift oder einer Software mit dem Look und Feel einer überteuerten 90er-JahreIndustrieanwendung erstellen muss, hätte wieder die Konzentration, um die zentrale Anlaufstelle für alle ­logistischen und organisatorischen Belange, also das Herz, eines Theaterbetriebs zu sein. Die Übersetzung von Bauproben ins Digitale, wie sie auch jetzt schon pandemiebedingt an einigen Häusern vonstattengeht, würde uns auch langfristig erlauben, künstlerisches ­Personal nicht extra von weit weg für diesen Termin ­einzufliegen. Das spart nicht nur Zeit und Nerven, sondern auch CO2. Natürlich kann Automatisierung keine zentrale ­Debatte über Nachhaltigkeit, die Schonung und den sinnstiftenden Einsatz von Mitarbeitenden ersetzen. Man kann soziale Probleme letztendlich nicht mit Technik lösen. Aber Digitalisierung kann einen Anstoß geben und einen Baustein bilden in einem nachhaltigeren und achtsameren Betrieb. Das sind die Baustellen, die uns erwarten, wenn wir aus dem Pandemiechaos wieder in eine Form der Normalität gehen, die hoffentlich nie ­wieder so wird, wie sie vorher war. Ab hier kann es nur besser werden.


1 https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=

9 https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=

article&id=9414:ueber-livestreaming-und-das-theater-als-

article&id=19128:werther-live-freies-digitales-theater-eine-

router-ein-appell&catid=101:debatte&Itemid=84

gruppe-junger-theatermacher-innen-um-die-regisseurin-

2 https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view= article&id=8249:das-cyberleiber-festival-am-schauspieldortmund&catid=53:profile&Itemid=83 3 https://12.re-publica.de/panel/theater-inter-action/index.html 4 https://www.buehnenverein.de/de/downloads/pressemappejhv-2012.html?cmsDL=617685133442687a3e70a95dee1eb722 5 https://www.thalia-theater.de/uploads/Theatercamp,%20 Social%20Media%20und%20Theater.pdf 6 https://www.boell.de/de/theater-und-netz 7 https://www.tagesspiegel.de/kultur/effi-briest-2-0-am-gorki-

cosmea-spelleken-strickt-aus-goethes-briefroman-packendes-social-media-theater&catid=38&Itemid=40 10 https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/ programm/bfs-gesamtprogramm/programmdetail_282732. html 11 https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/twitter-theaterwoche-a-938050.html 12 https://www.nmz.de/kiz/nachrichten/buehnenverein-strebtkulturwandel-an-jahrestagung-in-luebeck 13 https://www.theaterderzeit.de/2020/10/38931/

gefaellt-mir-fontane-als-facebook-theater/6052758.html

14 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/

8 https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=

interview-mit-hubert-eckart-zu-arbeitsbedingungen-am-

article&id=19128:werther-live-freies-digitales-theater-eine-

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nicola bramkamp

save the world with this melody? wie wir theater und nachhaltigkeit zusammendenken können

Bei der ersten Ausgabe unseres „Art meets Science“Festivals SAVE THE WORLD kam die Singer-Songwriterin Bernadette LaHengst freudestrahlend auf mich zu. Sie hätte ihn geschrieben: den ultimativen Weltrettungssong. Jetzt könnte doch nichts mehr schiefgehen, sagte sie ironisch grinsend, mit diesem Hit hätte unsere Erde doch noch eine realistische Chance, nicht unterzugehen. Als wir 2014 Künstler*innen und Wissenschaftler*innen zusammenbrachten, um gemeinsam die drängenden Zukunftsfragen wie Klimawandel, Welthunger, Nachhaltigkeit und Biodiversität zu erforschen, war die Vision klar. Wir wollten – orientiert und inspiriert von den Nachhaltigkeitszielen der UN – mit den Mitteln der Kunst eine breite Öffentlichkeit für globale Zusammenhänge und komplexe Inhalte begeistern. Wir wollten aufklären, spielerisch und lustvoll vermitteln, was die Welt im ­Innersten – in Atem hält.

Art meets Science – a perfect match! Als Theatermacher*innen haben wir ja häufig wenig Zeit, um uns intensiv mit wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Schnell springen wir von Projekt zu Projekt, von Thema zu Thema, und auf der Strecke bleibt die inhaltliche, auf Fakten basierte ­Recherche, der deep dive. Wissenschaftler*innen hin­gegen mahnten schon seit Jahren, dass wir auf eine Klima­katastrophe zusteuern, aber niemand hörte ihnen zu. Weil sie – im Gegensatz zu uns – keine gute öffent­liche Performance hin-

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legten. Zu spröde, zu dröge, zu apokalyptisch waren ihre Erzählungen. Also kamen wir auf die Idee, beide Welten miteinander zu verknüpfen, wir matchten Expert*innen mit Künstler*innen und ­gaben ihnen Zeit, Geld und einen Raum, um gemeinsam eine Performance zu entwickeln. Seit 2014 entstehen so regelmäßig künstlerische Formate der Wissensvermittlung. Was als jährliches ­Festival begann, ist mittlerweile eine internationale ­Initiative, ein Netzwerk von renommierten Expert*innen und Künstler*innen, die sich dem Thema Nachhaltigkeit widmen. In diesem Kontext entstand der Song „Save the World With This Melody“ in Ko-Kreation von Bernadette ­LaHengst und Nick Nuttall, dem damaligen Presse­ sprecher des UN-Klimasekretariats (UNFCCC). Er war Teil eines theatralen Parcours, an dem noch andere ­Tandems mitwirkten. Choreograf Jochen Roller zum ­Beispiel schickte gemeinsam mit Dr. Aline Kühl-Stenzel, der Landtierbeauftragten des UN-Umweltprogramms (UNEP) die Zuschauer auf eine halsbrecherische Zug­ vögel-Reise, Patrick Wengenroth inszenierte mit Prof. Dr. Jakob Rhyner (Direktor des Instituts für Umwelt der Universität der Vereinten Nationen (UNU-EHS)) in der Hauptrolle Becketts Endspiel, und die Puppenspielerin Suse Wächter brachte niemand Geringeren als Gott und Dr. Michael Kühn von der Welthungerhilfe in einen Dialog. Dies sind nur einige Beispiele vielzähliger Projekte, die wir bis heute initiieren und kuratieren.


Kann Kunst also die Welt retten?

Theater klimaneutral?

Natürlich nicht. Aber sie kann – ganz im Sinne einer ­moralischen Anstalt – ein Mittel sein, das inhaltlich ­aufklärt und emotional betrifft. Und den Zuschauer ­gegebenenfalls zu einem besseren Menschen macht. Diese Schiller’sche Maxime ist in unserer Branche ja ­gerade ein wenig aus der Mode gekommen.

Aber müssen wir – um glaubwürdig zu sein – nicht noch einen Schritt weitergehen? Die ästhetische und inhaltliche Auseinandersetzung auf der Bühne ist wichtig, aber auch die Haltung und der gesamte Prozess dahinter gehören mit in das Paket, und zwar unter sozialen, ökonomischen und ökologischen Aspekten. Klar ist, dass unsere Gesellschaft in Gänze klima­ neutral werden muss, und das möglichst bis 2035. Diese Messlatte kann kein Sektor unterlaufen, auch nicht die Kultur. Allein der jährliche CO2-Ausstoß der Stiftung Preußischer Kulturbesitz entspricht mit 30.000 Tonnen etwa sechs Prozent des Jahresverbrauchs von Osttimor oder Burundi. „Practice what you Preach“ ist daher die Losung der Stunde. Denn gemessen werden wir nicht nur an dem, was wir auf der Bühne predigen, sondern auch an dem, wie wir uns hinter den Kulissen verhalten. Das Bewusstsein und die Sensibilität dafür nehmen stark zu. Die Theater befinden sich erst am Anfang eines Transformationsprozesses, der neben einer Strukturreform auch zu neuen Formensprachen und Ästhetiken führen wird. Kunst muss Grenzen überschreiten dürfen. Aber Kunst muss sich auch die Frage gefallen lassen, ob es z. B. notwendig und sinnvoll ist, mit einem Bühnenbild aus riesigen, transparenten und extra gefertigten Plastikobjekten auf die Vermüllung der Meere anzuspielen. So geschehen bei den Salzburger Festspielen. Vor allem dann, wenn der Regisseur Peter Sellars anlässlich seiner Idomeneo-Inszenierung in der Eröffnungsrede ­explizit die Klimakatastrophe anspricht. Auch wir von SAVE THE WORLD haben erst spät angefangen, unsere eigenen Produktionsprozesse zu hinterfragen. Das Regiekollektiv Rimini Protokoll musste sich eben­ falls der Frage stellen, ob seine CO2-Bilanz bei der herausragenden Inszenierung Welt-Klimakonferenz am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg dem Thema angemessen war. In ihrem Planspiel von 2015 schicken die drei Theatermacher*innen das Publikum als Delegierte in den Dialog. Die Zuschauer wurden zu Abgeordneten eines Landes erklärt und konnten in dieser fiktiven Rolle an der Weltklimakonferenz teilnehmen und deren Ergeb-

From empathy to action In Bezug auf die Klimakatastrophe wissen wir, dass ­aktives Handeln von uns allen erforderlich ist, um eine Erderwärmung zu vermeiden. Aber wie hängen Katharsis und aktives Handeln zusammen? Wir wissen, nicht nur von Aristoteles und Schiller, sondern auch aus der Sozial­ forschung, dass der Mensch dann handelt, wenn er emotional involviert ist. Als Theatermacher*innen ­können wir beim Publikum Emotionen erzeugen: Wut, Trauer, Mitgefühl, Langeweile, Humor – die Bandbreite der künstlich herbeigeführten Reaktionen ist lang. ­Wieso setzen wir unsere Qualifikation nicht dafür ein, unser Publikum zum Umdenken und Handeln zu animieren? Weil die Gefahr eines moralischen Zeigefingers besteht? Weil man nicht oberlehrerhaft auftreten will? Wenn die Moral nicht bieder und bigott daherkommt, kann sie sehr effektiv sein. Greta Thunberg als Jeanne D’Arc der Klimakatastrophe zeigt das eindrücklich. Wie können wir die dramatischen Veränderungen, die auf uns zukommen, so erzählen, dass sie uns nicht von vornherein Angst machen und lähmen? Wie können wir die apokalyptischen Erzählungen der Klimawissenschaft in utopische Botschaften umdeuten? Obwohl das Theater seit seiner Entstehung von fast nichts anderem als von Krisen und Katastrophen handelt, tun wir uns schwer damit, die richtigen Narrative für die Klimakatastrophe zu finden. Das liegt daran, sagt die Wiener Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva Horn, „weil die Klimakrise ein sehr seltsamer Typ von Katastrophe ist, nämlich eine ohne großen Knall“. Unsere Umwelt ändert sich sehr langsam, fast unmerklich und trotzdem sehr tiefgreifend. Obwohl die Klimaforscher hervorragende Arbeit leisten, können wir uns die Veränderungen nicht

save the world with this melody?

richtig vorstellen. Die Klimakrise ist eine Krise der Vorstellungskraft. Künstler*innen wie Katie Mitchell, Rimini Protokoll, Kris Verdonck, Anne Dukhee Jordan, Anna Mendelssohn, Alexander Giesche, das PENG! Kollektiv, Thomas Köck, Tobias Rausch und viele andere zeigen in ihren Arbeiten, dass man diese merkwürdige Krise künstlerisch darstellen kann. Mithilfe von Dokumentation, Provokation, Identifikation entwerfen sie alternative, utopische Entwürfe, bedienen sich emanzipatorischer, kreativer und transformativer Praktiken, modellieren, konstruieren, nehmen Perspektivwechsel vor.

nicola bramkamp

Und Bernadettes Plan funktionierte tatsächlich: Als das Publikum am Ende eines erlebnisreichen, informa­ tiven und inspirierenden Abends zusammenkam und gemeinsam den Weltrettungssong schmetterte, da hatte man tatsächlich dieses erhabene Gefühl von Gemeinschaft. Die Erkenntnis, jetzt wirklich etwas tun zu wollen, eine Idee, wie das gehen könnte, und das ­Bewusstsein: you are not alone. Aristoteles, der alte Wirkungsästhetiker, behielt mal wieder recht: Theater entfaltet von Zeit zu Zeit eine starke, kathartische Wirkung. Und das ist ja immerhin ein guter Anfang für eine Weltrettungsmission.

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nis aktiv mitgestalten. Als afrikanische Delegation bekam man z. B. sehr eindringlich vermittelt, wie die zunehmende Hitze und der Wassermangel das Leben auf dem Kontinent erschweren. Man lag unter einer riesigen, der Sonne nachempfundenen Scheinwerfer-Konstruktion, und der Schweiß lief einem buchstäblich den Rücken hinunter. Das Dilemma des globalen Südens, als Opfer der Klimaerwärmung massiv betroffen und gleichzeitig als geringer CO2-Immitent nicht schuld an der Misere zu sein, hatte man nie deutlicher vor Augen. Und trotzdem bleibt die Frage, ob der Stromverbrauch dieser Sonne zur Verdeutlichung des Themas angemessen war. Vielleicht muss manchmal künstlerisch etwas, nicht dem Ideal Entsprechendes getan werden, um speziell darauf hinzuweisen? Vielleicht muss aber auch genau darauf verzichtet werden. Wie lösen wir dieses Dilemma? Die künstlerische Leiterin des weltweit ersten klima­ neutralen Arcola Theaters in London, Feimatta Conteh, rät uns: „Don’t let perfect get in the way of good“. Es ist notwendig, nicht vor den gestellten Aufgaben zu kapitulieren, sondern frisch und energetisch unsere Produktionsprozesse zu überdenken. Das ist ein anstrengender, komplexer Vorgang. Aber: Wir stehen nicht allein vor dieser Herausforderung. Die gesamte Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und auch unser Privatleben sind davon betroffen. Und da ich davon ausgehe, dass wir als kreative Menschen besonders gute Lösungen erarbeiten werden, nützt kein Jammern, nur das Ärmel-Hochkrempeln.

Was brauchen wir für die Transformationsprozesse? Art meets Science! Wir müssen uns den Raum für Reflexion nehmen und unsere Arbeitsprozesse entschleunigen. Wir brauchen wissenschaftliche Begleitung bei diesem Prozess. Vielfach fehlt es an Zahlen, Daten, Fakten. Eine Möglichkeit wäre die Implementierung von Forschungsprojekten in den Theatern, wie es Sabina Dhein, Rektorin der Hochschule für Musik und Theater Hamburg bei der Konferenz „Burning Issues Meets Kampnagel“ 2020 vorgeschlagen hat. Wenn wir neue Fragen stellen wollen, statt Lösungen für alte Probleme zu finden, müssen wir die begonnenen Prozesse analysieren, dokumentieren und evaluieren. Das kann kein System alleine leisten. Dafür braucht

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es Austausch, Dialog, künstlerische Forschung und widerständige Praxis. Viele Mikrorevolutionen haben schon begonnen. Es gilt, diese Erkenntnisse zu bündeln und auch global zu schauen, was es für BestPractice-Beispiele gibt und wie wir diese adaptieren können. Aber nicht nur die Kulturschaffenden oder das Publikum müssen sich überlegen, was uns Klimaschutz im Kulturbetrieb wert ist, sondern auch die staatliche Kulturpolitik. Der Arts Council in England z. B. ist der Überzeugung, dass Kultureinrichtungen eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Umweltbewusstseins in der Gesellschaft zukommen. Er entscheidet anhand von festgeschriebenen Kriterien über die Vergabe öffentlicher Gelder zur Förderung von Kultureinrichtungen. Seit 2012 zählt die Nachhaltigkeit einer Organisation zu den Förderungs­ kriterien. Die Auflagen des Arts Council England haben dazu geführt, dass der Energieverbrauch im Kultur­ sektor gegenüber 1990 um 23 Prozent gesenkt werden konnte. Ebenfalls wichtig, um eine Reduzierung des Energieverbrauchs bei öffentlich subventionierten Betrieben herbeizuführen, ist die Transparenz. In Schweden sind Staatsbetriebe seit 2008 dazu verpflichtet, eine jähr­ liche Berichterstattung zu ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten vorzunehmen. Das hierdurch ­bewirkte Umdenken sowie der öffentliche Druck führen zu einer strukturellen Umgestaltung der Kulturbetriebe, die wir auch in unserem Land dringend benötigen. Kultur spielt eine große Rolle in der Sinngebung von Transformation, so formulierte es der Klimaforscher Prof. Schellnhuber. Wir können mit unseren performa­ tiven Mitteln einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Aufklärung leisten. Wie gehen wir mit dem Konflikt ­zwischen der Freiheit der Kunst und dem ökologischen Fußabdruck um?

Können wir also mit Kunst die Welt retten? Vielleicht nicht. Aber wir können zumindest unsere Kunstform dafür nutzen, eine andere, bessere Welt zu imaginieren. Und so zumindest die Krise der Vorstellungskraft überwinden. Und am Ende versuchen, uns selbst daran zu messen.


gedeckt …“ über die ästhetik der klimakrise, punkrockmusicals bei amazon, komplexe dilemmata und flugscham NICOLA BRAMKAMP im Gespräch mit HELGARD HAUG (RIMINI PROTOKOLL), JEAN PETERS (PENG!), ALEXANDER GIESCHE und ANTA HELENA RECKE. Als Dramaturgin und Kuratorin Nicola Bramkamp diese Runde zusammenbringt, stellt sich aufgrund von Corona zumindest nicht die Frage, ob das Treffen physisch oder per Video stattfindet. Diese versammelten Künstler*innen wissen, wovon sie sprechen, wenn es um das Thema Nachhaltigkeit geht: Rimini Protokoll arbeiten seit Jahren zum Thema Theater und Klima; ihre interaktive Inszenierung Welt-Klimakonferenz ist eine der relevantesten Auseinandersetzungen mit der politischen Komplexität dieser gesellschaftlichen Herausforderung. Alexander Giesche, dessen Visual Poems in sinnlicher, assoziativer Weise Themen reflektieren, erschuf in Der Mensch erscheint im Holozän beeindruckende Bilder zur aktuellen gesellschaftlichen Stimmung. Anta Helena Recke öffnet in ihren Arbeiten Erfahrungsräume, lenkt den Blick auf das häufig Verdrängte, so eindringlich geschehen bei Die Kränkungen der Menschheit. Und Jean Peters vom PENG! Kollektiv gelingt es immer wieder, durch Provokation, Fake und gekonnte Inszenierung der Wirklichkeit poli­tischen Aktivismus mit künstlerischen Mitteln zu ver­binden. Und so eine nachhaltige Debatte über die großen Fragen der Zeit anzustoßen.

NB:

Die Debatte Theater und Nachhaltigkeit ist in vol­

lem Gange. Anfang April gab es beispielsweise eine große Klimawerkstatt der Bundeskulturstiftung, an der sich

Theatermacher*innen aller Professionen beteiligt haben. Es ging um betriebsökologische Fragen, darum, wie die Theater als Institutionen nachhaltiger arbeiten können. Aktuell spreche ich mit Wissenschaftler*innen, Theater­ leiter*innen, mit Dramaturg*innen, Technischen Direktor*in­ nen und Kulturpolitiker*innen über das Thema, aber er­ staunlich wenig mit Künstler*innen. Ich freue mich deshalb sehr, heute mit euch darüber ins Gespräch zu kommen, wie man der Klimakrise künstlerisch begegnen kann. Ich würde gerne mit einer persönlichen Frage anfangen: Was bedeu­ tet die Klimakrise für euch privat? Was für Gefühle löst sie aus, und was für Konsequenzen zieht ihr daraus? Fliegt ihr zum Beispiel noch mit dem Flugzeug?

AHR: Ich fliege noch, und ich schäme mich natürlich jedes Mal – ein gelebter Widerspruch. HH: Man muss da ganz klar vor und nach Corona unterscheiden, in den letzten zwölf Monaten bin ich fast überhaupt nicht geflogen. Aber normalerweise fliege ich natürlich beruflich. Wir arbeiten international und haben viele Projekte in dieser „easy jet-Mentalität“ geplant, also schnell hin, dann eine kurze intensive Zeit vor Ort arbeiten, Sachen mitnehmen, weiterziehen, wieder ­zurückkommen. Und das ist natürlich schon mit dem Wissen um die ökologische Katastrophe geschehen, mit

„das ist alles von der kunstfreiheit gedeckt“

von der kunstfreiheit

nicola bramkamp mit helgard haug jean peters alexander giesche und anta helena recke

„das ist alles

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Flugscham im Gepäck. Nichtsdestotrotz haben wir aber längst angefangen, nach Alternativen zu gucken. Das ist eine Abwägungsfrage: Wie viel Zeit kannst du investieren, und welche anderen alternativen Reisemöglichkeiten gibt es? Werden die höheren Kosten übernommen? Das muss man jedes Mal abwägen.

AG: Ich habe mich für das Modell Hausregisseur in

Zürich unter anderem deshalb entschieden, weil ich so fünf Jahre an einem Ort sein kann. Und seitdem, also auch schon vor Corona, bin ich überhaupt nicht mehr geflogen, mache alle Reisen innerhalb des deutschsprachigen Raums mit dem Zug. Das ist natürlich eine Entschleunigung. Seitdem ich in Zürich bin, esse ich auch kein Fleisch mehr. Im Theateralltag ist das natürlich nicht ganz so leicht. Als wir mit Der Mensch erscheint im Holozän zum Theater­ treffen nach Berlin eingeladen waren, war uns klar, dass die ganze Mannschaft mit dem Zug hinfährt, inklusive der Techniker*innen. Das war aber ein richtig großer Kostenmehraufwand, eine richtige Entschleu­ni­gungsent­ scheidung, auch für das Haus, weil dann vor Ort ganz viele Sachen nicht passieren können, das ­Theater stillsteht. Das wäre lustigerweise auch nur ­wegen Corona gegangen, weil sowieso nicht so viel ­gemacht werden konnte … am Ende war die Reise dann aber sogar überhaupt nicht möglich.

JP: Das mit den Dienstreisen ist ein wichtiger Punkt.

Es hat einen großen Effekt, wenn man eingeladen wird und man sagt zu, kommt aber mit dem Zug. Das sind dann – z. B. beim Goethe Institut – schnell mal zwei Tage Zugfahrt, sodass die dann sagen: Das ist viel zu teuer, das hatten wir jetzt nicht eingerechnet, sorry. Oft merken die Institutionen dann aber, dass das moralisch gar nicht geht und versuchen, die Zugfahrt dann irgendwie doch zu realisieren. Ich flieg aber auch noch, würde bei dem Thema ungerne zu sehr auf das Individuelle gucken, schließlich ist es ja ein strukturelles Problem. Der ökologische Fußabdruck und diese ganze Verzichtsrhetorik zerstreuen die Verantwortung auf die Individuen, statt auf Wirtschaft und Politik zu schauen. Und dann schlägt die Scham schnell in Trotz oder Stolz um, das ist gefährlich. Viel besser ist: Wut! Wut darüber, dass wir weniger Fleisch essen sollen, weniger fliegen sollen, egal, wie prekär wir sind, das alles individuell abfedern sollen, bevor wir auch nur ein Mal darüber nachdenken, an den wirtschaftlichen Strukturen zu rühren. Das führt bei mir zu Wut. Wut auf dieses Abwälzen der politischen Verant­wortung auf die Individuen. Und Wut auf die M ­ enschen, die die Dringlichkeit immer noch nicht gerafft haben.

HH: Ja, diese Rhetorik zerstreut und beruhigt, das

stimmt. Nach dem Motto: Super, ich bin mit dem Zug gefahren und habe die Welt ein bisschen gerettet – dann kann’s ja jetzt weitergehen. … Man muss sich so-

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wohl selbst überprüfen als auch strukturelle Punkte ­verändern. Da kommt die Politik ins Spiel. Die Klimaziele, die vereinbart wurden: Wo werden die eingehalten, und wer überprüft das und woran? Wie viel mehr müsste r­adikal politisch verändert werden?

JP: Ich würde noch einen Schritt weiter gehen, Helgard. Die Verantwortung wird auf das Individuum geschoben, d. h. du musst immer wieder entscheiden: Hab ich die Kapazitäten? Kann ich es mir leisten, zwei Tage lang mit dem Zug zu fahren? Das ist ja ein krasser Luxus in einer Arbeitswelt, in der man hustlen muss, die ganze Zeit. Oder beim Thema Fairtrade: Will ich eine grüne Banane, die Fairtrade ist, die teurer ist, oder will ich einfach eine Chiquita kaufen, die irgendwie auch geil klingt. Das muss dann hunderttausendfach individuell jeden Tag neu verhandelt werden. Nicht ein Mal, bums: Die sozial-ökologische Ausbeutung ist jetzt verboten, sondern Tausende Male, jeden Tag, für jede*n Einzelne*n. Sonst funktioniert die lähmende Hand des Marktes ­einfach weiter. NB:

Ihr beim Peng! Kollektiv versucht, mit euren Aktionen

konkrete politische Missstände aufzudecken und etwas zu verändern. In deinem Buch Wenn die Hoffnung stirbt, geht’s trotzdem weiter. Geschichten aus dem Subversiven Widerstand gibst du z. B. strategische Anweisungen, wie man sich organisieren kann, wie man konkret handeln kann. Würdest du sagen, dass das noch Kunst ist, was ihr macht?

JP: Das ist mir egal. Es kommt auf die Perspektive an. Viele Künstler*innen sagen: Das ist doch keine Kunst. Und viele Journalist*innen sagen: Das ist doch kein Jour­ nalismus, wenn ihr da was recherchiert. Solche Sichtweisen sind, glaube ich, stark gespickt von Eitelkeiten, denen ich mich eigentlich gerne entziehen würde. Ich glaube, dass es mittlerweile sehr klar vor unseren Augen steht, dass wir einen radikalen Bruch brauchen. Dass wir ein Denken brauchen, abseits vom engstirnigen ökonomischen Handeln unserer Zeit. Da kann Kunst helfen, neue Perspektiven zu eröffnen. Und Kunst kann auch juristische Reaktionen provozieren, sobald man Grenzen überschreitet, interveniert, um Wandel einzuleiten. Das ist dann – wie es bei Danger Dan heißt – alles von der Kunstfreiheit gedeckt. Aber letztlich geht es mir nicht darum, die Welt irgendwie zu retten, sondern um einen konkreten und radikalen Umbau des ökonomischen und kulturellen Systems. NB:

Wie ist das bei euch anderen? Was für künstlerische

Mittel nutzt ihr, um aktiv zu werden? Habt ihr das Gefühl, dass ihr mit Inszenierungen, die sich mit dem Thema Klima­ wandel beschäftigen, etwas erreicht? Ist das überhaupt Sinn und Zweck eurer Auseinandersetzung, oder geht es mehr um eine individuelle Verarbeitung von etwas, das einen umtreibt?


spricht es nicht explizit an. Was willst du mit deinen Insze­ nierungen politisch erreichen?

AG: Na ja, erst mal will ich die Leute erreichen. Und wenn ich’s dadurch schaffe, dass deren Perspektive sich irgendwie verändert, ist das doch klasse. Ich sehe das ähnlich wie Anta: Ich glaube, was wir gerade in der jetzigen Krise merken, ist, wie wichtig jede*r Einzelne am Ende dann eben doch ist. Wie groß der Beitrag jede*r Einzelne*n zur Überwindung der Krise sein kann. Es stimmt: Im besten Falle ziehen die Regierungen noch mit. Aber wir haben auch als Einzelne die Kraft, uns für den Buchladen an der Ecke zu entscheiden und nicht für Amazon. Natürlich ist das ein homöopathisches Mittelchen, aber ein wichtiges. Das ist ein Prozess, der erst am Anfang steht. Ich suche eigentlich immer Themen, die mich berühren – in der Hoffnung, dass ich damit auch wieder Leute berühren kann. Meine Bühnenbildnerin und ich, wir wollten uns z. B. mit Naturphänomenen auseinandersetzen und sind für unsere Arbeit White Out – Begegnungen am Ende der Welt nach Island geflogen. White Out sollte eine Arbeit zum Anthropozän werden; 2017 war das. Aber interessanterweise sind wir in Reyk­javik angekommen und haben sozusagen das Ende der Welt gesehen: Massentourismus, Globalisierung, Gentrifizierung. Es sieht dort aus wie in jeder anderen Metropole. Und da haben wir entschieden: So was machen wir nicht mehr. Wir versuchen, für die Arbeit einfach gar nicht mehr zu fliegen. Wir müssen echt was verändern an der eigenen Herangehensweise. Bei Holozän ist es jedenfalls nicht so, dass wir uns schon im Vorfeld gesagt hätten, wir wollen ein Stück zur Klimakrise machen. Es ging eher darum, ein Stück über meinen Vater zu machen, der plötzlich abgehängt war, weil er kein Smartphone mehr hatte. Und es ging um digitale Demenz, das war der Plan. Aber gleichzeitig war

NB: Wie lange schauen wir zu, das ist eine gute Frage. Jean hat sie eben eindeutig damit beantwortet zu sagen: Es reicht nicht, die Menschen individuell zu adressieren. Alexander und Anta, ihr habt von der individuellen Gestal­ tungskraft gesprochen. Helgard, ihr habt bei der Welt-­ Klimakonferenz 2015 mit Wissenschaftler*innen zusam­ mengearbeitet. Was hatte das für einen Einfluss auf eure Arbeit? Diese Expert*innen geben ja durchaus konkrete Anweisungen bezüglich der Frage „Wie lange schauen wir zu“. Wie würdest du eure Arbeit in diesem Spannungsfeld zwischen politischem Appell und individueller Ansprache positionieren?

HH: Ich finde es gefährlich, wenn man sich mit ­ leinen, wenn auch total wichtigen, Lösungen beruhigt. k In der Summe ergeben viele kleine individuelle Aktionen auch einen Effekt, das ist klar – aber das ist nicht die Lösung: Das Problem ist zu groß. Wir haben 2008 ein Stück gemacht, das hieß Breaking News, und da hat Claus Kleber – der Anchor vom heute journal – bei einem Vorgespräch gesagt, er würde gerne jede Sendung mit der Nachricht eröffnen, dass die Klimakrise existent ist. Ich hab mir vorgestellt, wie großartig wäre das, wenn ein Nachrichtensprecher darauf bestehen würde, dass das, und zwar ab jetzt, für immer das Top-Thema Nr. 1 ist. Egal, welche Kriege toben, wo ein Flugzeug abstürzt, wie hoch die Arbeitslosenzahlen sind – wir setzten immer an erster Stelle dieses Thema, weil es einfach so groß ist und tatsächlich eine globale Auswirkung auf alle hat. Seitdem taucht das Thema in unseren Arbeiten in vielen verschiedenen Formen immer wieder auf. Aktuell in Die Konferenz der Abwesenden, bei der wir tatsächlich

„das ist alles von der kunstfreiheit gedeckt“

NB: Alexander, wie ist es da bei dir? Der Mensch erscheint im Holozän triggert das Thema Klima thematisch, aber

ich von Anfang an getriggert vom Regen in Frischs ­Roman, dem Erdrutsch, und dachte: Dieses Buch hat viel mit dem Klima zu tun. Schon bei der Vorgängerarbeit Colours of Hope hatten wir Greta Thunbergs erste große TV-Rede verwendet, die uns zu diesem Zeitpunkt ziemlich beeindruckt hat: Der Zuschauer schaut den Performer*innen dabei zu, wie sie sich dieses Video anschauen, und wird damit genau wie die Performer*innen zum rein passiven Betrachter. Die große Frage, die mich seit Jahren umtreibt: Wie lange schauen wir noch zu? Deshalb spiele ich, glaub ich, auch mit so einer Langsamkeit und so einer Ruhe. Das ist für manche fast nicht auszuhalten; andere finden das wieder total toll, weil sie endlich den Raum ­haben, ins Meditieren über so ein Thema zu kommen, zu oszillieren, sich wieder zu sich selbst in Bezug zu ­setzen. Ich hatte nicht vor – und ich fand’s auch nicht hilfreich für den Abend – dass Holozän zu dem großen Klimakatastrophenstück gemacht wird. Dafür ist das Thema darin eigentlich nicht explizit genug. Aber es kommt vor und ist momentan einfach ein Thema, das extrem viele Leute verfolgt oder beschäftigt …

nicola bramkamp mit helgard haug jean peters alexander giesche und anta helena recke

AHR: Die individuelle Konsumentscheidung als Gegensatz zu einer politischen Umwälzung: Das kann wirklich nicht die Lösung sein. Und trotzdem will ich mich auch noch nicht ganz verabschieden von der Arbeit am Selbst, von einer Arbeit, die doch immer im direkten Zusammenhang mit politischer Willensbildung steht. Letztendlich ist doch so etwas wie Nachfrage zusammengesetzt aus den vielen einzelnen Begehrlichkeiten der Subjekte. Daher bin ich mir einfach nicht sicher, ob es zielführend ist, das Battlefield der Individualität so komplett zu verlassen. Wenn wir Politik und Gesellschaft mit Kunst zusammenbringen, dann interessiere ich mich sehr für die Wahrnehmung meines Publikums: Wie entstehen Widersprüche, Lücken, Diskrepanzen, z. B. zwischen Subjekten und Strukturen, zwischen Wissen und Handeln. Was passiert da eigentlich? Das in einer Aufführung zu untersuchen: Genau da liegt mein Interesse.

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versuchen, ein anderes Modell zu schaffen, und versuchen, auf die Anwesenheit zu verzichten. Bei der Welt-Klimakonferenz ging es darum, erst mal erfahrbar zu machen, dass es überhaupt ein Dilemma gibt. Politisches Handeln beruht auf demokratischem Konsens, auf Kompromissen. Wenn wir sagen, wir steigen aus der Kohle aus, ist das erst einmal richtig, hat aber wahnsinnig komplexe Konsequenzen, die alle bedacht und bewertet werden müssen. So ist es bei der globalen Klimafrage auch, nur in einem viel größeren Maßstab. Alle Staaten der Welt müssen einen Konsens finden, der in den jeweiligen Ländern dann auch realistisch umgesetzt werden kann. In der Inszenierung schlüpfen die Zuschauer*innen in die Rollen von Länder-Delegierten und treffen auf Expert*innen, die sich auf spezifische Problemkonstella­tio­ nen fokussieren. Wie ist die politische und wirtschaft­liche Situation? Wie groß ist der Anteil der CO2-Emis­sionen? Wie sehr leidet man unter den Auswirkungen, obwohl man sie gleichzeitig selbst erzeugt? Man konnte ­Delegierter irgendeines Landes auf dieser Erde sein und mit anderen Gästen, d. h. mit anderen Länderdelegationen, zusammenkommen, sich austauschen und diskutieren. Man musste aber am Schluss auch eine Entscheidung treffen: Wie viel CO2 wird mein Land einsparen, in 20 Jahren, in 50 Jahren? Und zwar so, dass ich den Preis dafür zu Hause in meinem Land auch vertreten kann. Uns ging es dabei nicht darum, eine Lösung zu präsentieren. Sondern darum, die Komplexität abzubilden, die enorme Schwierigkeit auf die Bühne zu kriegen, ohne sie schrumpfen zu lassen oder mit schnellen ­Lösungen zu wedeln. Was ist die Weltklimakonferenz für ein diplomatischer Trapezakt! Das Gegenmodell zu Greta, die streikt und sagt: Ist doch ganz simpel, ihr müsst aufhören zu reden, ihr müsst handeln.

NB:

HH: Nur kurz: Es ging mir nicht darum, Empathie für die Politiker*innen zu entwickeln, sondern präzise hinzuschauen und einen Vorgang zu verstehen. Auch das kann die Aufgabe von Theater sein. Die Welt auf die Bühne holen, sodass ich sie betrachten kann: in ihrer Komplexität. NB:

Ist das Betrachten von Komplexität am Ende nicht

auch eine Frage der Zielgruppe? Wen erreiche ich mit ­meiner Kunst, wen erreiche ich mit meiner Intervention? Muss ich Theater anders denken, wenn ich es im subkultu­ rellen Kontext mache oder für ein Abo-Publikum, weil ich

Ich fand die Arbeit sehr beeindruckend, weil es euch

mit diesem partizipativen Ansatz gelungen ist, Komplexi­ tät erfahrbar zu machen. Man konnte spüren, wie anstren­ gend das Ringen der Welt um eine Lösung ist, die für alle Staaten funktionieren muss. Dass das nicht von heute auf morgen geht, ist klar. Aber reicht es heute noch, auf die Komplexität aufmerksam zu machen? Eure Inszenierung ist von 2015; Greta Thunberg sprach das erste Mal öffentlich 2018. Sind wir jetzt nicht eigent­lich an einem anderen Punkt, der da lautet: Jetzt reicht’s aber mal?!

JP: Ich würde das nicht gegeneinanderstellen.

Einerseits reicht es doch wirklich langsam mal mit der ganzen Empathie den Politiker*innen gegenüber. Das muss ich schon sagen, liebe Helgard. Wir haben das doch alle längst verstanden: Die Politik ist ein schwerer Job, ja. Aber deswegen jetzt einfach die UN zu besetzen, das wäre andererseits, glaube ich, ein simpler Kurzschluss. Lasst uns lieber über die Theaterlandschaft ­reden. Ich bin schon enttäuscht, traurig, ratlos, dass die Theater in der Corona-Zeit sehr viel Energie drauf ver-

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wenden, wie sie ihre Streams gut inszenieren können, und einfach weitermachen mit diesen Bretterbodeninszenierungen. Jetzt eben abgefilmt. Anstatt zu sagen: O. k., die Schauspieler*innen dürfen nicht mehr schauspielern, die Amazon-Warehouse-Arbeiter*innen müssen aber schon arbeiten –also: ab ins Warehouse, dort ­spielen und live streamen. Mit einem Punkrockmusical ­Amazon lahmlegen. Das wäre eine Intervention, die wäre gerade thematisch passend. Und die wäre sogar corona­ konform, weil man ja dort sein darf, soll, muss. Das ist eine verpasste Chance. Ich glaub, es gibt ganz viele ­andere Orte, an denen sich Theater konzeptionell neu denken ließe. Ganz viele Kooperationen, die vielleicht sonst nicht üblich sind. Ganz viele Themen, die jetzt wichtig sind: Seien das die europäischen Grenzen oder die ganze postkoloniale Dimension. Aber da passiert auf der Mal-was-Tun-Seite definitiv zu wenig. Ich wünsche mir ein bisschen weniger Hamlet. Ich meine: Hamlet ist cool; ist auch bestimmt spannend, das noch mal gestreamt zu inszenieren. Aber vielleicht meldet sich nach diesem Interview ein Haus bei mir, um bei Amazon zu intervenieren!

da vielleicht ganz andere Hebel ansetze? Oder ist euch das egal?

JP: Will man was bewegen, hilft es nicht, darüber nachzudenken, wie man es dem Abo-Publikum recht macht oder wie man einen Theaterpreis gewinnt. Wenn wir jetzt über Dringlichkeiten reden, dann bitte: Ignoriert die alten Intendant*innen, die noch in diesen Kategorien von Zielgruppen denken! NB:

Ich persönlich bin ja eine Verfechterin des Theaters

als moralischer Anstalt. Das ist zwar gerade nicht besonders en vogue. Aber ich finde die Idee attraktiv, dass wir es schaffen können, mit Kunst, mit Theater, Menschen emo­ tional so zu erreichen, dass sie ihr Verhalten verändern. Schiller und Lessing gehen noch einen Schritt weiter und sind davon überzeugt, dass wir die Zuschauer*innen mit­ hilfe des Theaters auch zu besseren Menschen erziehen könnten. Würdet ihr das unterschreiben, oder ist das der falsche Weg?


stalt, ehrlich gesagt, die Nackenhaare auf. Das setzt ja voraus, dass wir es besser wissen als das Publikum. Ich vermute, im Publikum sitzen Leute, die viel mehr wissen als ich. Wenn es gut läuft, erarbeitet man sich ja etwas zusammen. Man stellt quasi ein Spielbrett auf und sagt: O. k., jetzt spielen und erleben wir etwas gemeinsam. Ich arbeite immer aus einem Defizit heraus. Wenn ich etwas nicht kapiere, dann ist das für mich ein guter Anlass, ein Projekt zu machen. Und bei dieser Reise nehmen wir die Zuschauer*innen mit. Wenn ich als Zuschauer*in merke: Ah jaja, klar, die wollen mir jetzt was verklickern, also … dann steig ich aus.

JP: Das unterschreibe ich 100-prozentig. Wir verkleiden uns als Waffenhändler*innen und sagen, das ist unsere Position! Ich gehe davon aus, dass sich die Menschen das sehr kritisch angucken und dann sagen: Wo stehe ich eigentlich diesbezüglich? Ist das nicht eine Art von postmoderner Moral? Ich kaue die Erkenntnis nicht vor, trotzdem öffne ich einen moralischen Raum. AG: Ich seh das ähnlich. Meine Programmhefte bestehen meistens aus Fragen und nicht aus Antworten. Wer bin ich, dass ich so tue, als hätte ich’s irgendwie verstanden oder wär’ irgendwie besser, nur weil ich jetzt seit zwei Jahren nicht mehr fliege, das ist totaler Quatsch. Trotzdem: Ein riesengroßes Thema ist der Generationskonflikt, der auch das Theaterpublikum komplett verändert. Die Jugend, die mit den digitalen Medien groß geworden ist, tickt einfach anders als das Abo-Publikum. Ich verstehe mich daher eher als Simultanübersetzer zwischen zwei Generationen und zwischen zwei Welten. Moral interessiert mich einfach nicht so wirklich. Im besten Falle transportiert sich die Transformation anders. NB: Vielleicht muss man da ein bisschen differenzieren. Ihr macht ganz unterschiedliche Projekte, habt ganz unterschiedliche ästhetische Ansätze. Helgard: Das, was du beschreibst, hat viel damit zu tun, dass ihr grundsätz­ lich das Prinzip der Mimesis ablehnt, dass ihr nicht Stell­ vertreter*innen auf die Bühne stellt, die Texte sprechen, die sie nicht selber gedacht haben, sondern dass bei euch Expert*innen auftreten, die für sich selbst stehen. Jean, bei euch ist es so, dass ihr die Mittel der Schauspielerei nutzt, aber die Bühnen verlasst, in der realen Welt aktiv seid, mit darstellerischen Mitteln. Und ihr, Anta und Alex­ ander, arbeitet mit dem klassischen szenischen Apparat. Bei euch sprechen und spielen Schauspieler*innen Texte, und es kommt zu einer künstlerischen Verdichtung. Das sind ja drei ganz unterschiedliche Methoden und Ansätze.

zusammengebracht. Ich würde gerne ausloten, worin die Qualität der jeweiligen Ästhetik besteht, mit welchem Ansatz ihr was beim Publikum bewirkt – in Bezug auf die Klimakrise.

AHR: Ich bin extrem weit davon entfernt – und hoffe, ehrlich gesagt, es zu bleiben– sagen zu können: Das ist meine Ästhetik, so sieht die aus – und dann weiß jeder, was gemeint ist. Ich will in Bewegung bleiben, immer. AG: Beim Visual Poem schaut man lange hin, sehr assoziativ. Es ist ein Spiel mit den Theatermitteln, ein Ausloten, was mit diesen Mitteln möglich ist. Es spielt mit den Sehgewohnheiten, die man über Jahrzehnte im klassischen Theater gelernt hat, und fügt subtile Verschiebungen ein. Zum Beispiel die Langsamkeit: Ein ­Aspekt der gegenwärtigen Klimakatastrophe ist ja ihre Dauer, die messbar ist, aber immer erst dann wahrnehm­ bar wird, wenn es schon zu spät ist. Mir geht’s gar nicht darum, den Leuten zu sagen: Jaja, wir schaffen das. Wahrscheinlich ist es dafür fast zu spät. Ich finde, wir müssen darauf schauen, wie wir miteinander umgehen, wie wir aufeinander aufpassen und wie wir uns an der Hand durch diese Zeiten führen. Aktuell probe ich an der Nachfolgearbeit zum Holozän, die ich auf keinen Fall für den Stream denken wollte. Deshalb findet sie in kompletter Dunkelheit statt. Da kann kein Intendant sagen: Das müssen wir filmen. Wir haben uns ein Bild von Greta Thunberg geklaut: The House is on Fire; wir haben Nebelmaschinen unter dem Bühnenboden; die Podesterie ist ausgebaut. Das Publikum sitzt im Kreis, es nebelt durch die Ritzen, und die Schauspieler sind alle Feuerwehrmänner oder Feuerwehrfrauen … Keine Ahnung, wohin das führt. Ich kann das immer erst im Nachhinein betrachten, folge da meinem Bauchgefühl, meiner Intuition, und im besten Falle kommuniziert die Arbeit dann irgendwie mit dem Publikum. JP: Wir machen unsere Schauspieler*innen ungefragt zu Schauspieler*innen. Geheimdienstmitarbeiter*innen werden plötzlich Schauspieler*innen, weil sie mit unserem Publikum telefonieren. Waffenhändler*innen befinden sich plötzlich auf einer Bühne und bekommen einen Friedenspreis. Die dachten, das sei ein echter Friedenspreis, und dann finden sie sich plötzlich im Theaterkontext wieder. Ich bin sehr vorsichtig, Ästhetik zu sehr mit Politik vermischen zu wollen. Das ist schon mal ­beträchtlich schiefgegangen in Deutschland. Die Frage ist eher: Was haben wir für eine hegemoniale Ästhetik? Die ganzen Start-ups, Unternehmen, PR-Agenturen, wie kommunizieren die? Das hat eine Kraft, und die klauen wir. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Drama­ tur­g*in­­nen und fitte Leute haben, die uns dabei noch mehr helfen. Denn da geht noch einiges, glaube ich. Mich interessieren die machtvollen ästhetischen Bild-

„das ist alles von der kunstfreiheit gedeckt“

HH: Mir stellen sich beim Stichwort moralische An-

Deshalb habe ich euch heute auch in dieser Konstellation

nicola bramkamp mit helgard haug jean peters alexander giesche und anta helena recke

AHR: Ich habe per se nichts gegen Moral, würde aber den Gedanken der Erziehung ersetzen durch die Idee, dem Publikum auf Augenhöhe zu begegnen, nicht von oben herab zu predigen.

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welten, die Marketingperformance: die zu imitieren und diese Sehgewohnheiten, die sehr dominant sind, zu nutzen. Genau da will ich intervenieren und die Inhalte verschieben.

HH: Ein Motor unserer Arbeiten ist die Frage „Was wäre, wenn?“. Was wäre, wenn Bürger*innen ihre gewählten Politiker*innen im verlassenen Bonner Plenarsaal live reenacten, also ihre Reden nachsprechen? Was wäre, wenn wir eine Hauptversammlung zum ­Theaterstück erklären? Es geht uns darum, Vorzeichen zu verändern, in verschiedene Richtungen. Ein anderer Motor ist, Komplexität erfahrbar zu machen – also verschiedene Positionen zu einem Thema innerhalb eines Projekts abzubil­den. Bei Situation Rooms, zum Beispiel, haben wir uns mit Waffenhandel auseinandergesetzt. Alle sieben Minu­ten zog man eine andere Haut über: die eines Managers einer Waffenfabrik, die eines Kindersoldaten, die eines Friedensaktivisten, die eines Politikers usw. … Alle sind Teil dieses Problems – auch du! Da gibt es keinen kritischen Außenblick mehr. Das war eine immersive Installation. Ich finde es super spannend, die Logik, gemäß der andere Menschen agieren, zu begreifen. NB: Aber ist es nicht ein Unterschied, ob man über Waf­ fenhandel spricht oder über die Klimakrise, gerade auch aus einer ästhetischen Perspektive? Waffenhandel ist ziemlich konkret. Ich stelle mal – im Sinne der Kulturwis­ senschaftlerin Eva Horn – die These auf, dass die Klima­ krise eine Krise der Vorstellungskraft ist. Die Krise kommt schleichend und ist schwer abbildbar. Ich begegne in der Auseinandersetzung bei SAVE THE WORLD seit 2014 vielen Wissenschaftler*innen und Expert*innen, die händeringend auf der Suche nach Menschen sind, die ihre komplexen In­ halte emotional und sinnlich transportieren. Das können im Idealfall auch Künstler*innen sein. Aber relativ wenige Künstler*innen finden einen ästhetischen Schlüssel, dieses komplexe Thema zu greifen.

HH: Das hat sich überholt, finde ich. Man muss ja

nur mit dem Rad durch Brandenburg fahren und sieht überall die kaputten Wälder – eine Konsequenz des ­Klimawandels. Es ist doch eher so, wie Alexander es beschrieben hat: Wir leben auf einer Bühne, die vor sich hinschmort, ein permanenter Schwelbrand. Das hat doch mittlerweile der letzte Skeptiker vor Augen, auch wenn er auf sein Auto einen „Fuck-You-Greta-Sticker“ klebt.

AG: Ich glaub auch: Vorstellen können sich das alle.

Aber die Frage ist dennoch: Wenn ich ein Stück mache, das sich damit beschäftigt, verbrauchen wir wieder diese Massen an Ressourcen, die feuerfest sein müssen, mit Chemikalien besprüht …

JP:… die Brandschutzbeauftragten, oh Gott! …

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AG: … Genau! Deshalb hat man Respekt, sich völlig in den Dienst der Nachhaltigkeit zu stellen, weil man merkt, man wird handlungsunfähig. Selbstverständlich kann man sich dann immer noch einreden, dass man jeden Abend 400 Leute erreicht, die im besten Fall ihr Leben ändern. Aber bei White Out schneite es den ganzen Abend schwarzen Schnee, schwarzes Plastik. Die Technik hatte mir im Vorfeld aber nicht gesagt, dass das Material nicht wiederverwendet werden kann, weil da Schrauben drin sein könnten. Also wurde für jede Vorstellung wieder ein neues Plastik benutzt – ein Albtraum! Es muss immer effizienter werden im Betrieb: Bühnenbilder noch schneller aufgebaut, noch schneller abgebaut werden. Da kommt das Theater relativ schnell ans Ende seiner Möglichkeiten. Wie kann das Theater integer sein und nicht von der Bühne predigen, was es selbst nicht einhält? Dieser Teufelskreis ist gefährlich, allzu schnell kommen die Beteiligten an einen toten Punkt: Wir können ja eh nichts tun, also bleiben wir einfach bei den bestehenden Erfahrungsmustern und Abläufen. Genau die haben aber dazu geführt, dass der Theaterbetrieb sich hochgeschraubt hat und so viel verschwendet, wie er es aktuell tut. JP: Die Frage ist gar nicht so sehr: Wie wollen wir die Klimakrise erlebbar machen, damit die Leute betroffen sind? Sondern viel mehr: Wie können wir soziale Kämpfe erlebbar machen? Wie können wir dem Publikum zeigen: Ein sozialer Kampf führt zu was!? So können die Leute etwas machen, etwas bewegen. Und plötzlich: „Ach, das Amazon Warehouse wurde lahmgelegt; ah krass, das ist ja abgefahren!“ Das geht, und ich bin eingeladen. Das empowert die Leute mehr als die Ohnmacht, die Alexander gerade beschrieben hat. Zynisch gesagt ist diese Energie auch ästhetisch total interessant: die Energie der sozialen Proteste, von Wut und Verzweiflung. Eine Vermischung von Realität und Fiktion ist am Ende auch immer Realität, insofern sie etwas bewirkt. Und doch bleibt sie künstlerisch relevant. NB:Practice what you Preach: Davon hat Alexander gerade gesprochen. Müssen wir uns denn an unseren ­eigenen ­Maßstäben messen lassen? Dürfen wir noch ­Plastikschnee benutzen?

AHR: Wenn jemand fragt: Darf man? Dann muss man ganz klar sagen: Ja, man darf. Die Verbote, von denen so oft die Rede ist, die existieren in den meisten Fällen nicht. Wir dürfen fast alles, was wir wollen. Die richtige Frage ist: Was möchten wir tun und lassen? HH: Wenn du, Alexander, vorher gewusst hättest, was es bedeutet, schwarzen Schnee auf der Bühne einzusetzen, hättest du es dann wirklich nicht gemacht? NB: Gute Frage! Ich schließe noch ein Beispiel an: Jérôme Bel hat gesagt, er fliege nicht mehr. Das ist ein Impuls,


schrieben und darin gefragt: Was ist mit den Künstler*in­ nen aus dem globalen Süden, die nicht zur Klimakrise ­beigetragen haben, weil ihre Länder im Verhältnis zu den großen Industriestaaten viel weniger Emissionen produzie­ ren? Sollen diese Künstler*innen jetzt auch alle nicht mehr reisen dürfen? Stellen wir damit das gesamte internatio­ nale Touringsystem infrage?

HH: Ich finde es gut, den Energieverbrauch für Touring auszurechnen. Sich das zu vergegenwärtigen, ist total wichtig. Auf dieser Grundlage müsste man dann aber schon auch in der Lage sein, bewusste Entscheidungen zu treffen. Und wenn es dann heißt: Ich will aber, dass dieses verdammte Stück in Australien gezeigt wird, dass das Bühnenbild in zwei gigantische Container auf ein Schiff geladen wird und ein ganzes Team ins Flugzeug steigt – ich will diesen ganzen Wahnsinn, das ist wichtig – dann macht es trotzdem, aber eben bewusst. Das auf die Waagschale zu legen, das ist, glaube ich, schon wichtig. Nur so wird man handlungsfähig. JP: Zu der Frage „Practice what you Preach“: Heute können wir doch längst klimaneutrales Theater machen! Na klar können wir das, genauso wie wir längst auch ein antirassistisches Theater machen können, antisexistisches und antikapitalistisches Theater machen können. Diese Prozesse hängen an den Systemen, in denen diese Theater stecken. Und an den Intendant*innen, die diese Systeme leiten und ihre Veränderung wollen, oder nicht. AHR: Wir stehen an einem Punkt, an dem es durchaus möglich wäre, sehr übergreifend, strukturell an staatlich geförderten Theatern einen Paradigmenwechsel einzuläuten. Wir könnten über unsere Bühnenbilder nachdenken, zu alternativen Baumaterialien wie Pilzen, Maisstärke oder Pappe forschen. Wie lassen sich grundsätzlich andere Lösungen finden? Ich glaube, das würde sich total lohnen. Warum machen wir das nicht, jetzt sofort? Warum üben wir keinen Druck aus, um einen ­geordneten Prozess der Transformation einzuläuten? AG: Diese Transformation ist ein riesenhafter Pro-

zess. Ich merke, wie schwierig es ist, alleine eine Theaterschreinerei davon zu überzeugen, die Möbel nur aus

recyceltem Holz zu bauen. Der Prozess der Transformation braucht extrem viel Zeit, und auch großes Vertrauen. Ich versuche im Moment, dafür Strategien zu erarbeiten. Zum Beispiel: Ich brauche fünf neue Monitore auf der Bühne; wie schaffe ich es nun, das Haus dazu zu bringen, dass, wenn die Inszenierung mit den fünf Monitoren läuft, die Temperatur im Foyer um zwei Grad gesenkt wird? Einerseits, um als Energiesparmaßnahme die Heizung runterzudrehen – andererseits aber auch, um spürbar zu machen, dass zwei Grad Klimaerwärmung einen Unterschied machen! Ich sehe in solchen Interventionen Chancen. Aber wir brauchen für all diese Dinge noch ­einige Zeit.

HH: Da ist die Freie Szene den institutionellen Theatern weit voraus. Wir haben 2009 mit dem Künstlerkollektiv Kaltwasser/Köbberling ein Bühnenbild aus recycelten Messebauten von der ICC-Messe gemacht. Aber welcher Bühnenarbeiter würde nachts zur Messe fahren und altes Material abholen? Das macht man ­Kamikaze und voller Überzeugung. Die Frage ist doch: Wie kriegt man den Gedanken der Nachhaltigkeit und des Recyclings innerhalb der Betriebe implementiert? NB:Der Zweck heiligt die Mittel – an dieser Frage kann man sich gut abarbeiten …

HH: Bei unserer neuen Produktion, der Konferenz der Abwesenden, reist niemand und nichts mehr. Nur noch ein Konzept, das dann mit dem lokalen Team, den Zuschauer*innen und aus den Ressourcen vor Ort zum Leben erweckt wird. Ein Versuch, es mal radikal anders zu machen. Wir schaffen uns bei diesem Stück praktisch selbst ab. Das ist natürlich schade, ich bin, ehrlich gesagt, immer wahnsinnig gern auf Gastspielreisen gefahren und möchte das auch nicht zum New Normal erklären, schon gar nicht für andere. Da verstehe ich die Kritik von Lazaro Gabino Rodriguez nur zu gut. NB:Es ist und bleibt ein komplexes Thema. Die künstle­ rische Leiterin Feimatta Conteh des weltweit ersten CO2neutralen Arcola Theatre hat gesagt: „Don’t let perfect get in the way of good.“ In diesem Sinne danke ich euch für eure Offenheit und euren Mut, sich künstlerisch mit dem Thema Theater und Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Vielen Dank für das Gespräch.

„das ist alles von der kunstfreiheit gedeckt“

Künstler Lazaro Gabino Rodriguez einen offenen Brief ge­

nicola bramkamp mit helgard haug jean peters alexander giesche und anta helena recke

für den er viel gelobt wurde. Dann hat der mexikanische

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NOTATION_SFBODIES 23‘51~


katharina warda

wir, die unsichtbaren: ostdeutsche of color zwischen marginalisierung und regimen der sichtbarkeit

Diese Unsichtbarkeit ist ein wesentlicher Part von Rassismus allgemein. Gleichzeitig sehe ich ihn als bezeichnend für den Umgang mit People of Color (PoC) in der DDR. Die DDR als deutscher Teilstaat wurde als Konsequenz aus dem Sieg über den deutschen Faschismus gegründet. Der wiederum schloss sich nahtlos an die deutsche Kolonialgeschichte bzw. das koloniale Erbe an. Vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde aus der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland die DDR, ein sogenannter sozialistischer deutscher Teilstaat gegenüber der kapitalistischen BRD auf der anderen Seite. Auch wenn die DDR in ihren Gründungsjahren einen gründlicheren Antifaschismus betrieb als die BRD und alte Nazis es hier anfangs schwerer hatten, sich in die Gesellschaft zu integrieren, wurde das faschistische wie auch das koloniale Erbe nie wirklich aufgearbeitet. Vielmehr wurde hier, im nun explizit antifaschistischen

wir, die unsichtbaren

Was ich damit meine, wird anhand meiner Biografie klarer: 1985 werde ich in Wernigerode geboren. Meine Mutter ist weiße deutsche Fabrikarbeiterin, mein Vater Schwarzer südafrikanischer Student. Er ist über Mandelas ANC in die DDR gekommen, ein politischer Partner des sich als dezidiert anti-rassistisch verstehenden Staates. Der Staat, der Angela Davis als politische Ikone feiert. Das Land, dessen Bevölkerung sich bis heute erinnert, ihr eine Million Rosen auf Postkarten und Briefen geschickt zu haben, um ihren Freispruch aus der unrechtmäßigen Haft zu erwirken. Das Land, in das die Schwarze Feministin, Antifaschistin und Panafrikanistin Eslanda Goode Robeson und ihr Mann, der berühmte Musiker Paul Robeson aus Harlem, New York, für viele Jahre emigrierten, um auf Freunde wie den jüdischen Intellektuellen und Antifaschisten Franz Loeser zu treffen. Eines der wenigen westlichen Länder, das offiziell die Antiapartheid-Bewegung Südafrikas unterstützte und verfolgten Aktivist*innen Asyl gewährte. Es ist das Land, in dem sich aus diesem Grund meine Mutter und mein Vater kennen- und lieben lernten und in dem ich geboren wurde. Es ist aber auch das Land, unter dessen Bevölkerung die Beziehung meiner Eltern als interracial relationship nicht gern gesehen wird und daran auseinandergeht. Meinen Vater habe ich dadurch nie kennengelernt.

„Nicht gern gesehen“, so beschreibt es mir meine Mutter, wenn ich sie vorsichtig nach meinem Vater frage. „Nicht gern gesehen war die Beziehung“, ist das Einzige, was sie dazu sagen möchte. Eine vage Formulierung, die fast mein einziges Wissen über meinen Vater bis heute ausmacht. Mehr wissen sie selbst nicht mehr, beteuert sie patzig, wenn ich sie heute nach den alten Geschichten frage. „Nicht gern gesehen“, als hätte sie das damals wörtlich genommen und so internalisiert, bis selbst ihre Erinnerungen an die Beziehung und meinen Vater, einen Schwarzen Mann in der DDR, nicht mehr gesehen werden, unsichtbar wurden.

katharina warda

Ich habe 36 Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass ich nicht allein bin. Vielleicht war ich es auch nie. Wer weiß das schon. Denn meine Leute sind die Unsichtbaren d ­ ieser Gesellschaft.

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Land, Rassismus als nicht mehr existent erklärt, weil ihm nun der ideologische Boden fehle. Leider löst sich Rassismus, indem man ihn ignoriert, aber nicht einfach auf. So wurde er zu einem Teil der DDR, obwohl es ihn offiziell nicht gab. Ein Paradox, das sich auf verschiedenen Ebenen zeigt: Institutionell, zum Beispiel durch die staatliche Ausbeutung von Vertragsarbeiter*innen. Oder durch die alltägliche Separierung von zumeist Vertragsarbeiter*innen vom Rest der weißen Bevölkerung. Ein Phänomen, das zu mehr Unsichtbarkeit migrantischen Lebens führte und von vielen Betroffenen als Isolation beschrieben wird. Paulino Miguel, der selbst ursprünglich als Vertrags­arbeiter in die DDR kam, beschreibt das in seiner Forschung als „doppelte Mauer“. Einerseits die Mauer als Grenze zwischen den beiden Deutschlands, DDR und BRD. Andererseits eine unsichtbare Grenze innerhalb der DDR-Bevölkerung zwischen weißer Bevölkerung und Migrant*innen bzw. PoC. Auch innerhalb der Bevölkerung setzt sich Rassismus fort, in Form von Unverständnis, Anfeindungen und Übergriffen bis hin zu tödlicher Gewalt. Beziehungen zwischen weißen DDR-Bürger*innen und Migrant*innen oder Bürger*innen of Color gelten häufig als unerwünscht und werden geradezu ausein­ andergetrieben, erzählen einige. Auch meine Mutter deutet in ihren kurzen Erinnerungs­ fetzen über meinen Vater und deren Beziehung an, dass die Leiterin ihres Wohnheims geradezu dazwischen­ gegangen sei. Sie habe Geschichten über meinen Vater verbreitet. Man wolle nicht, dass sie sich weiter sehen. Nach Erzählungen meiner Mutter habe das schlussendlich dazu geführt, dass die Beziehung auseinanderging und sie und mein Vater sich fortan wie Fremde in der Öffentlichkeit begegnen mussten. Sie sah ihn, sagt sie, aber sie sah ihn auch nicht mehr. 1989 blickt die DDR dennoch auf eine reiche, vielseitige und kontinuierliche Migrationsgeschichte zurück. Im Jahr des Mauerfalls leben neben den 380.000 sowjetischen Soldaten, die in Statistiken nicht mitgerechnet werden, da sie nicht zur DDR-Wohnbevölkerung zählen, insgesamt 192.000 Ausländer. Das ist gut ein Prozent der Bevölkerung. Darunter waren 90.000 Vertragsarbeiter*innen, von denen wiederum 60.000 aus Vietnam ­kamen und der Rest vor allem aus Angola, Mosambik und Kuba. Hinzu kamen nach staatlicher Statistik 40.000 Ehepartner*innen von DDR-Bürger*innen, die überwiegend aus Osteuropa stammten, 13.000 nichtdeutsche Studierende, Arbeitspendler*innen aus Polen und Ungarn und politische Emigranten beispielsweise aus Chile, Südafrika, Griechenland, Spanien, der Türkei und dem Iran sowie Künstler*innen wie der serbischstämmige Schauspieler Gojko Mitić, dessen Name bis heute Leuchten in Augen treibt und der nach wie vor als Filmikone gefeiert wird.

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Diese Vielfalt änderte sich schlagartig mit dem Ende der DDR. Migration erfolgte in die Deutsche Demokra­ tische Republik nicht individuell, sondern war stets an staatliche Verträge gebunden, die mit dem Ende des Staates ebenfalls endeten. Für viele Migrant*innen war die sich 1989 langsam ankündigende Wende mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus, unsicheren Arbeits- und Lebensverhältnissen und erheblichen Existenzängsten verbunden. Keinesfalls unbegründet. Mit der Mauer­ öffnung am 9. November 1989 und den Monaten danach minimierte sich die Zahl der Vertragsarbeiter*innen um fast 80 Prozent auf weniger als 20.000 Menschen, die wiederum nach der Wende die Ersten waren, die ihren Arbeits- und häufig auch Wohnplatz verloren. Internationale Studierende, wie zum Beispiel aus Nordkorea, mussten zum Teil das Land innerhalb weniger Stunden verlassen und verschwanden wie viele andere aus dem Blick ihrer Kommiliton*innen und aus der heutigen Wahrnehmung der DDR und Ostdeutschland. Die Unsichtbarkeit, die sie zum Teil in der DDR erleben, übersetzt sich, verstärkt sich in der heutigen Unsichtbarkeit der Migrationsgeschichte der DDR und der Alltags­ geschichte der DDR allgemein sowie im Irrglauben, der heutige Osten sei homogen weiß. Ich hingegen bekomme damals von all dem gar nichts mit. Im Herbst 1989 bin ich fünf Jahre alt, bin Schlafkind im Kindergarten, mache erste Leseversuche in BummiHeften und träume davon, Pionierin zu werden. Dann wird die Mauer geöffnet, und mein Leben stellt sich wie für die Mehrheit der Ostdeutschen erst mal ganz positiv auf den Kopf. In meiner Erinnerung klingt das in etwa so: Und ab jetzt geht alles ganz schnell und mit viel Euphorie: Die Grenzen sind erstmals seit fast dreißig Jahren offen, das Land wird aus einem konsumarmen Tiefschlaf ge­ rissen, neue Produkte überschwemmen das Stadtbild und meinen kindlichen Alltag. Ich esse das erste Mal Bifi und Fruchtzwerge, trinke Saft aus Tetrapacks und esse Eis aus Schokowaffeln, aus bunten Aluverpackungen und aus der Kühltruhe im Supermarkt. Der nun nicht mehr Konsum oder Kaufhalle heißt und nun bunt und prall gefüllt ist, jeden Tag der Woche. Ich gucke das erste Mal Werbung im TV und glaube ihr jedes Wort. Verliere mich in bunten Trickfilmen und Bim Bam Bino. Der ­Samowar im Kindergarten verstaubt und verliert an Glanz, genauso wie der sozialistische Bruderstaat, aus dem er stammt. Das kapitalistische Amerika ist nicht mehr Feind. Nein, nun Freund. Ich möchte Cindy heißen, Peggy oder Mandy, wie die coolen Kinder um mich he­rum. Ich möchte Coca Cola trinken und eines Tages nach New York. Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. Eine Propaganda ersetzt die nächste. Die Welt steht nun offen, heißt es, und mit ihr ein neues Leben. Ein ­altes, nun endlich eingelöstes Heilsversprechen. Aber schnell, ganz schnell, möchte ich nichts mehr


1995 bin ich zehn Jahre alt. Jeden Tag nach der Schule gehe ich meiner einzigen Beschäftigung nach: fern­sehen. Der kleine Farbfernseher in meinem Zimmer, einst Erziehungsmittel meiner Eltern, um mich ruhigzustellen, wird schnell mein Tor zur Welt. Stundenlang studiere ich die Welt da draußen in Trickfilmen, Nachrichten und Talkshows von Arabella bis Vera am Mittag. Ich lerne richtig und falsch, gut und böse und die scheinbar wichtigste Unterscheidung dieser Tage: normal und asozial. „Kinderreich, arbeitslos und ohne Perspektive, Tage aus Fernsehprogramm, Schnaps und ein ostdeutscher D ­ ialekt“, das sind die Asozialen. Ich erkenne sie zum ­ersten Mal wieder: „Die Asozialen“, das sind auch wir, meine Familie, mein Umkreis, meine Heimat und somit auch ich. Ich bin „asozial“ und möchte vor Scham ­verschwinden. Meine kindliche Hölle hat zusätzlich noch ein anderes Gesicht. Als Schwarzes Kind bin ich direkt von Rassismus und dem sich in den Neunzigerjahren explosionsartig ausbreitenden Rechtsextremismus betroffen. Als ich im Fernsehen Pogrome wie in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda verfolge, weiß ich, dass sich der Hass und die tödliche Gewalt indirekt auch gegen mich richten. Rassistische Hetzjagden wie in Guben und Magdeburg nehme ich mit Todesangst wahr. Auf Wernigeroder ­Straßen mit ihren Naziaufmärschen, HakenkreuzSchmierereien und rechten Jugendgruppen ist die ­Gefahr täglich zum Greifen nah. Ich erinnere mich:

Die Erinnerung an meinen Schulweg ist eine Erinnerung unter vielen und dennoch exemplarisch. Sie steht für das alltägliche Gefühl von Bedrohung und Angst. Nun wird mir sehr deutlich klar, dass ich als anders ange­ sehen werde. Und dass das nichts Gutes ist. Ich ver­ stehe nicht, warum, aber ich verstehe, dass mein Leben potenziell in Gefahr ist. Die Normalität von Diskriminierung ist schmerzhaft, vor allem, weil sie geprägt ist von Schweigen und Unverständnis. Ich fühle mich mit meiner Situation unendlich allein und einsam. Zu Hause sprechen wir nicht darüber. Meine Mutter und mein Stiefvater sind weiß und verstehen nicht wirklich, was ich durchmache. Sie sind selbst völlig überfordert mit den gesellschaftlichen Veränderungen. Vielmehr wird die Verantwortung an mich weitergegeben. Ich soll mög­ lichst nicht rausgehen. Hausarrest als Vorsichtsmaßnahme, als hätte ich etwas falsch gemacht. Draußen solle ich auf mich aufpassen. Nicht anecken, nicht auffallen. Möglichst unsichtbar werden, damit mir nichts passiert. Und das möchte ich nun auch. Ich habe Angst um mein Leben, versinke in Scham, die ich nicht verstehe, und versinke im familiären Schweigen. Aber auch die Welt da draußen schweigt. In der Schule ist Rassismus kein Thema. Auch wenn Mitschüler vor mir Affengeräusche und -gebärden machen und damit mich meinen, wird das ignoriert. Meine zunehmende Apathie in der Schule wird als mangelnde Beteiligung am Unterricht übersetzt und oft als Faulheit und mangelnde Intelligenz gelesen. Auch in meinen Fernseh-Exzessen werden Stimmen wie meine nicht repräsentiert. Bis heute ­erarbeite ich mir mühsam die Zusammenhänge der ­damaligen Zeit, begebe mich auf die Spuren derer, ­ die ebenfalls unsichtbar waren und sind. Möchte ihre ­Geschichten hören und meine erzählen. Was passierte in Rostock-Lichtenhagen, als Neonazis dein Zuhause umstellten? Mit Steinen bewarfen und mit Molotowcocktails in Brand steckten? Und du nicht rauskonntest, weil draußen bis 3.000 Menschen standen, die applaudierten, johlten und dir beim Sterben zusehen wollten? Was starb in dir, als deutsche Neonazis dich durch ­Magdeburg, Guben oder wer weiß wo noch jagten? ­

wir, die unsichtbaren

Nach den ersten Jahren Euphorie und Konsum-Wonderland kommen die Jahre, die mir bis heute als „Wende“ in Erinnerung bleiben. Die Arbeitslosigkeit steigt enorm an, vor allem unter Frauen. Auch meine Mutter und mein Stiefvater sind betroffen. Ihre Fabrik schließt. Mein Stiefvater findet eine neue Anstellung als Müll­ lader. Meine Mutter arbeitet als Putzfrau für die Abfallwirtschaft. Als sie auch diese Arbeit verliert, schleppt sie sich von einer ABM zur nächsten und wird schließlich depressiv und langzeiterwerbslos. Auch an meinem Stiefvater gehen der soziale Abstieg, die Unsicherheit und Perspektivlosigkeit nicht spurlos vorbei. Er wird ­Alkoholiker und nimmt sich später das Leben. Für mich als Kind sind diese Wendejahre die Hölle. Ich wachse in existenzieller Unsicherheit und emotionaler Vernach­ lässigung auf. Zudem wird mir im TV gespiegelt, dass Lebensverläufe wie in meiner Familie nicht normal seien. Ostdeutsche, vor allem mit Abstiegserfahrungen, tauchen hier maximal als Witzfiguren auf. Dabei geht es in dieser Zeit vielen Ostdeutschen so oder ähnlich. Für viele sind die Wendejahre keine Erfolgsgeschichte. Erfahrungen, die damals nicht im Diskurs auftauchten oder mit ­Bezeichnungen wie „Jammerossi“ kleingeredet wurden und in meiner Erinnerung sich zum Beispiel so anhören:

1992, ich bin sieben Jahre alt und besuche die zweite ­Klasse einer Plattenbaugrundschule. Auf dem Weg nach Hause beginnt mein eigentlicher Unterricht: wegrennen, verstecken, keine Angst zeigen. Ich lerne zu flitzen, wenn die Mädchengruppe aus der Berufsschule mich, mit dem N-Wort beschimpfend, mit Steinen bewirft. Lerne, mich rechtzeitig zu verstecken, wenn Männer­ gruppen in ­Bomberjacken auf mich zukommen, und ­langsam ab­zustumpfen, weil es aus dieser Hölle Heimat keinen ­Ausweg gibt.

katharina warda

­ avon, sondern verschwinden. Nicht nach Amerika, nicht in d die weite Welt, sondern in die Unsichtbarkeit.

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Dabei zwei deiner Freunde auf brutale Weise ihren Verletzungen erlagen. Und dich, als einziger Überlebender der Opfer, die Polizei erst mal als Tatverdächtigen ­verhaftete, anstatt dich zu schützen und sich gegen die Täter zu richten? Oder was, als eine Männergruppe mit Eisenstangen auf dich und deinen Lebensmittelstand mitten auf dem Marktplatz einschlug und wieder andere laut applaudierten? Was würde Amadeu Antonio erzählen, wäre er nicht auf Eberswalder Straßen auf brutalste Weise zu Tode g ­ ehetzt und gemordet worden? Was sagen seine ­Angehörigen? Seine Freund*innen? Was musstest du alles tun, um deine Existenz nach der Wende zu sichern? Oder davor? Wie war es wirklich in der DDR, und was bedeutete es, Schwarz zu sein, jugendlich und keine Schwarzen ­Vor­bilder um sich herum zu haben? Wie hat dich die Existenzangst, die Unsicherheit, das Chaos und die Anarchie der Wendejahre geprägt? Und wie das Schweigen darüber? Träumst du noch manchmal davon? Jagt es dich in schlaflosen Nächten, wie mich? Wie lebst du damit, unsichtbar zu sein? Wie funktioniert „einfach weitermachen“? Warst du als Jugendliche Hip Hop, Grufti oder Punk?

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Ich war Punk mit Leib und Seele und habe hier die Perspektivlosigkeit meines Lebens in „No Future“ verwandelt. Wie damals in meiner kleinen Subkultur möchte ich ­heute sichtbar sein in der Öffentlichkeit, in Kunst und „Hochkultur“. Ich möchte andere sichtbar sehen und mich mit ihnen austauschen. Möchte unsere Geschichten endlich Teil dieser deutschen Geschichte werden lassen. Und will Erinnerungen hören, sehen, fühlen, die zum Beispiel so klingen: Es ist 1998. Ich bin 13 Jahre alt und gehöre zu einer PunkClique, die sich in den Innenhöfen der Platten trifft. Wie bei vielen meiner Freunde ist meine Mutter depressiv, arbeitslos und manchmal auf ABM. Mein Vater ist Alkoholiker und genauso wie meine Mutter von den historischen Umständen völlig überfordert. Meine ­Jugend besteht aus Rumhängen, Punkrock hören und Bier trinken; aus Plattenbau, der Abwesenheit von ­Autoritäten und dem Vakuum der Perspektivlosigkeit. Mein Freund spielt Schlagzeug in einer Band. Sie bringt ein Album auf Kassette raus. Es heißt Alltägliches Verrotten und beschreibt unser Lebensgefühl. Und das so beginnt: My body is made of stars Lit by their futures passed Weighing down from above, Untold stories My body is made of stars, An impatient supernova Ready to explode Ready to be told!


NOTATION_SFBODIES 26‘06~


juliane zellner

gegen die tür theater, inklusion und architektur – eine bestandsaufnahme

„Wo ist das Theater?“ – mit dieser Inszenierung eröffnete das Theaterhaus Jena seine Spielzeit 2019. Was für eine Frage bei einem Theater, das sich im Nukleus der Stadt an einer der zentralen Verkehrsachsen durch Jena befindet; ein Gebäude mit rotem Anstrich, von Weitem sichtbar, ein Icon der Stadt; als „Theaterhaus Jena“ durch große Lettern gekennzeichnet.1 Mit der Frage „Wo ist das Theater?“ richtet sich die Inszenierung zu Beginn an Passant*innen vor dem Gebäude: Eine Frau etwa antwortet darauf, dass Jena gar kein Theater habe, das sei doch in Weimar. Ähnlich ein Verkäufer der Eisdiele gegenüber: Er nimmt nur die Konzerte wahr, die im Sommer auf dem Vorplatz des Theaterhauses im Rahmen der Kulturarena stattfinden. Eine weitere Befragte denkt an die schönen Theatergebäude in Altenburg und Gera, das Residenztheater in Eisenach, aber Jena, hat das ein Theater? Usw. usf.

1. Wie inklusiv ist Stadttheater­ architektur? Im Bereich Personal, Publikum und Programm findet seit einigen Jahren eine Hinterfragung und bedingte Neuausrichtung bestehender Strukturen statt, indem auf allen Ebenen mehr Diversität, mehr Inklusion und ein radikaler Abbau von Barrieren gefordert wird. Die Architektur, das Theatergebäude und seine räumliche Konzeption, wird dabei nur bedingt adressiert. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der landauf, landab Generalsanierungen

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von Theatergebäuden anstehen/teils schon begonnen haben, lohnt es umso mehr, in diesem Kontext auch die Bestandsarchitektur in Hinblick auf Faktoren wie Zugänglichkeit und Teilhabe in den Blick zu nehmen: Wie inklusiv ist eigentlich die deutsche Stadttheaterarchitektur? Schauen wir etwa auf die erwähnten Theater in Weimar, Eisenach, Altenburg oder Gera, die „richtigen“ Theater, die „schönen“ Theater. Sie stammen meist aus dem Kaiserreich: massive Bauten u. a. im historistischen, neo-barocken oder neo-klassizistischen Stil, mit geschmückten Fassaden, gleichsam Festungen, von außen kaum einsehbar. Ihre architektonische Referenz: die Zeit der absolutistischen Herrschaft. Das ästhetische Paradox: Zu ihrer Erbauungszeit richten sie sich an ein von eben dieser Herrschaft emanzipiertes Bürgertum, das sich über die neuen Repräsentationsbauten ähnlich wie vormals der Adel seiner selbst vergewissert. Was diese Gebäude eint: Sie alle strahlen Erhabenheit aus, ein Merkmal, das im 19. Jahrhundert für gelungene Architektur stand, wie es der zur damaligen Zeit lebende Stadttheoretiker Camillo Sitte um die Wende zum 20. Jahrhundert formuliert (vgl. Zipf nach Sitte 2011: S. 94). Neben den erhabenen Gründerzeitbauten entstammt ein weiteres Gros der deutschen Stadttheaterarchitektur der Nachkriegsmoderne: An die Stelle prunkvoller Festungen treten moderne Architekturen für das Ideal einer demokratischen Gesellschaft, so zumindest der Anspruch der damaligen Zeit. Ein Beispiel wären die


An wen richten sich die hier beispielhaft zitierten Stadttheaterarchitekturen? Die Soziologin Martina Löw beschreibt in ihrem Essay „Repräsentation und Vielfalt“, wie sich über Jahrzehnte das sogenannte öffentliche Interesse an dem zur Norm erhobenen weißen, verheirateten, berufstätigen Mann, „als symbolische Mitte im Pluralen“ ausgerichtet hat (Löw 2015: S. 187f.). Im Sinne dieser Norm/dieser imaginierten Zielgruppe, ihrer spezifischen Interessen und Bedürfnisse, wurden öffentliche Räume und Gebäude konzipiert, die bis heute unsere gebaute Realität prägen. Wie geht eine Gesellschaft, die vorgibt, ihre Vielfalt anerkennen zu wollen, mit einem Bestand um, der einer vergangenen Norm entspricht? Die Architektursoziologin Heike Delitz schreibt: „In ihrer Architektur ‚erkennt‘ sich eine Gesellschaft vielmehr erst als diese bestimmte Gesellschaft“ (2010: S. 13). Laut Delitz wohnt Architektur eine sogenannte soziale Effektivität inne. Das heißt, Gebäude sind nicht allein

3. Unternehmungen in Richtung Inklusion Als öffentlich geförderte Betriebe stehen Stadttheater in der Pflicht, gemäß ihres öffentlichen Auftrags ­Ausschlüsse abzubauen und gleichberechtige Zugänge und Repräsentationen zu ermöglichen – inklusiver zu werden. Im Bereich der Architektur bezieht sich „inklusiv“ fast immer auf die Berücksichtigung körperlicher Einschränkungen, der man durch die Einhaltung sogenannter DIN-Normen bei der Planung von Gebäuden entsprechen kann. Nach diesen Vorgaben wurde in den meisten Theaterhäusern über die letzten Jahrzehnte nach und nach für „Barrierefreiheit“ gesorgt. Die obligatorische Rampe ist wahrscheinlich das augenscheinlichste Merkmal dieser Regelwerke: Doch hat die Rampe am Hintereingang, die Rollstuhlfahrer*innen überhaupt erst ­ermöglicht, in das Gebäude zu gelangen, etwas mit ­Inklusion zu tun? Angesichts eines breiten Begriffs-­ Verständnisses von Inklusion, wie wir es in vorliegendem Arbeitsbuch begreifen: sehr bedingt. Denn abseits der physischen Zugänglichkeit eines Stadttheaters, sind es vor allem mentale Barrieren, die eine bestimmte Art von Architektur evoziert: bestimmte räumliche Strukturen, bestimmte Ästhetisierungen etwa durch Material. Für die einen suggerieren sie ­Zugänglichkeit und Identifikation, für die anderen Ausschluss. Letzterer kann freiwillig gewählt sein, indem sich Menschen durch die jeweilige Architektur einfach nicht angesprochen fühlen und sie daher nicht „nutzen“ wollen; Letzterer kann aber auch bedeuten, dass die Architektur eine physische Schwelle geschaffen hat, die

gegen die tür

2. Die Norm und ihre „soziale Effizienz“

als reine Spiegel oder als Ausdruck einer Gesellschaft zu verstehen, sondern wirken umgekehrt auch aktiv auf diese ein. In der räumlichen Manifestation von Theatergebäuden tradiert sich demnach nicht nur das jeweils zeitspezifische Theaterverständnis der Entstehungsjahre eines Gebäudes, sondern eben dieses trägt auch zur Konstitution unserer gegenwärtigen „sozialen Wirklichkeit“ bei. Wenn wir von Delitz‘ „sozialer Effektivität“ ausgehen, müssen wir die Haupthäuser in ihrer Architektur, ihrer physischen Präsenz, ihrer Materialität befragen: Wer fühlt sich durch eine bestimmte Architektur repräsentiert? Wen wollten diese Gebäude zur Zeit ihrer Erbauung mit ihrer jeweiligen architektonischen Formensprache erreichen? Und wen erreichen sie damit heute? Als welche Gesellschaft „erkennt“ sich unsere Gesellschaft in Deutschland, wenn sie auf Stadttheater­ architektur blickt? Als die pluralistische und komplexe Gesellschaft, die sie in den letzten Jahrzenten längst geworden ist? Oder weiterhin als der vergangene Traum der integrativen Homogenität und Erhabenheit eines gewissen Bürgertums, das sich, trotz seines schwindenden Einflusses, im Theater seiner selbst vergewissert?

juliane zellner

Städtischen Bühnen in Frankfurt, ein Haus, dessen Architektur in seiner Außenwirkung maßgeblich durch eine über 120 Meter reichende Glasfassade bestimmt ist, eine Glasfassade, die Transparenz suggeriert: Für den Besucher/die Besucherin der Städtischen Bühnen eröffnet sich aus dem Inneren des Gebäudes die Perspektive nach außen auf den Willy-Brandt-Platz, die Stadt wird zur Bühne. Steht man außerhalb des Theaters auf dem Willy-Brandt-Platz ist in umgekehrter Blickrichtung das Foyer einsehbar. Die Besucher*innen hinter der Glasfassade werden zum Ornament, treten an die Stelle des Fassadenschmucks der Gründerzeit. Das „Sehen und Gesehen-Werden“ ist damit nicht mehr länger den Theaterbesucher*innen im Inneren eines Hauses vorbehalten, sondern findet jetzt an der Glasfassade, der Schnittstelle zwischen Innen und Außen statt. Die Bedeutung, die dieser Akt des „Sehens und Gesehen-Werdens“ für das Publikum einnimmt, wird noch mal deutlich, wenn wir auf das, einige Kilometer von Frankfurt entfernt liegende, Staatstheater in Darmstadt blicken, erbaut 1972: Hier fehlte dieses „Schaufenster“ lange Zeit (1972–2006). Erst in den 2000er-Jahren wurde dem Gebäude ein repräsentatives Portal mit Balkon vorgesetzt. Dieser Vorbau reagierte nicht zuletzt auf die Verstimmung der Darmstädter Bevölkerung, deren theateraffiner Teil sich bis dahin gezwungen sah, nur über die Tiefgarage (autogerecht!) ins Theater zu gelangen. Auf dem neuen Balkon lässt sich heute flanieren und in gebührender Distanz das Geschehen auf dem Vorplatz beobachten. Bauten wie die Städtischen Bühnen Frankfurt oder das Staatstheater Darmstadt mit seinem neuen Vorbau werden oft als architektonische Öffnung zur Stadt hin bezeichnet. Doch für wen öffnet sich hier was?

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eine soziale, schwer zu überwindende Barriere darstellt. Dieser Problematik stellte man sich in den Spielplänen der letzten 20 Jahre, indem Stadtspaziergänge, Interventionen, Stadtprojekte oder temporäre Bespielungen von Gebäuden und öffentlichem Raum abseits der Haupthäuser im Programm der Stadttheater auftauchten. Während die Nebenschauplätze je nach Spielz­eit variieren und neu gestaltet werden, bleibt die Hauptbühne, der Tempel der Hochkultur, in den meisten Fällen unberührt. „Neue“ Gruppen werden so zwar immer wieder temporär einbezogen, doch die schwere Zugänglichkeit der meisten Hauptspielstätten verändert sich ­dadurch nicht. Die Exklusivität dieser Gebäude wird beibehalten. Eine räumliche Öffnung würde eine Öffnung der etablierten Raumstrukturen, insbesondere der ­„Großen“ oder Hauptbühnenhäuser bedeuten. Seit Jahren wird folglich der Spielbetrieb im Haupthaus um neue Orte und Formate zur Erreichung neuer Zielgruppen ergänzt. Beides findet seine Abnehmer*innen, beides soll existieren, doch warum parallel? Schauen wir beispielhaft auf die Bespielung der Hangar-Halle am Flughafen Tempelhof durch die Volksbühne Berlin: Wäre es nicht – auch im Sinne der Entschleunigung und Nachhaltigkeit – ausreichend, sich auf diesen einen Spielort zu konzentrieren? Vor Ort ein Publikum zu begeistern, ohne gleichzeitig und weiterhin das Paralleluniversum im Haupthaus am Rosa-Luxemburg-Platz bedienen zu müssen? Die Belegschaft nicht zwischen Berlin-Mitte und Neukölln pendeln zu lassen, ihre Arbeitsprozesse dadurch weiter zu verdichten und zu beschleunigen? Im Gegenzug muss das Gebäude am Rosa-Luxemburg-Platz ja nicht leer stehen. Was spricht dagegen, es für eine Spielzeit in eine spartenübergreifende ­Antidiskriminierungsstelle für Kulturbetriebe zu transformieren? oder es als überdachten öffentlichen Raum zu denken, der nicht von Beginn an einer Funktion unterworfen ist; ein Raum, der sich durch die Aneignung von einzelnen oder von Gruppen erst entwickelt? – nicht im Inszenierungsmodus, wie etwa der Pop-up-Rewe im Staatstheater Wiesbaden vor drei Jahren während der Wiesbaden Biennale, sondern als reale Neubesetzung. Vieles bleibt Utopie. Jedes Haus betreibt Kundenbzw. Abonnenten*innenbindung, die Besucher*innen sind bestimmte Räumlichkeiten, bestimmte Abläufe und Wege gewohnt, die Regisseur*innen wollen auf eine bestimmte Technik, auf bestimmte Standards zurückgreifen können. Sicherheitsstandards sind einzuhalten, der Denkmalschutz will gepflegt werden, die Gelder müssen eingespielt werden. Und dennoch stellt sich die Kernfrage hier in zugespitzter Form: Warum wird der sonst kultur- und gesellschaftspolitisch stark betonte Anspruch an Inklusion im Theater – auch und gerade in Fragen der Theaterarchitektur – immer nur durch ein additives Wachstum, durch parallel neu entstehende Strukturen, und nicht durch eine Transformation des noch Bestehenden gelöst?

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4. Generalsanierungen und Neubauten Viele Theatergebäude sehen sich gegenwärtig mit Generalsanierungen konfrontiert, siehe die bereits ­erwähnten Städtischen Bühnen in Frankfurt oder das Nationaltheater in Weimar. Horrende Summen werden dafür aufgerufen: In Frankfurt waren es zuletzt fast eine Milliarde – eine Summe, aufgrund derer man sich nun doch für einen etwas günstigeren Neubau entscheiden möchte – in Karlsruhe 700 Millionen Euro; vergleichs­ weise niedrig dazu die mit 167 Millionen anvisierte ­Generalsanierung in Weimar oder gar die im Moment „nur“ bei 14 Millionen liegende Sanierung des Landestheaters Altenburg (vgl. Thüringische Landeszeitung vom 23. April 2021; Michael Helbling). Wenn wir nun ­beispielhaft nach Weimar schauen: Die anstehende ­Generalsanierung des Hauses strebt an, aus dem Nationaltheater ein „modernes Theater“ zu machen, für das laut Thüringer Landespresse „Energieeffizienz, mehr Barrierefreiheit (mittels neuem Fahrstuhl) und die veränderte Arbeitsstättenverordnung“ maßgeblich sind. Für mehr Nutzfläche soll zudem das Haupthaus – der Bühnenturm und die hintere Verwaltung – aufgestockt werden, aber nur so, dass es „architektonisch und städte­baulich erträglich bleibt“, wie der Weimarer OB Peter Kleine angibt. Heißt: Nach außen bleibt alles wie gehabt. Erhabenheit und Glanz vergangener Zeit sind nicht nur architektonisches Relikt und Spiegel einer vergangenen Epoche, sondern offensichtlich eine Ästhetik, mit der sich viele Menschen auch heute identifizieren und durch sie repräsentiert werden möchten, als prominentes Beispiel sei das Berliner Stadtschloss/Humboldt Forum angeführt. Das Beispiel Weimar verdeutlicht nicht nur das hohe Maß an Bestandswahrung, das wir in Deutschland pflegen, sondern auch das in weiten Teilen der Bevölkerung vorherrschende Verständnis von „modern“, das oft einfach nur die Anpassung an zeitgemäße technische Standards meint. Stattdessen ist es an der Zeit, diese Welle der bundesweiten Generalsanierungen als Chance für eine neue Baukultur und neue Konzepte zu begreifen: Bestehende Gebäude aus dem 19. und 20. Jahrhundert müssen neu gedacht, ihre Schwellen sichtbar und zugleich physisch abgebaut werden. Architektur ist Rahmen und Handlungsraum zugleich, und diesen gilt es neu zu gestalten. „Selfie mit der Elphie“ Theaterneubauten sind selten. Der bekannteste Neubau der letzten Jahre, nicht eines Theaterhauses, aber eines Konzerthauses, ist die Elbphilharmonie in Hamburg. Eine Architektur, die nicht weniger an eine Festung erinnert, nicht weniger erhaben wirkt als die Pracht­ bauten der Gründerzeit, aus der ihr Sockel, der ehe­ malige Kaiserspeicher, auch stammt. Anders/neu an der Elbphilharmonie sind nicht allein das Hotel und


die Gastronomiebetriebe im Gebäude, sondern auch der kostenfreie Zugang zu einer Aussichtsplattform, die den Blick über die Hafenanlage öffnet. Strategisch sind ­diese Elemente auch als Argument für die ausufernden Kosten zu interpretieren, denn wie der Architekt Jaques Herzog noch vor der Eröffnung meinte: „Die Debatte über die Kosten werde verebben, wenn die Öffnung des Hauses für alle Bevölkerungsgruppen gelingt“ (Schröder 2016). Zwar versucht die Intendanz des neuen Hauses auch, in einem hybriden Mix von Breiten- und Hochkultur sowie mit einer intensiven Educationarbeit Inklusion zu betreiben. Letztlich ist das inklusivste Momentum des Gebäudes aber wohl vor allem das neue IdentifikationsWahrzeichen, das New Icon der Stadt Hamburg, das „Selfie mit der Elphie“, zu dem viele Hamburger*innen ihre Gäste bringen und das eine Vielzahl und Vielfalt an Menschen online posten. In ihrer Doppelfunktion als Konzertsaal und als Sightseeing-Hotspot spricht die Elbphilharmonie sicherlich ein breiteres Publikum an, als es ein reiner Konzertsaal getan hätte.

qualitäten liegen nicht im Interesse der Raumgestaltung und -bespielung. Nicht irgendwer soll ohne Karte durch das Haus irren, sich womöglich noch verlaufen, die Toilette benutzen, Schutz vor dem Regen suchen oder sich gar auf die Sitzmöbel im Foyer bequemen. Hier gilt die Grundregel: Regulierter Zugang zu regulierten Zeiten, und das, obwohl es sich bei den Theatergebäuden um Nutzfläche, meist sogar um ziemlich große Nutz­ flächen, eines öffentlichen Gebäudes handelt. Trotz ­verschiedener längst unternommener Versuche der Öffnung, der Installierung freien WLANs oder Spielmöglichkeiten für Kinder, der Begrünung und Einrichtung von gastronomischen Angeboten auch tagsüber, hält sich in den Betriebsleitungen landauf, landab der hartnäckige Vorbehalt der Gefahr von Vandalismus und Vermüllung. Doch wie regeln das eigentlich die ganztägig geöffneten multifunktionalen Kulturzentren, die kommunalen Träger kultureller Bildung oder auch viele Kirchen?

Mischkonzept Neue Konzepte für Theaterarchitektur legt derzeit etwa Jörg Friedrich (Büro pfp) in seinem Entwurf für den Ergänzungsbau des Theaterhauses Stuttgart vor: eine Mischnutzung aus Wohnraum und Theater. Im Einzelfall können solche Ansätze sicher fruchtbare und sinnvolle Lösungen sein, denn wir brauchen Räume für die viel­ fältigen Bedürfnisse einer Stadtgesellschaft. Mischkonzepte bergen jedoch immer die Gefahr von Konturlosigkeit und Austauschbarkeit. In solchen architektonischen Konzepten wird Theater zum Teilbereich eines Gebäudes, das unterschiedliche Angebote vorsieht. Die Identität wohnt dem Gebäude nicht mehr als Theater inne, sondern etwa als Kulturzentrum wie etwa im Falle des Centre Pompidou in Paris. Abgesehen davon, dass das Centre Pompidou sowohl architektonisch als auch, was die soziale Akzeptanz und Nutzung an­ belangt, noch als gelungenes Beispiel beschrieben werden kann, bedeuten dieser und ähnliche Lösungswege Identitäts- und Traditionsverluste für das Theater. D ­ as Theater einer Stadt, seine Repräsentation und die Identifikation mit dem Gebäude, beruht nicht mehr auf Theater, sondern auf der größeren umfassenderen Hülle. Eines lässt sich von Ansätzen der Mischnutzung ebenso wie der Multifunktion jedoch lernen: Durch die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten sorgen sie für eine ständige Belebung und die Begegnung unterschied­ licher Nutzer*innengruppen. Stadttheater sollten als öffentliche Gebäude für jede und jeden zugänglich sein. In der Realität empfängt jedoch nahezu jedes Theater seine Besucher*innen auch abseits der Vorstellungen mit Kassen- oder Einlasspersonal. Wenn es tagsüber überhaupt geöffnet ist, dann in aller Regel nur zum Zweck des Kartenverkaufs. Absichtslose Aufenthalts-

Doch im inneren Dunkeln der Theatergebäude verborgen bleibt der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Theaterarbeit: Die wichtigste Schwelle verläuft nicht entlang des Eingangsbereichs oder Foyers, sondern ­zwischen Zuschauer- und Bühnenraum. Hier angekommen, begegnen den Zuschauer*innen landauf, landab klassische Guckkastenbühnen, deren optische und akustische Ausrichtungen sie in den Sessel der Passivität versetzen. Von dort aus betrachten und lauschen sie einer ihnen gegenüber verorteten frontalen Raumanordnung, deren illusionistische Grundlogik des Fluchtpunkts und der Zentralperspektive sich seit dem ­Barocktheater nicht verändert hat. Schon das Totale Theater von Gropius und Piscator oder das Theater der Grausamkeit von Antonin Artaud versuchten, diese Raumkonstellation in den 1920er-Jahren zugunsten einer offeneren Konstellation aufzusprengen. Doch es waren die Konzerthäuser, die sich als Erste dem in der Luft liegenden Wandel des visuellen und akustischen Verständnisses widmeten und mit Hans Scharouns Neubau der Berliner Philharmonie die erste 360°-Bühne der Nachkriegsarchitektur schufen. Heute ist diese ­Bühnenform in den großen, neu errichteten Konzert­ häusern nicht mehr wegzudenken. Diese steht nicht nur sinnbildlich für die Öffnung in Richtung der Multiperspektiven einer pluralistischen Gesellschaft, sondern entspricht ganz offensichtlich auch den Interessen der zeitgenössischen Bedürfnisse vieler Künstler*innen: Längst haben sich die räumlichen und ästhetischen Strategien der Freien Szene, des vom Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann sogenannten postdramatischen Theaters, auch auf die Raumbedürfnisse der Stadt- und Staatstheater rückübertragen. Statt der Zentralperspektive wird vielmehr die Parataxis ge-

juliane zellner

gegen die tür

5. Zusammenspiel von Theaterpraxis und Theaterarchitektur

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wünscht, statt des Bildzentrums oftmals das Wimmelbild, statt der Fokussierung die visuelle und räumliche Öffnung. Und dennoch hat sie im Bereich des Stadttheaters bisher allenfalls zum zusätzlichen, additiven Bau von Studio- oder Werkstattbühnen bzw. zur Zwischen- und Umnutzung von industriegeschichtlichen Bauten gereicht. Im Fazit ist Veränderung nicht nur von der Theaterpraxis und der Bühnenästhetik des Theaters her zu denken, sondern ebenso von ihrer Gebäude-Architektur aus. Barrierefreiheit in einem breit gedachten Sinn ist nicht eine Bedingung, die es zu erfüllen gibt, sondern eine ­Voraussetzung, auf Basis derer die Konzeption erst ­begonnen werden kann. Zugang für eine Vielfalt an Menschen zu schaffen, bildet keinen altruistischen Akt, sondern bedeutet im Umkehrschluss, die eigene Legitimation zu stärken und ist die einzige Chance, neue Publikumsgruppen zu er­ reichen. Dabei kommt einer konsequenten Enthierarchisierung, auch und insbesondere der räumlichen Strukturen, eine überragende Bedeutung zu. Es ist längst an der Zeit, die gesellschaftlichen Diskussionen und Planungsprozesse rund um die Sanierung oder sogar Neubauten der Theater in diese Richtung zu lenken. Jede Stadt, ­jedes Theater ist anders, folglich wird sich kein architektonisches Patentrezept finden. Und genau darin liegt die Chance: Je nach Stadt, je nach Theater, je nach ­Bedarf müssen neue Formen des Umgangs mit Bestands­ architektur gefunden oder neue Architekturen ent­ wickelt werden. Wichtig ist dabei, die vorhandenen ­Exklusionsmechanismen und die ihnen zugrundeliegende Norm zu hinterfragen, die räumlich und ästhetisch realisierten Machthierarchien offenzulegen, um so die Wirkungsmechanismen zwischen Architektur und Gesellschaft zu verstehen.

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Nutzen wir die Chancen der vielerorts anstehenden Sanierungen, mancherorts bevorstehenden Neubauten. Sorgen wir dafür, dass die Theater unserer Städte ­öffentliche Räume bleiben und nicht zu den Kirchen der städtebaulichen Zukunft werden: Zu riesigen, größtenteils leer stehenden Gebäuden, die nur zu bestimmten Anlässen des Kalenders temporär belebt werden. Wo war noch mal das Theater?

QUELLEN: Delitz, Heike : Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Campus, Frankfurt am Main 2010. Helbing, Michael: Mehr Platz, weniger Plätze. Wie Weimar die große DNT-Sanierung plant: „167 Millionen sind nicht die Bausumme“, in: Thüringische Landeszeitung, 23. April 2021. Löw, Martina: „Repräsentation und Vielfalt“, in: Inklusion. Wege in die Teilhabegesellschaft, Campus, Frankfurt am Main 2015. Schröder, Axel: „Das ist ein demokratischer Platz. Plaza in der Elbphilharmonie“, Deutschlandfunk, 2016; https://www.deutschlandfunkkultur.de/plaza-in-der-elbphilharmonie-das-ist-eindemokratischer.2165.de.html?dram:article_id=370502 [02.05.2021] Zipf, Jonas: „Wegen Umbau geschlossen“, in: Einfachheit&Lust&Freiheit“, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2011.

1 Das in den 1950er-Jahren nach einem Entwurf von Walter ­Gropius erbaute Theatergebäude in Jena wurde Mitte der 1980er-Jahre teilweise abgerissen, aus finanzieller Not erfolgte kein Neubau, bestehen blieb der Rumpf, der ehemalige Bühnenturm.


die katze der inklusion

AMELIE DEUFLHARD: Was genau meint ihr mit Inklusion als Titel des Arbeitsbuchs? Wie weit fasst du den Inklusionsbegriff?

JONAS ZIPF: Sehr weit. Wir Herausgeber*innen des Arbeitsbuchs verstehen Inklusion als Gelingens­ konzept, das die Gesellschaft als Ganzes betrifft: Als Einbeziehung aller Menschen, die mit gleichen Rechten nebeneinander existieren, ohne sich dabei an irgendeine Leitkultur angleichen zu müssen – ganz im Unterschied zu Integration. Wir haben lange diskutiert, ob wir stattdessen den Begriff Diversität wählen, der momentan in aller Munde ist. Aber Diversität ist eine Zustands­ beschreibung, während Inklusion das Ziel benennt. ­Begriffe wie Emanzipation oder Empowerment wieder-

um beschreiben Wege dorthin: Inklusion wäre der ­gesellschaftliche Zustand, den wir erst mittels einer Transformation erreichen. Eine inklusive Gesellschaft wäre eine Gesellschaft, in der Menschen so sein können und sich gegenseitig so sein lassen, wie sie sind. Das hört sich einfach an, ist aber schwer zu erreichen: ­ Das So-sein-Können stößt beispielsweise an materielle Grenzen, auch aufmerksamkeitsökonomische, das ­So-sein-Lassen an die Grenzen der Freiheit der anderen. Letztlich sprechen wir also auf dem Weg dorthin über Ressourcenmangel und Verteilkämpfe. Sind das Begriffsdefinitionen, die dir behagen?

AMELIE DEUFLHARD: Absolut. Ich denke, es ist wichtig, den Begriff breit zu fassen. Wenn wir über eine inklusive Gesellschaft nachdenken, müssen wir alle Formen von Ausschluss und Diskriminierung mit einbeziehen.

JONAS ZIPF: Ganz genau. Meistens wird Inklusion ja immer noch vor allem auf Behinderung bezogen. Aber dieses Begriffsverständnis zieht für viele eine gedankliche Barriere ein. Mir ist das im Rahmen der Inklusionsfestivals, die wir in Darmstadt und Jena auf den Weg gebracht haben, immer wieder begegnet: Den Bewegungen fällt es sehr schwer, andere Emanzipationsdiskurse, etwa Klassismus oder Sexismus, mit in die ­Inklusion reinzudenken und ihre Arbeit dann im Kontext eines Inklusionsfestivals zu verorten. Wie oft habe ich folgende Sätze gehört: Wir wollen nicht über einen Kamm geschoren werden; wir wollen nicht unter dem Begriff Inklusion laufen; das ist doch für Behinderte. Problematisch fand ich dabei nicht nur die Engführung des Begriffs als eine Art Label für die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung, sondern vor allem auch die damit einhergehende Grenzziehung auf künstlerischer Ebene: Man begegnet sich nicht auf Augenhöhe. Dieser

amelie deuflhard und jonas zipf

Ihre erste Begegnung liegt mehr als ein Jahrzehnt zurück. Das war bei einer Premiere am Thalia Theater Hamburg, an der die damalige Intendantin von Kampnagel Hamburg Amelie Deuflhard als Gast und der damalige Regie­ assistent Jonas Zipf als Abendspielleiter teilnahmen. Sie ist heute noch immer Intendantin auf Kampnagel; er als sogenannter Werkleiter von JenaKultur der Kulturverantwortliche der Stadt Jena. Seit einem Jahr begegnen sich die beiden nun häufiger: Gemeinsam bilden sie den Vorstand von Licht ins Dunkel, dem Trägerverein für das bundesweite Projekt KEIN SCHLUSSSTRICH!, das sich bis in den November 2021 der Aufarbeitung des NSU-Komplexes widmet. Gefunden haben sie sich im gemeinsamen politischen Interesse: An der Schnittstelle zwischen Aktivismus und Kunst, an der Veränderung und Öffnung des Theaterbetriebs. Nach dem Ende einer ihrer Projektsitzungen unterhalten sie sich für das vorliegende Arbeitsbuch über Inklusion und Architektur, über große Hallen und Kunstgenuss, über Kampnagel und die Elphie.

die katze der inklusion

gespräch zwischen amelie deuflhard und jonas zipf

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Faktor spielt nach wie vor eine riesige Rolle: Ein enges und trennendes Verständnis von Inklusion haftet selbst der Wahrnehmung der Pioniere auf diesem Feld, etwa dem Grenzenlos-Festival in Mainz, dem Theater RambaZamba in Berlin oder dem Theater HORA in Zürich an. Wie oft mischen sich da paternalistisches Mitleid und idealisierende Romantik rein: Schaut mal, wie süß die Downies sind, wie frei und anarchisch die Theater spielen, wie große Kinder. Ich finde diese Projektionen oft schwer zu ertragen. Auch deswegen haben wir stark ­­damit gerungen, ob wir wirklich Inklusion als Begriff ­setzen.

AMELIE DEUFLHARD: Das verstehe ich sehr gut.

AMELIE DEUFLHARD:

Es hat sich über die letzten

Jahre schon was verändert. Aber viele Barrieren bestehen auch weiterhin und treten auf ganz unterschiedlichen Ebe­ nen auf: Denken wir beispielweise an die Förderprogramme der Kulturstiftung des Bundes, die Stadttheater und Freie Szene zusammenbringen wollen. Künstler*innen, die eher aus der Performancekunst stammen und in der Freien Szene ansässig sind, ergeht es mit ihrer Spielweise am deutschen

Ein*e Schauspieler*in mit Behinderung bekommt meist

Stadttheater ähnlich wie es der behinderten Darstellerin

mehr Applaus, da das Publikum denkt, er*sie verdiene mehr

geht: Ihre Arbeit wird nicht anerkannt als „echtes Schau­

Anerkennung, obwohl das ein*e Schauspieler*in ist wie je­

spiel“, weil sie eine andere Ästhetik mit sich bringt. Matthias

de*r andere. Trotzdem werden diese Künstler*innen und

Lilienthal hat in München versucht, Performancekünst­

ihre Arbeiten nicht auf eine Ebene mit ihren Kolleg*innen

ler*innen und Schauspieler*innen zusammenzubringen.

gestellt. Dieses Ungleichgewicht konnte man gut an Jé­

Das hat am Anfang gar nicht gut geklappt, muss man ehr­

rôme Bels Produktion Disabled People festmachen, für die

licherweise sagen. Aber über die Jahre hat es dann ziemlich

eine der Darsteller*innen vom HORA-Theater beim Thea­

gut funktioniert. Über die Zeit hat der Dialog zwischen

tertreffen die Auszeichnung für die beste Schauspielerin

diesen unterschiedlichen Spielweisen, zwischen ihren

des Jahres bekommen hat. Diese Entscheidung zog eine

unterschiedlichen Vertreter*innen, gegriffen, das Ensemble

Riesen-Aufregung in der Theaterlandschaft nach sich. Da­

hat zusammengefunden und plötzlich nach außen ein sehr

hinter steckte natürlich die nie laut ausgesprochene Vor­

stimmiges Bild abgegeben. Durch den Dialog ist eine neue

stellung, dass sie keine ‚richtige‘ Schauspielerin sein könne.

Qualität entstanden. Aus meiner Sicht war das das aller­

Das stimmt natürlich nicht. Wir brauchen eine Perspektiv­

erste Experiment, in dem ein Stadttheater so umfassend

erweiterung, das gilt nicht nur für Schauspieler*innen oder

und umfänglich eine direkte und produktive Auseinander­

für Theatermenschen.

setzung mit der Freien Szene und anderen Ästhetiken

JONAS ZIPF: Ich glaube, dass sich genau an

dem, was wir jetzt besprechen, ein struktureller Punkt für die Veränderung oder Transformation des Theater­ betriebs festmacht. Alle diese „Öffnungen“ oder avisierten Veränderungen laufen bisher unter separaten Labels, meist in der Peripherie des Spielplans. Das ist der Klassiker. Stadttheater XY kümmert sich zunächst um seine treuen Abonnent*innen, für die es die Meistersinger auf der großen Bühne spielt; abseits davon gibt es noch ein bisschen Kapazität für ein Inklusionsfestival, für ein In-dieStadt-Gehen, für die Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund etc. Im Prinzip sind sich all diese Kategorien strukturell ähnlich: Sie werden separiert und finden bevorzugt statt, wenn dafür Drittmittel, etwa im Verbund mit der Freien Szene akquiriert werden konnten. Eine Analyse, die schon oft gebracht wurde, die aber exakt die Grenze der Inklusion beschreibt. Solange diese Grenze existiert, solange läuft die Diskussion über den Preis der Schauspielerin so, wie du sie beschreiben hast: Die Entscheidung für sie ist dann automatisch nur politisch und nicht künstlerisch. Wenn man sich gegen sie entscheidet, zieht man sich Kritik zu; wenn man sich für sie entscheidet, aber auch. Und genau vor diesem mittlerweile vollkommen politisierten, moralisierten, emotionalisierten Punkt fürchten sich viele von denen,

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die die Macht über Ressourcen haben. Daher ist es für sie viel leichter und bequemer, diesen Diskurs zwar zu unterstützen, aber an die Peripherie abzugeben. Damit beißt sich die Katze der Inklusion aber in den Schwanz und überwindet diese gedankliche Barriere nie.

­gesucht hat.

JONAS ZIPF: Letztlich waren es fünf Jahre, die Matthias Lilienthal in München verbracht hat. Er war ja praktisch schon abserviert von Publikum, Stadtpolitik und totgeschrieben von der lokalen Presse, bevor sich der Erfolg entfalten konnte, von dem du jetzt sprichst. Dieses Beispiel zeigt sehr eindringlich, dass es Zeit braucht, um eine Veränderung in Gang zu setzen. Bezogen auf künstlerische Strategien, Spiel- und Produktionsweisen zwischen Performance und Schauspiel bedeutete sein Ansatz den Beginn einer notwendigen und absehbaren Transformation. An diesem Beispiel wird deutlich, dass der permanente Wechsel der Intendant*in­ nen, alle fünf, sieben, acht Jahre für diese Inklusionsoder auch Transformationseffekte ein klares Hemmnis bildet. An den Münchner Kammerspielen kann man übrigens schon einige Jahre davor gut demonstrieren, wie mühsam diese Prozesse sind. Baumbauer war ja zu ­Beginn seiner Zeit ein regelrechter Bürgerschreck. Dann hat sich aber seine Form von Regietheater so sehr durchgesetzt, dass sie in München der heißeste Scheiß war und genau die anfänglich ablehnenden Bürger*innen dann dahin gepilgert sind. Schließlich haben sie ihm nachgetrauert und sich auf den Nächsten eingeschossen. Das heißt, wir sprechen von anstrengenden und lang-


Ich bin aus dem Karussell ausgestiegen. Klar kann man weiterfahren, das hätte ich auch machen können: Dieser Regel folgen, nach sieben Jahren zu gehen und in eine an­ dere Stadt zu wechseln, um zu zeigen, dass man dort Ähn­ liches auf die Beine stellen kann. In jeder Stadt fängt man aber wieder von vorne an. Für mich standen stattdessen Veränderungsprozesse im Vordergrund, die sich nur lang­ fristig nachhaltig gestalten lassen und die ich weiterver­ folgen möchte! Transformation braucht sicher auch immer wieder personelle Wechsel. Aber eben auch Raum und Zeit. Die Frage ist: Reicht es, wenn man irgendwas nur anstößt und dann geht? Oder möchte man tiefer gehen und so et­ was wie ein Modell erarbeiten. Das braucht dann natürlich ein bisschen länger, weil man sich zuerst Vertrauen erarbei­ ten muss. Bei mir ist es tatsächlich so, dass ich jetzt eine Möglichkeit erlebe, die schon früher stark in meine Biogra­ fie eingeschrieben war: nicht nur programmatisch oder personalorganisatorisch, sondern auch architektonisch so etwas wie ein Theater der Zukunft zu entwerfen. Als wir in den 2000ern den dekonstruierten Palast der Republik in Berlin bespielt haben, habe ich mich sehr intensiv mit ­Cedric Price und seinem Fun Palace beschäftigt. Price war ein Architekt aus den 1960er-Jahren, der mobile, ständig wandelbare, multidisziplinäre Kunsthäuser entworfen hat. Durchaus auch ein Vorbild fürs Centre Pompidou, das dann zehn, fünfzehn Jahre später nach diesem Vorbild entwi­ ckelt und gebaut wurde. Aufbauend auf Cedric Price, der zwar in der Architektur-Szene wahnsinnig bekannt ist, aber eben nie im Mainstream angekommen ist, haben wir da­ mals gesagt: Was Berlin bräuchte, das ist so etwas wie das Centre Pompidou des 21. Jahrhunderts. Und genau das sollte man doch auch auf Basis der Teilungsgeschichte unseres Landes, auf Basis des Palastes der Republik, ent­ wickeln. Wir wollten, dass das Gebäude stehen bleibt, weil

Genau auf dieser Basis einen Kunstort der Zukunft zu ent­ wickeln, der zeitgenössisch, multidisziplinär und natürlich auch diskursiv inklusiv ist. Die Rekonstruktion des Schlos­ ses verweist hingegen leider auf die Vergangenheit. Die Möglichkeit, die sich mir mit der Generalsanierung des Kampnagel-Gebäudes, einer ehemaligen Kranfabrik, jetzt bietet – natürlich unter ganz anderen historischen Voraus­ setzungen, und auch in einer anderen Zeit – finde ich so interessant, dass ich durchaus bereit bin, noch ein paar Jahre hier in Hamburg zu bleiben.

JONAS ZIPF: Lass uns erst noch mal auf diese 14 Jahre zurückschauen. Ihr wart oft Vorreiter für die Strategien der Freien Szene, die viel mit Beteiligung, mit Recherche und mit Prozesshaftigkeit zu tun haben. Meist auch mit Nachhaltigkeit, weil sie langfristiger ­angelegt sind. Was würdest du im Rückblick sagen, habt ihr in Bezug auf Community Building geschafft? Mit Community Building meine ich übrigens nicht das, was mittlerweile nahezu alle Stadttheater ständig im Munde führen: über Vermittlung, Education, Outreach die Zielgruppen zu erreichen, die man traditionell nicht erreicht. Aber am künstlerischen Angebot selbst ändern sie nichts! Mich erinnert das an Thomas Gottschalk und Markus Lanz. Die hatten nicht wirklich verstanden, dass Wetten, dass...? zu Ende war. Das war nicht Samuel Koch, der das zum Einsturz brachte, sondern ihre beratungsresistente Grundhaltung: Wenn ich Samstagabend sende, dann kommen alle, weil sie immer alle zum wärmenden Lagerfeuer kommen, und wir müssen unser Angebot eigentlich nur minimalinvasiv anpassen, dann kommen sie auch weiterhin. Genau das funktioniert aber nicht mehr in einer sich diversifizierenden Gesellschaft mit sich in der Digitalität extrem dynamisch verändernden Nutzergewohnheiten. Meine Frage lautet: Was habt ihr getan, wie ist es euch gelungen – oder vielleicht auch nicht gelungen –, andere Teile der Bevölkerung ins Theater reinzuholen? Bildet Kampnagel so etwas wie einen inklusiven Gegenentwurf innerhalb von Hamburg, dieser stolzen, bürgerlichen, repräsentativen Stadt, in der ­Leute auch in die Theater gehen, um sich ihrer selbst zu vergewissern?

es paradigmatisch für die Teilung des Landes steht, zudem

AMELIE DEUFLHARD: Auf jeden Fall. Wir haben

der wichtigste dieser sozialistischen Paläste in Deutsch­

uns da in den vergangenen Jahren zunächst herangetas­

land war, und vielleicht sogar das wichtigste DDR-Gebäude,

tet. Am Anfang haben wir eher klassisch gearbeitet. Als

das gebaut wurde. Der Palast der Republik war wie alle

ich auf Kampnagel anfing, war das zwar ein sehr bekannter

sozialistischen Paläste ein multifunktionales Gebäude:

Ort, aber es waren nur wenige Zuschauer*innen da. Für

Im Palast der Republik sind Politik, Kunst/Kommunikation

mich und mein künstlerisches Team war daher von Anfang

und Entertainment zusammengekommen. Ein Gebäude,

an klar: Wir müssen die Menschen zu uns bringen. Es ist

in dem jede*r DDR-Bürger*in mindestens ein Mal war, sei

einfach kein schönes Gefühl, wenn man in einer Halle, die

es zur Jugendweihe oder bei der Hochzeitsfeier, oder um

850 Plätze hat, mit 150 Leuten sitzt, oder in einer Halle

die neue Liebe auszuführen oder um Kegeln zu gehen, ins

von 300 Plätzen mit 50. Die Kampnagel-Bühnen sind ­

Theater, wie auch immer. Eben ein Gebäude, das ganz stark

riesig. Unser Anfangskonzept bestand also darin, dieses

in die DDR-Gesellschaft eingeschrieben war. Nach wie vor

Haus wieder fundamental und von Grund auf zu beleben.

die katze der inklusion

AMELIE DEUFLHARD: Schon seit fast 14 Jahren.

bin ich überzeugt, dass es richtig für Berlin gewesen wäre:

amelie deuflhard und jonas zipf

wierigen Prozessen, innerhalb der Häuser mit ihren Belegschaften, mit den Künstler*innen, aber natürlich vor allem mit der Stadtgesellschaft, mit dem Publikum. Von daher stellt sich die Frage: Kann die vorherrschende fachlandschaftliche Karusselldynamik überhaupt zu Transformationen führen, sie befördern, sie befeuern? Kulturpolitisch wird an diesen Zeiträumen bisher kaum gerüttelt. Wie lange bist du jetzt auf Kampnagel?

59


Dabei war uns natürlich klar, dass das nicht einfach mit

aus der entsprechenden Diaspora kam. Beim Nachdenken

Marketing hinzukriegen ist, sondern dass wir Programm

über eine Diversifizierung des Publikums habe ich am meis­

und Atmosphäre so gestalten müssen, dass Kampnagel für

ten von Künstlergruppen gelernt. Das Kollektiv Hajusom,

möglichst viele Menschen attraktiv ist. Wir starteten mit

beispielsweise, hat in diesem Feld langjährige Erfahrung

der Frage: Wie schaffen wir es, dass nicht nur ältere, son­

und schon auf Kampnagel gearbeitet, bevor ich da war.

dern auch jüngere Leute kommen? Unsere Strategie war

Ursprünglich hat sich Hajusom gegründet, weil die Gruppe

u. a. ein ausgefeiltes Popmusik-Programm, das von dem

mit unbegleiteten Geflüchteten, mit Jugendlichen und

heutigen Sommerfestival-Leiter, Andras Siebold, gemacht

Kindern gearbeitet haben. Das galt lange als Sozial- und

wurde. Sowas hat es schon vorher gegeben, etwa an der

nicht als Kunstprojekt. Ende der 90er fand innerhalb der

Volksbühne in Berlin, bei uns war Musik aber kein Add-on,

Performanceszene ein Paradigmenwechsel statt: Gruppen

sondern Teil der gesamten Programm-Kuration. Wir haben

wie Rimini Protokoll oder She She Pop – aus deren Umfeld

Musiktheaterproduktionen entwickelt mit Bands wie

übrigens auch eine Regisseurin von Hajusom kommt –

Deichkind oder Singer-Songwritern wie Rufus Wainwright

­haben mit Laien gearbeitet und mit „Experten des Alltags“

oder Chilly Gonzales. Damit haben wir neue Leute erreicht.

produziert. Das sind hochprofessionelle Stücke, obwohl auf

Ich glaube nicht, dass viele der Deichkind-Fans vorher

der Bühne keine Profis stehen, sondern jeweils Expert*in­

schon einmal im Theater waren. Sie fanden diese Theater­

nen für ihr Feld. Das kann Raumfahrt sein oder Karl Marx,

produktion von Deichkind vielleicht sogar ein bisschen

das könnte Klimawandel sein, Migration oder pubertieren­

doof und hätten eigentlich lieber ein reines Konzert ge­

de Jugendliche oder beides. Alles Themen, die Rimini

sehen. Aber trotzdem kamen jeden Abend 1.000 super­

­Protokoll auch aufgegriffen hat. Das hat dazu geführt,

junge Leute auf unser Gelände. Leute, die noch nie dage­

dass auch die Arbeit von Hajusom – die im engeren Sinne

wesen waren. Menschen, die weder das Gelände noch seine

zwar kein Dokumentartheater ist, aber Laien eine starke

Geschichte kannten. Ein anderer Ansatz ist, dass jede*r,

Performanceausbildung vermittelt – dass plötzlich eine

der*die am Abend zu uns kommt, neben der Vorstellung

solche Arbeit an der Schnittstelle von Sozialem und Kunst

des Konzerts mindestens eine weitere Sache, ein Add-on,

eine andere Wertschätzung bekommen hat. Mit ihrer

bekommen sollte. Ein bürgerliches Publikum möchte an­

­extrem vernetzten Arbeit, in der oft 25 meistens junge

schließend vielleicht noch eine gepflegte Unterhaltung bei

Menschen aus 20 unterschiedlichen Ländern auf der Bühne

Wein und einem leckeren Essen. Junge Leute hingegen

standen, hat sich auch das Publikum verändert. Hajusom

wollen vielleicht lieber noch einen Club-Abend hinterher.

wurden für mich zum Vorbild, weil ich dachte, das ist das

Entsprechend haben wir auch immer wieder passende per­

Publikum der Zukunft. Inzwischen hat Hajusom auch be­

formative Tools: Jahrelang haben wir zum Beispiel im Win­

gonnen, sich intern zu verändern und die Leitung der

ter eine Sauna aufgestellt, in der man nach dem Saunieren

­Gruppe zu diversifizieren. Auch das ist ein Prozess, aus

einen Schnaps bekommen hat. Menschen sollen nicht nur

dem wir alle lernen können.

den Kunstgenuss bekommen und dann wieder nach Hause gehen, wir wollen die Leute so lange wie möglich vor Ort halten und mit ihnen in direkten Austausch gehen. Bei all diesen Tools ging es uns zunächst vor allem um jüngere Leute. Im nächsten Schritt hat uns die Frage beschäftigt,

60

JONAS ZIPF: Auf mich macht das den Eindruck,

dass die Entwicklung sogar noch weiter geht. Da verflüs­ sigen sich die Grenzen zwischen Publikum und Theater.

wie wir Menschen mit Migrationshintergrund beteiligen

AMELIE DEUFLHARD:

können. Aus meiner Sicht eine der zentralen Fragen für alle

ein Tool, ein sehr wichtiges Projekt, das ist aus einem poli­

Kunstinstitutionen in Deutschland. Vor allem in unseren

tischen Projekt entstanden: Mitten auf unserem Gelände

Großstädten ist es eine Tatsache und auch sichtbar,

gibt es ein Holzhaus, ursprünglich als temporärer Ort

dass wir ein Einwanderungsland sind. Eine Tatsache, die

­entwickelt, das Migrantpolitan. Das ist ein von der Gesamt­

erstaunlich viele erstaunlich lange nicht bemerkt haben

programmierung unabhängiger Ort, vielleicht 100 Qua­drat­

wollen. Aber in kaum einem gesellschaftlichen Bereich fand

meter, der 2014 von der Künstler-Gruppe Baltic Raw

und findet eine Beteiligung von Menschen of Color statt.

­gebaut wurde, also bevor 2015 viele Geflüchtete nach

Das ändert sich jetzt. In unserem Fall – wir arbeiten inter­

Deutschland kamen, um auf die Situation der Gruppe aus

national – ist es total klar, dass wir, wenn wir beispielweise

Lampedusa in Hamburg aufmerksam zu machen, die da­

ein Stück aus dem Iran einladen, versuchen, die große irani­

mals von Italien aus nach Hamburg und Berlin verteilt

sche Community in Hamburg zu adressieren. Das ist aber

­wurde. Da das gegen das Dublin-II-Abkommen der EU

alles andere als trivial. Das ist keine Aufgabe, die man

­verstieß, hatten die Geflüchteten zwar keine Aufenthalts­

ausschließlich der Öffentlichkeitsarbeit überlassen kann.

genehmigung, konnten aber auch nicht abgeschoben wer­

Es ist viel Arbeit, die nur die Institution insgesamt leisten

den. Sie fielen einfach durch das System. Viele von ihnen

kann. Wir haben zunächst begonnen, uns auf einer inhalt­

lebten und leben auf der Straße. Deswegen haben wir

lichen Basis mit den Communitys zu vernetzen. Am Anfang

­versucht, jenseits der Aktivist*innen-Szene die Menschen

zum Beispiel über Kontaktpersonen. Und trotz alledem war

auf ihre Situation aufmerksam zu machen. So ist die Eco

das Resultat nicht, dass am Ende die Hälfte des Publikums

Favela Lampedusa Nord, ein temporärer Lebens- und

Genau. Wir haben da noch


nicht so gerne, aber ich habe es als Kunstprojekt, eine ­Durational-Performance, deklariert, für sechs Monate. Als eine Art Labor, das sich mit der Frage verband, wie man Geflüchtete anders unterbringt, in kleineren Gruppen, ­näher an unserer Gesellschaft, näher am Sozialen, ohne Ghettoisierung. Dann stellte die AfD eine Strafanzeige gegen mich; aber gleichzeitig kam die große Flüchtlings­ bewegung, und das kleine Projekt wurde plötzlich riesig. Inzwischen ist es mehrfach transformiert, und aus der Eco Favela Lampedusa Nord hat sich über die vergangenen sechs Jahre ein selbstverwalteter Ort für Künstler*innen

von einer Vorstellung von Kultur als Erhabenheit des­ Guten, Wahren, Schönen. Wenn ich beide Seiten dieses Anspruchs unter einem Dach bedienen soll und muss – als junger Dramaturg in Darmstadt oder Paderborn –, komme ich doch in eine totale Sandwich-Position. Einerseits die Fachlandschaft, in der mein Fortkommen von künstlerischen Erfolgen abhängt, andererseits eine sich diversifizierende Stadtgesellschaft. Und das alles gegenüber einem verbeamteten kaufmännischen ­Geschäftsführer, der sagt: Wie willst du denn in deinen maximal sieben Jahren hier 4.000 Abonnent*innen ­ersetzen?

mit und ohne Migrationshintergrund entwickelt. Das

AMELIE DEUFLHARD:

­Migrantpolitan ist quasi eine Art Community-Zentrum für

Intendant*innen, die ihren jungen Dramaturg*innen verwei­

Geflüchtete, das von 20 bis 50 Personen ständig genutzt

gern, sich zu entfalten, mit der Begründung, dass dann das

wird. Aus dieser Community heraus sind auch Projekte für

bürgerliche Publikum, das eine Grundversorgung braucht,

die Kampnagel-Hallen entstanden. In unserem Team gibt

ausbleibt, nicht teilen. Ich habe diese Erfahrung aber im

es einen syrischen Kurator, Anas Aboura, und einen aus

Gegensatz zu dir auch nie gemacht. Ich hab andere Erfah­

Nigeria, Larry Macaulay. All das hat unsere Arbeit nach­

rungen gemacht: Wir haben heute nicht nur mehr junges

haltig in verschiedene Richtung multipliziert.

Publikum oder mehr Zuschauer*innen mit Einwanderungs­

JONAS ZIPF: Das, was du jetzt beschreibst,

macht einen wesentlichen Unterschied zu der, ich sag jetzt mal, angeschafften Maniküre einer künstlerischen Outreach-Planung, bei der es oft um projektbezogene symbolische Kooperationspartner oder einen einzelnen diversen Darsteller geht, die die automatische Gewähr dafür bieten sollen, dass mit einem Mal andere Leute kommen. Was du beschreibst, sind langfristige Kooperationen, eine Zusammenarbeit mit diversen Akteuren auf Augenhöhe, die sich dann beteiligt und gemeint fühlen, sich nicht als Feigenblatt vorkommen und deswegen auch eingeladen fühlen und kommen. Ich finde aber auch, dass wir die Zwänge und berechtigten Gegenfragen seitens der Dramaturg*innen der Stadtund Staatstheater in den kleinen Großstädten sehen müssen: In meiner Heimatstadt Darmstadt bindet das Staatstheater neben der Landesförderung fast 60 Prozent des kommunalen Kulturhaushalts. Da könnte man natürlich genauso argumentieren wie du und andere sagen, das Staatstheater muss die Vielfalt der ganzen Stadtgesellschaft abbilden, im Rhein-Main-Gebiet immerhin knapp 40 Prozent migrantisierter Menschen. Aber die Ansprüche der wirtschaftlich und bildungs­ seitig besser gestellten Teile der Bevölkerung, da müssen wir ja nicht drum herumreden, beeinflussen die ­Entscheidungen eben auch maßgeblich. Dieser Teil der Bevölkerung bildet im engeren Sinne als Abonnent*innenstamm das wirtschaftliche Rückgrat der Einnahmen des Staatstheaters und legt vermeintlich immer noch Wert darauf, dass der Kern des Betriebs die Kunsttradition hochhält. Du hast vorhin vom Palast der Republik gesprochen, dessen Abriss, verbunden mit dem Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, letztlich eine geschichts-revanchistische Entscheidung war, geprägt

Ich kann die Skepsis der

hintergrund, als zu dem Zeitpunkt, an dem ich angefangen habe, sondern wir haben auch sehr viel mehr bürgerliches Publikum. Auch das bürgerliche Publikum denkt, Kamp­ nagel ist ein Place-to-be, da muss man hingehen; auch ein bürgerliches Publikum lässt sich doch gerne anregen oder erkundet gerne Neues. In Deutschland ist zum Beispiel das Reisen total eingeschrieben in die bürgerliche Tradition und Historie. Kampnagel bietet solche Reisen für das Pub­ likum in seinen Stücken an, etwa nach Burkina Faso, wenn es ein Stück des Choreografen Serge Aimé Coulibaly be­ sucht und dabei etwas über das Operndorf erfährt, das Christoph Schlingensief da entworfen hat, in der Wüste, ganz in der Nähe von Ouagadougou. Wenn man Kunst aus allen Teilen der Welt sieht, bedeutet das auch ein Kennen­ lernen von Kulturen. Und ich glaube, für diese Beschäfti­ gung gibt es einfach eine riesige Offenheit. Unser Publikum, und da gibt es übrigens einige Überschneidungen auch mit dem Publikum des Thalia Theaters oder des Schau­ spielhauses, erwartet von uns einen Alternativentwurf zum klassischen Theater: mehr Herausforderung, weniger

die katze der inklusion

den. Für sechs Menschen. Unsere Stadtregierung sah das

Tradition. Kampnagel ist ästhetisch ein Kind der Avantgar­ de, aber auch die Avantgarde hat schon eine hundert­ jährige Tradition, das muss man auch mal ganz klar sagen. Insofern sind wir doch auch traditionell. (lacht)

JONAS ZIPF: Dieser Appell führt tatsächlich weg von den klassischen Kategorien und Dichotomien, traut dem bürgerlichen Publikum mehr zu. Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer Fabrikhalle wie Kampnagel und dem Stadt- und Staatstheater ist und bleibt allerdings die Architektur. Die verdeutlicht uns auf sinnbildliche Weise den Kern unserer Vorstellung von Kunst und Kultur, so wie wir ihn seit der Aufklärung tradieren: In der Aufteilung zwischen Bühne und Zuschauerraum, immer ausgerichtet und konzentriert auf die Frontal- und

amelie deuflhard und jonas zipf

Arbeitsraum für Geflüchtete, als Modellprojekt entstan­

61


­ entralperspektive, verkörpert sich, wie ich finde, ein Z hierarchisches Verständnis von Kunst und Sozialem. Zunächst darin, über welche Schwellen man diese Säle betritt, wer dort wo sitzt und wen wie sieht, dann aber noch stärker in der auktorialen Vorstellung davon, dass da vorne etwas passiert, was uns illusionistisch erzählt wird, das unsere stille Aufmerksamkeit verdient und von dem wir etwas lernen können und sollen. Gleichzeitig hat das mit den ästhetischen Strategien der letzten Jahrzehnte, die wunderbar verdichtet im „Postdramatischen Theater“ bei Hans-Thies-Lehmann beschrieben stehen, wenig zu tun: Die zeitgenössischen Raum- und Denkkonzepte arbeiten polyzentrisch und parataktisch, multidirektional und partizipatorisch. Und unter der Überschrift Inklusion geht es doch erst recht darum, unterschiedliche Perspektiven nebeneinander zuzulassen, aus anderen Perspektiven auch auf uns selbst zu schauen. Dem widerspricht die vorhandene Raumarchitektur des Theaters doch genauso diametral und paradigmatisch wie, sagen wir, ein buddhistischer Meditationskurs dem Kölner Dom. Sogar die klassische Musik ist architektonisch schon einen Schritt weiter: Bereits vor über einem halben Jahrhundert hat Hans Scharoun für die Berliner Philharmoniker einen Raum gebaut, in dem das Publikum um das Orchester herum sitzt. Das war damals revolutionär. Der Saal der Elbphilharmonie sieht heute genauso aus. Vielleicht ist das dort einer der inklusivsten Faktoren – neben dem Fakt, dass das Gebäude an und für sich schon eine ikonische Rolle spielt, so sehr als Wahrzeichen und Symbol für Hamburg steht, dass jede/r Hamburger*in mit seinem Besuch ein Selfie vor der Elphi machen muss. Ich spitze diese Beobachtung provokativ zu und sage, dass dieser Eventaspekt möglicherweise viel inklusiver wirkt als jede der von uns vorhin besprochenen Anstrengungen. Ich könnte 1.000fach darüber sprechen, welche Anstrengungen unser Theaterhaus oder unsere Philharmonie hier in Jena unternehmen, damit alle Teile der Stadtbevölkerung kommen, aber das Inklusivste, was wir hier wahrscheinlich anbieten, sind Coverband, Bratwurst und Bier auf dem Altstadtfest.

AMELIE DEUFLHARD: Da geh ich nur partiell mit. Die Theaterarchitektur der Elbphilharmonie eignet sich auf jeden Fall perfekt für Selfies; es ist fantastisch, wie gut der Bau von außen mit der Stadt und ihrer Hafenlage harmo­ niert. Auch die beiden Säle finde ich sehr schön. Aber den­ noch ist die Elphi kein Ort, der Begegnung oder Diversität produzieren kann. Und das, obwohl auch die Elbphilharmo­ nie eine hohe Awareness in Bezug auf Diversität hat und mit vielen Projekten daran arbeitet, Zugänglichkeit zu schaffen und viele Menschen reinzuholen: Es gibt dort Schüler*innenprojekte und Konzerte, die nur eine halbe oder dreiviertel Stunde dauern und nur zehn Euro kosten –, aber für Begegnung und Austausch ist das Gebäude nicht ausgerichtet. Aus mir unerfindlichen Gründen haben die

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Architekt*innen vergessen, die Orte, an denen man sich treffen kann, mitzudenken und zu bauen. Die gibt’s einfach nicht. Es gibt da so ein paar Bars, die stehen recht verloren herum, und ich erinnere mich, wie ich vielleicht vor einem Jahr mit einer meiner Töchter – sie ist 28 – in der Elbphil­ harmonie war und gefragt habe, ob wir noch einen Drink nehmen sollen, und sie sagte: „Auf keinen Fall, Mum, hier doch nicht; erstens kostet ein Glas Wein acht Euro, und zweitens lass uns doch irgendwo hingehen, wo es nett ist.“ Die Foyers der Elbphilharmonie laden nicht zum Verweilen ein. Deswegen ist das Gebäude auch direkt nach der Vor­ stellung innerhalb von kürzester Zeit wieder leer, es spuckt sein Publikum geradezu aus. Bei uns ist das anders: Wir laden die Menschen nach dem gemeinsamen Kunstgenuss – und das ist tatsächlich Konzept– zum Gespräch und zum Verweilen ein, wir wollen, dass sie nach der Vorstellung bleiben. Denn es ist großartig, wenn sich bei uns Menschen begegnen, die sonst nirgendwo in der Stadt aufeinander­ treffen. Sonst gehen sie in unterschiedliche Institutionen, in unterschiedliche Restaurants, in unterschiedliche Bars. Aber auf Kampnagel treffen sie vor und nach den Vorstel­ lungen in unserem großen Foyer aufeinander.

JONAS ZIPF: Wir sprechen also über das, was Architekten und Stadtplaner gerne Aufenthaltsqualität oder Dritte Orte nennen. Etwas, das nie ganz geplant werden kann, da es von informeller Aneignung und Mitgestaltung lebt. Du hast ja vorhin erzählt, wie ihr beispielsweise mit dem Migrantpolitan einen Teil eures Raums bzw. eurer Ressourcen geteilt, gar abgegeben habt. Ich denke da an Max Czollek, der sinngemäß sagt: Wenn die Strukturen es künftig nicht schaffen, endlich inklusiv zu werden, dann übernehmen die anderen eben den Laden: Desintegriert euch! Ihr habt einen Teil des Ladens zur Verfügung gestellt, und sie haben es genommen. Angesichts unserer Beobachtungen zur Elbphil­ harmonie stellt sich mir die Frage: Wie geht das architektonisch? Der Bau so einer sozialen Skulptur ist sehr dynamisch; Architektur per se aber erst mal statisch und langsam. Klar, wir können jetzt sagen, wir reden über Strategien der temporären Architektur. Aber damit limitieren wir die räumlichen Möglichkeiten in starkem Maße. Oder wir sagen: Man trennt das Außen vom Innen. Das wäre ein Gedanke, dem mancher Bibliotheksbau in den letzten Jahrzehnten gefolgt ist: Dann ginge es um den Bau von Behältnissen, deren Innengestaltung wir den Nutzer*innen überlassen. Ich denke jetzt etwa an die Bibliothek in Oslo, Tøyen: Außen im Grunde wie eine Messehalle gebaut, innen wird beispielsweise die Jugendbibliothek alle zehn Jahre in einem partizipativen Verfahren gemeinsam mit den Jugendlichen immer wieder neu konzipiert und gebaut. Das ist nicht mehr nur eine bürgerpartizipative Beteiligung von Menschen am historisch einmaligen Planungs- und Entscheidungsprozess, etwa im Rahmen von Werkstätten oder Sachjurys, nicht mehr nur eine Frage des Rechts zum einmaligen


Widerspruch, sondern eine dauerhafte Möglichkeit der Beteiligung. Welche Rolle spielen solche Inklusionsbausteine denn in euren Umbauplanungen? Was habt ihr in Barmbek vor?

ich einige Jahre meines Lebens gewidmet habe: Ich finde, erst mal muss man doch wissen, was man mit einem Ge­ bäude machen möchte, erst dann baut man es. Wenn ich beispielsweise an ein Wohnhaus denke, ist es doch ein­ ­riesiger Unterschied, ob eine Familie mit vier Kindern baut

kurz aufschreiben, was du da sagst, damit ich das noch in

oder drei Paare, die zusammenwohnen wollen, oder ob

das Pitching für die Architekten einbinde. Wir sind ja mit­

man ein Haus für generationsübergreifendes Wohnen baut.

ten in der Ausschreibung für die Generalsanierung von

Und von diesem Zusammenbringen von Bedürfnissen und

Kampnagel und stehen also noch ganz am Anfang. Bisher

Architektur gehen wir aus für die umfangreiche Sanierung

gab es einen Vorentwurf der Pariser Architekten Lacaton &

von Kampnagel. Der konzeptuelle Gedanke des Vorent­

Vassal für das ganze Gelände – auch für das Migrantpoli­

wurfs für das Migrantpolitan könnte dabei ein guter erster

tan, vom dem ich vorhin sprach. Für dieses Teilprojekt be­

Ansatz sein: möglichst offene, flexible, transparente

stand die Aufgabe des Vorentwurfs darin, dass das bisher

Strukturen, die ja letztlich genau dem entsprechen, was

ja immer noch temporäre Gebäude neu und dauerhaft ge­

diese Fabrikhallen hier in Barmbek waren, so wie sie ab

staltet wird. Ich hatte ursprünglich die Idee, dass ich es ein

­Mitte der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre von den Ham­

bisschen mache wie Hans Ulrich Obrist bei der Serpentine

burger Kunstschaffenden mehr oder weniger gekapert

Gallery: Dass man alle paar Jahre ein neues Gebäude baut.

wurden, mit unterschiedlichen Strategien. Da ging es ge­

Aber das ist natürlich sehr gefährlich: Wenn das dann nicht

nau um das, was du beschreibst: die stark vordefinierten

klappt, weil die entsprechenden Mittel fehlen, hat man

Räume, die Stadttheater oder auch Museen darstellen,

eine ewige Baustelle. Deswegen ist es dann doch besser,

durch offenere Räume zu ersetzen, die mehr Möglichkeiten

man baut wenigstens eine Grundkonstruktion, und die

bieten, auch für unterschiedliche Kunstformen. Und genau

kann dann immer wieder verändert werden. Im Oktober

dieser Gedanke muss jetzt weitergeführt, eher noch ver­

dieses Jahres werden wir wissen, mit welchem Büro wir

stärkt, als zurückgenommen werden. Kampnagel ist ein

in das weitere Verfahren gehen. Wir brauchen dafür Archi­

Ort der Transformation. In vielerlei Hinsicht, aber auch im

tekt*innen, die nicht davon ausgehen, wie das Gebäude am

architektonischen Kontext: ein Ort der Transformation von

Schluss aussieht, sondern von den Prozessen, die in den

der Fabrik zum Kunstort. Damit sind die Hoffnungen und

Gebäuden stattfinden sollen – Architekt*innen, die ver­

Visionen von Künstler*innen verbunden und die des Publi­

suchen, sowohl Sanierung als auch Neubau so zu struktu­

kums, dass man in offenen Räumen anders denken und

rieren, dass all diese Prozesse möglichst offen gestaltet

damit auch eine andere Kunst produzieren kann. Genau

werden können. Es geht darum, vom Inhalt zur Form zu

diese Hoffnungen und Visionen sind aus meiner Sicht

kommen, und nicht von der Form zum Inhalt. Auch das ein

enorm wichtig für die Auswahl des Architekturbüros und

Thema, das mich schon seit Jahren beschäftigt, vor allem

die architektonische Entwicklung von Kampnagel.

Performing Arts Summer 01. – 04./08. – 11.07.2021 Dresden Frankfurt Dance Company 16. – 18.07.2021 Geometrisches Ballett – Hommage à Oskar Schlemmer Ursula Sax/Katja Erfurth (DE)

www.hellerau.org

23. – 25.07.2021 VIRUS Yan Duyvendak (CH) 30./31.07.2021 FLAGS Paula Rosolen/Haptic Hide (DE)

die katze der inklusion

Das muss ich mir nachher

amelie deuflhard und jonas zipf

AMELIE DEUFLHARD:

auch in der Debatte rund um den Palast der Republik, der

63


NOTATION_SFBODIES 29‘46~


IND IKATORISCH E NOTATIONE N von Michaela Rotsch transformiert bild­ nerisch über das arabeske Prinzip „Lücke und Umweg“ die Choreographie STRANGE FOREIGN BODIES. Die Notationen sind ausgehend von einem Video der Tanz­ performance gebildet. MICHAELA ROTSCH ist Bildende Künstlerin, die indikato­ rische Werkstücke entwickelt. Sie pro­ movierte über die Arabeske als Organi­ sationsstruktur. Mit ihrer künstlerischen Arbeit im Stadtraum von Bagdad be­ gründete sie eine kunstbasierte Turbu­ lenzforschung. www.michaelarotsch.com

STRANGE FORE IGN BOD IE S der Choreographin Zufit Simon ist ins­ piriert durch Jean-Luc Nancys Text „58 Indizien über den Körper“, eine Liste von teils widersprüchlichen, kurzen Bemer­ kungen über den menschlichen Körper. Gemeinsam mit den Tänzerinnen Lois Alexander und Clarissa Rêgo entwickelt Zufit Simon eine Bewegungsrecherche: „Warum eher Indizien als Charaktere, Zeichen, unterscheidbare Merkmale? Weil der Körper entwischt, nie gesichert ist, sich verdächtigen, aber nicht iden­ tifizieren lässt. (...) Wir haben nur Hin­ weise, Spuren, Abdrücke, Fußstapfen.“ (J-L. Nancy) Die analytische Herange­ hensweise des Denkens verflüssigt sich im tänzerischen Übersetzen – wird so konkret wie flüchtig. ZUFIT SIMON Choreographin und Performing Artist. https://www.tanzforumberlin.de/ produktion/strange-foreign-bodies/


miriam michel

digitale erschließungen eine utopie der zugänge, digitalität, diversität und theater

Das Internet ist frei. Digitalität hat uns in der Krise gerettet. Endlich können alle am Theatererlebnis teilhaben. Barrierefreiheit in der Kunst ist mehr als eine Rampe.

Im Kontext von Digitalität, Theater und Diversität spielt das Nachdenken über Zugänge und Zugänglichkeit eine große Rolle. Leicht kann die digitale Welt, weil sie körperlos scheint, zu einem Eden der Barrierefreiheit stilisiert werden. Hier kann jede*r rein. Aber so ist es nicht, weil das Internet, die digitalen Werkzeuge und die meisten Algorithmen nicht von und für Menschen mit Behinderung (behinderte Menschen, bitte wählen Sie eine Bezeichnung, die für Sie nichtdiskriminierend ist) gemacht wurden. Das ist nicht schlimm, aber sehr schade. Auch müssen jetzt nicht ganz schnell Computerspezialist*innen und Coder*innen mit Behinderung gesucht werden, damit alles gut wird. Es geht mir hier nicht um das Lamento, dass so wenige Frauen*, FLINTA*, LGBTQMenschen, BIPOC oder schwarze und eben wenige Menschen mit Behinderung (körperlich, geistig, psychisch) die digitale Welt mitbestimmen. Denn das ist, wie oben gesagt, äußerst schade, unpraktisch und ein gesellschaft­licher Verlust für alle, aber eben ausgehend von der heteronormativen, weißen, von Männern dominierten, fähigkeitsorientierten Gesellschaft, in der wir heute noch leben: keine Überraschung! Mit wie vielen Menschen mit Behinderung oder Frauen* of Color haben Sie in Ihrem IT-Grundkurs auf der Gesamtschule in einer

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Kleinstadt in Deutschland die Stunden verbracht? Und wie viele von diesen Menschen sind Spezialist*innen für Digitalität und Theater geworden und haben ihre eigenen Erfahrungen von Barrieren, die den Zugang zu Kunst und Kultur und insbesondere Theateraufführung unmöglich machen, in ihrer Arbeit als Ausgangspunkt nutzen können? Wie viele Geschichten dieser Art können Sie erzählen? Ich kenne niemanden. Keine einzige Person. Das liegt an mir, meiner Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, und am System, in dem ich lebe. Es gibt viele Spezialist*innen für Digitalität+Theater+Diversität, die ich nicht kenne. Deshalb ist dies kein Artikel über bestehende digitale Werkzeuge und Programmiersprachen, sondern (m)eine Utopie! Eine Utopie der Digitalen Erschließungen, die uns Theater gemeinsam erleben lassen, indem Digitalität auf mannigfaltige Weise genutzt wird, um neue Zugänge zu eröffnen und alte zu verbessern. Ich schreibe diesen Artikel, weil ich mich aufgrund meiner persönlichen Voraussetzung und den Menschen, mit denen ich Kunst mache, intensiv mit Barrieren beschäftige, die ich in vielen Situationen am Theater als hinderlich für mich und für andere empfunden habe. Da ich mit einigen Künstler*innen mit Behinderung zusammenarbeiten darf und in den letzten zehn Jahren viel lernen konnte, spreche ich hier nicht für, sondern aus der Gruppe der Zugangsbehinderten. Sowohl mit dem Performance­ kollektiv dorisdean als auch als Solokünstlerin und in verschiedenen anderen Kooperationen beschäftigen wir


Sprache / Hören / Sichtbarkeit / Sehen / Dauer / ­Anstrengung / Lautstärke / Helligkeit / Kontrast / finanzielle Mittel / körperliches Hantieren mit den elektronischen Geräten / kognitive Fähigkeiten / Bildung / Medienkompetenz Gehen wir davon aus, dass Barrierefreiheit bedeutet, alle Menschen mit allen Eigenschaften und Fähigkeiten können zu jeder Zeit alle angebotenen Theaterproduktionen und Kunst- und Kulturveranstaltungen rezipieren, stellen sich umgehend einige Fragen: Muss alles für alle sichtbar, hörbar und verständlich sein? Darf das Publikum eingreifen: in Lautstärke der Musik, Helligkeit des Lichts, Wahrnehmungstechniken? Ist das nicht eine ausschließlich künstlerische Entscheidung: ob etwas brüllend laut ist oder die Bühne dunkel ist, ob die Schauspieler*innen unverständlich nuscheln und ob der Text hochintellektuell ist? Wer darf Forderungen nach Rezeptionszugängen stellen, und wie stark darf eingegriffen werden? Es stellt sich also mit der Zugangsfrage auch die Machtfrage. Die Machtfrage nach der Eintrittserlaubnis: Wer darf zugucken? Wer darf Kunst rezipieren? Wer darf sie machen? Was passiert, wenn wir Theater für alle machen? Und wer sind alle überhaupt? Sind mit alle auch taube Menschen, blinde Menschen, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder verändertem räumlichen Verständnis, leicht reizüberflutete Menschen oder solche, die keine Noten lesen können, gar nicht lesen können, die Bühnensprache nicht sprechen, europäische Werte und deutschen Kulturkanon nicht kennen, gemeint? Da ist es passiert, Ableismus! So schnell geht das. Ich schaue mir an, was ich alles kann, und ärgere mich darüber, dass ich jetzt Theater machen oder schauen soll, für Menschen, die nicht meine Fähigkeiten haben. Ich selektiere, basierend auf den Fähigkeiten, die ich an mir als „normal“ empfinde, und vergesse, dass andere Menschen mit anderen Fähigkeiten diese/ihre, als „normal“ empfinden. Ich denke daran, was alles nicht geht, was für ein Mehraufwand das jetzt wird, zu übersetzen oder zu beschreiben, dass die Gebärdensprachdolmetscher*innen das Bild kaputtmachen, die Übertitel zu

Digitalität im Theater (unvollständig): Untertitel / Gebärdensprachübersetzung / barrierefreie Architektur / Alternativtexte für Screenreader/ Möglichkeit, Aufführung zu unterbrechen / Audiodeskription zum Ein- und Ausschalten / Kontrolle über die sensorischen Elemente Bevor ich meine Utopie vor Ihnen ausbreite, will ich eine Bestandsaufnahme nach bestem Wissen und Gewissen versuchen. Grundsätzlich gilt: Digitalität im Theater findet statt. Wir sehen Aufführungen mit Live-Videos, SimultanText-Projektionen aus der Regieloge, Greenscreen und 3-D-Projektionen als Bühnenbild. Wir kennen die RoboterPerformance Unheimliches Tal / Uncanny Valley von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) + Thomas Melle oder die ZoomPerformance Metamorphosis von HIJINX THEATRE. Forced Entertainment haben mit End Meeting for All im Jahre 2020 eine erste Online-Zoom-Performance-Serie in die digitale Theaterwelt gebracht. Es gibt einige aktuelle Beispiele von Theater+Digitalität+Diversität, die uns zeigen, was schon möglich ist. Architektonische Zugänge sind im digitalen Raum keine Hindernisse mehr. Es sei denn, dass der Zugang zu digitalen Endgeräten und Internet aus architektonischen Gründen verstellt ist. Oder, dass man irgendwo wohnt, wo das Internet sehr langsam Daten überträgt und so den Zugang zu OnlineTheateraufführungen verhindert. Hat mensch Zugang zu Online-Angeboten, oder wird im analogen Theater Digitalität eingesetzt, kann das Theatererlebnis vielfältiger werden. Bestes Beispiel für diese Entwicklung ist die Akademie für Digitalität und Theater am Theater

digitale erschließungen

Barrieren in der Digitalität (unvollständig):

präsent sind und die Audiodeskription in die schöne Musik reinquatscht. Aber wenn ich defizitär denke, was passiert mit meiner Haltung gegenüber multiplen Zugängen zur Kunst? Wie wäre es, wenn ich visionär darauf blickte? Was, wenn ich das Mitdenken multipler Zugänge zum Kunstwerk, als Vervielfachung von Sinneseindrücken und Öffnen von Horizonten, bei mir und dem Publikum, verstehe? Was, wenn ich ausgehe von meinen eigenen speziellen Bedürfnissen im Theater, die ich doch auch gerne erfüllt hätte: Kein helles Licht, keine lauten Schüsse, keine megalaute Musik, keine Online-Ticket-Kaufbörsen, bei denen ich Angst habe, was falsch zu machen und Geld zu verlieren, keine Videos von geschändeten Frauenkörpern, eine Möglichkeit, die Aufführung zu jeder Zeit zu verlassen, und lachen, ohne böse Blicke zu kassieren, Gefühle zeigen als Zuschauerin im Theater ohne Scham … Huch! Schon wieder defizitär gedacht von dem aus, was ich nicht will. Dabei geht es mir doch darum herauszufinden, was ich will, was ich brauche. Was brauchen wir Zuschauer*innen? Was brauchen wir Künstler*innen? Wie sieht eine Utopie für das digitale, diverse Theater aus?

miriam michel

uns immer wieder – und in pandemischen Zeiten verstärkt – mit der Frage, wie frei zugänglich eigentlich die digitale Theaterwelt ist. Welche Werkzeuge wollen und brauchen wir, um Herstellungsbedingungen, Bühnenräume und Zuschauerräume so einzurichten, dass für alle zu jeder Zeit alles vorhanden ist? Was brauchen wir, um Theater gleichberechtigt zu kreieren und rezipieren? Im Sinne der Vielstimmigkeit habe ich Künstler*innen aus meinem Umfeld nach ihren digitalen Utopien gefragt und ihre Impulse als Teil der Utopie in den Text eingeflochten.

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Dortmund, die ihre Arbeit aufgenommen und ausgebaut hat. Digitalität und Theater findet statt. Aber ist sie auch eine Wegbereiterin für Diversität im Theater? Digitalität hilft, Barrieren abzubauen, und muss gleichzeitig von Barrieren befreit werden. Die Vorteile von digitaler, automatischer Untertitelung von Stücken in verschiedenen Sprachen sowie die Notwendigkeit von Gebärendsprachübersetzung sind, wenn auch noch nicht im Mainstream angekommen, schon sichtbarer als noch vor ein paar Jahren. Durch die BITV 2.0 (Barrierefreien Informationstechnikverordnung von 2019) sind alle öffentlichen Stellen des Bundes in der BRD verpflichtet, barrierefreien Zugang zu Webseiten etc. zu gewährleisten. Damit werden EU-Richtlinien umgesetzt, die in Zukunft standardmäßig in das Webdesign, auch von Theatern und Produktionshäusern, integriert werden. Der Fonds Darstellende Künste arbeitet an barrierefreien Antragswebseiten und -formularen. Sprachsteuerungen oder Bedienhilfen wie Screenreader, Spracheingabe, Augensteuerung etc. helfen auch im digitalen Theater, Barrieren abzubauen – nicht jede*r bedient eben sein*ihr Gerät mit Tastatur, Touch Screen oder Maus. Und die eigene Arbeit sowohl mit als auch ohne Audiodeskription anbieten zu können, ist im Zeitalter von Online-Theaterserien besser umsetzbar als noch vor ein paar Jahren. Die Verschiebung einiger unserer künstlerischen Arbeiten ins Digitale, u. a. durch die Kontaktbeschränkung zur Eindämmung der Verbreitung des neuartigen Sars-CoV-2-Virus, war ein Schritt hin zum Abbau von Barrieren in Online-Theater und -Kunst. Dadurch, dass digitale Online-Kunst ohne Bezahlung verschenkt wurde und wird, erleben wir den Abbau von Klassenbarrieren im Zusammenhang mit der Rezeption. Natürlich wirft die unbezahlte Kunst andere Probleme und Ungerechtigkeiten auf, die aber an anderer Stelle zu besprechen sind. Eine digitale Erschließung von virtuellen Räumen findet statt. Das (Online-) Digitaltheater findet statt. Wie steht es aber um die standardmäßige Schaffung multipler Zugänge zu Theatererlebnissen und den Abbau von Zugangshürden in den Köpfen der Entscheidungsträger*innen in Theater, Oper und Performance? Und nicht zu vergessen, wie ausgeprägt nutzen wir Digitalität im Herstellungsprozess des Theaters, um existierende Barrieren abzubauen? Sind da schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Nein.

Digitalität + Theater eine Utopie für eine gerechtere Zukunft (unvoll­ ständig): Ich lege also los, stelle mir vor, alles ist möglich, und es gibt Menschen, die wissen, wie diese Utopie umgesetzt werden kann. Und Geld, um jene Menschen zu entlohnen. Ich, wie gesagt, weiß nicht, wie, ich weiß nur, dass!

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Bevor wir zum Theater fahren oder uns für eine OnlinePerformance zu Hause bereit machen, laden wir auf der Webseite des Aufführungsortes – die vom Screenreader problemlos auszulesen ist – das Programmheft zum Stück runter. Digitale Programmhefte haben Video-Interviews mit Untertiteln und Audiodeskription, Trailer und Animationen zu Bühnenbild und Thema des Abends. Sind wir eher haptisch geprägt, drucken wir das Programm aus. Die Druckversion ist auf Deutsch auch in einfacher Sprache und in Brailleschrift sowie in allen weiteren Schriftsprachen erhältlich. Alle Kurzbeschreibungen von Vorstellungen gibt es immer auch in Einfacher Sprache, und wir sind wie immer total entspannt, weil unter der Rubrik: „Wir wollten schnell noch warnen!“ freundlich formulierte Triggerwarnungen (z. B. wegen Gewalt, Missbrauch, Rassismus, Sexismus), aber auch sensorische Informationen über Lautstärke und Helligkeit oder extreme Geräusche (Schüsse etc.) zur Verfügung gestellt werden. Wir als Zuschauende, die das Bedürfnis nach Triggerwarnungen haben, weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, fühlen uns so sicher. Wir anderen ohne dieses Bedürfnis müssen nicht wissen, wann es laut wird, wo weibliche Körper geschändet dargestellt werden etc., wir lesen diese Rubrik einfach nicht. So schauen wir die Inszenierung in bequemen Theatersitzen, die individuell ausbaubar und verschiebbar sind, sodass wir als Rollstuhlfahrerin unseren Besuch nicht mehr einen Tag vorher im Theater anmelden müssen. Und natürlich gibt es Sitzreihen mit viel Beinfreiheit und andere mit erhöhten Sitzen. In der Pause erzählt uns die blinde Sitznachbarin von großartigen Interviews mit den Schauspieler*innen, die sie im Programmheft gelesen hat. Also laden wir via QR-Code das Heft schnell auf unser Smartphone und lassen uns das Interview mit Hörausgabe vorspielen. Es ist noch etwas Zeit, und wir hören uns auch die Beschreibung des nächsten Akts in unserer Muttersprache, z. B. in Mandarin, an. Dann ist die Pause vorbei, angenehme Töne und Lichtzeichen zeigen an, dass es weitergeht. Bei der OnlineTheateraufführung bekommen wir – wenn wir wollen – eine Nachricht aufs Telefon, wenn die Pause vorbei ist. Schauen wir die Aufführung mit Gebärdensprachübersetzung, sehen wir die Übersetzung entweder in den „Translating Glasses“, Tablets oder im integrierten Bildschirm der Sitzlehne vor mir. Avatare übersetzen in alle Gebärdensprachen dieser Welt, simultan, während die Vorstellung läuft. Das kann auch online als zuschaltbare App zugespielt werden. Die Gebärdendolmetscher*innen, die den Avataren die Gebärden beigebracht haben, werden in den Credits genannt und ausreichend entlohnt. Ist der Gebärdendolmetscher-Avatar ins Bühnenbild integriert, z. B. auf Leinwänden oder großen Bildschirmen, sehen wir dort Videos in verschiedenen Gebärdensprachen auf mehreren Bildschirmen, sodass in der laufenden Vorstellung verschiedene Gebärdensprachen angeboten werden


digitale erschließungen

aufführungen wählen wir per Spracheingabe oder Klick die passende Audiodeskription dazu, das ist vor allem bei älteren Aufführungen praktisch, als der künstlerischästhetische Mehrwert noch nicht erkannt war. Können wir eine Aufführung nicht mit dem eigenen physischen Körper besuchen, buchen wir das „virtual reality body pack“. Per UPS (mit Elektro-Auto) liefert uns das Theater fullbody suits und virtual-reality-Brillen für den multiplen, vollsensorischen Theatergenuss: per ­virtual reality gehen wir durch die Räume, interagieren mit den Performer*innen, werden berührt oder diskutieren auf Panels über das Theater der Zukunft. Körperliche Anwesenheit, ohne physisch anwesend zu sein, öffnet uns viele Türen, auch über Kontinente hinweg, z. B. bei internationalen Festivals. Sensorische Zugänge, wie eine individuelle Lautstärke­ einstellung per Kopfhörer an jedem Sitz, sind schon lange vorhanden. Jedes Theaterhaus bietet Entspannungsräume an, in denen die Vorstellung per Video übertragen wird. Hier können wir liegen, es ist möglicherweise abgedunkelt, und auch mit Angststörungen erleben wir einen tollen Theaterabend. Es gibt alles, was wir brauchen für den ungestörten Kunstgenuss. Für Menschen mit Entscheidungsschwierigkeiten gibt es das ÜberraschungsOnline-Theater-Abo, das zufällig aus allen Online-Theateraufführungen für uns auswählt. Der Algorithmus stellt eine Spielzeit zusammen, die uns viel Neues zeigt. Der Auswahlprozess basiert nicht auf Marketingalgorith­ men aus dem, was wir sowieso gerne mögen, sondern aus tatsächlich zufällig gewählten Kunstwerken und Inszenierungen. Wir, vom digitalen Online-Angebot müde gewordenen Menschen, bekommen so Hilfe gegen die Impulslosigkeit. Die Onlineplattform, auf der alle Theaterhäuser und freien Spielstätten Europas ihre Veranstaltungen angeben – inklusive Level an Zugänglichkeit – sind seit Langem wichtiger Bestandteil des Theater-Feuilletons. Aber Achtung! Es wird nicht alles abgepuffert, verweichlicht und reibungslos gemacht. Die digitale Erschließung von Theater und Kunst will nicht allen alles recht machen, damit die Kunst an ihnen abperlen kann, wie an frisch geölten Arbeitsplatten. Es geht darum, tatsächliche Bedarfe zu erfüllen, damit Menschen sich sicher fühlen und Spaß an dem Erlebnis Theateraufführung haben können. Das heißt nicht, und da komme ich zurück zur Frage nach Kunstfreiheit und künstlerischen Entscheidungen, dass die Inszenierungen sich nur nach den Bedarfen der potenziellen Zuschauer*innen richten sollen. Es geht darum, Zugang geben zu wollen! Die Möglichkeit, Kunst zu rezipieren und sich selbst ein Bild zu machen, wird nur durch die Erschließung multipler Zugänge erreicht. Rückzugsorte und Zugänge für Menschen mit psychischen Abweichungen werden oft als Verweichlichung oder Verhätschelung gelesen. Das ist eine Frage der Perspektive, denn wenn man selbst z.B. keine Überreizung in überfüllten Räumen empfindet

miriam michel

können. Die Avatare werden entweder im Vorfeld mit dem Bühnentext gefüttert oder übersetzen mithilfe des digitalen Hörverstehens (z. B. bei improvisierten Performances). Manche Theatermacher*innen arbeiten lieber mit Real-Gebärdensprache-Übersetzung. Die Übersetzer*in gebärdet in einem Filmset, das gut ausgeleuchtet ist, ihre Übersetzung wird digital auf die Endgeräte der Zuschauer*innen gespielt oder als Live-Video in die ­Inszenierung integriert. Soll die Gebärdensprachübersetzung nicht ins Bühnengeschehen integriert werden, gibt es am Eingang besagte Tablets oder „Translating Glasses“ zu leihen, auf denen wir die Gebärdensprache unserer Wahl oder Untertitel aller Sprachen dieser Welt individuell auswählen können und angezeigt bekommen. Wir gehen ins Theater und sehen eine Aufführung, die wir für unsere Bedürfnisse in südafrikanische Gebärdensprache übersetzen lassen, und unsere Sitznachbarin schaut mit deutscher Gebärdensprache, im gleichen Theater, zur gleichen Zeit. Natürlich steht, im Falle einer Aufführung in deutscher Gebärdensprache die Über­ setzung in Lautsprache für hörendes Publikum zur Verfügung. Entweder durch Untertitel oder als Simultanübersetzung per Audioausgabe über Leihkopfhörer. Die individuelle Auswahlmöglichkeit per Touch- oder Sprachbedienung ermöglicht uns den Zugang, den wir brauchen. Analog dazu gibt es Untertitel in allen Sprachen (inklusive Einfacher Sprache) simultan aus dem gesprochenen Wort heraus übersetzt (online und offline). Bei Produktionen mit bestehenden Texten füttern die Dramaturg*innen die Untertitelprogramme mit dem Bühnentext, bei improvisierten Performances versteht das digitale Programm per Spracherkennung, wann was gesagt wird, und projiziert die richtigen Worte. Text­hänger sind kein Problem mehr. Asynchronizität in den Untertiteln ist ein Ding aus der Vergangenheit. Analog- oder Online-Theater, immer genießen wir die Audiodeskription, die standardmäßig vorproduziert die Bildebene beschreibt oder in die Aufführungen als künstlerisch-poetisches Stilmittel integriert ist. In Zusammenarbeit mit Autor*innen und Sprecher*innen sind alle Vorstellungen und Performances deskribiert. Wenn wir vor Ort im Theater sind, hören wir am liebsten mit unseren eigenen Kopfhörern über das Smartphone die Deskription. Per Induktionsschleifen ist sie in verschiedenen Sprachen zugänglich und kann uns beim Besuch von partizipativen, mobilen Performances durch die inszenierten Räume leiten, da sie neben Räumen und ­Szenen auch Wege beschreibt. Das Programm weiß per GPS, wo wir Zuschauende uns in der Installation bzw. Performance befinden. Oft ist die Deskription aber sowieso ästhetisch, künstlerisch wichtiger Bestandteil der Inszenierung, und wir werden von Performer*innen durch die Aufführung geleitet. Diese Performer*innen sprechen die Sprache der Aufführung, die durch die Tablets oder „Translation-Glasses“ wieder in jede Sprache, die wir brauchen, übertragen werden kann. Bei Online-Theater-

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kann man nicht sofort nachvollziehen, warum Menschen multipler Zugänge bedürfen. Wir brauchen einen Zustand, in dem Ruheraum, Audiodeskription, Gebärdensprache, Sprachbedienung, Rollstuhlplätze etc. so selbstverständlich vorhanden sind wie Stühle, Toiletten, Bühnenlicht und Heizung. Heizung und öffentliche ­Toiletten waren im antiken Theater ja auch noch nicht so verbreitet wie heute. Wir erleben gerade eine Zeit der großen Veränderungen, z. B. versuchen wir, Theaterräume von Aerosolen zu reinigen, und bauen Luftreinigungsanlagen. Für Aller­ giker*innen ist das eine hervorragende Chance. Hätten wir dies genauso vorangetrieben, wenn jetzt nicht auch „normalen Menschen“ Filteranlagen benötigten? Wer darf wie dabei sein? Damit komme ich zum letzten Punkt, direkt hinein ins Herz des Theaters. Wie steht es mit der Digitalität und dem Abbau von Barrieren im Herstellungsprozess? Die Utopie geht hinein in die Probenräume und Verwaltungstrakte. Wir treffen auf Ensembles, die aus unterschiedlichen großartigen Künstler*innen zusammen­ gesetzt sind. All diese Menschen haben eigene Bedürfnisse, die nicht als Behinderung der Arbeitsprozesse gewertet werden, sondern wertfrei akzeptiert sind. Es gibt digitale Werkzeuge an jedem Theater, der Staat bezahlt die Ausstattung. Es gibt Maschinen zum Einscannen von Theatertexten mit Übertragungsfunk­ tion in Brailleschrift zum direkten Ausdrucken der Texte. Einfache Sprache ist keine Sonderform mehr, sondern wird standardmäßig von Dramaturgie und Verwaltung angewendet. Konzeptionsmappen kommen in verschiedenen Sprachen, alle Beteiligten haben Workshops zum Thema Audiodeskription gemacht. Autor*innen und Künstler*innen sehen sie als Teil der künstlerischen Praxis, die mit neuen Medien direkt eingesetzt und erprobt werden . Allen Beteiligten macht es Spaß, sich neue, innovative Methoden für barrierefreie Textarbeit und digitale Zugänge auszudenken. In Schauspielschulen wird Deutsche Gebärdensprache gelehrt, und taube Autorinnen schreiben Texte, die in Gebärdensprache zur Uraufführung kommen. Es gibt digitale, virtuelle Probenräume, in denen man sich mit augmented/virtual reality und fullbody suits trifft und miteinander tanzen kann, wenn Menschen mit Immunschwäche im Team sind, die physisch nicht da sein können oder wollen. Superpraktisch, auch wenn mal wieder eine Pandemie grassiert. Die fullbody suits fungieren auch als Ganzkörpertastatur, sodass Menschen per Muskelanspannung Texte schreiben können. Spracheingabe für Schriftverkehr und per Augen gesteuertes Sprechen sind gängige Kommunikationsmittel im Probenprozess und auf der Bühne. Wir verständigen uns darauf, Lautstärke- und Lichtregulation durch die Darsteller*innen zu erlauben. Eine Person wird beim Betreten der Bühne durch Gesichtserkennung oder body

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scan identifiziert, braucht sie weniger Licht und leisere Musik, um nicht irritiert zu sein, dimmt sich Licht und Musik herunter. Umgekehrt wird es natürlich auch heller und lauter bei Bedarf. Die Technik von Gesichtserkennung oder body scan achtet selbstverständlich die Persönlich­ keitsrechte der Beteiligten. Leise oder schwache Stimmen werden standardmäßig mit Mikrofonierung unterstützt, die digitale Abmischung des Bühnensounds denkt intelligent mit. Die Einzigartigkeit der einzelnen Stimmen wird trotz Mikrofonen erhalten. Die digitale Anpassung ist aktives und progressives künstlerisches, ästhetisches Mittel. Alle Theater sind mit digital gesteuerten Rampen (neben regulären Treppen) ausgestattet, im Probenraum, auf der Bühne, im Zuschauerhaus, der Zugang mit Rollstühlen ist mobil und unkompliziert jeder Zeit gewährleistet. Bühnenbilder aus Greenscreens zeigen nach Bedarf Landschaften oder Innenräume. Alle Darsteller*innen können sich auf der Bühne frei bewegen. Digital gesteuerte und programmierbare Prothesen werden Teil der Körper der Performer*innen, sie können z. B. komplexe Bewegungsabläufe performen. Gleichsam gibt es Rollstühle, die digital gesteuert werden und ­futuristische Choreografien performen. Texte werden eingesprochen und als Voice Over abgespielt und damit integraler Bestandteil der Bühnenästhetik. Perfor­mer*in­ nen, die sich nie Text merken, sind in den Ensembles willkommen. Wir arbeiten mit Videos von Darsteller*in­ nen, denn niemand muss vier Stunden auf der Bühne stehen, um Schauspieler*in zu sein. In meiner Utopie finden wir in Theaterhäusern und Produktionsgemeinschaften eine Atmosphäre, in der achtsame, offene, von Ehrlichkeit und Loyalität geprägte Herstellungsbedingungen existieren. Dort können sich alle beteiligten Menschen sicher fühlen und ihre eigene „Diversität“ bzw. ihr eigenes Abweichen von einer „weißen, heteronormativen, gesunden“ Norm offenlegen ohne Angst vor Sanktionen oder Diskriminierung. Dadurch entstehen diverse Ensembles, in denen alle Bedarfe und Bedürfnisse sichtbar werden, weil wir alle von dieser sogenannten Norm abweichen. Es ist das Ende der defizitär motivierten Zugänge. Doch dafür müssen wir etwas schaffen, digital und analog, das über die gesamte technisch und digital basierte Utopie hinausgeht. Denn die besten Tools nutzen nicht, wenn wir die Machtfrage nicht angehen. Sie nicht sehen, verstehen und verändern wollen. Macht uns das, was auf der anderen Seite der Gleichberechtigung wartet, doch noch Angst? Oder ist es Faulheit? Reden wir über Bedürfnisse und Bedarfe. Reden wir progressiv, nicht defizitär. Reden wir gleichberechtigt über unsere Forderungen. Die Anerkennung von Diversität als Grundzustand bringt nicht nur Einblicke in die tatsächlichen Bedürfnisse der bestehenden Ensembles und Gruppen, sondern verbessert auch unsere Wahrnehmung für Missstände und Hindernisse.


Durch die Diversifizierung vollzieht sich eine ästhetische Wende, in der wir nicht mehr durch das Fehlen multipler Zugänge zu unseren Kunstwerken behindert werden. Neue Zugänge gestalten neue Formen, neue künstlerische Sprachen und Potenziale. Es wird unser Sehen verändern, unser Proben, unsere Hierarchien. Wenn für alle jeder Zeit alle Zugänge frei sind, werden Menschen ­zusammenkommen, die sich untereinander erst mal kennen­lernen müssen, weil sie sonst keinen Kontakt ­haben. Es wird Streit, Konflikte, Ausloten und Aushalten benötigen. Es wird genau das Gegenteil passieren, was oft kritisiert wird, die Kunst wird nicht verweichlicht, sie wird integer, und das braucht Kraft und Ausdauer. Behindert ist man nicht, behindert wird man!

QUELLEN: https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Themen/ EU-Webseitenrichtlinie/BGG-und-BITV-2-0/Die-neue-BITV-2-0/ die-neue-bitv-2-0_node.html https://barrierefreiposten.de/barrierefreiPosten.html https://www.grenzenlos-kultur.de/intro/ (https://www.burg-huelshoff.de/en/medien/mediathek/drostefestival-2020-believe-in-us/dorisdean-video-serie-jesus-criessuperstar-part-one-audiodeskription) www.dorisdean.de https://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/unheimliches-tal-uncanny-valley

Politik, Kunst- & Förderpraxis im Dialog

miriam michel

14.-16. September 2021 Radialsystem Berlin & Digital www.bundesforum.art

digitale erschließungen

Ich danke dorisdean, Philipp Hohmann, Wera Mahne, Stefan Kaegi und Linus König für die Inspirationen und Marcus Lobbes das Vertrauen.

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krumme rücken oder offene augen über plattformkapitalismus und inklusion JONAS ZIPF im gespräch mit JOSEPH VOGL

Es ist Zeit, darüber zu sprechen, wie wir aus der Krise herauskommen, nicht nur gesellschaftlich und kulturell, sondern auch materiell und wirtschaftlich. Wer wird zu den Verlierer*innen gehören, wer wird profitieren? Wer geht als Gewinner*in aus der Katastrophe hervor, und wer zahlt die Rechnungen? Jonas Zipf spricht zu diesen und anderen Fragen mit dem Germanisten und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl, Autor von Das Gespenst des Kapitals (2010), Der Souveränitätseffekt (2015) und Kapital und Ressentiment (2021): Sie sprechen über V-Effekte und das Inklusionsversprechen der Tech-Giganten, über Wetten und Werte, Informationen und Meinungen, die unhinterfragte Sozialisierung von Risiken sowie den rauschhaften Genuss des Profits

JONAS ZIPF: Als ich mit meiner Reihe von Corona-

Theatermann zusammen und denke an Bertolt Brecht und seinen Verfremdungs-Effekt, anstatt an einen volkswirt­ schaftlichen Effekt. In der aktuellen Situation erleben wir viele Institute und Ökonomen, die darauf spekulieren, dass die Wirtschaft, sobald alle Menschen geimpft sind, wieder in Schwung kommt wie zuvor. Es wird manchmal so getan, auch in der Fiskalpolitik, als würde man gerade im Moment eine Pausetaste drücken und danach in den alten Zustand zurückkommen können, also V einmal runter, einmal hoch. Für mich hat dieses V aber vor allem eine andere Konnota­ tion, nämlich Vertrauen. Ich erinnere mich dann unwillkür­ lich zurück an die Finanzkrise ab 2007 und an die damalige Aussage von Kanzlerin und Finanzminister: „Ihre Spargut­ haben sind sicher!“. Offensichtlich brachte diese Aussage eine enorme Vertrauensbildung. Eine der allerersten Aus­

Gesprächen im ersten Lockdown letztes Frühjahr begann,

sagen, zu Beginn von Corona, die mir noch ähnlich präsent

da gab es von Anfang an Begegnungen mit Menschen, die

ist, stammt vom bayrischen Ministerpräsidenten und

ich nur über ihr Wirken, ihr Schaffen kannte, also mit Perso­

­lautete: „Whatever it takes“. Es scheint, als wäre der Staat

nen, die ich bis heute persönlich noch gar nicht kennenler­

mit seinen Unterstützungsleistungen eine Art Bürge für

nen konnte. So auch heute. Gemessen daran, dass jetzt

volkswirtschaftliches Fortkommen. Es läuft eine immense

alle Welt den eigenen Rücken vor irgendwelchen Laptop-

Wette auf die Zukunft. Und da sich von ähnlichen Wetten

Bildschirmen ruiniert, waren diese Telefon-Gespräche re­

historisch viel lernen lässt, wundere ich mich über diese

gelrechte Blind Dates – Blind Dates, die es erlauben, sich

Logik.

auf das Denken und Sprechen der oder des anderen zu kon­ zentrieren. Eines der zentralen Themen der Corona-Krise ist Sprache. Zum Beispiel die Rhetorik der Ökonomie: Wie über Ökonomie gesprochen wird bzw. welches Vokabular verwendet wird, offenbart die dahinter liegende Psycho­

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logie. Wenn von V-Effekten die Rede ist, dann zucke ich als

JOSEPH VOGL: Ich bin sehr vorsichtig, was Prog­ nosen angeht. Es lohnt sich hinzusehen, was im Augenblick passiert, bereits flackert und sichtbar ist. All die Prinzipien, die man noch zur Finanz- und Eurokrise auf-


JONAS ZIPF:

Warum wehren sich dagegen nicht

mehr Menschen? Eine Mehrheit der Menschen, egal, ob in Nord oder Süd, profitiert davon nicht und dürfte doch eigentlich damit nicht einverstanden sein. Liegt es daran, dass es zu komplex ist? Das, was Sie im Gespenst des Kapitals schreiben, von einem schwarzen Schwan, von der ­Tulpensituation in Holland, das sind relativ komplexe, schwer zu durchschauende Vorgänge. Wovon Sie da spre­ chen, erinnert mich an den lateinischen Wortstamm der Worte Kredit und Kredibilität. Credo heißt ja direkt über­ setzt „Ich glaube“. Anscheinend geht es nicht mehr um

Auffällig ist, dass gerade in der Finanz­

Mathematik und Rationalität, sondern um Glauben und

politik jetzt ganz plötzlich Dinge gehen, die jahrelang nicht

Vertrauen. Die Wirtschaft hat sich vom Sparen, vom Ver­

gingen und bei denen lange der Zungenschlag einer aus­

mögen der Vergangenheit, zur Wette auf das spekulative

weichlosen Sachpolitik und Alternativlosigkeit vorherrschte.

Vermögen der Zukunft verlagert. Liegt es daran, dass sich

Die Rhetorik, das Wording, das Vokabular in diesem Politik­

nicht massive gesellschaftliche Gegenbewegungen for­

bereich sind geprägt von Mathematisierung, in der immer

mieren?

eins plus eins gleich zwei ist. Nur so kenne ich Haushalts­ debatten, insbesondere rund um uns Kulturschaffende, Debatten, die schon jetzt in neuem Ausmaß losgehen. ­Dabei sind es am Ende einfach politische Prioritäten, die anders gesetzt werden könnten. Selbst nach den Krisen der letzten Jahre, etwa der Finanzkrise ab 2007, wurden diese Systeme allerdings nicht verändert und in nachhal­ tigere Bahnen gelenkt. Das ist erschreckend und zeigt, dass hier im Grunde ständig neue Wetten auf die Zukunft gemacht werden. Darin liegt, wie mir scheint, ein grundle­ gender Mechanismus nicht nur der Finanzwirtschaft. Sie haben es gerade beschrieben – es ist ja nichts anderes als eine virtualisierte Wirtschaft, die Amazon, Google und Co. da treiben und vom realwirtschaftlichen Sektor, also sprich von wirklich greifbaren Produktionsvorgängen, komplett abgekoppelt haben.

JOSEPH VOGL: Dazu zwei Dinge. Zum ersten: Es ist jetzt nicht verwunderlich, sondern überaus konse-

JOSEPH VOGL: In Bezug auf den Plattformkapitalismus ließen sich drei Aspekte hervorheben. Der erste Aspekt ist tatsächlich der, da haben Sie völlig recht, dass sogenannte Lohnabhängige nicht von diesen ­Unternehmen profitieren, da es denen gelingt, Arbeitsplätze radikal zu externalisieren. Man kann ohne angestellte Chauffeure Taxis fahren lassen, ohne festes ­Personal Ferienwohnungen vermieten etc. Das ist das Prinzip der Plattformunternehmen: dass sie minimale Marginalkosten haben, minimale Transaktionskosten, minimale Personalkosten, minimale Fixkosten und damit verbundene Verpflichtungen. Ein Arbeitsmarkt pro­ fitiert nicht direkt von diesen Unternehmen. Im Gegenteil gerät das Verhältnis von Gewinnen und Marktwerten einerseits und Beschäftigungszahlen andererseits in ein geradezu perverses Verhältnis gegenüber der konventionellen, wenn man so will: produzierenden Industrie. Zweiter Punkt aber ist, dass die Unternehmen ja mit

krumme rücken oder offene augen

JONAS ZIPF:

quent, dass man die letzte Krise, also sowohl die Finanz­ krise als auch die Eurokrise, zur Befestigung des bestehenden Systems genutzt hat. Es wäre naiv zu glauben, man hätte die gute Gelegenheit verstreichen lassen. Die Doppelkrise 2007/2008 und 2010/2011 wurde genutzt, das bestehende Finanzsystem zu stärken, und es wurde gezeigt, dass im Zweifelsfall Bevölkerungen als Mindest­ reserven für Gläubiger zur Verfügung stehen. Das ist eine sehr konsequente Politik gewesen, über deren ­Effekte und Parameter man sich nicht wundern muss. Ein zweiter Punkt: Finanzindustrie, Finanzökonomie und Plattformunternehmen haben sich nicht von der Realwirtschaft losgelöst. Es ist dramatischer. Diese Industrien wirken ganz entscheidend in die Realwirtschaft hinein und diktieren die Bedingungen, die Bedingungen für Renditen, die Bedingungen für die Produktion, die Bedingungen für Arbeitskosten und Beschäftigungs­ verhältnisse etc. Es wurden ganz neue Maßstäbe für die Prozesse der Wertschöpfung gesetzt.

jonas zipf mit joseph vogl

gestellt und dann noch zusätzlich verschärft hat – Schuldenbremsen oder die schwarze Null etc. –, haben auch dazu geführt, dass in verschiedenen sogenannten Südländern u. a. Gesundheitssysteme geschoren und eingespart wurden. Das waren und sind keine technischen, keine ökonomischen Erfordernisse, sondern schlichtweg politische Prinzipien, die da aufgestellt und auch gegen bestimmte Länder wie Portugal, Spanien und Griechenland durchgesetzt wurden. Das heißt: Geldpolitik ist tatsächlich Politik im strengen Sinne und keine technokratische Größe. Als zweiten Punkt kann man, glaube ich, angesichts einer weltweiten Pandemie, angesichts weltweit steigender Todeszahlen, angesichts einer zusammenbrechenden Real-Ökonomie auch festhalten, dass die Aktienkurse gestiegen sind, und zwar auf ein Allzeithoch. Eine bestimmte Form der Ökonomie kann sich also tatsächlich von der Restwelt abkoppeln. Das ist in letzter Konsequenz natürlich die Finanzökonomie, die sich trotz Pandemie nicht über Geldmangel zu beklagen hat. Dritter wichtiger Punkt, den man in ökonomischer Hinsicht festhalten kann: Die Gewinner ­stehen längst fest. Die Gewinner mit astronomischen Profiten sind die Internetfirmen, die Internetplattformen. Da ist bereits eine neue ökonomische Realität ­geschaffen worden. Die wird bis auf Weiteres bestehen bleiben, auch mit anwachsenden politischen und regierungstechnischen Einflüssen. Ich spreche von Unter­ nehmen wie Google oder Amazon oder Facebook, die sich nun durch eine Ausweitung von Kontrollmacht und eine Aneignung von Infrastrukturen auszeichnen.

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niedrigschwelligen Angeboten ein hohes Maß an Inklusion produzieren. Die Verführung dieser Unternehmen besteht darin, dass man kostenlose Dienste, kostenlose Textchen, Bildchen und Filmchen, kostenlose Suchergeb­ nisse, kostenlose Apps etc. bekommt und damit, wie man sagt, Netzwerkeffekte erzeugt. Solche Gratifikationen werden mit der Aussicht auf soziale oder professionelle Nachteile verknüpft, die bei einem Ausstieg aus den Plattform-Communitys drohen könnten. Und dritter Punkt, der den Erfolg und damit auch den, wenn man so will, fehlenden Widerstand, erzeugt: Diese Unternehmen konkurrieren nicht mehr selbst auf den Märkten, sondern sind als Plattformenunternehmen tatsächlich Eigner von Infrastrukturen, die andere miteinander konkurrieren lassen. Man konkurriert nicht gegen Facebook, man konkurriert nicht gegen Amazon, sondern man konkurriert auf der Plattform von Amazon oder Facebook. Das sind die Punkte, die zeigen, dass es wenig realistisch wäre, einen manifesten Widerstand quer durch Bevölkerungen zu erwarten.

JONAS ZIPF:

Auch darin liegt der sanfte Zwang zur

Inklusion? Entweder stimme ich den „Terms and Conditi­ ons“ zu, oder ich kann die jeweilige App eben nicht nutzen. Wenn ich irgendwo einen einfachen Vorgang im digitalen Raum pragmatisch lösen will und mich nicht damit in der

JONAS ZIPF: Mir scheint, dass dieser Mechanismus

Tiefe beschäftigen kann oder will, etwa in Hinblick auf

der Informations- oder Geschäftspolitik der Social Media

Datenschutz, dann habe ich schon auf das Geschäfts­

vielleicht in abstrahierter Form übereinzubringen ist mit

modell eingezahlt.

dem Wirtschaftsmechanismus, der dahinter steckt: Ein

JOSEPH VOGL: Genau. Und ihre Rechte abge­

geben bzw. die Haftung selbst übernommen. In der Plattformindustrie – und das ist die radikale Differenz zu den bisherigen Wirtschaftsformen – haben wir es mit klar definierten rechtlichen Ausnahmen zu tun, mit Haftungsprivilegien. Solche Unternehmen sind für ­eingestellte Inhalte nicht verantwortlich. Seit den 1990er-Jahren hat man erstens die öffentlichen Netzwerke privatisiert und zweitens etwas geschaffen, was man Internet-Exzeptionalismus nennen muss. Sei es Facebook und die Verfolgung der Rohingya in Myanmar oder die Live-Übertragung von Massenmorden im Netz – die Netzbetreiber können allenfalls nachträglich zum Löschen von Inhalten überredet werden …

JONAS ZIPF:

Geschäftsmodell, das darauf basiert, dass Information und Meinung nicht mehr zu trennen sind. Dann ist Geld irgend­ wann nicht länger nur Informationsträger, sondern auch Meinungsträger. Ich meine und vertraue darauf, dass ein bestimmter Aktienkurs steigen wird, mache diese Wette. Das alles funktioniert letztlich über Vertrauen, über Kredi­ bilität, über Blasen, ohne dass ich weiß, ob es wirklich be­ lastbar sein wird. Das hat sich wirklich ins Unermessliche gesteigert. An diesem Punkt möchte ich auf einen weiteren Affekt zu sprechen kommen: Für die Allgemeinheit, für den Staat, der das ausbaden muss, momentan gleichsam im vorauseilenden Gehorsam in die Schulden geht, gibt es aus meiner Sicht so etwas wie einen kollektiven Affekt, der mit dem eingangs erwähnten, ersehnten V-Effekt viel zu tun hat. Es war der Wirtschaftspsychologe Daniel Kahneman, der herausgearbeitet hat, dass der Aktienmarkt oft funk­

… ein altes kapitalismuskritisches

tioniert wie am Roulette-Tisch: Wenn ich an einer Stelle

Diktum, das hier aber zu passen scheint: Die Verluste

verliere, dann setze ich den doppelten Betrag auf genau

­sozialisieren, die Gewinne privatisieren …

die Zahl, mit der ich verloren habe, um meine Ve­rluste wie­

JOSEPH VOGL: … zumindest lösen sich die Affekte

in radikaler Weise voneinander. Auf der einen Seite das falsche Versprechen einer vorgebahnten Inklusion, auf der anderen die endgültige Exklusion einiger weniger Profiteure. Ihre Affekte haben sich losgelöst, zirkulieren, sind Treibsätze für bestimmte soziale, ökonomische ­Systeme. So hatte Karl Marx etwa die „abstrakte Ge-

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nusssucht“ verstanden: einen Bereicherungstrieb, der sich nicht mit einer episodischen Befriedigung hier oder dort stillen lässt und parallel zur Kapitalakkumulation als grenzenloses Verlangen funktioniert. Und seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat man einen ­neuen Sozialaffekt beobachtet: das Ressentiment. ­Kierkegaard hat das als „negativ-einendes Prinzip“, als „negative Einheit der negativen Gegenseitigkeit der I­ ndividuen“ gefasst –, und dies lässt sich mit dem Wettbewerbslärm von Marktgesellschaften ebenso kombinie­ren wie mit den sozialen Schismen, die auf den heuti­gen Meinungsmärkten vertrieben werden. Das Ressenti­ment wäre die Moral der Gewinnler und Profitler, ein entsolidarisierender Affekt, der die Maschinerie aber in Betrieb hält. Das greift sinnbildlich ineinander. Der Plattformkapitalismus scheidet die Gesellschaft: Einerseits die Erzeugung von Partikulargesellschaften, die Erzeugung von Partikularitäten, die Erzeugung, wenn man so will, von sozialen und kognitiven Monaden – das Geschäftsmodell der sogenannten sozialen Medien. Andererseits die Allgemeinheit dessen, was man „Infopinion“ nennen könnte, diese Mischung aus Information und Meinung, die zum Grundwasser öffentlicher Verständigung geworden ist.

der auszugleichen. Diese Psychologie hat sich möglicher­ weise rückübertragen auf ganze Staaten oder Staaten­ verbünde. Wir hoffen darauf – jetzt komme ich auf den V-Effekt zurück –, dass wir aus der Krise heraus wieder Wachstum generieren, damit wir alle öffentlichen Funktio­ nen am Laufen halten. Wir setzen immerzu auf denselben Mechanismus, setzen immer mehr vom selben aufs Spiel. Das ist genau der Affekt, den Kahneman beschreibt. Dabei


ist es vollkommen irrational, auch aus politischer Sicht, in

Kahneman so schön herausarbeitet –, dann wird der Ver­

der aktuellen Situation nicht über Alternativen nachzu­

lust ja auch immer größer, nicht nur der Gewinn. Dann kann

denken, sondern im vollen Wissen, dass das alte System

ich vielleicht die Beträge der Finanzkrise ab 2007 noch

nicht fair und gerecht ist, dieselben Mechanismen mit

­auffangen mit immer neuen Wetten auf die Zukunft. Ich

­öffentlichem Geld immer weiter zu verstärken.

spreche ja jetzt immerhin von öffentlichen Haushalten –

JONAS ZIPF: Kahneman hat ja auch nicht die ge­ samten Systeme einer Börse und eines Casinos miteinan­ der verglichen, sondern nur den isolierten psychologischen Mechanismus des Verlierens und des Gewinnens. Irrational wird es, da würde ich jetzt noch mal einhaken, möglicher­ weise, sobald die Berechnung, dass der Verlust, also wenn es schiefgeht, von der Allgemeinheit noch getragen wer­ den kann, irgendwann nicht mehr aufgeht. Also wenn ich entweder die Zitrone nicht weiter ausquetschen kann, weil ich keine weiteren Externalisierungseffekte hinbekomme, also sprich trotz Ummantelung einer Inklusion, die Sie vor­ her trefflich beschrieben haben, einfach nicht mehr aus der Volkswirtschaft an Geld herausbekomme oder wenn politi­ sche Mehrheiten vielleicht dann doch irgendwann kippen. Wenn die Beträge immer höher werden – das ist ja das, was

lungsunfähig werden, es können enorme Probleme entste­ hen. Sie haben darüber gesprochen, welche Einschnitte die südeuropäischen Staaten in der Konsequenz der Fiskal­ politik der europäischen Institutionen erleiden mussten. Syriza kam, als die sozialen Systeme zusammenbrachen, Sparguthaben geschröpft wurden, Altersheime nicht mehr bedient wurden etc. – Sie haben das Beispiel ja vorhin an­ geführt. Also von daher wird die beschriebene Dynamik auch im Sinne der von ihnen jetzt attestierten rationalen Stützung des Reichtums und der Gewinner irgendwann irrational, weil ich einfach den Bogen überziehen kann mit dieser Logik des immer größeren Gewinns.

JOSEPH VOGL: Vor langer Zeit, nach dem Zweiten Weltkrieg, war die Sorge groß, auf welche Weise man einen entfesselten Kapitalismus samt seinen Katastrophen – wie in den 20er-Jahren – einhegen könnte. Deswegen hat man sich für eine gebremste Variante mit sozialstaatlichen Strukturen, auch in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien, eingesetzt. In den 1970er-Jahren, spätestens Anfang der 80er, musste man feststellen, dass dieses System wesentlich mehr Elend verträgt, als man dachte, und dass es profitabel ist, mehr Elend zu erzeugen, dass es profitabel ist, Einkommen von Lohnabhängigen zu Kapitalvermögen ­umzuverteilen. Auch im Augenblick ist dieser Prozess an kein Ende gelangt. Sie haben zwar völlig recht: Jede ­dieser letzten Krisen, in denen das Finanzsystem sozusagen anrüchig wurde, jede dieser Krisen ist eine Akkumulationskrise gewesen. Zu viel Geld war im Umlauf und suchte nach neuen Investitionsmöglichkeiten, vor allem auf Kapital- und Immobilienmärkten. Aber spätestens nach den Crashs von 2000 und 2008 und mit dem Entstehen der Internetkonzerne ist eine besondere ökonomische Brache erschlossen worden, die Ressource der Information. Wer immer im Netz herumspaziert, produziert Datenrohstoff und arbeitet an der Extraktion von Mehrwert durch die Plattformunternehmen, ob er will oder nicht. Mit der Bewirtschaftung von Information hat der Kapitalismus eine jüngste Metamorphose durch­ gemacht, und am Horizont steht schon der nächste Schritt: dass man neben allen möglichen Infrastrukturen auch noch das Währungssystem ganz und gar privatisieren könnte. Dieser Kapitalismus wird nicht an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen. So wenig er mit einem Mal erschaffen wurde, so wenig lässt er sich irgendwie und mit einem Streich abschaffen. Er ist kein homogenes System, sondern ein Gefüge, das überall leckt, ächzt, Tümpel bildet, Schwachstellen und Widerstände produziert. Somit kann man, wenn man nur will,

krumme rücken oder offene augen

logie nicht hinhaut. Psychologie erklärt nichts. Allenfalls müsste man die Psychologie selbst als erklärungsbedürftig ansehen. In einem Punkt gebe ich Ihnen aber Recht. Seit den 1970er-Jahren herrscht auf den Finanzmärkten ein Informationsstandard: Information über Geld ist wichtiger geworden als Geld selbst. So werden etwa Preise für Finanzprodukte aller Art als komprimierte Meinungen über mögliche Marktchancen, über Wert­ entwicklungen begriffen, somit als Informationen da­ rüber, welche Gewinnerwartungen man mit bestimmten Assets verknüpft. Unter diesen Bedingungen können Kapitalmärkte als signalverarbeitende Systeme installiert werden, als ein Finanzautomat, in dem Informa­ tionen Preise, Preise Kaufentscheidungen und diese ­wiederum Informationen, Preise und Entscheidungen generieren. Finanzmärkte wären demnach prototypische Meinungsmärkte, wie das bereits ein Börsentheoretiker des 17. Jahrhunderts formulierte: An den Börsen sind die Erwartungen von Tatsachen wichtiger als die Tatsachen selbst. Ähnlich bei John Maynard Keynes: Börsenmärkte funktionieren wie Schönheitswettbewerbe, bei denen es darum geht, die Meinungen anderer und die Meinungen über Meinungen vorwegzunehmen. Umgekehrt arbeiten die Algorithmen der Informations- und Meinungsmärkte– auf Suchmaschinen, Plattformen – wiederum nach ökonomischen Bewertungslogiken, Datenbroker also hier wie dort. Die Leute verhalten sich nicht irrational, sondern sie verhalten sich durch und durch rational, auch wenn das zuweilen irrationale Effekte ­produziert. Finanzmärkte funktionieren eben anders als Glücksspiele oder Pferderennen: Auf solchen Märkten kann man, wie Schumpeter einmal sagte, Pferde durch Pferdewetten voranbringen.

natürlich gehen Staaten nicht pleite, aber sie können zah­

jonas zipf mit joseph vogl

JOSEPH VOGL: Ich befürchte, dass diese Psycho­

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hier und dort Hebel ansetzen, um Ströme umzuleiten und Funktionsweisen zu ändern, das Spektrum reicht von der Steuerpolitik bis zur Regulierung der Informa­ tionsindustrie.

JONAS ZIPF:

Damit kommen wir zurück auf den

von Ihnen herausgearbeiteten Kernpunkt der neuen, von Marx eben nicht ahnbaren, inklusiven Qualität der Platt­ formökonomie, die den Kapitalismus letztlich in einer ­neuen Dimension stabilisieren hilft. Das merken wir KulturLeute in der Corona-Zeit mehr denn je. Es ist dies ja eine Zeit des Streamens und der Social Media, des Bestellens von Produkten über das Netz. Die realen physischen ­Hochpräsenz-Angebote und -begegnungen kommen ­möglicherweise nicht so v-mäßig wieder, wie es jetzt so oft beschworen wird. Ob das die Innenstädte sind mit dem letzten verbliebenen inhabergeführten Einzelhandel, der gerade den Bach runtergeht, oder wir als Kulturakteure,

JONAS ZIPF:

die große Zukunftsängste haben müssen, weil wir nicht

Realität, in Abweichung von dem, was Olaf Scholz am

wissen, ob die Nutzer*innen von Netflix und Co. zu uns

­Anfang neue Normalität genannt hat. Da ist eine gewisse

­zurück ins Konzerthaus und Museum kommen. Zu Beginn

Sehnsucht entstanden an vielen Stellen, das ist klar. Aber

der Corona-Zeit habe ich noch von der Krise als Chance

das ist natürlich ein sehr diffuser Moment, und wenn wir

gesprochen, als wäre diese Krise ein Moment, in den man

noch mal auf diesen Generalpausen-Charakter zurück­

eintaucht, innehält und mal kurz zu sich kommt, reflek­

gehen, im besten Fall eine später formbare, erst mal offene

tiert, was man danach wirklich verändern könnte. Aber wir

Situation. Die lebt natürlich davon, dass sich alle darauf

merken doch derzeit, dass einige wenige nicht innegehalten

einlassen. Vielleicht verbleiben wir dafür aber in unserer

haben, sondern aus der Krise ihre Lehren ziehen und extrem

Isolation zu zuständlich, vielleicht sind wir wirklich in den

profitieren. Jetzt färbt sich der Horizont schon wesentlich

inneren Räumen in unseren privaten Wohnungen, im

dystopischer.

Homeoffice, vor Zoom in einem krummen Zustand, auch

JOSEPH VOGL: Ich glaube, die Situation vom

Frühjahr letzten Jahres war tatsächlich eine andere als heute. Damals hatte man sich auf eine Pause eingestellt, Atem geholt, vielleicht sogar die Entschleunigung des Alltagsbetriebs ein wenig gemocht. Der Ausnahme-

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zustand hat auch ein eigenes Zeitgefühl mit sich gebracht – ein wenig durchhalten, dann ist es vorbei. Diese Situation hat sich definitiv geändert. Die Krise ist stationär geworden, eine weltweite Katastrophe, keine Krise mehr. Da verändert sich auch die Zeitwahrnehmung, und das könnte an einem Punkt durchaus Erfreuliches mit sich bringen, trotz aller Düsternis. Mir scheint, man sehnt nun nicht mehr so innig die alte Normalität zurück, sondern womöglich eine veränderte Welt, vielleicht sogar mit neuen Gewohnheiten, mit sozialen, ­ökonomischen und politischen Konsequenzen aus den vergangenen Monaten. Bei allen Debatten über pan­ demische Gefahren und Maßnahmen, samt spitzer ­Polemiken oder Bösartigkeiten, hat sich doch eine Art Gravitationszentrum herausgestellt, nämlich ein Kampf um die Fragen von Gemeinwohl und Gemeingüter. Das Stichwort wäre also eine neue

körperlich, angekommen. Zwar hoffe auch ich auf das ­Momentum eines Gemeinwohls – wir könnten jetzt auch von Allmende oder Commons sprechen – aber die Frage ist doch, ob ein breites Wir das gestaltbar bekommt, oder ob einige wenige die Pfade der Transformation für alle bestim­ men. Das wird ein weiter Weg.


NOTATION_SFBODIES 32‘20~



NOTATION_SFBODIES 33‘20~


marc sinan

parasiten ____________ Oğlum, weißt du, warum die Flüsse Kanlı heißen?, hört er die Stimme der Anneanne. Ich weiß es nicht. Er liegt in einem Raum aus gleissendem Licht, weich gebettet auf milchgläsernem Boden vermutet er, denn er kann weder Boden erkennen noch Decke oder Wände. Wenn das Ende des Universums unendliche Dunkelheit verheißt, so muss er sich in seinem Zentrum befinden, denkt er mühevoll, denn ein schwerer Schmerz blockiert die Verbindung zwischen ihm und seinem Bewusstsein. Es befindet sich außerhalb seines Körpers und schwebt über ihm. Der Schmerz ist Traurigkeit, wie er sie nie zuvor empfunden hat. Er versucht, sich zu erinnern, aber kein Verlust wog je so schwer in seiner Brust. Kein Grab. Kein Abschied. Er liegt in vollkommener Stille. Er schließt die Augen, doch das Licht verliert nicht an Kraft. Es verfärbt sich zur hellroten Farbe seiner Lider, die, mit feinen roten Äderchen durchzogen, seine Welt begrenzen und Illusionen auf seine Netzhaut werfen. Feine Flüsse aus pulsierendem Blut. Hör zu, Oğlum, weißt du, warum dein Herz so schwer ist? Ich weiß es nicht. Ka wacht erst auf, als Aurora von der Schule zurückkehrt. Sie klopft eindringlich an die Tür, und er wird kaum wach. Moment, ich komme. Im Bademantel ist er auf dem Sofa eingeschlafen, seine Fersen sind entlang der Achillessehne blutig gescheuert vom nächtlichen Lauf. Genauso seine Brustwarzen. Sie haben zwei große, nasse, braune Aquarellflecke von innen auf den Mantel gemalt. Mit schweren Beinen öffnet er die Tür. Der nächtliche Lauf hatte ihn psychisch und physisch an seine Grenzen gebracht. Aurora strahlt wie jeden Tag, wenn der Schulbus sie zu Hause absetzt. Die Möwen hinter ihr am Bosporus übertönen frühlingshaft den Verkehrslärm der schmalen Straße, die sich hinter der Mauer zwischen den Garten und das Wasser drängt. Bist du hungrig? Warum bist du nackt, Papa? Hab’ grade geduscht, möchtest du Salat und Fisch essen? Wir haben Lüfer im Kühlschrank, ich muss ihn uns nur in der Pfanne braten. Aurora verzieht das Gesicht. Hab in der Schule gegessen.

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Möchtest du was anderes? Ich könnte Şakşuka machen. Oder Fannekuchen? Ich hab sooo Hunger auf Fannekuchen, strahlt Aurora. Als sie wenig später am Tisch sitzen, Ka Lüfer mit Salat isst und Aurora Pfannkuchen, fragt er sie nach ihrem Schultag. Sprichst du mit Arsen Türkisch? Sie schüttelt den Kopf. Es ist mir wichtig, Aurora. Türkisch ist die Sprache meiner Mutter. Arsen ist das einzige türkische Kind in ihrer Klasse. Nur ein einziger türkischer Junge besucht die dritte Klasse der Deutschen Schule in Istanbul. Alle anderen Kinder sind die Söhne und Töchter von Diplomaten oder deutschen Angestellten internationaler Unternehmen. Ka hatte die Hoffnung gehabt, Aurora würde während ihres gemeinsamen Aufenthalts fließend Türkisch lernen, doch die Schule bietet Türkisch nur eine Stunde die Woche als Wahlfach an. Die anderen Kinder sprechen noch schlechter als Aurora. Die türkische Sprache hat für die Kinder keinen Wert. Als Ka zur Schule ging, hatte seine Mutter alles dafür getan, dass er die deutsche Sprache perfekt beherrschte. Er sollte nicht das Stigma des Ausländerkindes abbekommen. Seine Cousins und seine Cousine durchlebten in Deutschland verheerende Schulkarrieren. Mit Mühe quälten sie sich durch die Hauptschule. Seine Mutter, Auroras Babaanne, Nur, wünschte nichts mehr, als dass ihm das erspart bliebe. Also hörte sie auf, Türkisch mit ihm zu sprechen, und sobald er in Deutsch einmal keine Eins schrieb, was selten genug vorkam, traktierte sie ihn mit Diktaten aus den Büchern, die er gerade las. Als er so alt war wie Aurora jetzt, als Drittklässler, trug ihm ein unkonzentrierter Vormittag, an dem er während des Diktats zwei-, dreimal gedankenverloren auf die Quecksilbersäule im Schatten vor dem Fenster starrte, eine Drei ein. In kindlicher Naivität hatte er gehofft, dass, wenn er nur intensiv genug schaue, das Thermometer auf 27 Grad steigen würde und sie hitzefrei bekämen. Als der Test vorbei war, gab er ihn ab und realisierte selbst nicht, dass der Text, den er aufgeschrieben hatte, fehlerhaft war. Es half nichts. Die Lehrerin hatte ihm eine Drei gegeben, da sein Text zwar makellos korrekt geschrieben war, aber einfach einige Sätze unvollständig waren oder komplett fehlten. Als er nach Hause kam, tobte Nur vor Ärger, der in Wahrheit tosende Angst war.

Zehn ganze Buchseiten aus dem Graf von Monte Christo diktierte sie ihm an diesem Nachmittag in der stickigen, sommerlichen Hitze unter der orange leuchtenden Markise. Er machte Fehler. „Sir“ schrieb er nicht „Sire“ wie im Roman. Usurpator ohne „r“ vor dem „p“ etc, etc. Der Tag war gelaufen.

marc sinan

Sie warf mit boshaften Worthülsen um sich, die ihn unter Druck setzen und doch motivieren sollten. Ihr eigenes Deutsch war makellos. Zwar war ihre Stimme vom vielen Rauchen tiefer als jede Stimme einer Deutschen, die Ka je kennengelernt hatte, aber am Telefon erkannte niemand, wirklich niemand, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache war.

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Stinkendfaul bist du. Ein Parasit. Zu nichts nütze.

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Erst am Abend, als Ka mit Kopfschmerzen von den vielen Tränen, die er geweint hatte, schon fast eingeschlafen war, kam Nur an sein Bett. Du musst besser sein als die anderen, Ka. Du bist intelligenter als die. Aber die Tür zu ihrer Welt wird dir immer verschlossen bleiben, wenn du nicht besser bist als sie. Sie bleibt verschlossen, verstehst du? Da ist kein Platz für dich, brüllte sie ihn wieder an. Weil deine Mutter Ausländerin ist, Ka. Deshalb, flüsterte sie, während sie ihn schluchzend in ihren Armen wog. Und sie uns hassen, obwohl wir all die Arbeit machen, die sie nie tun wollten. Schau sie dir an, die anderen Frauen, die hier wohnen. Sie tratschen über uns an den Gartenzäunen und gehen wochentags Tennis spielen, während wir die Drecksarbeit machen. Die machen sich ein schönes Leben, die Deutschen. Aber du zeigst es ihnen. Unser Leben ist ein Kampf. Es waren der Ehrgeiz seiner Mutter, aber noch mehr, das Glück seiner blonden Locken, die Ka die Tür öffneten zur Welt der Deutschen, die seinen Cousins für immer verschlossen blieb. Nicht, weil sie auch nur einen Hauch weniger intelligent waren, als er, nein, es waren ihre schwarzen Augen und die dunklen Haare und ihre ­verdammten unaussprechlichen Namen, die sie zum Scheitern verurteilten. Ka verachtete sie dafür. Für ihn waren sie wie seine Hypothek, ein schlechtes Omen, ein Warnung, dass er es selber nie schaffen könne, weil alle in seiner Familie Gescheiterte waren. Alle, bis auf Nur. Deshalb mied er sie und pflegte schon als Teenager bald keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ebenso sehr verachtete er Menschen aus Migrantenfamilien, die sich aktivistisch engagierten. Kanake als Karriereoption, nannte er das hinter nur halb vorgehaltener Hand. Er hegte immer Missgunst, wenn ein Türke oder etwa eine Iranerin Erfolg hatten und sich doch über ihre Benachteiligung beschwerten. Die Forderungen von People of Color und aus der Schwulen-, Lesben- und Queerszene empfand er als maßlos überzogen, fehl am Platz etc. Sie erinnerten ihn daran, dass er keinen Ort hatte. Mit Sophia, ihrer Nachbarin auf Zeit hier in der Kulturakademie, die ihre Bisexualität und ihre Migrationsgeschichte aus Kasachstan kultivierte, hatte er darüber Auseinandersetzungen. Erst heute Morgen, als er sich ausgesperrt hatte und sie wecken musste, weil sie den zweiten Schlüssel zu seiner Wohnung hatte, waren sie sich wieder in die Haare gekommen. Er war verschwitzt von seinem viel zu langen nächtlichen Lauf, und genau das schien sie erregt zu haben. Nach dem sie miteinander geschlafen hatten, begann sie zu monologisieren. Ihr seid faschistoid in euren Forderungen. Das läuft auf umgekehrten Rassismus hinaus, erwiderte Ka. Er wusste um die Schlichtheit dieses falschen Arguments. Sophia genderte korrekt und schloss sich selbstverständlich jeder wichtigen Kampagne gegen übergriffige Theaterintendanten und zu Rassismus- und Geschlechtergerechtigkeit an. Die merkwürdig unwürdige Geschichte, die er so sorgfältig vor Aurora zu verbergen versucht hatte, war geprägt von Sex, nach dem er süchtig war, der aber für Sophia nie befriedigend zu sein schien. Er fühlte sich wie ein erbärmlicher Liebhaber, wie ein Verräter, aber der Drang, die Sucht, es noch mal und noch mal zu versuchen, waren stärker als die Scham über seinen ungeliebten, noch immer zu behaarten, zu schwammigen Körper und sein schlechtes Gewissen gegenüber Auroras Mutter.

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Sophia rauchte an diesem frühen Morgen, bevor er mit spitzen Schritten zurück in seine Wohnung geschlichen war. Sie war nackt gewesen, bis auf weiße Tennissocken mit NikeLogo, und ging vor dem Fenster auf und ab.

Ich meine, selbst wenn ich dir rhetorisch nicht so überlegen wäre, ich meine klimper-klimper/ denk-denk, deine Welt/meine Welt: Das Wichtigste ist, dass du aufhörst, allen das vorzuschreiben, was nur für einige lebenswert ist, und ebenso, dass du es unterlässt, allen das vorzuschreiben, was für einige nicht lebenswert ist, comprendes? Dreihunderttausend Jahre Patriarchat und zweitausend Jahre europäische Kolonialgeschichte werden wir nicht einfach so stehen lassen. Ich meine, wir werden mit dem Finger auf die Täter zeigen und sagen: du, du und du: Ihr seid dran, weil ihr seid Rassist:innen, ihr seid weiße alte Männer. Eure Zeit ist abgelaufen. Wir bestimmen jetzt die Regeln. Wir werden euch nicht töten, aber wir werden euch verletzen. In letzter Instanz hilft nur die Militanz, tanz, tanz, tanz mit mir, Schätzchen. Sie drehte eine elegante Pirouette. Sicher ehrgeizige Mutter und Ballettschule, dachte Ka. Fasziniert musterte er das Haar, das Sophias Vulva bedeckte. Es wuchs in einem ungestümen, schmalen Streifen bis hoch zum Bauchnabel. Ihr Körper wirkte schmal und hart wie der Ast einer Akazie. Ka bewunderte ihre Radikalität. Sie verunsicherte ihn, aber letztlich war diese Widerständigkeit der Quell seiner Begierde. Doch der mintgrüne Kaugummi, den sie so kraftvoll gekaut hatte, als sie mit ihm schlief, klebte nun schmutzig unter ihrer rechten Ferse. Nach dem Essen ist Ka todmüde, auch wenn er bereits den ganzen Tag verschlafen hatte. Er weiß, Aurora sieht zu viel fern, aber er weiß sich nicht anders zu helfen. Wenigstens türkisches Fernsehen oder Filmkunst, sagt er sich. Auf YouTube hat er diesen Film entdeckt, Die Mühle und das Kreuz, die Verfilmung eines Gemäldes von Pieter Bruegel. Er findet das eine bizarre und faszinierende Idee. Lass uns das zusammen anschauen, Aurora, was denkst du? Bruegel war vielleicht der größte Maler seiner Zeit … Ka streamt das Bild von seinem Handy auf den großen Fernsehbildschirm. Er liegt auf dem Sofa, Aurora sitzt auf der Kante und schmiegt sich an ihn. Nie würde sie ihrem Vater zu verstehen geben, dass sie lieber Descendants gucken würde oder irgendetwas anderes Kind­ gerechtes, denn sie weiß, wie stolz er darauf ist, dass sie diese merkwürdigen Filme mit ihm schaut. Sie fühlt sich erwachsen und spürt sich, wenn sie sich anstrengt, ­Geschichten zu verfolgen, die sie kaum zu verstehen in der Lage ist. Mit gerecktem Hals, eingezogenem Kinn und aufgerissenen Augen verfolgt sie die Bilder auf dem Bildschirm. Es vergehen nur Sekunden, bis Ka tief schläft. Warum fürchtest du den Tod, Ka?, fragt seine Anneanne. Ka weint im Traum. Sein Körper bebt. Das Licht ist noch strahlender geworden als zuvor. Seine Augen brennen. Hör zu, Oğlum. Du willst Gerechtigkeit.

ja m or nc assi zn ia pn f m i t s yplakrea sviatne nd y k u n d f r i e d r i c h v o n b o r r i e s

Sie inhalierte kleine schnelle Züge, die sie nie sehr tief einatmete. Wahrscheinlich raucht sie so, um ihre Lungenkapillare nicht zu schädigen, dachte Ka. Ihre kurzen, lockigen Haare federten bei jedem ihrer kurzen Schritte.

design und desaster. vorrede zur transformation des theaters

Sieh mal, Ka, es ist eigentlich ganz einfach. Du kennst die Themen, zu denen ich arbeite. Postkolonialismus, nicht-binäre Identität im Speziellen, Gender im Allgemeinen.

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Du willst, dass die Rechnung beglichen wird, für alles Unrecht, das mir widerfahren ist. Du willst zu den Waffen greifen, und Unrecht mit Recht begleichen, und weißt doch, dass das Pendel stets in zwei Richtungen schlägt. Der Stillstand am Wendepunkt ist die Illusion von Frieden. Dann geht alles rasend schnell. Es ist dein Schmerz, den du durchleben musst. Deine Klage. Deine Wut. Deine Rache. Dein Trost. Deine Vergebung. Auch wenn dein Geist verstehen kann, dass sich Heilung nicht in der Vernichtung des anderen findet, muss deine Seele es selbst erfahren. Du musst den ganzen Weg gehen. Gehe ihn behutsam. Oğlum, weißt du, warum die Flüsse Kanlı heißen? Sie waren rot, vom Blut der Armenier.

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Willst du wieder Flüsse aus Blut? Nein, Ka. Wir sind besser als das. Singe Lieder, erzähle Geschichten, erfinde Rituale, wüte, räche, quäle, zerstöre, verletze, töte in ihnen; lass ab und vergebe in der Wirklichkeit. Und dann verbrenne deine Angst. Deine Seele braucht Heilung. Sie liegt nicht in der Tat. Vertraue mir: Das Licht ist ein guter Ort. Im Schlaf sagt Ka, ohne zu zögern:

Zu spät erkennt Ka, dass in Wirklichkeit nicht sein Körper vor Tränen bebt, sondern Auroras. Aber es ist zu spät, als er ihre Augen geschwind mit seiner Hand verschließt. Ein Tropfen schwarzen, heißen Pechs war längst in die Mitte ihres Herzens gefallen.

Auszug aus dem Roman Gleissendes Licht [2022]

marc sinan

Zu langsam erwacht Ka. Bevor er reagieren kann, um mit der Hand Auroras Augen zu schließen, verschmilzt sein bleierner Traum mit der Wirklichkeit des Films. Sieben Reiter in blutroter Kleidung treiben einen Bauern mit Lanzen vor sich her. Die schlagen ihn bewusstlos und binden seinen leblosen Körper auf ein hölzernes Wagenrad. Das Wagenrad befestigen sie an einem dürren, nackten Baumstamm einer langen, geschälten Robinie, den sie mit Hilfe ihrer Pferde und langen Seilen senkrecht aufstellen. In schwindelnder Höhe liegt der bewusstlose Bauer auf der Spitze des Todesbaums und verwest. Krähen fressen seine Augen.

parasiten

Nein, Anneanne, ich kann nicht anders. In deinem Namen werde ich den Präsidenten töten. Es liegt in meiner Natur.

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NOTATION_SFBODIES 49‘00~



von heute auf morgen was bedeutet diversität und wie setzen wir sie im theater um? JULIANE ZELLNER im Gespräch mit LISA SCHEIBNER und KATE BREHME

Ableismus, Rassismus, Klassismus, Chauvinismus – der Weg hin zu einem gewaltfreien Kulturbetrieb scheint trotz des bereits jahrzehntelangen Ringens um Sensibilisierung und Emanzipation noch immer weit. Doch die aktuellen identitätspolitischen Diskussionen beweisen einmal mehr: Er ist unausweichlich und muss gegangen werden. Einen ersten Anfang machen Angebote wie das der Konzeptions- und Beratungsstelle Diversity Arts Culture in Berlin. Die Beratungsstelle wurde 2017 gegründet und wird durch die Berliner Senatsverwaltung ­gefördert. Im Interview spricht Herausgeberin Juliane Zellner mit Lisa Scheibner, Referentin für Sensibilisierung und Antidiskriminierung, und Kate Brehme, Referentin für Disability in Kunst und Kultur bei Diversity Arts Culture über Diversität und die notwendige Veränderung des Kulturbetriebs.

LISA SCHEIBNER: Da stimme ich Kate zu. Wichtig ist vor allem das Zuhören, das Hören von marginalisierten Positionen. Ausschlaggebend ist, dass die Maßnahmen mit dem in Verbindung stehen, was marginalisierte Kulturschaffende wollen und kritisieren und dass diese an der Konzeption beteiligt sind. In unserem Team versammeln wir Menschen mit sehr unterschiedlichen Positionierungen. Unsere Arbeit baut auf Erfahrungen vieler verschiedener Selbstorganisationen und Kulturschaffender mit Marginalisierungserfahrungen auf – Erfahrungen, die diese mit uns teilen. Unser Projekt ist ein Gemeinschaftsprojekt.

JZ: Zunächst einmal: Wir sind hier drei weiße Frauen,

JZ:

können/dürfen wir überhaupt über Diversität sprechen?

besonders vertreten?

KATE BREHME: Ja natürlich. Frauen sind im Kunst- und Kulturbereich marginalisiert, werden zum ­Beispiel nicht gleich bezahlt, werden immer wieder von Gewalt getroffen. Ich identifiziere mich als Frau mit Behinderung. Ich bin auch Mutter. Ich würde mich also als intersektional Betroffene bezeichnen. Jedoch muss man nicht selbst von Diskriminierung betroffen sein, um da­ rüber sprechen zu können. Viel wichtiger ist es zuzuhören, was unsere Kolleg*innen sagen, was die Communitys und

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verschiedenen Allies sagen, und dann Verantwortung zu übernehmen. Wir sind alle verantwortlich, egal, über welche Art von Diskriminierung wir sprechen.

Welche Diskriminierungen sind im Kulturbetrieb

LISA SCHEIBNER: Unser Fokus bei Diversity Arts Culture liegt auf Rassismus, Ableismus und Klassismus. Wir haben diese drei Diskriminierungen als sehr große Hürden im Kulturbetrieb identifiziert. Das heißt nicht, dass andere Diskriminierungsformen weniger wichtig sind. KATE BREHME: Unserer Erfahrung nach – aus den Erfahrungen mit den Communitys und aus den Be-


ratungen – sind Barrieren intersektional. Ein Mensch ­gehört nicht einer Kategorie an. Oftmals treffen mehrere Formen der Diskriminierungen zu, also beispielsweise Rassismus und Klassismus. Auch wenn wir nicht auf alle Aspekte einzeln schauen können, nehmen wir doch verschiedene in den Blick. Es ist wichtig zu erkennen: Was marginalisiert jemanden im Kunst- und Kulturbereich? Wo stehen die Barrieren?

JZ:

Als Herausgeber*innen haben wir über die Begriff­

lichkeiten lange laut nachgedacht und kontrovers disku­ tiert: Nach der über zwei Jahrzehnte propagierten „Integ­ ration“ prägen seit einigen Jahren vor allem die Begriffe

lichkeiten sprechen. Beginnen wir mit Diversity, das steckt

der Diversität und Inklusion den Diskurs. Da wir als Heraus­

bei euch bereits im Namen: Diversity Arts Culture. „Diver­

geber*innen des vorliegenden Arbeitsbuchs von Transfor­

sity“ ploppt seit einigen Jahren in den unterschiedlichsten

mationen gesellschaftlicher Diskurse und Handlungsfelder

Bereichen auf: Ökonomen wie Richard Florida verstehen

ausgehen, haben wir die Überschrift der Inklusion als

Diversität als wirtschaftstreibenden Standortfaktor; große

zu erreichendes Stadium und nicht das der Diversität

Unternehmen richten eigene Diversity-Abteilungen ein, da

als ­Zustandsbeschreibung gewählt. Welchen der beiden

Forschungen zeigen, dass sich dadurch ihr Erfolg steigern

bevor­zugt ihr?

ließe. Was bedeutet dieser Begriff für euch?

LISA SCHEIBNER: Wir verwenden den Begriff

Diversität diskriminierungskritisch. Um Diversitätsentwicklung zu machen, muss Antidiskriminierungsarbeit stattfinden, d. h. es muss der Blick darauf gerichtet werden, wer durch die bestehenden Strukturen im ­Kulturbereich ausgeschlossen und benachteiligt wird. Ein neoliberaler Begriff von Diversität führt nicht dazu, dass Arbeitsbedingungen für marginalisierte Kulturschaffende verbessert werden und Diskriminierung ­abgebaut wird. Leider ist die Diskussion häufig sehr schwammig, daher muss man sie immer wieder klar gestalten: Z. B. fällt das Thema Behinderung oft aus dem Überbegriff Diversität raus, da Diversität oft als Synonym für kulturelle Vielfalt, verstanden im Kontext der Herkunft, verwendet wird. Wir beziehen uns des­ wegen auf die Diskriminierungsdimension, die das ­allgemeine Gleichbehandlungsgesetz nennt: Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnisch-kultureller Zugehörigkeit, Religion und Behinderung. Wir fügen dem noch Klassismus, also die Diskriminierung auf der Grundlage von sozio-ökonomischer Herkunft oder Position sowie die Dimension der Ost-West-Sozialisierung hinzu, die gerade in Deutschland immer noch eine große Rolle spielt.

KATE BREHME: Ich kann mich Lisa hier nur anschließen. In Ländern wie z. B. Großbritannien, Australien, Kanada oder USA ist man schon etwas weiter mit dem Thema der Diversitätsentwicklung in kulturellen Institutionen. Der Begriff Diversität wird in diesen Ländern auch im Zusammenhang mit Antidiskriminierungsmaßnahmen gegen Ableismus genutzt. In deutschen Medien begegnet mir jedoch immer wieder Diversity als Synonym für rassistische Diskriminierung oder Migrationshintergrund. Aber das Thema Behinderung ist meist nicht dabei. Dabei ist der Begriff intersektional

KATE BREHME: Ich denke, beide Begriffe sind wichtig für den Diskurs um und die praktische Umsetzung des Zugangs zu Kunst und Kultur. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass eine vielfältige Gesellschaft aus Menschen besteht, die behindert sind, People of Color sind oder sich als LGBTQI+ identifizieren, neben vielen, vielen anderen. Genauso wichtig ist es anzuerkennen, dass Inklusion im deutschsprachigen Kontext zwar oft als Bezeichnung stärker an Forderungen der Disability-Community gebunden ist als an andere Communitys, aber eigentlich für die Anpassung an die ­Bedürfnisse vieler marginalisierter Menschen steht. Wir begreifen Inklusion und Diversität als Prozesse, nicht als Messstandards. Man kann Organisationen nicht vergleichen, manche sind weiter als andere. Letztlich fehlt es immer nur am Willen, manchmal auch am Geld, um etwa physische Veränderungen auf den Weg zu bringen. Für uns ist wichtig, dass Veränderungsprozesse ganzheitlich betrachtet werden. Dass eine gesamte Organisation die einzelnen Ebenen – Programm, Publikum, Personal, Marketing, die Zugänge zur Öffentlichkeit – einfach ganzheitlich betrachtet. Ein diverses Ensemble bringt wenig, wenn es das Programm nicht ist. Und so könnte ich das jetzt fortsetzen. Die Veränderungen sollen nicht im Cluster stattfinden, es sollten langfristige Veränderungen sein. JZ:

Ihr habt ja bereits klargestellt, dass ähnlich wie beim

Begriff der Inklusion auch Diversität oft missverstanden wird. Dazu kommen noch voraussetzungsvolle Begriffe wie Intersektionalität, Rassismus, Ableismus, Klassismus. Wie kommt ihr mit solchen Begrifflichkeiten/Diskursen in die Kantine rein? Wie zum Pförtner?

KATE BREHME: Meine Beobachtung ist, dass Menschen, die in der „Öffentlichkeit“ stehen und damit oft sehr nah an der Wirklichkeit sind – Menschen wie der Pförtner, der Guide im Museum, Mitarbeiter*innen in der

von heute auf morgen

Zunächst möchte ich mit euch gerne über Begriff­

juliane zellner mit lisa scheibner und kate brehme

JZ:

zu denken. Das sind keine verschiedenen Blasen, hier Ableismus, dort Rassismus. Vielmehr vermischen sie sich, haben konkrete Auswirkungen auf (Bildungs)Biografien. Wir brauchen neue intersektionale Definitionen für Diversität.

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Kantine – zwar selten Wissen über Definitionen besitzen, doch dafür viel praktische Erfahrung aus dem Kontakt mit Künstler*innen und Publikum mitbringen. Was in den Kulturinstitutionen bisher fehlt, ist der Austausch zwischen den Mitarbeiter*innen, zwischen den verschiedenen Ebenen und Abteilungen. Dafür müssen Situationen geschaffen werden: Barrierefreiheit und Zugänglichkeit müssen auch Thema innerhalb des Betriebs werden, sie gehören auf die Tagesordnung, als regulärer Bestandteil regelmäßiger Teamsitzungen. An der Umsetzung darf nicht nur die eine beauftragte Person mitwirken, die für die gesamte Organisation verantwortlich ist. Diese Themen müssen in allen Abteilungen ankommen, denn wir sind alle verantwortlich. Und das ganz besonders, da wir vom Staat öffentliches Geld bekommen, um ein Kulturangebot zu gestalten.

LISA SCHEIBNER: Gerade Barriereabbau ist

kein Luxus. Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, daher stehen öffentliche Einrichtungen in der Pflicht, zugänglich zu sein. Doch noch mal zurück zu den Begrifflichkeiten: Natürlich sind viele ­Begriffe an akademische Diskurse gebunden. Doch an allen Theaterinstitutionen wird mit Spezialwissen gearbeitet. Dafür gibt es Weiterbildungsangebote, genauso wie in Bereichen des Brandschutzes oder Datenschutzes, der Theatertechnik oder auch ästhetischer Praxis. Die Frage, die sich in Bezug auf Begriffe wie ­„Diversität“ stellt, lautet eher, ob jetzt wirklich die Begrifflichkeiten das Problem sind oder nicht vielmehr die Forderungen, die daran gebunden sind. Der Widerstand geht ja durchaus von Führungsetagen aus. Also von einer Ebene, auf der das wissenschaftliche Niveau kein Hindernis sein dürfte. Gerade dort wird oft behauptet, die Diskurse wären nicht anschlussfähig oder die Menschen aus bestimmten Gewerken würden das nicht verstehen. Für mich stellt sich das als ziemliches Scheinargument dar, das an sich schon klassistisch ist.

JZ:

Lasst uns vor dem Blick in den Kulturbetrieb zu-

LISA SCHEIBNER: Das Wichtige ist, von einigen

punktuellen Ausnahmebeispielen zu flächendeckenden strukturellen Veränderungen zu kommen, die für alle Kulturinstitutionen gelten. Natürlich braucht so ein Strukturwandel Zeit, das geht nicht von heute auf morgen. Aber: Nur wenn die Strukturen und die Zugänge jetzt verbessert werden, dann sehen wir vielleicht in 20 Jahren die ersten Ergebnisse. Eine Veränderung findet in Zyklen statt. Natürlich kommen bestimmte Themen immer wieder. Aber die Frage ist: Wie kommen wir weiter? Wie dreht sich die Schraube nicht im Kreis, sondern weiter nach oben, sodass wir auf ein anderes Niveau gelangen? An Kampagnen wie „#Act out“ oder dem offenen Brief, den Kate erwähnt hat, sieht man jedoch, dass es ein gesellschaftliches Klima gibt, in dem immer mehr Menschen öffentlich machen, was sie an Diskriminierung erleben, sich wehren und es so nicht hinnehmen wollen. Erst mal ist das was Gutes. Doch natürlich stellt sich die Frage, wie sich dieser Hype um Diversität, der mal kommt und dann wieder geht, in eine strukturelle nachhaltige Einbettung von Antidiskriminierung und Chancengerechtigkeit in der gesamten Kulturbranche übersetzen lässt.

erst auf die kulturpolitische Ebene schauen. Seit der sozial-

JZ:

libera­len Ära in den 1970ern werden Konzepte wie Hilmar

untersuchte bereits in den 1970er-Jahren die strukturellen

­Hoffmans „Kultur für alle“ diskutiert. Es gab erste Modell­

Bedingungen für das, was heute gerne Change-Manage­

versuche wie das türkische Ensemble an der Schaubühne

ment genannt wird. Sein zentraler Befund: Zuerst bedarf

(1979–84) oder Peter Radtke, der Anfang der 1980er-Jahre

es immer der öffentlichen Aufmerksamkeit, muss auf die

von George Tabori in das Ensemble der Münchner Kammer­

Institutionen ein Veränderungsdruck von außen entstehen.

spiele geholt wurde. Das ist schon eine ganze Weile her.

Daher möchte ich noch kurz auf der Ebene der Pionierarbeit

Man könnte den Eindruck gewinnen, die Diskussion dreht sich

bleiben. Gibt es weitere Beispiele in Deutschland oder auch

im Kreis. Hat sich seitdem substanziell etwas verändert?

international, die ihr als Best-Practice bezeichnen würdet?

KATE BREHME: Ich wohne seit etwa zehn Jahren hier in Deutschland. In dieser Zeit konnte ich beobachten, wie die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung im Theater und in den Darstellenden Künsten stark zugenommen hat. Der Bereich Disability Arts hat sich stark

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entwickelt. Es gibt wunderbare Beispiele von Festivals wie z. B. No Limits hier in Berlin, das Grenzenlos KulturFestival oder Kampnagels Teilnahme an dem europaweiten Programm Europe Beyond Access. Abseits davon gibt es verschiedene Akteur*innen, die sich selbst organisieren. Hier lässt sich zum Beispiel ein offener Brief des Netzwerks Behinderter und Nicht-Behinderter Tanz- und Theaterschaffender an Monika Grütters nennen. Dieser Brief wirft ein Licht auf die Dringlichkeit der politischen Debatte um Ableismus, Barriereabbau und die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Durch meine Tätigkeit bei Diversity Arts Culture sehe ich, dass viele Institutionen daran interessiert sind, e twas zu verändern. Der Willen ist da, auch die Erkenntnis, dass nicht alles richtig läuft, dass wir Dinge verändern müssen.

Der rumänische Sozialpsychologe Serge Moscovici

KATE BREHME: Aus Großbritannien kann ich die Candoco Dance Company nennen, eine gemischte Gruppe von Tänzer*innen mit und ohne Behinderung, die gemeinsam Sachen entwickeln. Oder das La Mama Theater in Melbourne, eine sehr kleine Organisation, eher grass-


JZ: Mit Blick auf und in die Betriebe selbst: An welchen Stellen besteht besonderer Handlungsbedarf?

LISA SCHEIBNER: Ich kann Kate nur zustimmen: Es gibt viel Nachholbedarf im Bereich der Ausbildung und Nachwuchsförderung, ebenso wie im Bereich der Bildungsgerechtigkeit. Wenn etwa Schauspielschulen aufgrund bestimmter Aufnahmekriterien für manche Leute nicht zugänglich sind und diese damit keine professionelle Ausbildung absolvieren können, haben sie es automatisch auch viel schwerer, sich im Anschluss im Theaterbereich zu professionalisieren. Bisher ist Theater vor allem gut darin, gesellschaftliche Missstände im Außen zu verorten – das heißt etwa thematisch im Programm darauf einzugehen – ohne jedoch an den eigenen Strukturen etwas zu verändern. Doch ein Themenschwerpunkt Feminismus nützt nichts, wenn trotzdem keine Frauen in den oberen Machtpositionen sind, oder nur wenige, ab und zu mal eine. JZ:

Die zweite Voraussetzung für echte Veränderung

erkennt Moscovici im Willen der Akteure selbst: Wie bereit sind die Kulturbetriebe? Wer kommt zu euch? Und worin besteht euer Angebot?

KATE BREHME: Viele Institutionen haben wenig

Erfahrung damit, was genau Ableismus oder Rassismus bedeutet. Und schon gar nicht damit, wie und mit welchen Maßnahmen man diesen Formen von Diskriminierung begegnen kann, wo und wie sich Barrieren abbauen lassen. Da setzen wir an. Außerdem bieten wir ein sogenanntes Empowerment-Programm an, das sich an

von heute auf morgen

LISA SCHEIBNER: Als ein positives Beispiel nennen wir immer Theaterformen. Die Akteur*innen von Theaterformen haben sich sehr viele Gedanken dazu gemacht, wie sie als Team mit Diskriminierungsfällen umgehen wollen und mit welchen Strategien sie vorgehen. Sie haben gemeinsam als Team Workshops organisiert, Leitlinien verfasst und diese dann veröffentlicht. Das ist insofern vorbildlich, nicht weil es perfekte Leitlinien sind, sondern weil so die eigenen Ansprüche überprüfbar wurden. Alle Leute, die bei Theaterformen arbeiten wollen oder dieses Festival besuchen, können sich bereits im Vorfeld zu den Leitlinien und damit den Ansprüchen der Macher*innen informieren. Damit sind sie nicht nur ansprechbar, sondern es kann eine offene Diskussion darüber entstehen. Unser Anliegen ist es, Institutionen zu ermutigen, ihre Bemühungen auch schriftlich festzuhalten, nicht nur als plakatives Beispiel nach außen, sondern tatsächlich in einer gemeinsamen kontinuierlichen Arbeit. In diesem Kontext lässt sich auch bewusst über Leerstellen sprechen – über Bereiche, die man noch nicht genügend bearbeitet hat, die man aber erkannt hat und die man angehen will. Dem gegenüber stehen als Worst-Practice sicherlich die vielen Diskriminierungsfälle an Theatern, die in letzter Zeit durch die Medien bekannt wurden: das Staatstheater Karlsruhe, die Volksbühne Berlin, das Staatsballett Berlin, das Schauspielhaus Düsseldorf und viele andere. Diese Beispiele verdeutlichen, die Theater haben ein großes Problem mit dem Machtgefälle innerhalb der Organisation. Die starken hierarchischen Strukturen begünstigen Diskriminierung und Machtmissbrauch. Und die genannten Beispiele sind nur die bekannt gewordenen. Ich bin mir aber sicher, es wird in Zukunft noch mehr bekannt werden, nicht weil die Diskriminierung zunimmt, sondern weil mehr darüber gesprochen wird und Mitarbeitende damit beginnen, sich zur Wehr zu setzen.

KATE BREHME: In der Kunst existieren viele Stereo­type. Menschen mit Behinderung werden meist in einer Nebenrolle besetzt. Sie stehen im Hintergrund, anstatt im Vordergrund. Solange wir keine Person mit Behinderung in einer Leitungsposition in einem Theater haben, wird sich das niemals verändern. Wir müssen ­Situationen kreieren, sodass in Kulturinstitutionen, ob in Theatern oder Museen, Menschen mit Behinderung, Menschen, die marginalisiert sind, selbst entscheiden können, wie sie mit einer Institution interagieren, als Mitarbeiter*in oder als Publikum. Bisher hat man sich in den Kulturinstitutionen vor allem darauf konzentriert, die Zugänglichkeit für das Publikum zu erleichtern, was jedoch weitgehend fehlt, ist die Zugänglichkeit in die Jobs: Auch Menschen mit Behinderung oder andere marginalisierte Menschen ­haben das Recht, an einem Theater zu arbeiten, dafür müssen wir Dinge verändern. Das heißt, wir brauchen konkrete Weiterbildungen, Ausbildungsangebote und Entwicklungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung und Menschen, die marginalisiert sind. Das beginnt nicht am Theater, sondern in der Schule. Wir müssen eine Brücke bauen zwischen dem professionellen und dem Bildungsbereich. In Deutschland brauchen wir mehr Menschen mit Behinderung in Machtpositionen, die ­Voraussetzung dafür liegt u. a. in der Ausbildung.

juliane zellner mit lisa scheibner und kate brehme

root. Sie arbeiten seit Langem mit Menschen mit Behinderung, haben Theaterstücke von Menschen mit Behinderung konzipiert, haben bauliche Maßnahmen an ihrem Haus vorgenommen, obwohl es ein sehr altes Gebäude ist. In Deutschland gibt es auch viele gute Beispiele, wie etwa die genannten Festivals oder andere einzelne Akteure. Hier in Berlin zählen auf jeden Fall die Sophiensäle dazu. Sie arbeiten zum einen programmatisch da­ran, u. a. in ihrem Programm Making a Difference. Weiterhin lässt sich bei fast jeder Produktion am Haus herausfinden, mit welchen Barrieren und Zugänglichkeiten man vor Ort konfrontiert ist. Zum anderen aber nehmen sie die gesamte Institution in den Blick. Dafür ist u. a. eine Person angestellt, die nur für Inklusion und Barriereabbau verantwortlich ist.

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­ ersonen mit Diskriminierungserfahrungen richtet, beiP spielsweise an Kulturschaffende mit Rassismus-Erfahrung oder an Künstler*innen mit Behinderung. Das heißt, wir veranstalten Workshops, in denen wir zur Ausein­ andersetzung mit der Bewerbung um Fördermittel, der Präsentation und Promotion der eigenen künstlerischen Praxis, ebenso wie mit der allgemeinen Zugänglichkeit im Bereich der Kunst und Kultur einladen. Ergänzend zu den Workshops bieten wir eine Plattform für die Vernetzung von Menschen und organisieren Veranstaltungsformate wie das Disability Arts Meet Up.

LISA SCHEIBNER: An uns wenden sich sehr unterschiedliche Personen und Institutionen. Wenn sich die Chefetage an uns wendet, vermitteln wir meist Profis für eine Erstberatung zu diversitätsorientierter Organisationsentwicklung, also Expert*innen, die sich die Strukturen der Organisation anschauen und Bereiche identifizieren, die nicht zugänglich sind. Oft sind Workshops die ersten Schritte für die Führungsetage, aber auch für Mitarbeitende. Im Rahmen von Gesprächen werden die Diversitätsthemen herausgearbeitet, mit denen sich die Organisation zuerst beschäftigen will, und dann werden erste Maßnahmen diskutiert. Abseits davon haben wir sehr oft Anfragen von Personen, die nicht aus der Führungsetage sind. Personen, die mit dem Wunsch zu uns kommen, dass sich an ihrer Institution dringend etwas ändern muss. Denen empfehlen wir, sich mit Personen innerhalb und außerhalb ihrer Institution zusammenzuschließen, etwa zu einer DiversitätsAG. Zu Beginn steht die Analyse, die Frage, wer denn eigentlich fehlt oder was nicht funktioniert. Wir empfehlen, sich zu vernetzen, sich fortzubilden, Impulse zu setzen und Forderungen an die Leitungen zu stellen. In manchen Fällen ist es dafür jedoch schon zu spät, weil Mitarbeitende Diskriminierung ausgesetzt waren oder sind. An diesem Punkt braucht es Kriseninterventionen und Beratungsstellen wie Themis, die Betroffene konkret bei der Bewältigung und sofern gewünscht der Öffentlichmachung der Diskriminierung unterstützen. Themis deckt jedoch nur die Darstellenden Künste und darin nur den Bereich sexualisierter Gewalt ab. Und hier setzt eine zentrale Forderung von uns an: Wir brauchen eine unabhängige, intersektionale und spartenübergreifende Antidiskriminierungsstelle für Kulturbetriebe, eine Stelle, die die Betroffenen unterstützen und die Anliegen bündeln kann. Wichtig ist in solchen Fällen, gemeinsam mit Betroffenen zu entscheiden: Was ist das richtige Vorgehen? Was möchten die Betroffenen? Wie sehr will ich an die Öffentlichkeit gehen? Will ich nur, dass sich die Einzel-Situation verbessert? Will ich, dass Fehlverhalten personelle Konsequenzen hat? Dafür muss es innerhalb der Institutionen, aber auch außerhalb Strukturen geben. Man kann nicht alle Dinge intern in den Theatern verhan­ deln, dafür sind die Machtstrukturen zu hart, kritische Stimmen werden zu oft zum Verstummen gebracht.

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JZ:

Das hört sich nach dem Bohren dicker Bretter an.

Auf welche Widerstände stoßt ihr bei eurer Arbeit noch?

LISA SCHEIBNER: In allen Arbeitsbereichen gibt es Menschen, die entweder selbst Diskriminierungserfahrungen machen oder diese mitbekommen. Viele Menschen wollen etwas gegen Diskriminierung tun, sie brauchen dafür aber Strategien und Beratung. Dafür muss ein Theater Zeit und Geld in Fortbildungen investieren. Manche machen das. Oft erwartet die Leitungsebene aber, dass die Mitarbeitenden sich in ihrer Freizeit weiterbilden. Ohne auf die Bedürfnisse und Fragen der Mitarbeitenden zu achten, wird etwas von oben verordnet. Ohne Einbeziehung kommt es zu Widerstand. Und hier wird gleich noch eine andere Problematik tangiert: Der Produktionsdruck an vielen Häusern führt bei Mit­ arbeitenden zu einem Dauerstress. Solange das nicht thematisiert und offen angegangen wird, lässt sich eine Weiterbildung sowohl zeitlich als auch thematisch schwer rechtfertigen. Letztlich müssten die Arbeits­ bedingungen aller Mitarbeitenden so sein, dass sie rein zeitlich überhaupt die Chance haben, sich weiterbilden zu können. KATE BREHME: Kulturelle Einrichtungen müssen

bei Personal, Räumlichkeiten, Programmgestaltung und Marketing ansetzen. Diversitätsthemen gehören nicht immer nur in den Bereich, der sich ans Publikum richtet, die Bildung oder Vermittlung. Vielmehr muss sich die Organisation als solche reflektieren. Was fehlt? Wo sind die Privilegierten? Wo sind die Barrieren? Wenn die Organisation nicht in verschiedenen Bereichen divers wird, dann kommen wir nicht weiter. Menschen mit Behinderung oder People of Color brauchen den Zugang, und das von der Ausbildung bis zur Förderung, von der Aufführung bis zu den räumlichen Gegebenheiten, bis hin zu Leitungsfragen, also wirklich auf allen Ebenen.

JZ:

Wo setzt ihr dabei genau an? Wie lässt sich die Ver­

änderung konkret und praktisch implementieren?

LISA SCHEIBNER: Wir sind davon überzeugt, dass die Bereiche Personal, Publikum, Programm und Zugänge ineinandergreifen. Dieser Ansatz basiert auf einer Studie, die 2017 von Citizens for Europe durch­ geführt wurde. Citizens for Europe hat seither einige Studien durchgeführt, die intersektional angelegt waren und beim Abfragen von Diskriminierungserfahrungen konsequent mit den Selbstbezeichnungen der Befragten arbeiteten. Dadurch wurden die Ergebnisse viel ­differenzierter als beispielsweise bei Umfragen, die etwa nur zwischen Männern und Frauen unterscheiden. Für uns sind diese Studien wichtig, weil sie uns anhand von Zahlen, anhand von harten Fakten, zeigen, wie es um die Berliner Kulturszene und ihre Diversität bestellt ist.


Langsam habe ich jedoch das Gefühl, dass Kultur­ institutionen begreifen, dass sich ihr Publikum nicht ­diversifizieren wird, wenn sie nicht ein Programm anbieten, das mehr Perspektiven bietet, und dass sie dieses Programm nicht anbieten können, wenn ihr Team nicht divers ist und ihr Team nicht divers werden wird, wenn sie keine Zugänge schaffen, sodass bei ihnen unterschiedliche Leute arbeiten wollen und können. Und auch an dieser Stelle muss noch mal der permanente Produktionsdruck an vielen Häusern erwähnt werden, der für viele als ein Ausschlusskriterium wirkt und nicht unbedingt zu besserer Kunst führt. Denn für wen ist das leistbar? Wer kann sich dem aussetzen? All das muss also zusammenhängend betrachtet werden, nur so kann eine Transformation stattfinden.

JZ: Vielen Dank für diese spannenden Einblicke in eure

unserem Buch eine ganze Reihe von Folgefragen, die von anderen Personen auf anderen Ebenen beantwortet wer­ den sollten: etwa die der bundesweiten Erweiterung eurer und ähnlicher Angebote über Berlin hinaus. Oder die nach der nachhaltigen Verstetigung in der alltäglichen Praxis der Kulturbetriebe über die außeralltäglichen Interven­ tionen mit Instrumenten wie Workshops und Trainings, Klausurtagungen und Selbstverpflichtungen hinaus. Und vor allem die nach den Leitungsebenen der Kulturbetriebe der Zukunft: Wann und wie setzt dort die beschriebene Transformation ein? Wie können auch Führungskräfte auf dem Weg der Transformation konstruktiv begleitet und empowered werden? All das Fragen, die eure Gesichts­ punkte aufwerfen und die in unserem Arbeitsbuch noch an anderer Stelle auftauchen werden. Danke euch für dieses Gespräch.

juliane zellner mit lisa scheibner und kate brehme

von heute auf morgen

Arbeit. Daraus ergeben sich für die anderen Bereiche in

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nenad čupić

ich, ein*e transformer*in

In den letzten Jahren und Monaten wurde ein Wort immer wieder bemüht, um einen sprachlichen Ausdruck für einen Zustand zu finden, den immer mehr Menschen in Deutschland bewusst wahrnehmen und sich darin wiederfinden. Es ist das Wort Krise. Im Jahr 2008/2009 war es die Finanzkrise, Bankenkrise und Immobilienkrise; ab 2013 (Snowdens Enthüllungen) die Krise unserer Privatsphäre und digitalen Selbstbestimmung; seit 2015 die Krise des europäischen Grenzregimes; spätestens seit 2016 die Krise der politischen Repräsentation; dazukommen: Wohnraum-Krise, Armutskrise, Klimakrise … Seit 2020 ist die Corona-Krise in aller Munde, welche wiederum offenbart, in welcher Krise sich auch die Institution Theater in Deutschland befindet. In immer kürzeren zeitlichen Abständen werden Fälle von (sexistischer und rassistischer) Diskriminierung und Machtmissbrauch an deutschen Theatern öffentlich und führen uns die Krise der (weißen, bürgerlichen, männlichen) ­Dominanzkultur, welche einen Großteil der Menschheit und bundesdeutschen Bevölkerung ausschloss, deutlich vor Augen. Wenn ich das Wort Krise höre, denke ich häufig an den brasilianischen Theatermacher Augusto Boal, ­welcher ab den 1950er-Jahren etwas entwickelte, was später als Theater der Unterdrückten bekannt wurde. Augusto Boal prägte den Begriff „chinesische Krise“ und verwies damit darauf, dass es „im Mandarin und im ­Koreanischen wie auch in anderen asiatischen Sprachen

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[…] nicht nur ein einziges Schriftzeichen für ‚Krise‘ gibt, sondern zwei. Das erste bedeutet ‚Gefahr‘, das zweite ‚Gelegenheit‘ oder ‚Chance‘.“1 Mit meiner Arbeit als ­Berater, Coach und Trainer möchte ich dazu beitragen, die gegenwärtige Krise der deutschen Theaterinstitutionen als Gelegenheit zu begreifen. Im Folgenden möchte ich die Arbeit einer diversitätsorientieren Organisationsentwicklung, ihre größten Hindernisse und strukturellen Chancen im Sinne eines nachhaltigen Wandels reflektieren.

Hindernisse des diversitäts­ orientierten Wandels der Theater­ institutionen Die gesellschaftliche Institution Theater hat hierzulande über mehrere Jahrzehnte ein Stück der Wandlungsresistenz inszeniert. Mir begegneten dabei in den vergangenen Jahren vor allem vier Hindernis-Faktoren, auf die ich kurz eingehen möchte: Ein Bremsklotz des Wandels ist das weit verbreitete Selbstverständnis der Theaterinstitutionen und ihrer ­Beschäftigten als liberal, gesellschaftskritisch und ­häufig links oder zumindest (sozial)demokratisch. Dies geht oft mit der Annahme einher, Theaterinstitutionen und die darin Tätigen könnten per se nicht diskriminierend sein. Meine persönliche Erfahrung, meine berufliche Erfahrung, die diskriminierungskritische Wissenschaft und


ich, ein*e transformer*in

Als zweites Hemmnis kommt ein verkürztes und unzureichendes Verständnis von Diversität und Diskriminierung hinzu. Diversität ist nicht gleichzusetzen mit Internationalität, wie es beispielsweise kürzlich in einem verschriftlichten Gespräch zwischen fünf Opernintendant*innen in der FAZ passiert ist2 und wie es nahezu in jedem Workshop zu Diversität und Diskriminierungs­ kritik passiert, den ich an Theaterhäusern durchführe. Es geht um ein ganzheitliches Verständnis von Diversität, das Diversitätsdimensionen wie Alter, sozio-öko­ nomische Herkunft, Geschlecht(sidentität), sexuelle Identität, sexuelle Orientierung, Alter, geistige und ­körperliche Fähigkeiten bzw. Behinderung, Religion, Weltanschauung, Familienstand, Familienform, (Nicht-) Elternschaft, Sprache (Dialekt, Soziolekt, Akzent), natioethno-kulturelle Herkunft, Aussehen, Einkommen, Vermögen, Ausbildung, Bildung und Wohnort einbezieht.3 Die meisten Menschen, mit denen ich arbeite, nehmen Diskriminierung nur auf der zwischenmenschlichen Ebene und häufig nur als Einzelfall und Ausnahmeerscheinung wahr – sofern sie sie überhaupt wahrnehmen. Wichtig ist aber zu verstehen, dass Diskriminierung auf einer intrapersonellen, interpersonellen, strukturellen, institutionellen und einer kulturellen Ebene wirkt, eine historische Dimension hat und dass diese Wirkung auch dann existieren kann, wenn ich oder die Institution, in der ich tätig bin, das nicht beabsichtigt. Kulturinstitutionen, Institutionen allgemein und die darin tätigen Menschen täten besser daran, in ihr Selbstbild ein umfassendes Verständnis von Diskriminierung zu integrieren. Diskriminierung prägt unser aller Alltag, wird oft unbewusst und ungewollt reproduziert. Häufig begegnen

mir Menschen, die der Meinung sind, dass es keine Diskriminierung gibt, nur weil sie keine wahrnehmen. Je strukturell privilegierter ich bin, desto weniger werde ich Diskriminierung in aller Regel wahrnehmen. Ich habe häufig miterlebt, dass Menschen Angst haben, Fälle von Diskriminierung innerhalb ihrer Organisation anzusprechen und/oder öffentlich zu machen, weil sie um ihre berufliche, ökonomische Zukunft und teilweise auch um ihren Aufenthalt in Deutschland bangen, weil es emotional anstrengend ist und häufig mit innerbetrieblichen und/oder juristischen Repressionen verbunden ist. Häufig sind die diskriminierungserfahrenen Menschen auch schlichtweg müde und (emotional) erschöpft davon, immer wieder auf Diskriminierung hinzuweisen. Wenn Menschen wirkungsvoll und nachhaltig Diskriminierung verringern möchten, müssen sie es über den Teil ihres Denkens und Selbstbildes hinaus schaffen, der ihnen weismachen möchte, dass sie und die Organisation, in der sie tätig sind, diskriminierungsfrei sind. Die dritte Schwierigkeit ist der Zeitdruck und Produktionsdruck, welcher durch die totalitäre kapitalistische Beschleunigungslogik geprägt ist und mit einer Entfremdung einher geht. Meine Wahrnehmung ist, dass viele Menschen in Theatern den Kapitalismus als Problem erkennen und kritisieren, aber nicht realisieren, wie sehr sich der Kapitalismus in ihrem Denken, Fühlen und Handeln sowie ihren Institutionen und deren Abläufen zeigt.4 Ich erlebe, dass bestimmte Kommunikations-, Entscheidungs- und Arbeitsprozesse wahnsinnig viel Zeit beanspruchen und beibehalten werden, obwohl sie teilweise immer wieder ähnliche Probleme, Missverständnisse, Spannungen oder Konflikte produzieren. Diese strukturellen Ursachen und dysfunktionalen ­Muster gilt es zu identifizieren, um basierend darauf wirksame Lösungen zu entwickeln. Wenn ich von Kulturinstitutionen angefragt werde, ist es meist so, dass die Anfragenden die Notwendigkeit bestimmter Veränderungen, teilweise auch Strukturveränderungen, erkannt haben. Um dieses Problem anzugehen, werden dann häufig kurz(fristig)e Formate gesucht. Gewünscht sind oft singuläre Workshops von zwei bis vier Stunden, ­welche selten in eine ganzheitliche Organisationsent­ wicklung(sstrategie) eingebettet sind. Diese singulären fastfood-Formate biete ich grundsätzlich nicht mehr an, diese take-away- oder to-go-Mentalität bediene ich bewusst nicht. Denn um die Struktur und Kultur einer Organisation zu verändern, braucht es Zeit. Das Minimum für einen Einführungsworkshop beträgt einen Tag. Und dieser eine Tag ist nur der erste Teil eines Einführungsmoduls. Wichtig ist zu verstehen, dass selbst wenn wir zwei volle Tage je acht Stunden arbeiten, es sich immer noch um eine Einführung handelt. Die wenigsten lassen sich darauf ein, dass eine Veränderung der Organisationsstruktur und -kultur Zeit, Energie, Arbeit und Aufmerksamkeit braucht. Dabei praktizieren sie genau das in ihrem Bereich der Kunst. Autor*innen,

nenad čupić

die immer zahlreicher öffentlich gemachten Fälle von Diskriminierung widerlegen das ganz eindeutig. Alle, die wir in dieser Gesellschaft leben, sind in das Netz der Diskriminierungsverhältnisse eingewoben – ob wir wollen oder nicht. Der britische Psychotherapeut und Autor Farhad Dalal, kommt in seinem Buch Race, Colour & the Processes of Racialization zu dem Schluss, dass sich die Strukturen der Gesellschaft in den Strukturen der Psyche widerspiegeln. Darin schreibt er, dass in einer nach „Rasse“ strukturierten Gesellschaft auch die Psyche der darin aufwachsenden und lebenden Menschen nach „Rasse“ strukturiert sei und dass folglich eine nach „Rasse“ strukturierte Psyche eine nach „Rasse“ strukturierte Gesellschaft reproduziere. In Anlehnung an Farhad Dalal kann somit, bezogen auf Diskriminierung allgemein, Folgendes festgehalten werden: Eine nach Diskrimi­ nierungsmerkmalen (wie z. B. Klasse, Geschlecht, natioethno-kulturelle Herkunft, ‚Hautfarbe‘, Behinderung) strukturierte Gesellschaft (re)produziert eine nach Diskriminierungsmerkmalen strukturierte Psyche, und eine nach Diskriminierungsmerkmalen strukturierte Psyche (re)produziert eine nach Diskriminierungsmerkmalen strukturierte Gesellschaft. Es ist eine Wechselwirkung.

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die über Wochen, Monate, teils Jahre Texte schreiben. Regisseur*innen, die die Idee für eine Inszenierung bisweilen jahrelang in sich tragen, sie reifen lassen und in sechs bis acht Wochen mit den Schauspieler*innen ­proben. Lange vor Probenbeginn gibt es die Bauprobe, Kostüme werden genäht, das Bühnenbild wird gefertigt, Masken und Perücken werden hergestellt, das Lichtund Tondesign wird entwickelt, Schauspieler*innen trainieren ihre Körper und Stimmen, lernen Texte, feilen an Figuren. Menschen bringen viel Energie, Zeit, Arbeit, Aufmerksamkeit und Liebe auf, um eine Inszenierung entstehen zu lassen. Mit dieser Einstellung, Haltung und Perspektive gilt es auch an einer Organisationsstruktur und -kultur zu arbeiten, die die Menschen, die in dieser Institution arbeiten, mit Freude erfüllt und mit der sie zur Freude anderer Menschen beitragen können. Das vierte Erschwernis ist die Fixierung auf Kritiken und Rückmeldungen von Menschen, die nur einen kleinen Teil der Gesellschaft repräsentieren. Oft verfügen diese ihrerseits ebenfalls über ein verkürztes und unzu­ reichendes Verständnis von Diversität und Diskriminierung sowie viel unreflektiertes rassistisches, klassistisches, sexistisches, ableistisches Wissen. Somit bestätigt und reproduziert sich der status quo selbst. Wenn sich beispielsweise ein Haus personell verändert, mehr Schwarze Menschen, People of Color, Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund, Migrations­ andere oder gesellschaftlich behinderte Menschen als Schauspieler*innen, Regisseur*innen, Tänzer*innen, ­Autor*innen oder Dramaturg*innen beschäftigt und auf Leitungspositionen bringt, wenn ein Haus mehr Stücke von Frauen, Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, queeren oder nicht-weißen Autor*innen inszeniert und dabei auf Ästhetiken und Formen zurückgreift, die nicht der weißen, bürgerlichen, heteronormativen Norm entsprechen, und wenn es dann von einer weißen bürgerlichen Elite schlechte Kritiken oder Rückmeldungen ­bekommt, dann ist es wichtig, dass es um deren unbewusste Voreingenommenheit weiß. In diesem Fall wäre es wichtig, dass sich das Haus aktiv Rückmeldung und Kritiken von marginalisierten und gesellschaftlich strukturell benachteiligten Menschen einholt. Also: Wo und wie anfangen, um eine nachhaltige Transformation einzuleiten und erste Schritte auf dem Weg der diversitätsorientierten Organisationsentwicklung zu gehen?

Erste Schritte auf dem Weg der diversitätsorientierten Organisationsentwicklung Wenn mich Menschen aus Theatern kontaktieren, d ­ ie in der Institution etwas gegen Diskriminierung und für eine diversitätsorientierte Veränderung tun möchten, frage ich im Erstgespräch, wie viel Zeit sie aufbringen wollen und

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wie viel Geld sie zur Verfügung haben? In der Regel unterschätzen die Menschen genau diese beiden Faktoren. Wenn ein Theater etwas strukturell verändern und durch externe Berater*innen oder Organisationsentwickler*innen professionell begleiten lassen will, ist dafür ausreichend Zeit und Geld notwendig. Fragen Sie sich also im Vorfeld: Wie viel Zeit bin ich bereit, pro Tag, pro Woche, pro Monat für eine Veränderung zu investieren? Wie viele Menschen innerhalb meiner Institution sind bereit, diese Veränderung aktiv zu unterstützen und mitzugestalten? Wie viele zeitliche und finanzielle Ressourcen können und möchten wir zur Verfügung stellen? Wenn dieser Rahmen definiert ist, kann der*die Berater*in leichter abschätzen, was machbar ist und was nicht. In der ersten Kommunikation mit den Repräsentant*innen der Institution stehen ebenfalls zunächst Fragen im Vordergrund: nach dem Ist- und dem Soll-­ Zustand, nach Kernproblemen, nach unaufgelösten Konflikten und Spannungen. Warum ist eine Veränderung überhaupt gewünscht? Was wurde bisher unternommen, um eine Veränderung zu erreichen? Es ist wichtig, zwischen Anlass, Anliegen und Auftrag zu unterscheiden. Manchmal kontaktieren mich Menschen, weil es bei ihnen in der Institution zu einem diskriminierungsrelevanten Vorfall oder Konflikt kam. Ein anderes Mal ist es die Institution, der Vorstand, die Gremien, die Abteilung oder das Team, die mehr für Diskriminierung sensibilisieren möchte. Das Anliegen ist also eher ein (oft noch recht unspezifischer) Wunsch, was zu erreichen ist. Um daraus den Auftrag abzuleiten, frage ich: „Wie denken Sie, kann ich Ihnen bei Ihrem Anliegen behilflich sein?“ Der Auftrag an mich könnte dann lauten: „Wir möchten, dass Sie uns dabei helfen, die Wogen zu glätten und den Konflikt zu mediieren.“ Oder er könnte lauten: „Wir möchten den Fall aufarbeiten und das Ereignis zum Anlass nehmen, innerhalb der nächsten drei Monate einen diversitätsorientierten Organisationsentwicklungsprozess zu beginnen. Dabei möchten wir uns über die nächsten zwei Jahre von Ihnen in Hinblick ­sowohl auf eine sinnvolle Prozessarchitektur als auch nachhaltige Maßnahmen beraten lassen.“ Je sauberer der Auftrag geklärt, desto genauer kann eine professionelle Einschätzung abgeben werden, welche ersten Schritte auf dem Weg einer nachhaltigen Transformation zu gehen sind. Zum Beispiel könnte am Anfang eine Vision stehen. Dann ist zu klären, wer an dieser Visionsentwicklung beteiligt ist und wessen Vision entwickelt werden soll. Ist es die der Personalleitung, der Marketingabteilung, der Dramaturgie, der Intendanz, des Ensembles, der Gewerke? Jede*r hat unterschiedliche Visionen, die es zu bündeln, abzugleichen und zu entwickeln gilt. Es braucht ein gemeinsames und klares Verständnis davon, 1. warum, 2. wie und 3. was Sie und Ihre Organisation tun, um zu einer Strategie und einer Zielformulierung zu gelangen. Oft sind die


Handlungsmöglichkeiten für eine nachhaltige und strukturelle Transformation der Organisation Neben den ersten Schritten und Phasen der Organisationsentwicklung werde ich oft danach gefragt, womit der Alltag in der Institution nachhaltig beeinflusst werden kann. Auf der Makroebene ist eine Möglichkeit, Fördermittel an Kriterien zu koppeln, wobei Kulturinstitutionen konkret nachzuweisen hätten, wie (wirkungsvoll und ­effizient) sie Diversität, Inklusion und Nachhaltigkeit umsetzen. Ferner sind Aufsichts- und Beratungsgremien sowie Vorstände und Präsidien in der Kulturbranche ­verbindlich geschlechtergerecht und divers zu besetzen sowie Sanktionen im Falle einer Nichtbeachtung einzuführen. Außerdem bietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien einen wichtigen rechtlichen Rahmen

ich, ein*e transformer*in

Für diesen Prozess braucht es die Offenheit, die Bereitschaft und das Mitwirken aller Menschen innerhalb der Institution, um institutionelle Selbstverständlichkeiten und Normen machtkritisch untersuchen sowie verändern zu können. Maßgeblich ist dafür eine gut informierte, wertschätzende und kooperative Leitung(skultur), die den Veränderungsprozess (mit)trägt, eine diskriminierungs­kritische Haltung authentisch vorlebt und die Belegschaft über den Prozess gut und transparent informiert und ihr Mut macht. Es braucht innerhalb der Institution ein Team, eine sogenannte Steuerungsgruppe, die den Transformationsprozess leitet, plant und koordiniert. In ihr sollten im Idealfall Vertreter*innen der Leitung des Hauses, des ­Direktoriums, der Verwaltung, der Dramaturgie, des Künstlerischen Betriebsbüros, der technischen Leitung, des ­Betriebsrats und der Abteilung Kommunikation und Marketing vertreten sein.

für die Organisationspflichten des Arbeitgebers und die Rechte der Beschäftigten. Auf der Mesoebene, also der Ebene einer jeden Theaterinstitution, können faire Arbeitsbedingungen etabliert und durchgesetzt werden, indem Arbeit angemessen vergütet, unbezahlte Praktika unterlassen, branchenspezifische Honoraruntergrenzen eingeführt und durchgesetzt sowie missbräuchliche Nutzungen von Werkverträgen und Scheinselbstständigkeit vermieden werden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern, den Gender-Pay-Gap zu beseitigen und gleiche Bezahlung aller Geschlechter sowie die Transparenz bei Gehältern und Honoraren zu gewährleisten, sind ebenfalls Optionen. Ein weiteres Instrument kann die Entwicklung einer diskriminierungskritischen Leitlinie und Strategie sein, die beispielsweise auf der Homepage, im Spielzeitheft und durch Aushänge öffentlich gemacht wird, um die darin formulierten Inhalte nach außen hin überprüfbar zu machen.5 Absolut zentral ist es, Menschen auf höhere Leitungsebenen zu lassen, die selbst über Diskriminierungserfahrungskompetenz verfügen, aus gesellschaftlich marginalisierten Gruppen kommen, die macht- und diskriminierungskritisch agieren und somit als Vorbilder fungieren können. Damit ­verbunden ist die Einführung von gleichstellungs- und diversitätsorientierten Personalauswahlverfahren, in dessen Rahmen Personen mit Diskriminierungserfahrung ausdrücklich ermutigt werden sollten, sich zu ­bewerben. Hierfür bietet sich die Aufnahme einer Anti-Diskriminierungs-Klausel für alle Vertragsarten im Theater an.6 Selbstverständlich sind Quoten (etwa für Frauen, Schwarze Menschen, Menschen of Color, Menschen aus Armutskontexten oder der Arbeiter*innenklasse, behinderte Menschen) eines der wirksamsten Instrumente, um der aktuell bestehenden institutionell-strukturellen Ungerechtigkeit korrigierend entgegenzuwirken.7 Eine nachhaltige und strukturelle Transformation der Theaterinstitutionen ist sinnvollerweise mit einer Transformation der Art und Weise, wie Theater geführt werden, zu denken. Hierfür bietet sich Positive Leadership (positive Führung) nach Ruth von Seliger8 an. Positive Leadership (positive Führung) ist ein Führungskonzept, was sich vom tayloristischen und hierarchischen Führungsverständnis unterscheidet, welches Führung sowohl als Platz und Position in einer Organisation, als auch als vertikale Heldenaufgabe des Kommandierens und Kontrollierens von oben (der Führungsposition) nach unten denkt. Nach Ruth S ­ eliger ist Positive Leadership (positive Führung) als horizontale Kooperation und ­Vernetzung innerhalb der Organisation zu verstehen. Wichtig dabei ist die Orientierung an Stärken, Qualitäten, Potenzialen, Ressourcen und L ­ ösungen, anstatt an D ­ efiziten, Problemen, Schwächen. Die in diesem Abschnitt aufgeführten Punkte sind teilweise mittelbzw. langfristig umzusetzende Vorhaben und idealerweise immer als Teil einer ganzheitlichen Anti-Diskriminierungs-Strategie zu verstehen.

nenad čupić

formulierten Ziele zu Beginn viel zu abstrakt, ungenau und unklar definiert, sofern sie überhaupt definiert sind. Der gesamte Prozess kann grob in folgende Phasen unterteilt werden: 1. Analysephase, in der der Ist-Zustand und Bedarf durch Beobachtungen, Fallstudien, Befragungen, Interviews analysiert wird. 2. Planungs­phase, in der Handlungsfelder konkretisiert, der Soll-­Zustand mit Erfolgsindikatoren, Zielwerten und konkrete Zielverein­ barun­gen beschrieben sowie Maßnahmen formuliert und designt werden. 3. Implementierungsphase, in der die ­geplanten Maßnahmen mit den Verantwortlichen, unter Partizipation aller Beteiligten, umgesetzt werden. Dabei ist es sinnvoll, darauf zu achten, wo es bei der Realisierung zu Schwierigkeiten und Problemen kommt, um eine Zwischenevaluation und mögliche Anpassungen der Maßnahmen vornehmen zu können. In der 4. Phase, erfolgt das Controlling, d. h. die Evaluation der durchgeführten Maßnahmen und des Prozesses sowie eine Überprüfung, ob die Ziele erreicht wurden.

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Individuelle Handlungsmöglichkeiten: Ich, ein*e Transformer*in

1 Boal, Augusto: Übungen und Spiele für Schauspieler und

Vielleicht fragen Sie sich nun: Was kann ich als Einzelperson konkret bereits heute tun, um Diskriminierung abzubauen und Diversität zu fördern? Es folgen einige Anregungen, die bewusst in der Ich-Form geschrieben sind, sodass Sie sich die Sätze laut vorlesen und sich damit Ihrer eigenen individuellen Handlungsmacht vergewissern können.

2 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/rassismus-

Diskriminierung anerkennen: Ich kann anerkennen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die von Diskriminierung durchzogen ist und dass dadurch jedes Individuum, das in dieser Gesellschaft aufgewachsen ist und/oder lebt, durch Diskriminierung geprägt ist. Ich kann anerkennen, dass ich mich, auch wenn ich mich als liberal, demokratisch, christ-demokratisch, sozial-demokratisch, progressiv und/oder links verstehe und für die Realisierung der Menschenrechte und des Grundgesetzes bin, dennoch diskriminierend verhalten und diskriminierende Strukturen (unbewusst) unterstützen und aufrechterhalten kann.

4 Im Interview erklärt der Soziologe Hartmut Rosa, woher das

Nicht-Schauspieler. Baumann, Till (Hrsg.). Suhrkamp, Berlin 2013, S. 371. in-der-oper-fuenf-intendanten-im-gespraech-17325422.html 3 „Die Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung geht von mehrschichtigen Vielfalts-Dimensionen aus, die miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen­ (Intersektionalität).“ Der Ansatz ist in einer kurzen Broschüre der RAA Berlin nachzulesen. http://raa-berlin.de/wp-content/ uploads/2017/07/DO-GRUNDSAETZE-RAA-BERLIN.pdf Gefühl kommt, immer weniger Zeit zu haben und welche Rolle der Kapitalismus und unsere moderne Vorstellung von Glück dabei spielen. https://www.goethe.de/ins/be/de/kul/ mag/20575009.html 5 Das Festival Theaterformen hat dies beispielsweise gemacht. Vgl. https://www.theaterformen.de/de/leitlinie/ 6 https://www.kanzlei-laaser.com/anti-rassismus-klausel-fuerdie-vertragsgestaltung/. Mehr zum Hintergrund und zur Zielrichtung der Anti-Rassismus-Klausel bzw. Anti-Diskriminierungs-Klausel finden Sie hier: https://www.kanzlei-laaser. com/anti-rassismus-klausel-fuer-die-vertragsgestaltung/ 7 Vgl. ZEIT für Arbeit: „Was Unternehmen und Politik für die Viel-

Bewusstsein für Diskriminierung steigern: Ich kann das Sprechen über Diskriminierung normalisieren und Räume schaffen, in denen Menschen lernen, sich weiterentwickeln und verändern können, ohne andere Menschen dabei zu verletzen, d. h. ohne dass das Lernen auf Kosten von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen geht. Ich kann mich diskriminierungskritisch bilden, indem ich entsprechende Texte und Bücher lese, Videos, Filme und Dokumentationen schaue, Podcasts und Hörbücher höre, die Kolonialismus, Rassismus, Sexismus, Klassismus oder andere Diskriminierungen thematisieren und/oder Influencer*innen auf Twitter, Facebook, YouTube oder Instagram folge. Mehr Fragen stellen und die Qualität der Fragen verbessern: Ich kann fragen: Wie kann ich Theater machen, das die Stärken, Qualitäten und Potenziale aller Mitarbeitenden im Haus zur Geltung bringt sowie die Stadtgesellschaft in ihrer Diversität repräsentiert, anspricht und dazu inspiriert, die Stadt, in der sie leben, zu einer gerechteren, nachhaltigen und lebenswerteren Stadt zu machen?

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falt tun können“. Ein Gespräch u. a. mit der Gründerin und Direktorin des Zentrums für Intersektionale Gerechtigkeit Dr. Emilia Roig und der Politikerin, Unternehmerin und Publizistin Diana Kinnert, https://www.youtube.com/watch?v=a4lq_lNGBOo. All jenen, die mit Floskeln gegen Fakten und eine FrauenQuote argumentieren, empfehle ich, folgendes Bingo zu spielen: https://www.allbright-stiftung.de/bingo oder sich mit Pro Quote Film auseinanderzusetzen, einer politischen Bewegung für eine gendergerechte, diverse Gesellschaft, welche mehr Frauen* vor und hinter der Kamera fordert. https://proquote-film.de/ 8 Vgl. Ruth Seliger stellt ihr neues Buch Positive Leadership vor. https://www.youtube.com/watch?v=eHeIkOKHR1k


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birgit wiens

beyond digital über (post-)digitale bühnen

„Yes, we are now in a digital age, to whatever degree our culture, infrastructure, and economy (in that order) allow us. But the really surprising changes will be elsewhere, in our lifestyle and how we collectively manage ourselves on this planet …“ Nicholas Negroponte1

Das Theater und die Suche nach den ‚digitalen Räumen‘, oder: Lost in Space … Hallo, wo bist Du, oder auch: Wo sind Sie gerade? Mit dem Blick auf den Laptop oder dem iPhone am Ohr wurde diese Frage unter Theaterschaffenden in den letzten Monaten oft gestellt. Mit einmal konnte man nicht mehr – oder nur eingeschränkt – dort sein, wo man sich sonst gemeinsam aufhielt, nämlich vor oder auf einer Bühne. Theaterarbeit, Diskurs und Begegnung zwischen Künstler*innen und Publikum: Das alles war während der ­CoronaKrise bis auf Weiteres nur medial vermittelt möglich – über Messenger-Apps, Streaming- und VideokonferenzPlattformen oder, für viele völliges Neuland, via VR-Umgebungen (z. B. Mozilla Hubs). Suchte man als Publikum zu Hause – informiert durch die Onlinespielpläne der Theater – die Aktivitäten in der Theaterlandschaft hierzulande zu verfolgen, so wurden, neben Irritationen und Zukunftsangst, aber bald auch Experimentierbereitschaft und gewisse Aufbruchsstimmung erkennbar. Was die praktische Implementierung und Anwendung von Digital­ technologien betrifft, leisten seither die seit knapp zwei

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Jahren bestehende Akademie für Theater und Digitalität Dortmund (mit acht Mitarbeiter*innen) sowie das Team digital.DTHG2 Remote-Beratung und – oft über ihre ­Kapazitätsgrenzen hinaus – ‚erste Hilfe‘. Bundesweit schlossen sich ‚digitalaffine‘ Häuser, zum Erfahrungsaustausch, unlängst zur Initiative theaternetzwerk.digital zusammen. Trotz allem kann man sagen: Es passiert viel. Die Annahme, dass Krisen Symptome grundsätzlicherer Probleme sind, aber auch produktive Transformationen bedingen können, ist eine Hypothese der seit 2018 an der LMU München eingerichteten Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“.3 Die Frage, welche Transformationen sinnvoll oder gar notwendig sind (Stichwort: Strukturkrise, prekäre Arbeitsbedingungen, sinkende Publikumszahlen), betrifft im Besonderen auch die Frage nach Digitalität und Digitalkompetenz. Wie man in Gesprächen mit den Initiator*innen des theaternetzwerk.digital heraushört, zeigt sich im Feld der darstellenden Künste (mehr noch als z. B. in Ausstellungsbereich und Museen) fast schockartig, wo Lücken, bisher fehlende Anschlüsse, Berührungsängste oder auch Widerstände und andere Interessen sind. Sichtbar wird zudem, dass das Theater in seinen (aktuell noch verstärkten) Veränderungs- und Aushandlungsprozessen immer als Ganzes betroffen ist: als Ort und Institution, Kunst und künstlerisches Praxisfeld sowie als soziales Gefüge und gesellschaftlicher Diskursraum. Viele Online-Diskussionen, die Theater, Hochschulen oder auch das Theatertreffen (2020 und 2021) seither organisieren, suchen Problemlagen und mögliche Lösungen zu umkreisen. Ein Begriff, der dabei häufig gebraucht und, oft vage, mit Erwartungen oder gar Hoffnungen (auf ‚neue Publika‘ oder auch neue Formen von Kunst und künst-


Jeder/jede hat die Zäsur der Pandemie-Zeit etwas anders erlebt. Ich bin Theaterwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Bühnenbild, Kommunikation im Raum und Performance Design. Im zweiten Lockdown, schon eine gefühlte Ewigkeit im Homeoffice, erreichte mich die Anfrage, für ein Routledge Companion einen Text über „contemporary European scenography“ zu schreiben. Schönes Thema, aber sehr großes Feld, und da saß ich also. Bei den Recherchen (in den eigenen Erinnerungen sowie online) stieß ich auf eine Ausstellung über zeitgenössisches Bühnenbild und Bühnenräume, die von Mitte 2019 bis Januar 2020 im Museum Centre PompidouMetz stattgefunden hatte: „Opéra Monde. La quête d’un art total. Opéra et les arts visuels aux XXe et XXIe siègles“. Anhand eines gut gemachten Katalogs, Rezensionen und einer virtuellen Führung via YouTube8 lässt sich nachvollziehen, was in dieser Großausstellung alles zu sehen gewesen war. Mit Blick auf Oper- und gegen­ wärtige Musiktheaterinszenierungen war es basal um die Frage gegangen, wie sich verschiedene Künste und Medien im ‚Gesamtkunstwerk‘ Theater verbinden. Besonders im Fokus stand dabei die Frage nach Bühnenbild und Szenografie, also nach jener Kunst, der – als bildender Kunst in der darstellenden Kunst – die Aufgabe zukommt, Räume für Theater bzw. Performance visuell (und mithin auch akustisch) zu gestalten. Offenbar eindrucksvoll konnte die Ausstellung zeigen, wie vielfältig die Ansätze, Traditionslinien, Brüche und neueren Tenden­ zen theatraler Raumgestaltungen sind. In der Eingangshalle war eines der wohl größten Bühnenobjekte platziert, das in jüngerer Zeit im Theaterkontext realisiert worden war: die King-Kong-Figur Małgorzata Szczęśniaks

beyond digital.

Temporär umgezogen. Theater und Theaterforschung unter Pandemie-Bedingungen

(für Janáčeks L’Affaire Makropoulos, Opéra National de Paris, 2007). Im Ausstellungsparcours: ­szenische Kompositionen Adolphe Appias und Wassily Kandinskys, Entwürfe des tschechischen Szenografie-Pioniers Josef Svoboda sowie Fotos und Videodokumentationen zu Arbeiten von Robert Wilson, William Kentridge, Romeo Castellucci. Signifikant auch der Hinweis auf James Turrell, seine Lichtinstallation und ephemere Szenografie für Pascal Dusapins Kammeroper To be Sung (Festival ­d’Automne, Paris 1994). Wieder anders Dominique Gonzalez-Foersters temporäre Installation Helen & Gordon („Museum in Progress“, Wien 2015). Auch Pläne und ein Modell von Christoph Schlingensiefs Operndorf Africa gehörten zur Bandbreite der vorgestellten Arbeiten, also eine als ‚soziale Skulptur‘ und transkultureller Dialog angelegtes Projekt, das nach Ideen des 2010 verstorbenen Künstlers seither in Quagadougou, Burkina Faso, realisiert wird. Manches erscheint heute seltsam fern, fast nicht mehr möglich (Szczęśniaks King Kong: wird man künftig noch derart materialreiche Bühnenbilder und Objekte bauen?), doch an vieles wird man auch nach der Pandemie wieder anknüpfen können. Sicherlich erleben wir momentan eine Zäsur. Gerade jetzt, meine ich, sollte es jedoch nicht um ein Aufmachen von Oppositionen gehen (vorher vs. nachher, ‚alt‘ vs. ‚neu‘), sondern um ein genaues Erkunden möglicher Anschlüsse zwischen den darstellenden Künsten, wie man sie in großer Vielfalt bisher kannte, und der Frage nach dem ‚digitalen Raum‘. Vielleicht hilft auch, daran zu erinnern, dass es Experimente mit Digitalität, Mixed Reality und Intermedialität in großer Bandbreite schon lange gibt (vgl. Steve Dixon: Digital Performance. A History of New Media in Theater, Dance, Performance Art, and Installation, 2007; Neill O’Dywer: Digital Scenography: 30 Years of Experimentation and Innovation in Performance and Interactive Media, 2021). Auch in der deutschen Theaterlandschaft war viel davon zu erleben, aber eher vereinzelt auf Festivals oder in der Freien Szene: nicht-etabliert, nerdig. Frank Rieger hat insofern eine „Geschichtslosigkeit digitaler Formatentwicklung“ reklamiert: man liefe Gefahr, mit jedem Technologieschub „das Rad immer neu zu erfinden“ (Netztheater, 2020).9 Vermutlich lag die Ursache dieser ‚Geschichtslosigkeit‘ bisher im verstreuten Auftreten solcher Ansätze. Eine weitere Frage ist, wie sich (post-)digitale Formen und Formate, so sie sich zukünftig breit etablieren, zu bisherigen Ästhetiken und Theaterformen verhalten. Denn wenn Häuser jetzt eigene Digital-Sparten einrichten – manche schon vor der Pandemie und andere angestoßen durch diese –, dann sind nachhaltige Transformationen zu erwarten. Wir alle (Theatermacher*innen und Publikum) werden uns, wie Mel Alexenberg in seinem Buch Educating Artists (2008) forderte, an der „Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft, Technologie und Kultur“ über die ästhetischen und sozialen Dimensionen des sogenannten post-digitalen Theaters verständigen müssen.10

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lerischer Praxis) gefüllt wird, ist der Terminus des ‚digitalen Raums‘.4 Begrifflich unscharf, dient er als Suchformel. Was also wird alles darunter diskutiert, sind es die Raumbilder auf Bildschirmen bzw. virtuelle, potenziell ‚immersive‘ Raumanmutungen (also das, was man in der ersten Welle des Digital Turn den ‚Cyberspace‘ nannte5)? Oder adressiert der Begriff auch die Frage nach geografischen Reichweiten, technischen Infrastrukturen und Dynamiken von Online-Kommunikation, Algorithmen und Effekten der Ent- bzw. Verräumlichung6? Und was lässt sich sagen über die Wechselverhältnisse von virtueller Kommunikation und materiellen Räumen? Schon seit einigen Jahren werden solche Fragen in einer interdisziplinären Raumwissenschaft diskutiert (und auch die Theaterforschung hat dazu bereits beigetragen).7 Im Folgenden soll versucht werden, die Begriffe genauer zu fassen. Was könnte Theater alles sein, in Auseinandersetzung mit dem ‚digitalen Raum‘ und im Spannungsfeld dieser Räume?

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Was könnte das heißen im Hinblick auf die (nicht leicht zu beantwortende) Frage nach dessen Räumen?

Auf der Schwelle. Künstlerisches Gestalten und digitalästhetische Erfahrung im erweiterten (Ko-)Präsenz-Raum Die Rede vom ‚leeren Raum‘, losgelöst von Peter Brooks gleichnamigem Buch, wird oft zur Floskel. Theaterarbeit oder auch Zuschauen im Theater beginnt niemals im leeren Raum. Auf jeder Bühne (zunächst sind hier Bühnen im materiellen Raum gemeint) finden sich „immer Reste früherer Inszenierungen. Abgelegte oder aussortierte Kostüme, verworfene Dekorationsteile, archivierte Bühnenbildelemente (…). Jedes Betreten der Bühne – auch in Gedanken – konfrontiert unweigerlich mit dem, was dort bereits geschehen ist (…) Jeder Beginn, jeder Blick auf die Bühne hat sich dieser Vergangenheit – selbst wenn sie negiert wird – zu stellen“.11 Aber auch die ‚Räume‘ der Digitalmedien sind nicht ‚leer‘, sondern haben, wie erwähnt, bereits ihre Geschichte. Unter anderem gehört dazu der Vorschlag der amerikanischen Informatikerin und Softwaredesignerin Brenda Laurel (in ihrem viel rezipierten Buch Computers as Theatre, 1991), für die Gestaltung von Spiele- und Online-Umgebungen das abendländische Theater (und namentlich die Guckkastenbühne) als Modell heranzuziehen.12 Die Bühnenformen und -räume, die wir aus dem europäischen und außereuropäischen Theater kennen, sind aber deutlich vielfältiger. Ein Versäumnis ist, dass man auf Theaterseite bisher kaum versucht, den eigenen Wissensfundus auf sein „Transformationspotenzial für den digitalen Raum zu überprüfen“.13 Um in eben diesem Spannungsfeld über Bühnen und szenografische Gestaltung nachzudenken, fand sich im Juni 2020 beim Bund der Szenografen die Arbeitsgruppe „Digitaler Raum“ zusammen. Auch für diese Berufsgruppe, die Künstler*innen in den Bereichen Bühnen-, Kostüm- und Maskenbild, Objektgestaltung, Video und Lichtdesign, geht es um viel: um Orientierung im jetzigen Digitalisierungsschub und um die (Neu-)Verortung ihrer Kunst in der aktuellen Veränderung von Theaterarbeit und -institutionen. Szenograf*innen sind Einzelkünstler*innen; meist soloselbstständig (89 Prozent sind freischaffend) arbeiten sie mit Regisseur*innen, Dramaturg*innen und Ensembles in wechselnden Konstellationen zusammen. Von Haus aus Spezialist*innen für die visuelle Inszenierung und die Gestaltung von Räumen, führt sie die Frage nach den „digitalen Räumen“ an Kernfragen ihrer Profession. Sonst eher in Konkurrenz und untereinander wenig in Kontakt, zeigte sich während der Corona-Krise dagegen viel Bedarf an Gespräch, gemeinsamem Forschen und Skill-Sharing. Via Zoom trifft sich die (ortsverteilte) Gruppe seither, mit viel persönlichem Engagement, fast wöchentlich.

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Abb. 1 (Virtuelles) Arbeitstreffen der AG „Digitaler Raum“, in Szene gesetzt im AR-Portal der Bühnenbildnerin Luise Ehren­ werth (Okt. 2020)

Unter anderem werden dann, unter dem Motto „Five Minutes of Fame“, eigene Arbeiten oder auch Fundstücke diskutiert (z. B. Björks Musikvideo Wanderlust oder Deichkinds Denken Sie Groß), mit der Frage: Wie wurde das gemacht? In einem Treffen gab Sebastian Hannak, bekannt für seine Raumbühne HETEROTOPIA (Oper Halle), Einblicke in sein Entwurfsarchiv und digitalen Skizzenbücher (mit Anwendungen zu VR/AR, 3D-Scans, Photogrammetrie und mehr). Im schon sehr umfang­reichen „Projektarchiv Digitaler Raum“ sind Protokolle, ­Literaturlisten, Adressen (z. B. von Makerspaces) und Links (z. B. zu Online-Tutorials) versammelt, und auch über ein „Miro-Board“ tauscht man Informationen aus und skizziert Pläne. Weitere Aktivitäten sind interne Workshops. Derzeit überwiegen noch die rein technischen Fortbildungen, zu Technologien für digitale Bauproben oder Entwurfstools wie Blender. Darüber hinaus (als „To Do“) ist eine Kooperation mit der Akademie für Theater und Digitalität angedacht, mit Workshops zu Game Design, Interactive Storytelling und digitaler Narration sowie Szenografie und Augmented Reality oder auch zu Kostüm, Wearable Computing & Interactive Textiles. Das alles ist, wie gesagt, noch sehr improvisiert. Erst einmal macht man sich mit dem Technischen vertraut; da die Werkzeuge der Tech-Firmen allerdings viel vorgeben, das sich in die Entwürfe einschreibt, gilt es nicht nur, diese anwenden zu können, sondern auch, ihre Logik zu verstehen, um – vielleicht auch gegen diese Logiken gewendet – damit zu spielen. Zudem sollte es nicht darum gehen, Parameter aus dem materiellen Raum an der Schwelle zum Digitalen nur zu ‚remediatisieren‘ (zu übertragen). Ein Beispiel dafür, wie sehr Software visuelle Ordnungen bereits vorgibt, ist die Rasterund Windows-Ästhetik der Videokonferenz-Plattform Zoom, die uns alle nach der Logik der Zentralperspektive (‚fenestra aperta‘) in eine vorstrukturierte Relation des Zeigens und Wahrnehmens zwingt (‚Zoomopticon‘).14 Die Bühnenbildnerin Luise Ehrenwerth hat den Screenshot eines AG-Treffens, wie sie sagt „augenzwinkernd“, in den


von Bühnenbildern an den Theatern, um damit wieder künstlerisch etwas Neues zu machen. Und Häuser wie das Deutsche Theater Berlin oder das Staatstheater Braunschweig lassen sogar ihr gesamtes Schauspielhaus einscannen, um die 3-D-Simulation in virtuellen Räumen zu bespielen. Wie gesagt, es passiert viel. Die Filmbranche (die freilich kommerziell arbeitet), hat übrigens seit 2017 einen durch den Bund geförderten „Digital Hub“: www.de-hub.de/die-hubs/potsdam/. Vielleicht (und ich träume jetzt …) braucht es eine Digitalstrategie und zudem auch einen eigenen „Digital Hub“ für Theater und Theaterforschung?

Online-Streaming (sei es live oder aus der Konserve) ersetzt nicht die geteilte Erfahrung im physischen Ko-Präsenzraum. Geradezu ergreifend verdeutlichte dies auch wieder eine im Rahmen des digitalen Berliner Theater­ treffens 2021 gezeigte Filmcollage Was verloren sein könnte (zur Spielzeit 2020/21), mit Beiträgen von 35 Theatern und Impressionen aus leeren Foyers, Garderoben und verlassenen Bühnen. Viele Monate lang konnten sie alle mit ihrem Publikum nur medial vermittelt in Kontakt bleiben. Wenn die Häuser und Spielstätten wieder öffnen, werden sich unsere Wahrnehmungsgewohnheiten wahrscheinlich ‚verschoben‘ haben. Oder werden sie sich im Zuge der gemachten Erfahrungen mit leiblicher Abwesenheit, Konnektivität und Fernräumlichkeit vor allem erweitert haben? Reflexionen über Absenz respektive Telepräsenz gibt es im Theater schon länger.19 Ein Beispiel dafür ist Jean Cocteaus Stück Die geliebte Stimme (La Voix Humaine, 1930). Wenn auf der Bühne das Telefon klingelte, wusste das Publikum allerdings, dass der Apparat nur Requisit ist, die Geschichte Fiktion und das Telefonat der verzweifelt verliebten Frau mit einem abwesenden Mann theatrale Behauptung. Anders, doch vergleichbar, verhält es sich mit der seit jeher theaterbekannten Botenfigur: Bei jedem heranstürmenden Boten war das Publikum schon im antiken Theatron darauf konditioniert, sich einen (in der Phantasie lokalisierbaren) Ausgangspunkt mitzudenken (dabei spielte, z. B. in Aischylos’ Perser, auch der sichtbare Umraum mit, also das Meer oder die umgebende Landschaft). Heute erweitern digitale Telekommunikationsmedien das ‚Hier und Jetzt‘ um Fernräume, mit überregionaler und globaler Reichweite. Mit anderen Worten: Der leibliche Erfahrungsraum ist mit dem Konsum medialer Live-Übertragungen (broadcasting) und den Optionen räumlich distribuierter Aktion (networking) in veränderte räumliche Relationen getreten. Hallo, wer ist dort? Mit Dokumentartheaterprojekten wie z. B. Call Cutta (einem Spiel zwischen einem Call-Center der ostindischen Stadt und Teilnehmer*in-

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Sharing Spaces. Räume im postdigitalen Theater als Konstellationen der Sozialität und Teilhabe

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Rahmen eines Guckkastens gestellt, um die Bild-Logik des Zoomopticon in der doppelten Inszenierung hervorzuheben (Abb. 1). Wie also arbeitet man künstlerisch an dieser Schwelle? Um dies herauszufinden, ist ein – gerade auch von Szenograf*innen – oft geäußerter Wunsch, dass es Experimentierorte (Labore) und Zeit braucht. Denn wenn es in den Theatern nach der Pandemie ‚postdigital‘ ­weitergehen soll – nicht nur in dem Sinne, dass die PR-­ Abteilungen Aufführungstrailer und Streamings online posten oder sich auf Plakaten und Tickets QR-Codes finden, sondern in dem Sinne, dass die ‚digital condition‘ im Theater künstlerisch verhandelt wird15 –, dann müsste strukturell viel passieren. Wie solche Labore aussehen könnten, ob sie als Workshops temporär und mobil bleiben sollten, oder ob es bundesweit ähnlich ausgestattete (und vernetzte) Labore geben sollte, damit – im Sinne von Access für alle – die künstlerischen und technischen Bedingungen überall an den Häusern (und auch für den Gastspielbetrieb) vergleichbar blieben, ist noch unklar. Offenbar braucht es eine Digitalstrategie. Zu beachten wäre, dass sich die Situation gerade für die Szenograf*innen in den letzten Jahren in fast beschämender Weise verschlechtert hat; wer nicht zu den ‚Stars‘ gehört, arbeitet oft unter prekären Bedingungen. Daher sollte es jetzt nicht allein um ein (hektisches) Erwerben von Technologiekompetenz gehen, sondern vor allem um Perspektiven fürs Kunst-Machen. Teil davon wäre auch ein Update in der künstlerischen Zusammenarbeit, in der alle, also Szenografie, Regie, Dramaturgie, Ensembles und Technikteams, ihre Plätze in den Teams und den veränderten Arbeitsmodi erst wieder finden, zu fairen Bedingungen. Ein anderes Szenario wäre, dass Szenograf*innen eigene Design-Studios gründen, also nicht mehr nur im Theaterbereich arbeiten (manche tun das schon), was aber langfristig die Abwanderung aus dem Beruf bedeuten kann. Das wäre ein Verlust. Kurz vor Ausbruch der Pandemie freute sich das Goethe-Institut auf seiner Website noch explizit über eine „Tradition der Vielfalt“ des Bühnenbilds hierzulande.16 Diese Vielfalt bildet sich auch in einer Fülle von Material zu Theaterszenografie und -architektur in den Archiven ab (Deutsches Theatermuseum München, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Akademie der Künste Berlin u. a.): ein riesiger Schatz an Gestaltungswissen, den Digital-Humanities-Projekte hoffentlich bald vermehrt zugänglich machen (hier spricht wieder die Theaterwissenschaftlerin …), und dies gern auch für künstlerische Forschung aus interdisziplinären und polykulturellen Perspektiven. Als der britische Theaterhistoriker Richard Beacham vor rund 20 Jahren virtuelle Versionen des Theaters von Epidauros, von Shakespeares Globe und dem Dresdner Festspielhaus Hellerau in „Second Life“ errichtete,17 wurde so etwas bei uns noch belächelt. Das ändert sich allmählich;18 zudem erstellen Künstlerteams wie die Cyberräuber heute Digitalisate

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nen in Berlin, 2005) haben Rimini Protokoll in den Nullerjahren begonnen, solche Raumrelationen zu erkunden. Ein noch früheres Beispiel ist die Versuchsanordnung Äther – Trommeln – Europa (1999) von Penelope Wehrli: fünf Künstler*innen fuhren, mit noch fast brickettartig großen Mobiltelefonen und Videokameras, auf verschiedenen Routen durch Europa, um ihre Reiseeindrücke eine Nacht lang live in ‚dialogischen Situationen‘ mit Künstler*innen im Festspielhaus Hellerau sowie dem dort versammelten Publikum zu teilen: Konzept eines ‚Shared Space‘, das noch sehr von optimistischen Erwartungen an eine ‚neue Sozialität‘ und die verbindenden Potenziale der damals neuen, digitalen Netze geprägt war. Deutlich kritischer setzt der Bühnenbildner und ­Regisseur Michael Simon seit 2019 mit seinem Art-asResearch-Projekt NEW GREEN LAND (NGL) an. Seine Ausgangsfrage: Wie lassen sich die gegenwärtige technologische Transformation und die Eingriffe des Menschen in die Natur mit Theatermitteln zum Thema ­machen? NGL, entwickelt in Zürich, findet im Internet statt und exploriert ein Areal in der kalifornischen MojaveWüste. Diese Wüste, deren Klima große Temperaturunterschiede kennzeichnen (im Sommer 45 Grad, im Winter Schnee) ist, so Simon, ein „Sinnbild für das Zeitalter des Anthropozäns“ und eine „real existierende dystopische Metapher, ein Bühnenbild aus der Zukunft“.20 Topografisch erkundet wird dort eine Fläche von 100 x 100 Metern, und zu 138 Geotags wurden Inhalte erstellt Abb. 2 NEW GREEN LAND. Projekt von Michael Simon über Theater, virtuelle Kommunikationsräume und Klimawandel. Zürich (ZHdK Bühne, Mojave-Desert/CA und VR-Plattform (Art-as-Research/Langzeit­ projekt seit 2021), Probensituation Mai 2021, Fotos C. Ziegler/F. Simon.

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(zu Veränderungen von Klima, Flora und Fauna, zur Verdrängung der Native Americans durch Goldgräber aus dem Areal, zu dessen Nutzung als Militär-Testgelände, u. a.), die als Audio- und Videofiles abrufbar sind. Bei den Aufführungen werden Zuschauer*innen online mit zwei Performer*innen, die vor Ort weitere Recherchen und auch musikalische und choreografische Handlungen durchführen, in Kontakt treten und sich beteiligen können; auch die Aussaat von Samen indigener Pflanzen ist Teil des Vorgangs. Damit verbinden sich folgende Fragen: Sind Bühnenbilder notwendig gebaute Bühnenbilder, und wie weit wäre heute die Reichweite von Theater(räumen) zu denken (geografisch, ästhetisch und diskursiv)? Wer (und wo) ist das Publikum, und wie hat es teil? Welche Ressourcen (Energie sowie Kapazitäten von Serverfarmen im Silicon Valley und anderswo) verbrauchen digitales Theater, virtuelle Bühnenbilder und Streamings? Wie können Theater und Szenografie zur Veränderung ökologischen Bewusstseins beitragen (Nachhaltigkeit), und was wären hier sinnvolle Weichenstellungen für die Zukunft?

Ausblick: Welcome Back. Über ‚neue‘ und ‚alte‘ Adressen „Es ist komisch mit Adressen wo man wohnt. Wenn man an einem Ort wohnt so kennt man ihn so gut dass er wie eine Identität ist (…) und dann Jahre später (…) ist es kein Name mehr sondern etwas (…) an das man sich erinnert oder nicht erinnert …“ Gertrude Stein, Jedermanns Autobiographie


1

N. Negroponte: „Beyond Digital“, in: Wired (01/1998), https://www.wired.com/1998/12/negroponte-55/

2 „digital.DTHG“ ist ein Kompetenzteam der Deutschen Theater­technischen Gesellschaft, https://digital.dthg.de/ 3 LMU München, www.krisengefuege.theaterwissenschaft. uni-muenchen.de/index.html 4 Vgl. z. B. die Diskussion „Temporäre Gemeinschaften und Digitalität – Theater während der Pandemie“, 04.12.2020 (online), eine Veranstaltung der FU Berlin, Exzellenzcluster Temporal Communities, www.temporal-communities.de 5 Mit einem Wort aus der Sci-Fi-Literatur, William Gibsons Neuromancer (1984). Siehe auch M. Wertheim: The Pearly Gates of Cyberspace. A History of Space from Dante to the Internet. New York 1999 (dt. 2000). 6 Vgl. J. Döring, T. Thielemann: Mediengeographie. Theorie, Analyse, Diskussionen. Bielefeld 2009. 7 Vgl. v. a. die Publikationen von S. Günzel, ders. (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010. Für die Theater­ forschung: S. Dixon: Digital Performance. MIT Press 2007, S. 333–512 (Kap. „Space“); B. Wiens: Intermediale Szenographie. Paderborn 2014. 8 S. G. Roussel / Centre Pompidou Metz (Ed.): „Opéra Monde“ [Kat.], Paris, Metz 2019; „Opéra Monde au Centre Pompidou Metz en 100 secondes“, www.youtube.com/watch?v=TI1ajKBs4JI 9 F. Rieger: „Arbeit in interdisziplinären Teams: Aus der Frühzeit von Mixed-Reality-Projekten“, in: Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. Hg. Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de, Berlin 2020, S. 59–62: 62. 10 M. Alexenberg (Ed.): Educating Artists for the Future. Learning at the Intersections of Art, Science, Technology and Culture. Bristol, Chicaco 2008. 11 A. Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld 2012, S. 204f. 12 B. Laurel: Computers as Theatre (1991) 2nd Ed., Reading, Mass. 2013; s. a. Wiens (2014), S. 45. 13 E. Slevogt: „Auf der Suche nach dem passenden Interface: Virtuelle Festivalauftritte“, in: Netztheater (2020), S. 106. 14 Søren Pold, zit. nach G. Lovinks Beitrag in Eurozine, 11/2020 [Pdf], 13, s. a. T. Beyes: „Calculated Communities“, www.hebbel-am-ufer.de/programm/hau4/spy-on-me-3-timon-beyes 15 Vgl. F. Stalders Buch The Digital Condition, 2017 (dt. 2016), zu 16 N. Burghausen: „Bühnenbild: Tradition der Vielfalt“, 04/2020, www.goethe.de/de/kul/tut/21831564.html 17 „Theatron 3 – Educational Undertakings in Second Life“, Ltg. R. Beacham, King’s College London, http://english.heacademy. ac.uk/2016/01/23/theatron-3-educational-undertakings-insecond-life/ 18 S. a. das Projekt „Im/material Theatre Spaces. VR & AR for

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deren Auswirkungen in Alltag, Kultur und Politik.

Cultural Heritage“, https://digital.dthg.de/ 19 Vgl. B. Wiens: „Telepräsenzen“, in: A. Roeder, K. Zehelein (Hg.): Die Kunst der Dramaturgie. Theorie, Praxis, Ausbildung. Leipzig 2011, S. 126–138. 20 M. Simon: NEW GREEN LAND, Projektbeschreibung (unveröffentl.); https://michaelsimon.ch/projects/new-greenland/, geplante Premiere: Ende 2021.

birgit wiens

Was Theater nach der Pandemie sein wird – dazu ist schon viel gemutmaßt worden. Derzeit haben empirische Studien Konjunktur, die aber vor allem den (finanziellen) Verlust berechnen. Doch auch Perspektiven für die Kunst werden skizziert. In seinem Online-Vortrag „Staging the Future“ (beim 3. „Theatre Design and Scenography“-Symposium, London, März 2021) führte dazu der New Yorker Theaterwissenschaftler Arnold Aronson die Metapher der ‚alten‘ und ‚neuen‘ Adressen an, aus dem oben zitierten Text Gertrude Steins. Seine Frage war, ob das an seine ‚alte‘ Adresse zurückkehrende­ Publikum, den Stoffen, Stücken und Formen des Theaters entwöhnt, als ‚kompetentes‘ Publikum dauerhaft verloren geht (bei schwindendem Interesse vor allem gegenüber traditionellen Spielformen) oder ob es, im Gegenteil, verstärkte Wertschätzung zeigt. Die wohl wichtigste Frage ist, was Künstler*innen und Publikum von den ‚neuen‘ an ihre ‚alten‘ Adressen mitnehmen. Dass man, zeitweilig als Ersatz für Besuche vor Ort, ­Aufführungen von Theater- und Opernbühnen über Plattformen wie OperaVision weltweit on demand verfolgen kann, mag für viele ein auch in Zukunft willkommenes (Zusatz-)Angebot sein. Darüber, dass das Kerngeschäft des Theaters weiterhin die Live-Aufführung im physisch geteilten Raum ist, scheint aber Einigkeit zu bestehen. Was dagegen die Suche nach theatertypischen Gemeinschaftserlebnissen im interaktiven Netzoder Teletheater betrifft, hat sich gezeigt (resp. bestätigt), dass reine Online-Formate eine performative Kunstform für sich sind, aber mit Theater anschluss­ fähig. Sowohl auf den physischen als auch digitalen Bühnen wird man zukünftig wechselseitig voneinander ­lernen können (und auch müssen). Dabei werden sich Szenografie und Dramaturgie von Instagram, Netflix und YouTube-Clips Anregungen holen – und bestenfalls auch aus dem reichen Fundus der Geschichte seiner eigenen Kunst und Gestaltungen (so, wie sich Designer*innen, wie Brenda Laurel und andere, weiterhin Anregungen vom Theater holen). An dieser Schnittstelle angebracht wäre meines Erachtens ein kritischer Blick: Auch wenn etwa Instagram live oder TikTok Spaß machen und performatives Potenzial haben, wäre es problematisch, wenn künftig (öffentlich geförderte) Theater Künstler*innen und Publikum dazu anhalten, internationale Tech-Konzerne gratis mit Daten und creative labour zu füttern. Gibt es also Alternativen, oder was könnte überhaupt eine mögliche Orientierung sein (Stichwort: Digitalstrategie)? Ich hoffe, die Theater werden in Zukunft nicht nur ‚Shared Spaces‘, sondern im widerständig-kritischen Sinne auch ‚Smart Places‘ sein und denke, dass die tatsächlich aufregende Arbeit gerade erst ­beginnt.

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oper, klima und der wandel Das Interview mit UWE SCHNEIDEWIND und BERTHOLD SCHNEIDER wurde im September 2019 geführt von der Dramaturgin UTA ATZPODIEN und dem Performer ROLAND BRUS. Das Kurzinterview mit Uwe Schneidewind wurde am 2. Mai 2021 geführt von Berthold Schneider. Die Projektskizze zum „Transformationstandem“ stammt von CAROLIN BAEDEKER (SV Abt bach kocs und prodWuppertal , März 2020). Das Kurzinterview mit MANFRED FISCHEDICK wurde am 28. April 2021 geführt von BERTHOLD SCHNEIDER. Originalbeitrag von BERTHOLD SCHNEIDER, Mai 2021

Unter dem Projekttitel „Wechsel/Wirkung“ haben der Wuppertaler Opernintendant Berthold Schneider und Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie (WI), drei Wochen lang ihre Jobs getauscht. Die Idee entstand spontan im Herbst 2018 im Opernfoyer bei der Präsentation von Uwe ­Schneidewinds Buch Die Große Transformation1, in dem

der Begriff der „Zukunftskunst“ neu definiert wird und eine zentrale Rolle spielt. Inzwischen hat sich eine enge Zusammenarbeit zwischen den Institutionen ­entwickelt, deren jüngstes Vorhaben ein „Transformationstandem Nachhaltigkeit“ ist, bei dem beide Partner sich erneut in einen ergebnisoffenen Prozess begeben. Doch zunächst zum Ämtertausch:

Gab es Vorüberlegungen oder Absprachen für so ein Wagnis?

benennen, was lassen wir offen, und was ist der Kern des Projekts? US: Uns wurde klar, das Ganze hat eine Wirkung auf einer individuellen, einer organisatorischen und gesellschaftlichen Ebene. Welche Form des Anders- und Neudenkens braucht es eigentlich in Zeiten des Umbruchs? Das war unser Kompass.

BS: Die Einladung zum Ämtertausch war ein situati-

ver Gedanke. Solche Ideen kommen einem meiner Erfahrung nach jedoch nicht, wenn man vorher nie über einen solchen Kontext nachgedacht hat. Es muss ein Gedankenfeld geben, in dem eine vage Idee rotieren kann, und dann schließen sich die Synapsen unerwartet. Bei der Buchpräsentation kam es einleitend zu einem performativen Aufschlag vonseiten der Oper. Das Panel war toll besetzt, und die Qualität der Diskussion, die Energie im Raum waren so hoch, dass man nicht rausgehen wollte mit: Das war nett, und wir machen weiter wie immer. US: Wir haben Institutionen übernommen, die ein relativ klassisches Rollenverständnis haben. Das Wuppertal Institut ist ein großer globaler Thinktank, der in dieser Stadt durch Zufall wie ein Ufo mal gelandet ist. Und Oper funktioniert im Ursprungsverständnis erst mal ein ganzes Stück kontextfrei. Wie ging es dann nach der Ankündigung des Bürotauschs weiter?

BS: Nach der Ankündigung begannen wir zunächst mit einer Reflexionsphase: Welche Ziele können wir klar

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War das Experiment eine Zumutung?

BS: Das Ganze war ganz eindeutig eine Grenzüber-

schreitung: Was formale Abläufe angeht, unsere Vertragssituation, die Entscheidungsfindung im Theater. Normalerweise sagen wir ja nicht, wir machen jetzt alles mal ganz anders. US: Das Projekt wurde von dem Performer Daniel Hörnemann und dem Philosophen Christian Grüny begleitet. Das war sehr wichtig für uns. Sie haben entschieden dazu beigetragen, dass wir den Kern herauskristallisieren konnten. BS: Es gab regelmäßige Treffen mit den beiden, auch, um die praktischen Dinge zu berücksichtigen, rausfinden, wie es geht. Die haben uns alles noch mal gespiegelt und ganz konkrete Handlungsvorschläge ­gemacht.


US: Mein Arbeitstag in der Oper hat sich stark in die Abende verschoben. In der ersten Woche liefen Proben. Es war faszinierend, in diesen Arbeitsalltag ­ ­einzutauchen, um 20 Uhr auf der Probebühne einen ­Einblick zu bekommen und die Vorstellungen zu be­ suchen. Ich hatte in der Zeit auch externe Vorträge und war in meiner alten Rolle gefragt. Da habe ich versucht, diese Vorträge aus der Perspektive von dem, was ich gerade machte, zu gestalten. Wie war das für Sie?

BS: Verunsicherung war eigentlich die Grundsitu­ ation. Ich gehe andauernd in Situationen rein, deren Dimensionen ich nicht kenne. Worüber sprechen die ­ Menschen jetzt eigentlich? Und ich bin ja nicht da, um dabeizusitzen und zu hospitieren. Ich komme ja in der Funktion des Leiters, muss diese Rolle ausfüllen. Aber alle um mich herum haben mehr Sachkenntnis als ich. Mal hat es mich platt gemacht. Ganz oft hat es auch Dinge freigesetzt. Wenn ich also inhaltlich nicht in der Lage bin, Setzungen zu machen, muss ich natürlich andere Strategien anwenden, wenn ich Bewegung ­ ­erzeugen will. Für mich wurde klar, dass ich über Fragen etwas auslösen kann. Nicht nur „Erklärt mir mal? Wo ist das Problem?“. Indem ich eine Frage aus einer dezidiert anderen Perspektive stelle, kann ich bei meinem Gegenüber Gedankenprozesse auslösen, die manchmal produktiver sind, als wenn ich in einem zielgerichteten Gespräch bin, bei dem alle wissen, worum es geht.

Theater total anders. In der Oper kommen die Mitar­bei­ ter*innen und wollen Entscheidungen. Wenn sie aus dem Büro rausgehen, muss klar sein, wohin der Zug fährt. Der Druck ist hoch, das sind oft viele Entscheidungen an einem Tag. Dadurch entsteht hier eine hohe Dynamik und eine große Unmittelbarkeit. Im WI habe ich das nicht so empfunden. Das sind langfristige Prozesse, die die Vorgabe brauchen, wo dieser Tanker hinfährt. Das macht man aber nicht im Tagesgeschäft. Im Theater ist alles ­direkt. Du sagst etwas und siehst: Aha, die Stühle auf der Bühne, die gestern noch weiß waren, sind jetzt grün. US: In der Oper lief ein herausragend getakteter ­opera­tiver Betrieb. Es war eine Riesenhemmung, eine Chefsimulation aufzuziehen und noch mehr Störung in diesen Betrieb hineinzubringen. Dadurch bin ich in einen defensiven ­Modus gekommen. Ich habe mir Felder herausgesucht, in denen ich Anknüpfungspunkte sah, in der organisatorischen Steuerung, Marketing, in der Theaterpädagogik. Schnell haben wir Wege gefunden, wie wir die Entscheidungsstrukturen dezentralisieren, damit das hier weiterläuft. Mir wurde signalisiert, Herr Schneidewind, es reicht schon, dass Sie hier sind und Herr Schneider nicht. Welche Auswirkungen hatte der Ämtertausch neben den persönlichen Erfahrungen konkret für die unterschiedlich tickenden Organisationen? Ist dadurch etwas in Bewegung gekommen?

BS: Wir hatten für den dreiwöchigen Projektzeitraum etwa in der Mitte einen Tag des Rücktauschens definiert. Bei mir wurde diese Rückkoppelung relevant: Ich bin auch zurückgegangen, um Spannungen abfedern zu können.

BS: Im WI laufen 50 Projekte parallel mit sich überlappenden Projektphasen. Wir hingegen haben ganz ­wenige Projekte, hier arbeiten sehr viele Menschen an einer einzigen Premiere. US: Diese Orte der Unmittelbarkeit sind in meiner Organisation an vollkommen anderen Stellen, ganz ­selten, nur in Notfällen, nicht im Normalbetrieb. Bei uns findet die Unmittelbarkeit dezentral statt, in einzelnen Projektteams. US: Bei uns ist der Nachklang gar nicht so intensiv gewesen, weil wir uns immer mal wieder mit neuen und kreativen Ideen auseinandersetzen. Die Wirkung für uns liegt mehr in der Außenwirkung, da wir jetzt ganz anders wahrgenommen werden als Brückenbauer zur Kunst. Der Begriff der „Zukunftskunst“ hat sich ganz anders aufgeladen. Das Spektrum hat sich erweitert, um unsere Trans­forma­tions­ themen in einem solchen Raum zu diskutieren. Es ist ein innerlich strategischer Nachklang, der weiterwirkt.

Waren Sie im Neuland auf sich selbst zurückgeworfen, oder

Ist das eine andere Betriebstemperatur? Wie viel Grad,

hatten Sie ein Libretto zum Navigieren?

­Celsius, Fahrenheit?

Solche Veränderungsprozesse erinnern an Segeln auf hoher See. Hatten Sie noch Funkkontakt zum Mutterschiff? Gab es in der ganzen Zeit keine Störfälle, kein SOS?

US: Es gab Situationen, da ging es an Grenzen, wo klar war, jetzt braucht es eine Entscheidung. Dann haben wir uns telefonisch verständigt. In so einer extremen ­Situation lässt du es nicht einfach weiterlaufen.

US: Berthold sagte mal: Wie hältst du das nur aus, ihr schiebt euch da zwei Stunden lang Gedanken vom Hirn eines toten Körpers in das Hirn eines anderen toten ­Körpers und findet das völlig normal.

oper, klima und der wandel

Wie sah dann die tägliche Praxis aus?

BS: Die Art zu führen ist im Wuppertal Institut und

berthold schneider

Dann gab es bei uns im Haus Gespräche, in denen wir die Mitarbeiter informiert und ihnen die Möglichkeit zum Feedback gegeben haben. Das war extrem gut und wichtig, denn da ging eine ganze Menge Druck raus. Drei ­Wochen vor Projektstart hatten wir ein großes Treffen, zu dem alle Mitarbeiter beider Institutionen g ­ emeinsam eingeladen waren.

109


BS: Ich habe die Situation im WI als sehr unphysisch erlebt. Wir haben hier im Theater eine Auseinandersetzungskultur, die darauf ausgerichtet ist, Konflikte direkt anzugehen. Dann spritzt der Eiter. Am nächsten Tag ist das geklärt, die Dinge sind befriedet. Wir haben einfach so viele Sichtweisen, so ein großes Konfliktpotenzial, dass wir es uns gar nicht leisten können, Konflikte unter den Teppich zu kehren. Am Ende halte ich das für unser Betriebsklima aber für sehr gut. Im WI ist die Temperatur eher gleichbleibend. Bei uns ist sie extrem schwankend, im Sekundentakt, vom Ruhezustand zur Hyperaktivität. US: Für mich war dies ein Schlüssel zu verstehen, warum wir mit unseren Themen so wenig auf die Gesellschaft einwirken, denn das Tote, dieses Nur-in-den-Kopf-­Kommen, bewegt Menschen nicht, reißt sie nicht mit. Eine der Konsequenzen ist für mich die Erkenntnis, dass wir viel mehr Libretti und Librettisten brauchen, die uns das, was wir machen, übersetzen, weil uns dieser Zugang zu der emotionalen Ebene auch durch die Selbstkastei­ung und Selbst­ definition des Wissenschaftsbetriebs so komplett fehlt. BS: In der Oper haben wir als Konsequenz des Projekts natürlich nicht angefangen, alle Büros neu zu streichen. Aber: Tektonische Platten haben sich gelöst. Es war ein massiver Eingriff in Sicherheiten und Gewohnhei­ten. Das hat sehr viel Energie freigesetzt, in jede Richtung, auch negative Energie. Mitarbeiter*innen haben sich nach dem Projekt spürbar anders definiert, Initiative ergriffen, und das hat ihnen ein anderes Selbstbewusstsein gegeben. Die politische Polarisierung und der ökologische Notstand bewegen die Menschen weltweit. „Die Große Transforma­ tion“ will über eine „Zukunftskunst“ Wege aus dieser Situ­ ation finden. Inwieweit hat die gesellschaftliche Notsitua­ tion für den Ämtertausch eine Rolle gespielt?

US: Das war nicht so zentral. Wir haben das Zukunftskunstmotiv nicht zu sehr aufgeladen, um die Organisationen nicht zu verlieren mit salbungsvollen Reden. BS: Wir sind in meiner Intendanz mit dem Anspruch angetreten, dass die Realität des 21. Jahrhunderts nicht an den Türen des Theaters aufhört. Wir befinden uns in einer sehr dynamischen Zeit und müssen darauf reagieren. Das können wir viel besser, wenn wir flexibel sind. Das Gegenteil von dem denken können, was wir gerade tun. Das kann man trainieren. Dafür ist Theater ein guter Ort. Aber ich kann es eben nicht nur auf der Bühne postulieren, ich muss es vorleben, mich aussetzen und dafür persönliche Konsequenzen ziehen. Das Publikum merkt das und die Mitarbeiter auch. Aus der zeitlichen Distanz ergeben sich inzwischen einige neue Aspekte und Sichtweisen auf das Projekt, die mit aktuellen Ereignissen oder persönlichen Neu­bewer­tun­ gen zu tun haben. Uwe Schneidewind hat im Mai 2020 das Wuppertal Institut verlassen und wurde im September desselben Jahres zum Oberbürgermeister der Stadt

110

Würden Sie das Experiment wiederholen? Oder was ändern?

BS: Ich würde es sofort wieder machen. Es müsste

etwas aber ganz Anderes sein, damit wir uns selbst überraschen, damit wir lernen. US: Ich würde mir sehr viel mehr Zeit nehmen in der Mitnahme der Organisation, um das gesamte Potenzial zu nutzen. Augen, Ohren und Herz offen halten. Das hat nicht nur mit einer bestimmten Institution zu tun, sondern mit dem extrem hohen Vertrauen, das wir zueinander hatten. Wir wussten, wir können das verantworten. Gab es vonseiten der Politik keinen Widerstand?

BS: In der betreffenden Aufsichtsratssitzung wurde sehr kontrovers diskutiert. Am Ende hieß es, das Projekt birgt Risiken, ist aber für die Institution Theater sinnvoll. Eine wunderbare Rückmeldung von einem Politiker war, sie hätten in der Fraktion diskutiert, so einen Tausch auch mal mit einer anderen Fraktion zu machen. Als ich das hörte, wurde mir klar, wir haben mit dem Projekt wirklich etwas ausgelöst. Das ist ein Teil des Theater­ berufs, Gedankenräume zu öffnen, Mut zu vermitteln. US: Bei uns war das niederschwelliger, weil wir das klar als Organisationsentwicklungsmaßnahme definiert haben. Das liegt in der Hoheit der Geschäftsleitung. Wir wussten genau, wir können das riskieren. Wie theatral ist das Wuppertal Institut? Wie wissen­ schaftlich ist die Oper?

US: Ich nehme Oper auf einer übergeordneten Ebene als sehr wissenschaftlich wahr. Sie setzt sich mit grundlegenden Fragen und Motiven des menschlichen Mit­ einanders auseinander, mit gesellschaftlichen und ­persönlichen Spannungen. Sie findet Formen des Ausdrucks, der Beschreibung, der Metaphorisierung, die ein gewaltiger Anregungsraum für uns sind. Das hilft uns, die wir diese Phänomene nur analytisch untersuchen, sie viel reichhaltiger zu verstehen.

BS: Ich würde das WI nicht als theatral bezeichnen, aber

als dramatisch. Die Menschen wissen, welche Dimensio­ nen das, worüber sie nachdenken, hat. Sie sind beseelt und von einer Überzeugung getrieben. Sie entdecken, klären auf, beschreiben grundlegende Zusammenhänge, die dra­ matisch sind. In diesem Spannungsfeld zu leben, heißt, dass ich weiß, wie groß die Probleme sind, und gleichzeitig sehe, wie wenig die Gesellschaft bereit ist, diese Erkennt­ nisse adäquat aufzunehmen. Das birgt eine große Frustra­ tion. Die große Leistung ist, darüber hinwegzukommen und weiterzumachen.

Wuppertal gewählt. Aufseiten der Oper haben sich pandemiebedingt sowie aufgrund der in den letzten Monaten intensiv geführten Strukturdebatte am Theater neue Perspektiven ergeben. Aus diesen Gründen wurde das Interview im Folgenden aktualisierend ergänzt.


Hatte dein Entschluss, dich als Oberbürgermeister­

BS:

Im Nachklang wurde mir bewusst, wie ich durch das

kandidat und jetzt als OB politisch zu engagieren, etwas

Projekt noch einmal fundamental neu die Kraft erlebt

mit dem Projekt „Wechsel/Wirkung“ zu tun? Wenn ja,

habe, die im Fragestellen liegt, und was es nicht geleistet

kannst du beschreiben, inwiefern?

US: Insofern als „Wechsel/Wirkung“ gezeigt hat, wie

wichtig Perspektivwechsel sind. Persönlich, für Organisationen, aber auch gesellschaftlich. Insofern haben mich die Erfahrungen von „Wechsel/Wirkung“ in meinem OBBeschluss nochmals bestärkt.

rekten Einbezug in die Versuchsanordnung zu realisieren. Auch wenn die Kolleg*innen natürlich Informationen und Reaktionen zu dem Projekt bekamen, bleibt die Frage un­ beantwortet: Können wir mit der Institution Theater als Ganzes Veränderungsprozesse trainieren, um uns in die

Hat das Projekt die Wahrnehmung des Wuppertal

Lage zu versetzen, auf veränderte Anforderungen ange­

Instituts in der Stadt, überregional oder auch international

messen und schneller zu reagieren? Dynamiken wie sie das

verändert?

Projekt „Wechsel/Wirkung“ entfacht hat, scheinen mir in­

US: Das Projekt hat unseren Anspruch, Transfor-

zwischen auch extrem hilfreich bei der Bewältigung der

mationsprozesse aus kultureller und künstlerischer Perspektive zu betrachten, glaubwürdig unterstrichen und damit unseren Ansatz der „Zukunftskunst“ gestärkt.

großen ­Herausforderungen, denen die Theater aktuell z. B.

Als eine konkrete Folge des Projekts „Wechsel/Wirkung“ steht derzeit der Start eines „Transformationstandems Nachhaltigkeit“ an, bei dem Wuppertal Institut und

Theater erneut gemeinsam einen Prozess mit offenem Ausgang angehen.

Das Wuppertal Institut erhält in den letzten Jahren vermehrt Anfragen aus dem Kulturbereich, sich gemeinsam mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Zum einen mit der Frage „Was heißt Nachhaltigkeit für den Kulturbetrieb?“, zum anderen damit, „Welchen ­Beitrag können Kunst und Kultur leisten, um die NachhaltigkeitsTransformation gesellschaftlich voranzubringen?“. Dies ist eingebettet in den gesamtgesellschaf­t­lichen Diskurs zu einer klimagerechten und ressourcenleichten Zukunft. Im Zuge des mehrwöchigen Ämtertauschs 2019 zwischen Uwe Schneidewind, als Präsident des Wuppertal Instituts, und Berthold Schneider, als Intendant der Oper Wuppertal, entwickelte sich in beiden Institutionen ein großes Interesse an einem engeren Austausch und gemeinsamen Aktivitäten in Wuppertal. Für das Wuppertal Institut geht es darum, am Beispiel der Wuppertaler ­Bühnen und Sinfonieorchester GmbH (WBS) die Rolle von Kunst und Kultur als Akteur im Nachhaltigkeitskontext besser zu verstehen und aus dieser Sicht heraus Transformation zu gestalten. Dabei wird Kunst und Kultur als Sparringspartner auf Augenhöhe gesehen und weniger als „Kundengruppe“ adressiert. Die WBS hat Interesse daran, Nachhaltigkeit als neues Feld in der künstlerischen Arbeit stärker in den Blick zu nehmen sowie die eigenen Ressourcen- und Klimawirkungen und Nachhaltigkeitspotenziale zu ermitteln. Dies alles mit dem Ziel, anschließend die entsprechenden Veränderungsprozesse einzuleiten. Vor diesem Hintergrund werden beide Institutionen als Tandem ein Pilotprojekt zum Thema „Nachhaltigkeit im Kulturbereich“ entwickeln und umsetzen. Uwe Schneidewind prägte den Begriff „Zukunftskunst“, der die Fähigkeit bezeichnet, grundlegende

Transformationsprozesse von der kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit zu denken und von dort aus institutionelle, ökonomische und technologische Perspektiven zu entwickeln. Nach wie vor ist jedoch die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit im Hinblick auf die Bedeutung der Künste und des Ästhetischen also auch des Künstlerischen im Nachhaltigkeitsdiskurs und der Nachhaltigkeitsforschung zu wenig berücksichtigt. Vanessa Weber und Gesa Ziemer2 werfen die Frage auf, ob sich in diesem ­Diskurs die Kunst auf Nachhaltigkeit beziehen sollte und damit den Kodierungen der Nachhaltigkeit mit seiner normativen Ausrichtung als ethisch-moralisches Prinzip folgen soll, oder ob Nachhaltigkeit sich auf Kunst bezieht und darüber die vielschichtigen Sphären künstlerischästhetischen Wirkens in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Voraussetzung für jede künstlerische Diskussion über Nachhaltigkeit auf der Bühne ist eine Position der Aufgeklärtheit des Theaters, die das eigene Handeln kritisch durchleuchtet hat. Übergreifende Fragestellungen des Tandems können sein: Wie können sich Nachhaltigkeitsforschung und ­Kultur gegenseitig inspirieren, Nachhaltigkeits-Transformation zu gestalten? Und an welcher Stelle tut es gut, Kreativität walten zu lassen und die Normativität einer nachhaltigen Entwicklung hintenanzustellen? Der partizipative und transformative Charakter zeigt sich darin, dass Bezüge zum Reallabor-Ansatz aus der transformativen Forschung hergestellt werden. Um dies zu ermöglichen, folgt der Prozess dem Prinzip der ­Co-Kreation: D. h. die beiden Institutionen designen auf ­Augenhöhe den Prozess. Das Wuppertal Institut (WI) gibt

in den Bereichen Struktur, Gleichstellung, Diversität und Nachhaltigkeit gegenüberstehen.

oper, klima und der wandel

BS:

hat: Nämlich in den Kollektiven, wo naturgemäß die größ­ ten Verharrungskräfte in den Theatern bestehen, einen di­

berthold schneider

BS:

111


erfahrungs- und wissensbasierte Vorschläge, lässt jedoch Raum für eigene Ansätze der WBS, und die Fest­ legung des Prozesses geschieht gemeinsam. Alle sind dabei Lernende und zusammen auf der Suche nach dem idealen Ergebnis. Im Zuge der Entwicklung des Nachhaltigkeits­ansatzes werden Instrumente des Nachhaltigkeits­managements in Unternehmen/Institutionen sowie e ­tablierte Stan-

dards und Richtlinien der Nachhaltigkeitsberichterstattung (wie z.  B. Deutscher Nach­haltigkeitskodex) und des Carbon-/Material Foot­-printings aufgegriffen und an die Realität der WBS ­angepasst. Dabei wird eine Blaupause für die Erar­ beitung von Nachhaltigkeitsstrategien im Kultur­betrieb geschaffen, um letztlich auch die Übertragbarkeit der Prozesse auf andere Kulturbetriebe zu ermöglichen.

Im Mai 2020 trat Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick das Amt des Wissenschaftlichen Geschäftsführers am Wuppertal Institut an. Das Wuppertal Institut ist einer der weltweit führenden Thinktanks im Bereich Nachhaltigkeit. Die Besonderheit des Instituts besteht darin, dass

es stark interdisziplinär arbeitet, politisch wirksam sein will und seinen Blick nicht auf die rein ökologischen ­Aspekte von Prozessen beschränkt, sondern z. B. immer auch soziale, wirtschaftliche und politische Faktoren in die wissenschaftlichen Analysen mit einbezieht.

BERTHOLD SCHNEIDER:

Welches Potenzial seht

ihr in der Zusammenarbeit mit einer Kulturinstitution beim Thema Nachhaltigkeit?

MANFRED FISCHEDICK: Ein sehr großes Potenzial, da hierbei zwei Kulturen aufeinanderstoßen, die sehr viel miteinander und voneinander lernen können. Wir beschäftigen uns manchmal etwas trocken mit Zahlen und Szenarien, insofern können wir sehr von ­ einem ­lösungsorientierten-kreativen Ansatz profitieren, die Kunst und Kultur mitbringen. BS:

Können inhaltliche Impulse in Kilogramm CO2 ­um­-

­ge­rechnet werden?

MF: Das ist natürlich schwierig. Es ist immer einfa-

cher umzurechnen, wie viel Kilogramm CO2 durch eine Solar- oder Windenergieanlage gespart wird. Diese weicheren Faktoren, bei denen es darum geht, in der Zusammenarbeit mehr Menschen zu erreichen, sie über ihr Konsumverhalten nachdenken zu lassen, können natürlich nur schwer in Kilogramm festgehalten werden. Dafür bräuchte es dann große empirische Analysen, für die meistens keine Zeit besteht. Das sind die versteckten Kilogramm, die man nicht so einfach berechnen kann, die am Ende aber unglaublich wichtig sind, um gesellschaftliche Ziele, wie z. B. den Klimaschutz, erreichen zu können.

BS:

senkt haben, ist in aller Regel nicht genau erforscht. Dazu ist eben eine Mischung aus unterschiedlichen Bereichen, sozusagen die Sensibilisierung der Menschen in Kombination mit Informationsbereitstellung, notwendig. Das sind diese vielen weichen Faktoren, die essenziell wichtig sind, damit sich etwas verändert. Und dies kann bei der einzelnen Betrachtung sehr schlecht gemessen werden, womit dementsprechend ihre Wirkung in der Bilanzierung dann auch untergeht.

BS:

Habt ihr im Hinblick auf die Nachhaltigkeit eine B ­ itte

an die Kulturinstitutionen?

MF: Wir haben die große Bitte, einfach enger zusammenzuarbeiten. Ich glaube, wir benötigen die Kultur, um neue Zugänge zu denjenigen zu schaffen, die sich bisher mit Nachhaltigkeitsfragen weniger beschäftigt haben. Wir brauchen die Kultur aber ebenfalls, um die Nachhaltigkeitsforschung mithilfe anderer Methoden und neuer Ansätze für kreative Lösungen zu öffnen. Deswegen setzen wir auf eine intensive Zusammenarbeit der Kunst und Kultur mit der Nachhaltigkeit in der und für die ­Zukunft.

Wenn man diese Faktoren nicht direkt berechnen

kann und es gleichzeitig zu aufwendig ist, sie indirekt zu be­ rechnen: Fallen die dann nicht argumentativ unter den Tisch?

MF: Das ist genau das Problem, sie fallen heute tat-

sächlich einfach unter den Tisch. Denn man schaut sich üblicherweise bei Aufstellungen über die CO2- oder Energiebilanzen an, wie viel Strom oder Erdgas gebraucht wird und vielleicht, wie der Ausbau an erneuerbaren Energien verläuft, und den Beitrag, den wir dazu geleistet haben. Aber warum an bestimmten Stellen Verbräuche sich ge-

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1 Uwe Schneidewind: Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, S. 23. 2 Gesa Ziemer und Vanessa Weber: „Urbanität kuratieren. ­Plädoyer für einen erweiterten Nachhaltigkeitsbegriff durch Kunst“. In: Jeschonnek, Günter (Hg.): Darstellende Kunst im öffentlichen Raum. Theater der Zeit, Berlin 2017, S. 436 und 440.


annett baumast

von der pflicht zur kür nachhaltigkeitsmanagement an der oper göteborg

Das Opernhaus in Göteborg (GöteborgsOperan) ist ein Pionier im Hinblick auf die Verankerung von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit im eigenen Betrieb. Seit Jahren werden Maßnahmen hinter den Kulissen umgesetzt, die in der Zertifizierung nach dem internationalen Standard ISO 14001 auch in der Kommunikation nach außen ihre Wirksamkeit entfalten. Mit der Inszenierung von Richard Wagners Der Ring des Nibelungen bringt Stephen Langridge das Thema Nachhaltigkeit ganz konkret auf die Bühne, während hinter den Kulissen die Möglichkeiten einer ökologisch und sozial nachhaltigen Inszenierung ausgetestet werden.

haltigeren Betrieb ausgerichtet sind1, ist auch das Opernhaus in Göteborg – GöteborgsOperan – ein Vor­ reiter in Sachen (ökologischer) Nachhaltigkeit und an­ deren Häusern weit voraus. Dies wäre Grund genug, um einen neidischen Blick gen Norden zu werfen, doch wie viel besser ist es doch, sich von den guten Beispielen inspirieren zu lassen und sich – im positiven Sinne – ­etwas abzuschauen.

Ouvertüre: Der neidvolle Blick Richtung Norden

Zunächst sollen die Rahmendaten der Göteborger Oper, die sich zu den führenden Häusern in Nordeuropa zählt, kurz vorgestellt werden. GöteborgsOperan wurde 1994 in einem Neubau direkt am Fluss Göta eröffnet und deckt seitdem die Sparten Tanz und Oper/Drama ab. 2016 übernahm die isländische Choreografin Katrín Hall die Leitung der Tanzsparte, seit 2020 ist Henning Ruhe, der ehemalige künstlerische Betriebsdirektor der Bayerischen Staatsoper, künstlerischer Leiter für den Bereich Oper/Drama. Mit rund 1.300 Sitzplätzen und 389 Aufführungen im Jahr 2019 konnte die Oper Göteborg über 300.000 Besucher*innen begrüßen.2 Das Haus ist als Aktiengesellschaft organisiert, und die Region Västra Götaland ist 100-prozentige Eigentümerin von GöteborgsOperan. Sie ernennt den neunköpfigen Vorstand, der das Haus mit den rund 550 Mitarbeitenden (Stand 2019) leitet.3

von der pflicht zur kür annett baumast

Das Thema Nachhaltigkeit ist – unter anderem durch einen von der Fridays-for-Future-Bewegung ausgelösten gesellschaftlichen Diskurs zu Klimawandel und Klimaschutz – auch in Kultureinrichtungen angekommen. Seit 2019 interessieren sich neben anderen Kultureinrichtungen und Bühnenhäusern auch Opernhäuser im deutschsprachigen Raum vermehrt dafür, wie sie sich nachhaltiger ausrichten und ihre Abläufe ökologisch und sozial verträglicher organisieren können. Richtet man den Blick etwas weiter gen Norden, so wird klar, dass der deutschsprachige Raum jedoch – wieder einmal – in Sachen Nachhaltigkeitsmanagement deutlich hinterherhinkt. Denn so, wie die Opernhäuser in Oslo (ab 2008) und ­Kopenhagen (ab 2005) von Beginn an auf einen nach­

Erster Akt: Nachhaltigkeitsmanagement als Forderung der Eigentümerin

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Verpflichtung zur Nachhaltigkeit durch die Eigentümerin Wie viele andere Opernhäuser in Europa ist die Oper Göteborg damit eng in kommunale Strategien und Ziele eingebunden und in diesem konkreten Fall wie die Region selbst der ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit verpflichtet. Der Kulturausschuss der Region formuliert den konkreten Auftrag an das Opernhaus, der neben der künstlerischen Profilierung und dem Zugang zu Kultur für die Region auch Nachhaltigkeitsaspekte enthält. Die aktuelle Vereinbarung adressiert dabei explizit die „Agenda 2030“, die als internationales Leitbild insgesamt 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung umfasst.4 „Im September 2015 wurde die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen einstimmig verabschiedet. Mit der Agenda 2030 hat sich die Weltgemeinschaft 17 Ziele (Sustainable Development Goals, SDGs) für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Entwicklung gesetzt. Die 17 Ziele gelten universal und für alle Länder gleichermaßen. Sie reichen von der Beseitigung des weltweiten Hungers über die Stärkung von nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Produktion bis hin zu Maßnahmen für den Klimaschutz.“5 Die aktuelle Vereinbarung ist eine Weiterschreibung von Bestrebungen, die bereits 2002 ihren Anfang nahmen, als die Region Västra Götaland von GöteborgsOperan forderte, ein systematisches Umwelt- bzw. Nachhaltigkeitsmanagementsystem aufzubauen. Diese Forderung traf auf bereits sehr engagierte Mitarbeitende, die sich in einer Arbeitsgruppe zu Nachhaltigkeit organisiert hatten. In den Folgejahren wurde ein Managementsystem aufgebaut, das sich an der internationalen Norm ISO 14001 orientiert. Kurzer Blick auf die ISO 14001 Basierend auf der auch als Deming-Zyklus bezeichneten Abfolge plan – do – check – act, die zunächst vor allem durch Qualitätsmanagementsysteme bekannt wurde6, beinhaltet die ISO 14001 verschiedene Anforderungen an Unternehmen und Organisationen im Hinblick auf das Management von Umwelt- bzw. Nachhaltigkeitsthemen. Am Anfang des Prozesses steht eine „erste ­Bestandsaufnahme“7 , in deren Rahmen festgestellt wird, welches die wesentlichen Umwelt- bzw. Nach­ haltigkeitsthemen einer Organisation sind und wo sie diesbezüglich steht. Wurden beispielsweise die CO2Emissionen als wichtiges Thema identifiziert, so könnte eine Erhebung des CO2-Fußabdrucks bzw. die Erstellung einer Klimabilanz eine Maßnahme zur Bestimmung des diesbezüglichen Status quo sein.8 In einem nächsten Schritt wird basierend auf den identifizierten wichtigen Themen und der Feststellung des Bestandes eine „Umweltpolitik“ entwickelt, die als Leitbild für das Nachhaltigkeitsmanagement

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einer ­Organisation fungiert. Auf einer meist eher allgemein gehaltenen Ebene hält die Umweltpolitik das Bekenntnis zu einem Engagement für Nachhaltigkeit sowie zur Verbesserung der eigenen Nachhaltigkeitsleistung fest und umfasst dabei idealerweise alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Neben der organisatorischen Verankerung des Manage­ mentsystems nach ISO 14001 im Management einer Organisation ist es wichtig, Programme zu entwickeln, die die Erreichung der selbstgesteckten Ziele und die Umsetzung der geplanten Maßnahmen unterstützen. Dabei ist es zentral, dass die Verantwortlichkeiten für Ziele und Maßnahmen festgelegt werden. Weitere Anforderungen der Norm beinhalten die Dokumentation des Systems, ein internes Audit sowie – für eine Zertifizierung – auch ein externes Audit durch eine Zertifi­ zierungsorganisation. Betont wird zudem, dass das Manage­mentsystem kontinuierlich verbessert werden soll, indem es an eine stetige Weiterentwicklung angepasst wird. Es wird offiziell: ISO 14001-Zertifizierung/ EMAS-Registrierung Zehn Jahre nach dem Start der Auseinandersetzung mit der ISO 14001, also im Jahr 2012, fiel der Entschluss, GöteborgsOperan nach der internationalen Norm auch zertifizieren zu lassen. Zeitgleich mit der Zertifizierung des Nachhaltigkeitsmanagementsystems nach ISO 14001 wurde es nach EMAS – dem Environmental ­Management and Auditing Scheme der Europäischen Union – registriert. Dieses europäische Programm ­basiert ebenfalls auf der Einführung eines Umwelt­ managementsystems nach der Logik der ISO 14001, stellt jedoch noch weitere Anforderungen an die Organisation wie zum Beispiel gewisse Publikationspflichten. Die Zertifizierung nach ISO 14001 muss in regelmäßigen Abständen erneuert werden, was bis heute der Fall ist. EMAS wurde nicht verlängert, da vor allem die Kom­ munikationspflichten als zu restriktiv erachtet wurden. Im Jahresbericht, der den jährlich erscheinenden ­Nachhaltigkeitsbericht enthält, publiziert Göteborgs­ Operan zu den relevanten Nachhaltigkeitsthemen und beschreibt umgesetzte Maßnahmen sowie die Setzung und Er­reichung von Nachhaltigkeitszielen.

Zweiter Akt: Nachhaltigkeitsthemen und -maßnahmen von GöteborgsOperan Mit dem Nachhaltigkeitsbericht für das Jahr 2019 stellt das Göteborger Opernhaus allgemeine Informationen zu den Themenbereichen Organisation und Basis des Nach­ haltigkeitsmanagements, Menschenrechte sowie Stake­holderdialoge zur Verfügung und berichtet vertieft zu folgenden Themen der drei Nachhaltigkeitsdimen­sionen:


Dritter Akt: Vorhang auf für das Ring-Projekt Im Jahresbericht 2016 beschreibt die Oper Göteborg ein großes Projekt – nicht nur unter künstlerischen Gesichtspunkten: Von 2018 bis 2021 soll Richard Wagners Der Ring der Nibelungen inszeniert, eine Oper pro Jahr auf die Bühne gebracht werden. Die Prämisse der Inszenierungen: Sie sollen so umweltfreundlich und klimaneutral wie möglich werden und als Experimentierfeld für nachhaltigere Opern dienen. Die Produktionen sollen ein Anlass sein, um möglichst viele Ansätze ökologisch verträglicher bzw. klimafreundlicher Alternativen zu erproben oder gemeinsam mit Partner*innen zu entwickeln.

von der pflicht zur kür

Als Beispiele der drei Dimensionen werden die Arbeit zu Gleichberechtigung und Vielfalt, die umweltbezogenen Schwerpunktbereiche und Ziele sowie das Thema Geschäftsethik kurz vorgestellt. Federführend im Bereich Gleichberechtigung und ­V­ielfalt ist die sogenannte JÄMÅ-Gruppe (nach den schwedischen Begriffen für Gleichberechtigung – Jämställhet – und Vielfalt – mångfald), die der Geschäfts­ führung berichtet. Das Ziel von GöteborgsOperan ist die Gleichstellung von Frauen und Männern an ihrem Arbeitsplatz, wozu unter anderem die Vereinbarkeit von Eltern und Arbeit, das Gleichgewicht der Geschlechter in den verschiedenen Berufskategorien, der Einstellungsprozess sowie auch die Bezahlung betrachtet werden. 2019 wurde in diesem Rahmen beispielsweise eine Bewertung aller Stellen im Hinblick auf ungleiche Bezahlung in vergleichbaren Positionen durchgeführt. Die Aufteilung der Geschlechter auf den verschiedenen Stufen ist der folgenden Tabelle zu entnehmen. Unabhängig von Geschlecht, Identität, ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, sexueller Orientierung oder Alter will Göteborgs­ Operan allen gleiche Chancen und Rechte einräumen. Dies prägt die Arbeit im Bereich Vielfalt. 2018 wurde zum Beispiel im Zuge einer nationalen Befragung im Rahmen der #MeToo-Bewegung eine eigene, weitergehende ­Befragung für die Mitarbeitenden von Göteborgs­Operan entwickelt, und mit den Ergebnissen wurde in den verschiedenen Abteilungen weitergearbeitet. Seit vielen Jahren arbeitet das Opernhaus im Rahmen von AntiDiskriminierung auch gegen sexuelle Belästigungen ­jeglicher Art und hat entsprechende Vorgaben und ­Prozesse entwickelt. Es gilt eine Politik der Null­toleranz. Zu den wichtigsten Themen in der Dimension der Umweltverantwortung zählen in den letzten Jahren Transporte, Energie, Produkte und Abfall, Chemikalien, Lebensmittel sowie die interne und externe Kommuni-

kation von Nachhaltigkeitsmaßnahmen. Für den Bereich der Mobilität hat sich GöteborgsOperan ganz konkret das Ziel gesetzt, die klimarelevanten Emissionen von Personen- und Güterverkehr zu senken, fossilfreies Reisen von Mitarbeitenden und Besucher*innen zu unterstützen und Dienstreisen zu kompensieren. Das Ziel, bis 2021 Personen- und Gütertransporte weitgehend ohne negative Auswirkungen auf das Klima durchzu­ führen, hat sich für die Oper Göteborg als große Herausforderung erwiesen. Durch die Umstellung auf Biodiesel bei eigenen Straßentransporten und das Management von Geschäftsreisen mit dem eigenen Pkw konnten die CO2-Emissionen in diesem Bereich von 24 Tonnen (2018) auf 21 Tonnen (2019) gesenkt werden. Der CO2-Fußabdruck aus Flugverkehr schwankt von Jahr zu Jahr und ist von Touren und Produktionen abhängig. So stiegen die Emissionen in diesem Bereich im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr von 146 Tonnen auf 172 Tonnen an, was unter anderem in einer Tournee des Orchesters nach Japan begründet war. Neben Flugverkehr durch Tourneen wurden auch Flüge von Gastkünstler*innen als CO2-Treiber identifiziert. Das Opernhaus gibt an, sich auch in Zukunft kontinuierlich im Dialog zwischen dem regionalen, nationalen und globalen Austausch in den Künsten und den möglichen Auswirkungen auf das ­Klima zu engagieren. Für die eigenen Mitarbeitenden unterstützt das Opernhaus den Kauf von Jahreskarten für den öffentlichen Verkehr und ermutigt die Mitarbeitenden, den Arbeitsweg mit dem Fahrrad zu bestreiten. Zur wirtschaftlichen Verantwortung zählt unter dem Aspekt einer guten Geschäftsethik für die Oper Göteborg auch die Einhaltung der Richtlinien der Region Västra Götaland gegen Korruption und Bestechung sowie das Mitarbeiterhandbuch der GöteborgsOperan und weitere Grundlagendokumente in diesem Kontext. Hierzu gehören auch die Werte, die das Opernhaus für sich erarbeitet hat, und wiederum eine Nulltoleranzpolitik im Hinblick auf Korruption, Bestechung und Interessenkonflikte.

annett baumast

– Soziale Verantwortung • Mitarbeitende und Führung • Arbeitsumgebung • Gleichberechtigung und Vielfalt • GöteborgsOperan als sozialer Akteur • Kulturelle Teilhabe von Kindern und Jugendlichen • GöteborgsOperan als Teil der Zivilgesellschaft – Umweltverantwortung • Umweltmanagementsystem nach ISO 14001 • Erhebliche Umweltauswirkungen und Identifikation • von Risiken • Umweltziele • Umweltbezogene Schwerpunktbereiche • Operninszenierung als Umweltprojekt – Wirtschaftliche Verantwortung • Beschaffung • Geschäftliche Zusammenarbeit und Sponsoring • Geschäftsethik

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Das Rheingold und Die Walküre Die erste der vier Opern, Das Rheingold feierte am 17. November 2018 Premiere und konnte bereits verschiedene umweltfreundliche Maßnahmen in die Produktion einfließen lassen, von denen die folgenden nur einen Ausschnitt darstellen: – Die Kulissen wurden aus Holzwerkstoffen gefertigt, die aus Holzabfällen hergestellt werden. So werden diese für die Zeit ihrer Nutzung zu CO2-Senkern, indem das gebundene CO2 nicht freigesetzt wird. – Kunststoffmaterialien (wie PVC), die traditionell für den Bühnenbau verwendet werden, wurden durch Segeltuch oder Zellkunststoff ersetzt, ungesunde Klebstoffe konnten mit Tapetenkleister auf Stärkebasis ersetzt werden. – Bäume für das Bühnenbild wurden aus Rohzellstoff und einem vollständig recycelbaren Kartonmaterial sowie aus alten Kartons und Verpackung hergestellt. – Für das Make-up wurde auf umweltverträgliche Produkte ohne Konservierungsmittel zurückgegriffen. – Beschichtungen wurden mit Kartoffelstärke als Bindemittel anstelle von Acrylat hergestellt. – Bei den Kostümen kamen pflanzliche Färbemittel zum Einsatz. – Eines der Kostüme wurde aus schwedischem Stahl gefertigt, der im Grunde beliebig oft recycelt werden kann. – Für das Bühnenbild wurden Standardmaße verwendet sowie Requisiten aus dem Fundus und Secondhand-Dekorationen. – Ein digitaler Visualisierungstisch ersetzte Lichttest mit Schweinwerfern. – Die Zusammenarbeit mit anderen Opernhäusern in Europa im Hinblick auf eine nachhaltigere Produktion in den darstellenden Künsten wurde intensiviert. Die verschiedenen Maßnahmen illustrieren, dass bei diesem Ring-Projekt das Thema Nachhaltigkeit umfassend mitgedacht und viel Neues ausprobiert wird. Künstlerisch sind jedoch keine Abstriche gemacht worden, und Tonkin geht sogar so weit festzustellen, dass sich diese „Idee einer ,grünen‘ Produktion wie eine tief verwurzelte

Interpretation [anfühlt], nicht als Gimmick, um zeitgenössische Trends nachzuahmen“.9 Gut ein Jahr später, am 1. Dezember 2019, fand die Premiere des zweiten Teils von Wagners Ring statt: Die Walküre wurde an der Oper in Göteborg gezeigt. Und mit ihr wurden nicht nur die bereits erprobten Umweltund Klimaschutzmaßnahmen umgesetzt und weiterentwickelt, sondern auch weitere Möglichkeiten einer umwelt- und klimafreundlichen Opernproduktion erprobt. Ungefähr zur Drucklegung dieses Beitrags feierte Teil drei des Rings, Siegfried, mit Pandemie-bedingter Verspätung im Frühjahr 2021 seine Premiere online. Gutes tun und darüber sprechen: Kommunikationskampagnen der ersten beiden Inszenierungen GöteborgsOperan hat sich neben anderen Zielen im Rahmen des Nachhaltigkeitsmanagements auch die verstärkte Kommunikation zu Nachhaltigkeitsthemen als Ziel gesetzt. In diesem Kontext sind zum Rheingold und der Walküre zwei Kommunikationskampagnen gestartet worden, die das Thema für die Zuschauer*innen direkt in einen inhaltlichen Zusammenhang mit den Operninszenierungen setzen. Für Stephen Langridge, den Regisseur des Ring des Nibelungen, ist das Umweltthema zentral für das gesamte Werk. So beginnt Das Rheingold – die Eröffnung des Ring-Zyklus – gleich mit einem Angriff auf die Natur: Der böse Alberich stiehlt das Gold vom Grund des Rheins und setzt damit eine Abwärtsspirale aus Mord, Machtmissbrauch und Umweltzerstörung in Gang.10 Für die Kommunikationskampagne zu Rheingold haken die Verantwortlichen genau an diesem Punkt ein und übertragen die Fragestellung des nicht nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen auf die heutige Zeit. Was ist das Gold unserer Zeit? Und was ist eigentlich (relativ) einfach verfügbar? In Beantwortung dieser Frage ­widmet sich GöteborgsOperan dem Thema Elektro-Schrott, das als eine der größten Umweltherausfor­derungen der nächsten Jahre gilt und gleichzeitig quasi ubiquitär verfügbar ist. Mit der Kampagne zu Das Rheingold wurde das Publikum der Oper in Göteborg daher aufgefordert, nicht mehr verwendete, aber noch auf­bewahrte Mobil-

2019

2018

2017

Mitarbeitende

459, davon 50% Frauen, 50% Männer

450, davon 50% Frauen, 50% Männer

447, davon 50% Frauen, 50% Männer

Führungskräfte

33, davon 19 Frauen (58 %) und 14 Männer (42 %)

32, davon 17 (53 %) Frauen und 15 (47%) Männer

31, davon 16 (52 %) Frauen und 15 (48 %) Männer

Geschäftsführung

7 Frauen (100%), 0 Männer

7 Frauen (100%), 0 Männer

10 Frauen (77%), 3 Männer (23%)

Durchschnittsalter in Führungspositionen

Frauen 50 Jahre, Männer 52 Jahre

Frauen 49 Jahre, Männer 50 Jahre

Frauen 50 Jahre, Männer 48 Jahre

Tabelle 1: Verteilung der Geschlechter an GöteborgsOperan 2017–2019 (Quellen: Nachhaltigkeitsberichte der Oper Göteborg 2017 – 2019, eigene Zusammenstellung)

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telefone abzugeben und damit an einer Verlosung für ein VIP-Package teilzunehmen. Denn die Materialien, aus denen Mobiltelefone hergestellt werden, können tatsächlich als das „Gold von heute“ gelten, das ungenutzt in Millionen europäischer Haushalte vor sich hindämmert. Im Zuge der Kampagne konnten fast 1.200 Mobiltelefone eingesammelt und dem umweltgerechten Recycling zugeführt werden. Die Walküre veranlasste das Team der Oper in Göteborg dazu, sich zu fragen, wer denn die Heldinnen und Helden der heutigen Zeit sind. Vor dem Hintergrund anspruchsvoller Klimaziele der Region Västra Götland und damit auch Schwedens insgesamt schälte sich die ­Klimaheldin bzw. der Klimaheld schnell als relevante ­Figur heraus. Dies führte zu einer „Klima-Challenge“ des Opernhauses, in der das Publikum aufgefordert wurde, zunächst den eigenen CO2-Fußabdruck zu berechnen, um sich dann zu Maßnahmen zur Reduktion desselben zu verpflichten. Auch hier gab es wieder eine Verlosung, der Gewinn bestand aus einem Opernbesuch sowie einem Besuch im als nachhaltig zertifizierten Restaurant des Opernhauses. Über 720 Besucher*innen haben an dieser Challenge teilgenommen und sich zu Maßnahmen verpflichtet, die mehr als 1.229 Tonnen CO2-Emissionen einsparen. Auf kreative Weise hat es GöteborgsOperan mit diesen Kampagnen geschafft, nicht nur Aufmerksamkeit für die nachhaltige Produktionsweise von Das Rheingold und Die Walküre zu lenken, sondern gleichzeitig eine Verbindung der eigenen Arbeit mit den großen Herausforderungen unserer Zeit herzustellen.

lassen und vor allem Anregungen zu suchen, die in der eigenen Praxis – direkt oder in abgeänderter Form – umgesetzt werden können. 1 Vgl. Schwarz-Peters, S.: „Oper als Klimakiller?“, in: Oper! Das Magazin, Mai 2020, S. 12–15. 2 Sofern nicht anders ausgewiesen, basieren die im Text genannten Informationen zu GöteborgsOperan auf den von 2017 bis 2020 veröffentlichten Jahresberichten der Oper, die auch die Nachhaltigkeitsberichterstattung des Hauses beinhalten, abrufbar unter https://www.opera.se/bolags­ dokument/ [21.05.21]. 3 Vgl. Västra Götalandsregionen: „Uppdragsbaserat verksamhetsstöd till styrelsen för GöteborgsOperan AB 2021–2024“, 2020, https://gocmsprod.azurewebsites.net/media/o2fb4otw/uvs_goab_2021_2024.pdf [21.03.2021]. 4 Vgl. ebenda. 5 BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (o. J.): „Die Agenda 2030 für nach­ haltige Entwicklung“, https://www.bmz.de/de/themen/2030_ agenda/index.html [21.03.2021]. 6 Vgl. Baumast, A.: „Umweltmanagement im Theater“, in: ­Bühnentechnische Rundschau, Heft 3, Juni 2009, S. 40–43, https://kultur-nachhaltig.de/wp-content/uploads/2015/01/ BTR_03_2009_40-43_Umweltmanagement-im-Theater.pdf [21.05.21]. 7 Zu den Bestandteilen der ISO 14001 vgl. hier und im Folgenden Günther, E.: „DIN EN ISO 14001“, in: Gabler Wirtschafts­ lexikon, 2018, https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/ din-en-iso-14001-52305/version-275445 [21.05.21]. 8 Vgl. Baumast, A.: „Ökologische Nachhaltigkeit messbar machen. Konzepte verstehen und im Kulturbetrieb anwenden“, in: https://www.kulturmanagement.net/dlf/2d62d7fdaaa6c1b14 722da5a1dcec61a,8.pdf [21.05.21]. 9 Tonkin, B.: „theartsdesk in Gothenburg – Wagner’s gold turns green“, 2018, https://theartsdesk.com/opera/theartsdeskgothenburg-wagners-gold-turns-green [21.03.21]. 10 Vgl. GöteborgsOperan, „Das Rheingold – the journey towards Götterdämmerung finally begins“, in: Press release vom ­November 2018, https://www.mynewsdesk.com/se/goteborgsoperan/pressreleases/das-rheingold-the-journeytowards-goetterdaemmerung-finally-begins-2793936 [21.03.21]. 11 Vgl. GöteborgsOperan (2020): The sustainable dancer, short version, https://vimeo.com/383234534 [21.03.21] 12 Vgl. GöteborgsOperan (2020): Relaxed performances, https://www.opera.se/en/what-s-on/relaxed-performances/

von der pflicht zur kür

Zu Nachhaltigkeit gehört mehr als nur die ökologische Dimension, die in diesem Beitrag im Vordergrund stand. Auch bezüglich sozialer Nachhaltigkeit ist Göteborgs­ Operan aktiv und hat in diesem Bereich in den letzten Jahren verschiedene Maßnahmen umgesetzt: Neben dem bereits genannten Anstreben eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses bei den Beschäftigten, das auch an der Spitze des Hauses deutlich wird, hat sich beispielsweise das Projekt „The sustainable dancer“ der Gesundheit der Tänzer*innen des Hauses gewidmet.11 Und auch das Publikum steht im Fokus: Neben der physischen Barrierefreiheit des Hauses richtet sich GöteborgsOperan mit „relaxed performances“ an Be­ sucher*innen, für die ein informelles Umfeld wichtig ist, in dem sie sich bewegen, tanzen, singen und frei in den Zuschauerraum eintreten und ihn wieder verlassen können.12 Die Oper in Göteborg kann als Pionierin unter den Opernhäusern Europas betrachtet werden, und es sollte gelten, sich von Pionier*innen dieser Art inspirieren zu

Kulturmanagement Network Magazin, Nr. 158, 2021, S. 14–19,

[21.03.21] Erstveröffentlichung: Baumast, A.: „Von der Pflicht zur Kür. Nachhaltigkeitsmanagement an der Oper Göteborg“, in: Handbuch Kulturmanagement, 75. Ausgabe, 2021. Gekürzter Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des DUZ Medienhauses, Berlin

annett baumast

Schlussakt: Fazit und abschließende Bemerkungen

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NOTATION_SFBODIES 52‘21~


judith ackermann und benjamin egger

empathische feedbackschleifen für ein postdigitales theater

Einleitung Während sich das Theater bis in die Gegenwart weitestgehend erfolgreich geweigert hat, digitale Technologien als mit ihm verbundene, es transformierende und/oder in seiner Reichweite vergrößernde Variablen anzuerkennen, beförderte die im Kontext der Corona-Pandemie im Frühjahr des Jahres 2020 angeordnete Schließung der Häuser auf der Oberfläche geradezu einen Digitalisierungsschub im deutschsprachigen Theaterbetrieb. Akteur*innen und Institutionen sahen sich gezwungen, digitale Distributionskanäle nutzen zu müssen, um weiter stattzufinden. Unvorbereitet entstand eine Flut von Livestream-Aufführungen, die unter strengen Hygienevorschriften vor Ort durchgeführte physische Performances digital einfingen und den Zuschauenden nach Hause brachten oder Filmaufnahmen vergangener Aufführungen digital ausspielten. Dieses Vorgehen ging mit entscheidenden Einschnitten in die Verfasstheit theatraler Erfahrung und die sie konstituierenden definitorischen Elemente einher: Das gemeinschaftliche Erleben in raum-zeitlicher, leiblicher Ko-Präsenz wich einem dispers adressierten Publikum. Das Aufführungsgeschehen verlagerte sich vom dreidimensionalen Erfahrungsraum in die zweidimensionale Fläche des Computerscreens, von dem ausgehend das Publikum die Aufführung erfuhr. Die konzentrierte und Bühnen-gerichtete Aufmerksamkeit, ermöglicht durch die Paarung von abgedunkeltem Auditorium und erleuchteter Bühnensituation, wurde abgelöst von alltagsähnlichen Erfah-

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rungssituationen. Die gefilmten Performances drangen ein in Wohn- oder Arbeitszimmer, je nachdem wo es den potenziellen Zuschauer*innen möglich war, sich qua Endgerät störungsarm auf sie einzulassen. Dennoch aber ist die Rezeptionserfahrung abseits der artifiziellen Situation in einer Theaterarchitektur für Störungen von außen sowie für flexible Ein- und Ausstiege aus der Rezeptionserfahrung immer schon geöffnet. Theater erfährt sich somit erstmals als Nebenbeimedium, was die Notwendigkeit zur Folge hat, digital erweitertes und vermitteltes Theater aus den Poten­ zialen eines postdigitalen Theaters heraus neu zu denken.

Das Postdigitale im und am Theater Nach Florian Cramer (2015) markiert das Postdigitale den veränderten Status von Medien und Künsten nach ihrer Digitalisierung und der Digitalisierung der Kanäle, über die sie kommuniziert werden. Mit Blick auf das Theater schließt dies die Vermittlung digitaler Erfahrungen via digitaler Kanäle ebenso ein wie den Einzug digitaler Technologien in den Bühnenraum. Im Postdigitalen erscheinen digitale Medien nicht länger als neu, sondern verfügen über eine eigene Historie, die künstlerisch und kunsthistorisch verhandelt werden kann (Grau 2017). Kunstpraktiken, die sich dezidiert postdigital verstehen, nehmen Computertechnik zum Ausgangspunkt, um durch sie bedingte und über sie hinausgehende Fragestellungen ästhetisch neu zu verhandeln (Ackermann/ Doerk/Seitz 2019). Dabei ist unerheblich, ob die spezifischen Arbeiten technisch realisiert sind oder nicht, es


Lässt sich Theater Peter Brook (1983) zufolge bereits dort finden, wo sich eine Person im Raum bewegt, während eine andere zuschaut, so verweist diese reduzierte Definition auf zwei der zentralsten Kriterien für die Erfassung von Theater, nämlich die Kombination aus LiveSituation und leiblicher Ko-Präsenz von Zuschauenden und Schauspielenden (s. auch Fischer-Lichte 1997). Mit dem Livestream von Theateraufführungen wird zwar die Zugänglichkeit von Theater grundsätzlich erweitert, ­zugleich jedoch reduziert sich das Moment der wechselseitigen Aufeinanderbezogenheit der beteiligten Akteur*innen. Otto (2013) spricht in diesem Zusammenhang von einer digitalen Simulation von Auftritten, die darin resultiert, dass Zuschauende meist physisch passiv bleiben (Vill 2015). Zwar erlauben Livestream-Aktivitäten kollektive Performances, in denen Zuschauende eine Aufführung maßgeblich beeinflussen (Ackermann/Juchems 2017), jedoch findet dies in der Praxis kaum Anwendung. Ein Feld, das dergestalt digital erweitertes Theater informieren kann, ist das der sozialen Medien, welches sich durch ein hohes Maß an Partizipation der Nutzer*in-

Digitale Medien auf der Bühne als Veränderung der Performance Theater hat sich stets neue Technologien angeeignet, um seine Ausdrucksformen zu erweitern und die Erfahrung zu intensivieren. Piscator setzte bereits in den 1920er-Jahren Filmaufnahmen in seinen Inszenierungen ein (Giesekam 2007) und Brecht sprach sich schon 1939 für die Integration elektronischer Medientechniken aus (Brecht 1993). Entsprechend ist es wenig überraschend, dass sich auch vielfältige experimentelle Szenarien auf Basis digitaler Technologien finden, die das Kontinuum zwischen digital und physisch auf unterschiedliche Wei-

empathische feedbackschleifen

Livestream als Ausweitung und Veränderung des theatralen Raums

nen und die raum- und zeitüberschreitende Kreation wie Aufrechterhaltung einer Gemeinschaftssituation auszeichnet. Das digitale Theaterprojekt werther.live bringt dies sehr anschaulich auf den Punkt, indem es die Inszenierung über den Desktop Werthers und die von ihm verwendeten Anwendungen erfahren lässt. Durch die Doppelung des Screens als Bühne und Interface für den Zugang zur theatralen Erfahrung wird diese Schnittstelle kritisch reflektiert. Dank der Realisierung und Bespielung von Instagram-Profilen für die einzelnen Rollen können Zuschauende subtil Teil der Aufführung werden – worin sich Momente autopoietischer Feedbackschleife materialisieren. Auf dem Screen erscheinen Informationen darüber, ob jemand ein Bild von Werther gelikt oder kommentiert hat. Auch können Personen den einzelnen Rollen über die Plattform private Nachrichten schicken, die in kürzester Zeit beantwortet werden. Diese Interaktion mit den Rollen ist auch unabhängig von der Verfolgung oder gar dem Wissen über das Vorhandensein des Livestreams möglich, sodass die Inszenierung zur transmedialen Performance wird, die unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten erlaubt, welche für sich allein, aber auch in Kombination erfahren werden können. Auf eine andere Weise greift das Format #Wunschvorstellung des Burgtheaters Wiens die Social-MediaKommunikation, die sich um Livestreams herum bildet, auf und setzt sie ein, um das gemeinschaftliche kokreative Erleben der Aufführung zu prononcieren – ausschließlich über Sprache bzw. Text vermittelt, ohne dass eine konkrete Inszenierung zugrunde liegt. Das Staatstheater Augsburg lässt Zuschauende über die Plattform Twitch an Proben teilhaben. Das Medientheater-Kollektiv machina eX realisiert Inszenierungen über die Messenger-App Telegram. In Homecoming etwa werden neben Telegram weitere Distributionsformen wie Blog und Video zu einer medialen Assemblage und als funktionale Dramaturgie-Elemente zusammengeführt. In Teams manövrieren sich die Teilnehmer*innen gemeinschaftlich durch das Game-ähnliche Theater, das von klassischen theatralen Elementen wie dem Hinweis, es gebe keinen Nacheinlass, oder dem Zusammenbringen aller Spieler*innen im Messenger-Foyer gerahmt wird.

judith ackermann und benjamin egger

eint sie ihre Präsentation als eine durch Digitalisierung informierte und über diese reflektierende Erscheinungsform (Egger/Ackermann/Kovarik 2021). Postdigitalität versteht sich, anders gesagt, gemäß der Aussage der Post-Internet-Künstlerin Marisa Olson über ihr künstlerisches Schaffen als eine Kunst „nach dem Internet“: Sie ist in Folge bzw. nach einer Interneterfahrung und im Stil des Internets – after the Internet – produziert (PKKB 2018, 122). Postdigitale Kunstpraktiken thematisieren demnach die Kondition unwiderruflicher Hybridisierung unseres Lebens durch digitale Technologien. Dabei kann die Übersetzung digitaler Ästhetiken in physische – sowie vice versa – als Strategie künstlerischer Reflexion gelten, insofern die Verschränkung von physischer und digitaler bzw. virtueller Welt aufgerufen wird. Zentrale Verfahrensoder Erfahrungsweisen postdigitaler Kunstpraktiken lassen sich – so haben wir in einer Analyse zeitgenössischer Arbeiten nationaler und internationaler Künstler*innen unterschiedlicher technologischer und inhaltlicher Ausrichtung festgestellt – entlang der Ebenen interaktiv, immersiv und generativ verorten, wobei auffällt, dass häufig mehrere Ausdrucksformen zusammenfallen (Egger/Ackermann/Kovarik 2021). In dieser Hinsicht hat postdigitales Kunstschaffen bereits originär vieles mit Theater und dem Aufführungsmoment gemeinsam. Dennoch gilt es diese Gemeinsamkeiten auch praktisch zu identifizieren, abzurufen und für eine – postdigitale – Erfahrung produktiv zu wenden. Dies evoziert die Frage, wie sich digitale und physische Ebenen einer Performance nachhaltig miteinander integrieren lassen, um unterschiedliche Zugänge und Erfahrungsebenen zuzulassen.

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se auszuloten suchen. Heute lassen sich technologisch virtuos durchwirkte Inszenierungen denken, deren theatrale Innovation jedoch zumeist vom Gerät an sich ausgeht. Dies trifft z. B. auf physisch erfahrbare Performances in digital erweiterten VR-Umge­bungen – etwa mit dem CAVE – (De Fanti et al. 2009) und/oder mit Robotern zu (Ernst 2020, Hölz/Lamb 2020). Zur Gestaltung einer immersiven, gemeinschaftlichen, digital erweiterten Theatererfahrung gilt es jedoch, die Spezifitäten der beteiligten Technologien stärker performativ zu verschränken und durch eine Zugangs- und Erfahrungs­vielfalt miteinander in Einklang zu bringen. Ein Feld, von welchem digital erweitertes Theater lernen kann, ist das des digitalen und mobilen Spielens, welches sich mit Ackermann (2014) als Hybrid Reality Theatre werten lässt, da es digitale mit physischen Räumen mittels Interaktion in einer Live-Situation verbindet und bereits die Entstehung des Formats Game-Theater beeinflusst hat (Hädicke 2020). Die Inszenierung Best Before (2010) der Gruppe Rimini Protokoll integriert Elemente des Videospielens in die theatrale Erfahrung, indem sie das Publikum mit Game-Controllern ausstattet, die es diesem ermöglichen, Entscheidungen für auf der Bühne digital visualisierte Avatare zu treffen und durch diese den Verlauf der Gesamtperformance zu beeinflussen. In ähnlicher Weise funktionieren Performances, in denen Zuschauende mittels Bewegungserkennung virtuelle Performer*innen beeinflussen (Wu et al. 2010). Mit zunehmender Komplexität der angestrebten Erfahrungsqualität wird die Integration digitaler Verfahren in Performance-Situationen immer stärker Gegenstand von künstlerischer Forschung, so etwa in dem vom Berliner Theater an der Parkaue realisierten Labor-Festival „Challenge my Fantasy more“ aus dem Jahr 2019, in dem Theatermacher*innen mit Informatiker*innen und VRSpezialist*innen experimentelle Prototypen für digitalgestützte Bühnenformate entwickelten, oder in der ebenfalls 2019 installierten Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund, in der seither an Ideen für die Integration digitaler Technologien in theatrale Erfahrungen gearbeitet wird. Dennoch fällt auf, dass innovative Formate in vielen Fällen wenig niedrigschwellig gestaltet und nur für ein ausgewähltes Publikum erfahrbar sind. Um nachhaltige Formate für postdigitales Theater zu erschaffen, ist Technologie daher so einzubinden, dass sie die theatrale Erfahrung des Publikums anreichert und erweitert, weshalb die Zuschauenden/Beteiligten zuvorderst bedacht werden müssen (Pike 2020).

Empathische Feedbackschleifen Das Konzept der Empathischen Feedbackschleife (Egger/ Ackermann/Kovarik 2021) greift diese Zielsetzung auf und perspektiviert die Anforderungen eines Theater­ publikums. Es setzt auf eine Erweiterung der autopoietischen Feedbackschleife, indem es über die ko-leibliche

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Hervorbringung des theatralen Ereignisses durch kopräsente Akteur*innen hinausgeht und dem Unvermögen, die soziale Qualität gemeinschaftlicher Kunsterfahrungen in digitalen oder digital gestützten Kunstformaten herzustellen, begegnet. Dazu ist ein Gefühl von Anwesenheit zu erzeugen, das den unterschiedlichen Akteur*innen erlaubt, sich gegenseitig in Handeln und Bedeutungsproduktion zu beeinflussen und digital wie physisch kopräsentes Publikum gleichermaßen berücksichtigt wie miteinander verbindet. Anders als in der Live-TheaterSituation vor Ort ist die Rückkopplung im Sinne einer Feedbackschleife im digitalen Theater nicht unmittelbar autopoietisch, sondern muss aktiv und multisensorisch durch entsprechende Feedbackmöglichkeiten erfahrbar gemacht werden. Empathische Feedbackschleifen erlauben es den einzelnen Beteiligten, in einen empathischen Austausch miteinander zu treten, indem sie die Gleichzeitigkeit ihrer Anwesenheit und damit verbunden ihr emotionales Echtzeit-Erleben wahrnehmbar machen. Steigert sich digital erweiterte ko-leibliche Präsenz zu einem „affektive[n] Mit-Sein“ (Slaby 2020), wie es der Begriff der Empathie beschreibt, lässt sich der Zustand anderer Personen auch aus verbleibender Distanz heraus emotional wie kognitiv erfahren (Breyer 2013), sodass ein wechselseitiges Aufeinanderbezogensein entsteht. Dies gilt es technologisch zu unterstützen, um eine ganzheitliche, digital erweiterte Theatererfahrung kreieren zu können. Hierfür sollte eine möglichst große Vielfalt an In- und Output-Devices berücksichtigt werden, die unterschiedliche Sinne und Interaktionsmodalitäten ansprechen und vielfältige Erfahrungszugänge generieren. Dies reicht von Human-Brain-Interfaces (Kasprowicz 2020) über Muskel-Interfaces, die die elektrische Aktivität der Muskeln auslesen (Sathiyanarayanan/Rajan 2016), Haptic Suits, die über Elektrostimulation haptisches Empfinden simulieren (Grasnik 2020), bis hin zu Interfaces, die visuelle Reize in haptisches Erleben transformieren (Drempetic/Potter 2017). Für all diese Geräte gilt es, über Raum, Objekte und Akteur*innen hinweg Kombinationsszenarien zu denken, welche die Elemente performativ verschränken, denn sensorische und taktile Momente sind neben emotionaler Involviertheit ebenso wichtige Faktoren für das ganzheitliche Erleben einer Performance (Rostami et al. 2018) wie Partizipation.

Fazit Aus der anhaltenden Schließung der Häuser ergibt sich für das Theater 2021 bereits eine einjährige Phase des Experimentierens mit und Erprobens von digital erweiterten Aufführungen und Formaten. Es ist ein Reallabor entstanden zur Auslotung der vielfältigen Möglichkeiten und Identifikation der Chancen und Heraus­forderungen postdigitalen Theaters, was es den Häusern gestattet, die digitale Erweiterung theatraler Erfahrungsräume längerfristig nach innen wie außen zu denken. Die Erfahrungen


Eine so geartete Verwendung digitaler Technologien für theatrale Zwecke birgt zwangsläufig ein medien-reflexives Moment – selbst wenn dies nicht durch die Produzent*innen intendiert ist – denn durch die Kopplung von Technologien und narrativen Strukturen werden immer auch deren Funktionen – ob destruktiver oder produktiver Art – freigelegt. Postdigitales Theater generiert auf diese Weise nicht nur neuartige Erfahrungen digital erweiterter Performances, sondern leistet parallel einen wichtigen Beitrag zur künstlerischen Verhandlung der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft.

Das vollständige Quellenverzeichnis dieses Beitrages ist über den nebenstehenden QR-Code bzw. unter folgendem Link abrufbar:

empathische feedbackschleifen

https://bit.ly/3glLUaM

judith ackermann und benjamin egger

mit dem Livestreaming verweisen auf der einen Seite auf die Dringlichkeit zur Gestaltung einer vollwertigen Integration eines – wenngleich dispersen – Publikums, zur Aufrechterhaltung des theatereigenen wechselseitigen Aufeinanderbezogenseins, welches für eine nachhaltige Integration digitaler Erweiterungen auch in Zeiten geöffneter Häuser unerlässlich ist. Auf der anderen Seite verweist die Integration digital-innovativer Verfahren in den Bühnenraum auf das Problem, dass derart gestaltete Erfahrungsräume nur einem sehr ausgewählten Publikum mit spezifischen Wissensbeständen zugänglich gemacht werden können. Als vermittelndes Moment sind Empa­ thische Feedbackschleifen zu denken, die physisch ­ko-präsentes und disperses Publikum ineinander inte­ grieren und dabei unterschiedliche technisch vermittelte Zugänge ermöglichen und performativ miteinander verbinden. ­Dadurch machen sie die Hybridität des Post­ digitalen zum integralen Bestandteil theatraler Erfahrung.

123


NOTATION_SFBODIES 12‘00~



über transformation und das muffeln juliane zellner im gespräch mit hortensia völckers

Seit Jahren wird darüber diskutiert, welche Rolle der Bund in der Kulturförderung spielen kann und übernehmen sollte. Die 2002 unter Zuständigkeit des Bundes gegründete Kulturstiftung des Bundes ist in ihrer Funktion vor allem impulsgebend und wirkt durch die Förderung von Modellprojekten. Wie die Kulturstiftung des Bundes Transformation gestaltet – darüber spricht Juliane Zellner mit deren künstlerischer Leiterin Hortensia Völckers.

JULIANE ZELLNER: In unserem Buchprojekt „Transformers“ verfolgen wir das Ziel, die großen Transfor­ mationen vor, in und nach der Pandemie in eine produktive

JZ: Uns fällt auf, dass die Kulturstiftung des Bundes ak­

Anwendung für das Theater der Zukunft zu bringen. Unsere

tuell mit 360°, Kultur Digital und Klimabilanzen für alle drei

grundlegende These besteht darin, dass es mit den drei

benannten Themenfelder eigene Förderprogramme ver­

Komplexen Digitalisierung, Inklusion und Nachhaltigkeit

folgt. Seit wann existieren diese, und welche Rolle spielt

drei transformatorische Handlungsfelder gibt, die es im

die Pandemie für ihre Ausgestaltung, Evaluierung oder gar

und auf dem Theater zu gestalten gilt.

Weiterentwicklung?

Teilen Sie unsere Einschätzung und sehen ebenfalls diese drei Themenkomplexe im fast schon sprichwörtlichen ­Corona-Brennglas?

HORTENSIA VÖLCKERS: Das sehen Sie richtig. Die Corona-Pandemie zeigt uns beides mit unerbittlicher Härte: Welche Aufgaben gerade jetzt besonders dringlich sind und welche Aufgaben wir in den vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt haben. JZ: Halten Sie die Pandemie für die Kultur, insbesondere die Theater, insgesamt eher für ein Risiko oder eher für eine Chance?

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HV: Das kommt sehr darauf an, was die Kultureinrichtungen und gerade die Theater aus dieser Krise zu machen verstehen. Im digitalen Bereich schießen neue Angebote förmlich aus dem Boden. Anders bei Diversifizierungsprozessen, die von der Pandemie mit einem Schlag unterbrochen wurden. Sie können unter den Bedingungen des Lockdowns keine sinnvolle Arbeit mit der Stadtgesellschaft aufbauen. Kontaktverbote und die Einladung neuer Publikumsgruppen – das geht nicht zusammen.

HV: Unsere Programme liefen bereits vor der Pandemie. Beim Thema Digitalisierung ist lange klar, dass die Häuser entweder schlecht ausgestattet sind oder nicht eingeübt haben, wie zeitgemäße digitale Kommunikation funktioniert. Wir liegen weit zurück – gerade im internationalen Vergleich. Kultur Digital reagiert also auf strukturelle Defizite, die schon vor der Pandemie schwierig waren. Das Gleiche gilt für ein Programm wie 360° und die Frage, wie Kultureinrichtungen auf die divers geprägten Stadtgesellschaften unserer Gegenwart reagieren wollen. Für ein solches Umsteuern braucht man Zeit. Deswegen überlegen wir aus den Erfahrungen


derphilosophie der KSB, impulsgebend und modellbildend zu wirken. Können Sie anhand der drei genannten Förder­ programme beschreiben, wie Sie versuchen, die Impulse und Modelle in nachhaltige Entwicklungen zu überführen?

HV: Veränderungen gelingen nur, wenn die Verant-

wortlichen in den Institutionen dies wirklich wollen, klare Ziele kommunizieren, die Mittel für ihre Verwirklichung bereitstellen und die Ergebnisse überprüfen. Die Kulturstiftung des Bundes ist eine Förderinstitution und kein Gutachter. Wir wollen Einladungen aussprechen, um mit dem Neuen zu experimentieren. Die Wege des Lernens und der Transformation von Verhalten gehen die Institutionen dann jeweils für sich – mit ihrem Team, ihrem ­Publikum, den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung und mit Partnern von außen. Wenn es gut geht, greifen die Impulse auf ein ganzes Haus über und es bleibt nicht bei Veränderungen im Inneren. In einem ­Programm wie 360° wird das generierte Wissen von den Agentinnen und Agenten erst von anderen im Team angewandt. Darauf aufbauend geht eine Einrichtung als Botschafter für Diversität in die Stadtgesellschaft hinein und artikuliert ihren Bedarf bei der Verwaltung und in der Politik. Ähnliches passiert bei den Klimabilanzen: Einzelne Museen teilen ihre Ergebnisse mit der Öffentlichkeit und adressieren städtische Verantwortliche, weil solche Transformationen wie die Reduktion von CO2-Emissionen nur in gemeinsamer Verantwortung gelingen. Die Spur der Veränderung führt hier vom Heizungskeller über Direktion und Presseabteilung mitten hinein ins Rathaus. Beim Thema Digitalisierung zeigen sich die größten Veränderungen beim „Wie“ der Transformation. Der Weg führt nicht über hierarchische Entscheidungen oder den Wettbewerb, sondern über agile Formen des Arbeitens, die auf einen dynamischen Austausch zwischen verschiedenen Teams, zwischen Innen und Außen setzen, aber auch auf Fehlerfreundlichkeit und die Lust auf das Experiment.

JZ: Bei allen drei genannten Programmen handelt es sich nicht nur um die Förderung von Programmarbeit, sondern auch um die Förderung von Change-Management, um ­Personal- und Organisationsentwicklung. Bitte beschreiben Sie, mit welchen Instrumenten innerhalb Ihrer Förder­

und wie Sie die jeweils erzielte Veränderung messen?

HV: Die Instrumente können ganz unterschiedlich sein. Im Bereich Digitalisierung haben wir zum Beispiel festgestellt, dass im künstlerischen Betrieb oft die Kompetenzen und das Know-how fehlen, um die hochdynamischen digitalen Techniken und Angebote beurteilen und nutzen zu können. Also haben wir uns im Fonds Digital entschieden, die Kooperation mit externen Expertinnen und Experten für Digitales zum festen Projektbestandteil zu machen. Das ist eine Art produktiver Zumutung für alle beteiligten Einrichtungen. Sie verlassen ihre Komfortzone, um sich neues Wissen anzueignen. Solche Anreize für Transformationsprozesse setzen wir bereits in der Bewerbungsphase. Ganz anders ist das Vorgehen im Programm 360°. Hier kommt es im Inneren der Organisationen auf ein gelingendes Zusammenspiel an zwischen Agentinnen und Agenten auf der einen und der Leitung einer Einrichtung, ihrem Team und externen Partnerinnen auf der anderen Seite. Natürlich lassen wir die Agentinnen mit dem Veränderungsdruck nicht allein. Wie in all unseren Initiativprogrammen werden die Einrichtungen von sogenannten Akademien ­begleitet, in denen die Beteiligten in den Häusern mit Expertinnen und Experten aus dem jeweiligen Feld zusammenkommen. Das ist auch ein Ort, um über die Spartengrenzen hinweg Wissen zu vermitteln, Erfahrungen zu bündeln und Botschaften zu formulieren, die wir anschließend in die Öffentlichkeit oder in den politischen Raum hineinzutragen versuchen. Wie Ergebnisse von Veränderungsprozessen zu messen sind, das ist wieder eine eigene, sehr spezielle Aufgabe. Im Bereich der Klimabilanzen helfen einem da die Zahlen. Was sind konkrete Verbrauchsdaten? Wo fallen sie an, und wie können sie vermindert werden? Zu den Hausaufgaben für klimafreundliche Kultureinrichtungen gehört, dass sie ihr CO2-Zahlenwerk genauso beherrschen lernen wie ihre Kosten- und Finanzierungspläne. Sehr viele Einrichtungen wollen wissen, wie man mithilfe von Umweltkennzahlen die eigenen Wirtschaftsroutinen erst sichtbar macht und dann lenkt. Als Förderinstitution haben wir die Reflexion über ökologische Folgen schon in der Antragsphase von Projekten verankert. In einer „Ökologischen Nachhaltigkeitserklärung“ legt seit Jahren jeder Antragsteller dar, welche Umweltziele er konkret verfolgen will. Ein nächster Schritt könnte sein, die erfolgreiche Umsetzung dieser Ziele noch genauer anzusehen und zu evaluieren. Wir kennen das aus eigener Erfahrung sehr gut. Als Kulturstiftung des Bundes sind wir ökologisch nach EMAS zertifiziert. Alle zwei Jahre kommt der Umweltgutachter und fühlt uns auf den Zahn, ob wir unsere Pläne einhalten. Das ist europäisches Gesetz. Dieser strenge Blick von außen bedeutet jedes Mal einen Moment der Wahrheit. Man kann das auch etwas sanfter moderieren. Zum Beispiel durch Eva-

über transformation und das muffeln

JZ: Es entspricht dem öffentlichen Auftrag und der För­

programme Sie dieses Change-Management voranbringen

juliane zellner mit hortensia völckers

der Pandemie heraus gerade intensiv, ob wir den beteiligten Einrichtungen ein Angebot zum Weitermachen eröffnen können. Beim Thema Klimabilanzen ist es fast umgekehrt: Die Kultureinrichtungen kommen auf uns zu und fragen nach Regeln für eine ökologisch orientierte Verwendung von Fördermitteln. Das ist ein wichtiges Signal: Trotz Pandemie bleiben andere Aufgaben nicht auf der Strecke. Die Klimaerhitzung verschärft sich trotz Pandemie. Sie wird auch an Kultureinrichtungen nicht vorübergehen.

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luationen. Wir verfolgen gezielt die Methode der begleitenden Evaluation. Bei den oft jahrelangen Projekten, in die sich unsere Partner in den verschiedenen Programmen hineinbegeben, sind Evaluatorinnen und Evaluatoren mit an Bord, um Veränderungsprozesse im Dialog zu begleiten. Evaluation ist hier keine Erbsenzählerei am Ende der Pipeline, sondern eher ein reflexives Instrument der Projektgestaltung.

JZ: Worin bestehen aus Ihrer Sicht momentan die beson­ deren Herausforderungen für das Change-Management im Theaterbereich?

HV: Wenn wir über den Bereich der Diversität sprechen, muss ich sagen, dass sich Theater mit Transformationen am schwersten tun. Stadtbibliotheken gehen vergleichsweise gelassen mit der Aufgabe um, sich neuen Publikumsgruppen und Nutzungsformen zu öffnen. Bei Kunstmuseen gibt es diese Bereitschaft zur Öffnung ebenfalls schon länger, vor allem in der Vermittlung. Der Bereich der Ausbildung und Forschung ringt dagegen weiter mit der Aufgabe, ein globales Wissen über künstlerische Produktionen zu berücksichtigen und nicht vor allem auf westliche Kunstgeschichte zu fokussieren. Aber das Theater wirkt doch in vielen Dingen eher hierarchisch. Das macht Transformationsprozesse insgesamt schwierig, in denen man auf das Wissen der vielen angewiesen ist und auf ein anderes dynamisches Miteinander der Abteilungen und verschiedenen Professionen, die sich im Bereich der digitalen Ästhetik auch gerade erst entwickeln. Was das Theater neu lernen könnte, wäre so etwas wie eine institutionelle Achtsamkeit, gar nicht mit Blick auf Themen und Spielpläne, sondern darauf, wie an einem Theater mit Fehlern umgegangen wird und wie etablierte Machtsysteme und Sprechregeln auf die Probe gestellt werden.

JZ:

Was wünschen Sie sich in diesem Zusammenhang

von und für den Theaterbereich?

HV: Das Theater wird ganz neue Formen für die Mitwirkung des Publikums erfinden. Das Versprechen der Partizipation ist überhaupt nicht neu, aber unter dem Druck von Corona und mit den Möglichkeiten digitaler Kommunikation eröffnen sich ganz neue Formen für Feedback-Schleifen zwischen Produzentinnen und Rezipienten. Dieser Dualismus löst sich auf, wir haben hybride Formate, in denen das Theater als Begegnungsraum überraschend neue Beteiligungsmöglichkeiten eröffnen wird. Die große Frage bei diesen Zweibahnkommunikationen ist: Wie schaffen die Theater Qualität? Alle wollen mitgestalten und mitsprechen, aber wie lässt sich das ohne Qualitätsverluste dramaturgisch gestalten? Das sind auch technisch schwierige redaktionelle Prozesse, die sich gerade erst abzeichnen. Wie bei der Citizen Science in den Wissenschaften brauchen wir auf dem Theater so etwas wie einen „Citizen Dramaturg“, der die Vielfalt der Stimmen in der ad-hoc-Situation eines möglicherweise hybriden Bühnenraums zu orchestrieren versteht. JZ:

Beschreiben Sie mit fünf Attributen die Zukunft des

transformierten Theaterbetriebs?

HV: Divers, vielsprachig, durchlässig, analog/digital und natürlich klimaneutral. JZ: Was brennt Ihnen sonst noch unter den Nägeln? HV: Ich sehne den Tag herbei, an dem wir Impfstoffe für Transformationsmuffel entwickelt haben werden.

DIE GESELLSCHAFT/ DAS SCHAUDEPOT VON HERBORDT/ MOHREN

THEATERRAMPE.DE

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ERÖFFNUNG: 1. – 4. JULI 2021

ON-SITE

THTR RMPE

ONLINE HYBRID ON DEMAND


bettina milz

Prozesse als auch um Arbeits- und Produktionsabläufe. Es ist unser gemeinsames Anliegen, diesen Prozess selbstständig und produktiv zu gestalten. Und es ist unser gemeinsames Ziel, dabei so viele Theater wie möglich an dem gewonnenen Wissen und den Erfahrungen teilhaben zu lassen.“ (Tobias Ehinger, Geschäftsführender Direktor Theater Dortmund, zur Gründung von theaternetzwerk.digital.) Die Theater, die per se interdisziplinär aufgestellt sind, umfassen Fragen menschlicher Präsenz und Abwesenheit, sie umfassen Bewegung, Spiel, Bühne, Raum, Text, Musik und Sound, Licht, Neue Medien und die visuellen Künste. Darin liegt eine große Chance. Es könnte darum gehen, ästhetische Experimente zu wagen, ­gemeinsam Rechtsgrundlagen zu reflektieren, damit Anregungen für die Politik zu geben und Zugänge neu zu schaffen. Auf dieser Basis könnte die digitale Beschleunigung durch die Pandemie genutzt werden, ­Analoges und Digitales neu zu verbinden, um letztlich digitale Inhalte zurück in den Besitz des Gemeinwesens zu geben. Die Welt befindet sich in einem gewaltigen Transformationsprozess. Wir brauchen Zeit und Reflexionsräume, um diesen aktiv zu gestalten. Wo können Digitalisierung, KI oder virtuelle Ko-Produktionsstruk­ turen neue Möglichkeiten eröffnen, frühere adäquat ­ersetzen, und wo ist das Analoge unverzichtbar? Diese digitale Transformation erfordert Ressourcen, Wissensmanagement und Raum für Experimente. Das beginnt mit ganz grundlegenden Fortbildungen, um die

bettina milz

Kunst- und Kultureinrichtungen schließen auf in den digitalen Raum, sie bilden Synapsen in unbekanntes Terrain und schaffen spannende mediale Angebote. Sie sind auf der Suche nach eigenen Plattformen, die unabhängig von YouTube oder anderen kommerziellen Anbietern Zugang zu Inhalten und für die Menschen schaffen. Und die für das Netz umgekehrt Inhalte mit Qualität generieren. All das ist nicht wirklich freiwillig, sondern durch eine extrem harte Erfahrung bedingt: Das Herunterfahren des gesamten öffentlichen Lebens durch die Pandemie, die Schließung der Kunst- und Kultureinrichtungen, die Unmöglichkeit künstlerischer Arbeit – besonders in den Darstellenden Künsten und der Musik –, von physischer Präsenz und Zusammenarbeit. Die Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität und das Staatstheater Augsburg, die ersten beiden Sparten an kommunalen Theatern, die sich eigens dem Digitalen widmen, sind Initiatoren des neuen theaternetzwerk.digital. Gemeinsames Ziel aller Beteiligten: ­Wissen und Erfahrungen im Bereich Digitaltheater und Theaterdigitalisierung auszutauschen. Das bietet die Grundlage, um sukzessive eine Unabhängigkeit von kommerziellen Anbietern zu schaffen. Und es bietet allen Künstler*innen die Chance, das Neuland mit Schwarmintelligenz gemeinsam, statt in Konkurrenz durch ohnehin zu spät gestartete Wettrennen zu erkunden. „Auch innerhalb von Kunst und Kultur entscheidet eine erfolgreiche Digitalisierung letztendlich über Sein oder Nichtsein. Dabei geht es sowohl um künstlerische

digitaler humus

digitaler humus

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Technik in die Hände der Menschen zu geben, diese zu erkunden und zu beherrschen und nicht umgekehrt Menschen mit Technik systematisch zu überfordern und selbst beherrscht zu werden. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, digitale Strategien nicht beiläufig zu entwickeln, sondern in diesen Bereich zu investieren. Wo sind digitale Strategien und mit welchen Mitteln zu konzipieren? Als künstlerische Produktionstools, ­ästhetische Formen, dramaturgische Konzepte, Kommunikations- und Koproduktionswege, in der ganz handwerklichen technischen Nutzung, als Nachhaltigkeitsstrategie, zur Vorbereitung auf eine uns allen ­unbekannte Zukunft oder hängt all dies miteinander zusammen? Große Herausforderungen liegen in den dringend erforderlichen ökologischen Innovationen. Zunehmend ist in der Kultur der Umgang mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung Thema (Sustainable Development Goals, SDGs). Internationale Kooperationen, Reisen, Netzwerke werden nach der Pandemie nicht mehr so unreflektiert wie davor genutzt werden können. Aber auch Daten haben einen großen „digitalen Auspuff“. Wann ist analoge Begegnung existenziell? Wie können digitale Kommunikations- und Kooperationsformen da genutzt werden, wo Reisen nicht unbedingt erforderlich sind? Wie lernen wir, dies zu unterscheiden? Wie verändert sich der europäische Markt durch die Veränderung globaler Mobilität, und wie verändert sich der Markt, etwa im globalen ­Süden, da wir endlich unser vermeintliches Monopol auf Zeitgenossenschaft im Kontext der Diversitätsdebatten aufgeben sollten? Das sind Fragen, noch keine Antworten. Es sind Fragen, denen sich viele im Ausnahmezustand durch die Pandemie gewidmet haben. Dabei geht es nicht um den Verzicht, sondern um die Chance der Kunst, außerhalb der Gesetze und der falschen Dynamik kommerziellen Turbo-Wachstums zu stehen und dem Wachstum der Natur näher zu stehen als dem irrationalen Verbrauch von Ressourcen. 2020 sind die Superreichen mitten in der Pandemie in einem unfassbaren Ausmaß reicher ­geworden. Wie wollen wir zukünftig mit Ressourcen ­umgehen? Und welche neuen Formen der Ökonomie braucht es, um nachhaltig zu werden? Digitale Strategien sind durch die Pandemie beschleu­ nigt worden. Das ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Und zugleich sind wir noch in einer Erkundungsphase und Teil eines Prozesses, der unbedingt proaktiv gestaltet werden sollte. Die digitale Transformation macht deutlich, was dabei existenzielle Herausforderungen für die Zukunft sind: Digitale Daten und Inhalte gehören in den Besitz des Gemeinwesens, nicht in die Hand globaler Konzerne. Sie sollten die Basis zu der Gestaltung geben, die die Welt von Morgen ermöglicht. Im Sinne der Bewohner*innen dieser Erde. Mit der Bewegung in eine „Ferngesellschaft“, die Peter Weibel, Direktor des ZKM, bereits als Teil unserer Realität sieht, stellt sich die

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­ rage, wie wir zwischen analogen und virtuellen Welten F unser Leben zukünftig gestalten wollen. Die Entwicklung anderer und neuer Ökonomien, Fragen des sozialen Zusammenhalts, insbesondere die Herausforderungen der Nachhaltigkeit und des Klimawandels, Aufenthaltsqualitäten von Natur, Architektur und Stadtplanung im urbanen wie im ländlichen öffentlichen Raum – all diese Themen stehen für viele Menschen, gerade auch in der Kunst, aktuell im Fokus und kommen in der Frage zusammen, die auch die Architekturbiennale 2021 in ­Venedig stellt: Wie wollen wir leben? Die Innovationsökonomin Francesca Bria, eine der führenden Expertinnen für digitale Politik in Europa, 2018 vom Forbes-Magazin in die Liste der europäischen Top 50 Women In Tech aufgenommen, war 2019 zu Gast bei der Kulturkonferenz Ruhr in Dortmund. Damals war sie Chief Digital Technology and Innovation Officer der Stadt Barcelona. Als Gründerin des DECODE-Projekts – einer EU-weiten Initiative zur Rückgewinnung der Datenhoheit der Bürger – hat sie wichtige Impulse in Bezug auf das Verhältnis von Daten und Gemeinwohl gegeben. Digitalität ist eine systemische Herausforderung. Wir müssen uns auf die Veränderung der Arbeitswelt, von Mobilität und Produktionsverfahren vorbereiten, auf die Nutzung von KI zum Wohle des Gemeinwesens. Dazu gehört die Verbindung der unterschiedlichen Handlungsfelder – Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Ökologie, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit. Auf welche Zukunft wollen wir hinarbeiten? Wie können wir Begabungen, neue Technologien und Visionen für das Leben, das wir führen wollen, einsetzen und Fragen der ökologischen und kulturellen Nachhaltigkeit neu zusammenbringen? Es gibt ein „window of opportunity“ für diese Herausforderungen. Viele Kultureinrichtungen nutzen es mit großem Engagement aktiv, kreativ, erfinderisch und mit Blick in eine unbekannte Zukunft – trotz der tiefen Verzweiflung angesichts der Schließung der Kunst- und Kultureinrichtungen im Lockdown. Es gibt eine historische Chance, sagen viele. Dazu zählt ein aktives Engagement, das sich nicht rein wirtschaftlichen Aspekten oder dem Aufholen von Versäumnissen in der Vergangenheit widmet. Dazu gehört ein gesellschaftspolitisches Grundverständnis der Kunstproduktion. Die Welt ist mitten in einer fundamentalen Veränderung. Diese Veränderung sollte nicht dem kommerziellen Interesse von Facebook, Google, YouTube und anderen Konzernen überlassen bleiben. Es geht dabei insbesondere auch darum, Digitales und Analoges nicht als zwei getrennte Bereiche zu betrachten, sondern beides zusammenzudenken. Streams werden nicht die Gemeinschaft im Theater, im Museum, im Kunstverein, bei Festivals, in Konzert- oder Literaturhäusern, in Clubs und soziokulturellen Zentren ersetzen. Im Konjunkturpaket der EU stehen seit November 2020 im Rahmen der „Next Generation-Initiative“ 1,8 Billionen Euro zur Verfügung. Hier


digitaler humus

rische Positionen, um deutlich zu machen, dass da nicht erst die Digitalität ist, und diese soll dann in der Kunst Anwendung finden, sondern die Kunst ist seit Jahrtausenden als Partnerin der Wissenschaft Wegbereiter für Experimentierfelder und Innovation. Unzählige aktuelle Positionen könnten ergänzt werden, von Carsten Nikolai / Alva Noto über DJs und VJs bis zu Hatsune Mikus virtuellen Konzerten, von Kay Voges hybriden Theaterwelten bis zu den Forschungen der Stipendiaten der Akademie für Theater und Digitalität wie auch verschiedener Studiengänge in NRW wie international. „Eine Welt, die Platz für die Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen“, schrieb die kluge Philosophin Hannah Arendt. In diesem Sinne wäre das „window of opportunity“ für zukünftige Welten und Generationen zu denken. Digitale Daten sind im 21. Jahrhundert Teil einer zu gestaltenden Öffentlichkeit. Dazu ist es wichtig, die Belange des Gemeinwohls, des Gemeinwesens überhaupt wieder stärker in das Bewusstsein zu rücken. Zu diesem Gemeinwohl zählen viele Bereiche, die wir als selbstverständlich ansehen, die aber keineswegs für alle Menschen auf diesem Planeten selbstverständliche Ressourcen sind. Dazu zählen Bildung und Kunst, Wissenschaft und Forschung, soziale Strukturen und Absicherungen, Religionsfreiheit und Freizeitangebote wie Sport, Volkshochschulen oder zahlreiche andere Weiterbildungsangebote. Das ist uns verfügbar, und das vergessen wir manchmal. Dazu zählen auch Wasser, Luft, Natur und die Ressourcen der Erde. Mit Blick auf die globale Realität ist all dies kostbar. Wir können es nicht als Privileg für wenige bewahren, dazu ist die globale Situation zu komplex, dazu sind die Folgen unseres Wohlstands für viele Menschen, für die Ausbeutung von Kindern, Arbeiter*innen, Ressourcen, Seltenen Erden und die Lebensrealität u. a. im globalen Süden zu ungerecht. Und vielen wird immer deutlicher: Nur, wenn wir technische Innovation mit der Perspektive auf eine bessere Lebensrealität aller Menschen ausrichten, ist die Zukunft dieser Welt gestaltbar. Zurück zur Kunst. In der Pandemie wurden durch Streamings, mal besser, mal schlechter gelungen, umfassende digitale Inhalte produziert. Wie verhält sich dieses Material zu den Angeboten der sozialen Netzwerke und auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Welche Qualität müssen wir zukünftig anstreben? Was war für die Programme von ARD und ZDF, von WDR, NDR oder SWR von 1960 bis 1990 selbstverständlich und wurde danach sukzessive reduziert mit dem Argument „das Publikum“ interessiere sich nicht dafür? 2020 wurde für viele in der theateraffinen Community deutlich, dass etwa die historischen ZDF-Aufzeichnungen aus der Schaubühne in Berlin, mit öffentlichen Mitteln ermöglicht, ein Maß an Qualität aufbieten, das mit Live-Streamings, meist mit viel Engagement und Improvisationstalent

bettina milz

wird die künstlerische Forschung gebraucht. Es geht darum, die Welt widerstandsfähiger und zukunftsfähiger, aber auch nachhaltiger und gerechter zu bauen. Das ist eine historische Wende. Wollen wir Resilienz entwickeln, so wird dabei die Kunst als Spezialistin für das Neue gebraucht. Künstlerische Produktion mit digitalen Technologien, will sie spannend sein, ist nach wie vor dramaturgisch und technisch eine Herausforderung. Aber es geht nicht nur darum, dass Kunst Digitalität als technische Möglichkeit entdeckt, die Kunst ist auch ein Pionier und hat digitale Technologien in den letzten rund 70 Jahren hervorgebracht. Ich will nur einige Beispiele nennen. Karlheinz Stockhausen etwa, um mit einem der wichtigsten Künstler*innen aus Nordrhein-Westfalen zu beginnen, hat von 1953 bis 1998 eng mit dem Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks zusammengearbeitet und als künstlerischer Leiter des Studios der Zukunft der elektroakustischen Musik und Klanggenese entscheidende Impulse gegeben. Während wir heute gerade in Bezug auf die Musik eher über die Frage von Rechten und Distributionen sprechen, ging es damals um die Basis dessen, was heute – industriell verwertet – bei Klingeltönen in Handys wie auch in der live-elektronischen Klanggenese kommerziell angewendet wird. Es stellt sich also nur peripher die Frage, wann Künstler*innen das Digitale und wie anwenden. Im Bereich des zeitgenössischen Tanzes hat Merce Cunningham bereits 1989 begonnen, mit dem Computer zu choreografieren. Das Programm Life Forms, an der Simon Fraser University, British Columbia, Kanada, entwickelt, war ein wichtiger Pionier in der Kunst. Die Software übertrug Formen menschlicher Körper auf Figuren im dreidimensionalen Raum, ermöglichte Experimente mit unterschiedlichsten Bewegungen, wie Drehungen, Sprüngen oder Hebungen. Interdisziplinäre Partner von Cunningham waren visuelle Künstler*innen wie Robert Rauschenberg oder Jasper Johns. John Cage und Merce Cunningham haben mit der Implementierung aleatorischer Kompositionsprinzipen in der Kunst wie in der Technologie, etwa im Bereich Motion-Capture, Neuland geschaffen. 1997 durfte ich im ZKM die Improvisation Technologies von William Forsythe mit der Company vorstellen, ein erstes digitales Tool zur Vermittlung von choreografischen Scores, Kompositions-Ideen und ­Gedanken, die damals noch mit enormem Aufwand von vielen Mitarbeiter*innen der Forsythe-Company ent­ wickelt wurde. Mit STEIM (Studio for Electro-Instrumental Music, Amsterdam), 1969 gegründet, haben Michel Waisvisz und viele andere dem Körper und der Bewegung in der Produktion elektronischer Musik von Björk und anderen Raum gegeben, auch als Gegenbewegung zur elektronischen Klanggenese von Komponist*innen im Umfeld von Karlheinz Stockhausen. Das IRCAM um Pierre Boulez in Paris war ein weiterer wichtiger Wegbereiter für Experimentierfelder. Dies sind nur einige histo-

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kurzfristig generiert, mit mehr oder weniger professionellem Support, einfach nicht zu vergleichen ist. Der Unterschied in der Transformation von der Bühne zur Wiedergabe im Fernsehen liegt in der Einbindung ­doppelter Regieteams. Da ist einerseits das Inszenierungsteam im Theater und ein weiteres professionelles Regie- und Kamerateam bei der Aufzeichnung. Die Transformation und Übersetzung aus dem Theaterraum in Fernsehprogramme, Streamingplattformen oder sonstige digitale Angebote erfordert andere Dramaturgien, erfordert ein zusätzliches künstlerisches Konzept und je nach Inszenierungskonzept eine Übersetzung der analogen Perspektiven in den digitalen Raum. Es geht um technischen wie auch um einen gedanklichen ­Aufwand, damit die Zuschauer vor dem Fernseher, dem Laptop oder der Leinwand zu Hause oder im Kino ahnen können, welche Raumerfahrung im Theater intendiert war. Darin liegt eine zentrale Herausforderung für Kunst­ produzenten heute, in Zusammenarbeit mit den öffentlich finanzierten Medienanstalten. Information, Bilder, Filme sind über das Netz jederzeit verfügbar. Wie können sich darin Kunst und Kultur positionieren, vielleicht auch zu anderen Sichtweisen, zu Entschleunigung und Denkprozessen herausfordern, zu mehr Qualität, Konzentration, tieferer Information und qualifizierten Bildungs­ angeboten? Für den Bereich der Darstellenden Künste hat Nordrhein-Westfalen im Verbund mit der Stadt Dortmund, der Kulturstiftung des Bundes und dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung ein Kompetenzzentrum gegründet, das sich diesen Themen widmet. Die Akademie für Digitalität und Theater bietet jungen Künstler*innen und Kollektiven einen Experimentierraum, der über eine Ko-Finanzierung von Stadt, Land und Bund und Stipendien der Kulturstiftung des Bundes ermöglicht wird. Es geht darum, digitale Tools zu erproben und künstlerische Experimente zu ermöglichen, auch ganz grundsätzlich digitale Souveränität und Medienmündigkeit zu stärken. Das betrifft drei zentrale Bereiche: die künstlerische Produktion mit den Mitteln des Digitalen, die Qualifizierung von allen Expert*innen in Technik und Kunst und die Aus- und Fortbildung zu ästhetischen Produktionsweisen. Dabei arbeitet die Akademie im Netzwerk mit zahlreichen Kunstinstitutionen und Produzenten, die über rund 20 bis 30 Jahre herausragende Kompetenzen im Bereich des Digitalen entwickelt haben. Dazu zählt der HMKV (Hartware MedienKunstVerein Dortmund), PACT Zollverein in Essen und zahlrei-

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che andere Institutionen, die sich im Medienwerk NRW zusammengeschlossen haben. Interessant ist dabei, dass die meisten dieser Einrichtungen und ihre künstlerischen Leitungsteams die angesprochene Verbindung der digitalen Herausforderungen mit politischen, sozialen, ökonomischen und auch ökologischen Themen seit Jahren und Jahrzehnten im Blick haben. Themen, wie Klima-Audit der eigenen Einrichtung, Kunst und Labore zu Themen der Kunst und der globalen Herausforderungen, werden miteinander verbunden. Auf dieser Basis vertieft Nordrhein-Westfalen sein Profil als Standort für Experimente und der Neuen Künste. Vielleicht geht es zunächst darum, einen gewissen digitalen Humus zu schaffen, auf dessen Basis sich die Künste auch auf den großen Bühnen – nicht nur in den Experimentierräumen der Freien Szene – an Experimente unter Einbindung des Digitalen heranwagen können. Als Ausgleich zu all den digitalen Exkursionen möchte ich gerne Monteverdi hören, wenn ich diesen Text nochmals kritisch lese. Wie mir fehlt wohl den meisten der Raum der Orientierung und Reflexion, der Empathie, Konzentration und Kontemplation, den uns die Kunst geben kann. Vielleicht nicht zufällig führt mich der digitale Zufall zu zwei Orfeo-Varianten: zu den „frisch desinfizierten VR-Brillen“, die im Staatstheater Augsburg für jeden Zuschauer 2020 zur Entführung in ein digitales Elysium bereitlagen – „Eine wagemutige Inszenierung nur für Schwindelfreie!“. Und den mit Wasser gefüllten Gummistiefeln, in denen Giuseppe Spota, neuer Ballettintendant am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen, sein Tanzensemble gemeinsam mit der neu gegrün­ deten Sparte Figurentheater über die Bühne jagt; in einer interdisziplinären und auch medialen Inszenierung in einem der schönsten deutschen Theaterbauten Deutschlands im Oktober 2020. Und ich denke, dass es – ob analog oder digital – wohl künstlerischen Mut und Arbeitsbedingungen braucht, die „breite Schultern“ für das künstlerische Experiment zeigen. Im Idealfall können wir uns dann im Anschluss auch irgendwann wieder, wie in der Renaissance, zu einem ganz analogen Fest (-mahl) treffen. „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better“, sagt Samuel Beckett. Denn dafür sind unsere Kunsteinrichtungen geschaffen und werden sie als Teil des Gemeinwesens getragen. Unser Publikum weiß das. Denn das Gemeinwohl ist eines unserer kostbarsten Güter. So gehören digitale Daten dem Gemeinwohl – spätestens im 21. Jahrhundert.


marcus lobbes

la forza del destino oder: die vernetzung der theaterlandschaft Seit gut zwei Jahrzehnten spricht eine ganze Gesellschaft, sprechen Politik und Wissenschaft, sprechen Bildung und auch die Kultur über die grundlegenden Umwälzungen der Digitalisierung. Ob medientheoretische oder wissenschaftshistorische Analogien: Unter Vergleichen mit der Erfindung des Buchdrucks und der sich anschließenden Reformation oder des Endes des geozentrischen Weltbilds und des daraus resultierenden astronomischen Aufbruchs macht es die Digitalisierung nicht. Wie bei allen Zeitdiagnosen lässt sich natürlich kaum absehen, was die künftige Digitalität eines alterierten Wahrnehmens und kommunikativen Handelns bringen wird. Dennoch ist es für das Theater an der höchsten Zeit, sich dem digitalen Wandel im Sinne eines ergebnisoffenen Gesamtexperiments endlich offensiv zu stellen. Ein Plädoyer für Trial and Error und für eine digitale

Die wichtigste Erkenntnis ergibt sich in einer Verschiebung der Perspektive: Nicht mehr die eine große Erzählung, nicht mehr der eine Raum, nicht mehr eine richtunggebende Institution oder Mode ist für einen bestimmten Zeitraum das Thema, sondern die Suche nach den verbindenden Strukturen. Die Debatten werden in allen oben genannten Bereichen nicht mehr nur technisch geführt, sondern inhaltlich. Sie werden nicht mehr als Austausch diametral entgegengesetzter Bedürfnisse ausgefochten, sondern konstruktiv behandelt, d. h. es werden neue Konstruktionen gesucht und hoffentlich auch gefunden für das Gesamtgebilde Theater. Der gerade gegründete Verbund theaternetzwerk. digital könnte nicht besser für alle genannten Punkte stehen: Zum ersten Mal überhaupt schließen sich im April 2021 15 Theater aus dem deutschsprachigen Theaterraum zusammen, um miteinander ins Gespräch zu künstlerisch-technischen Fragestellungen zu kommen, und seitdem wächst der Kreis der teilnehmenden Institutionen beständig. Nicht mehr Rang und Stand sind die Parameter dieser Interessengruppe, in der sich unter anderem Theater der Freien Szene, Staatstheater, ­Bespielbühnen, Orchester und Puppenbühnen finden, sondern Erfahrung und Neugier – der Austausch steht im Zentrum, und zwar auf allen relevanten Gebieten: Fragen zur Digitalisierung der Verwaltung werden hier auf kurzem Weg ebenso diskutiert, wie zum Teil äußerst

marcus lobbes

Damit es einmal mehr ausgeschrieben wird: Die Covid19-Pandemie hat das kulturelle Leben europaweit nahezu zum Erliegen gebracht, nie seit dem Zweiten Weltkrieg war die Gefahr für Künstler*innen und alle anderen festen und freien Mitarbeiter*innen an den Theaterbetrieben oder in der Freien Szene so groß, in der Unsichtbarkeit zu verschwinden, wie während dieser Krise. Die Pandemie hat in den Theatern ab März 2020 die unterschiedlichsten Aggregatzustände bis heute hervorgerufen: Panik und Schockstarre nach der ersten Schließung, Verlegung auf digitale Ausspielkanäle als Überbrückungsmaßnahme, Hoffnung auf einen ein­geschränkten Spielbetrieb nach dem Sommer, tiefe D ­ epression nach der zweiten Schließung der Betriebe und Pioniergeist mit den Experimenten im digitalen und virtuellen Raum. Im Jahr 2021 hat sich die Lust am Experiment dann für die Theaterschaffenden als großer Motor erwiesen: Gesellschaftliche Entwicklungen werden nicht mehr allein auf den Bühnen verhandelt, sie werden auch in den Institutionen ernst genommen. Das Theater als ­Erregungsmaschine steht still und muss sich deshalb endlich bewegen. Die schon lange überfälligen Diskussionen zu Macht, Beteiligung und damit oft Erneuerung werden geführt; ebenso werden die Fragen zur Nachhaltigkeit der Betriebe in großer Runde gestellt – und auch die Debatte um eine nachhaltige Digitalstrategie ist im Theater angekommen.

la forza del destino

Gründerzeit auch am Stadttheater.

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spezielle technische Lösungsansätze für die künstlerische Produktion. Nicht mehr das einzelne Theater, nicht mehr der originäre künstlerische Wurf muss hier im Glanz der Einzigartigkeit erstrahlen, sondern die gemeinsame Findung zur Eroberung neuer Spielformen, neuer Ausspielflächen, neuer Dramaturgien. Und Letzteres, also von der Kunst aus denken, hilft auch im technischen Wirken. Die alten Fragen „Was will ich?“ und „Wie kann ich es erreichen?“ werden bei Bedarf auf neue Raster gelegt. Wer digital arbeiten möchte, muss sich auch im gedanklichen Ansatz mit Digitalität beschäftigen – analoge Formate in digitale Zusammenhänge zu zwingen, ist dabei nicht zielführend. Je eher sich die Theaterwelt dem Austausch widmet, Expertise teilt, Menschen weitervermittelt, bei Fragen auch für andere Häuser an Lösungen mitarbeitet, umso eher kann eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit den neuen Möglichkeiten entstehen. Die Erkenntnis, dass nicht alle alles können, steht über dem Universalgeniegedanken. Und das ist ein Signal an die Träger und Förderer der Theater: Jetzt schaffen wir die Möglichkeiten, Kunst dort zu machen, wo sie dringend benötigt wird, wo sich große Teile der Gesellschaft schon täglich aufhalten, wo Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und privatester Austausch seit bald zwei Jahrzehnten zum täglichen Leben gehören – im Internet. Das geht nur, wenn jetzt investiert wird, wenn Strukturen und Stellen geschaffen werden, wenn neue Bühnen als zusätzliche, erweiterte Angebote etabliert werden können. Wichtig ist es, den zu erobernden digitalen und virtuellen Raum als Platz der Begegnung ernst zu nehmen. Die Theaterhäuser stehen traditionell in der Mitte der Städte und damit in der Mitte der Gesellschaft. Den Umstand, dass sich fast die gesamte Gesellschaft permanent in einer Zweitwelt bewegt, die wir eben nicht der Unterhaltungsindustrie, der Politik oder dem privaten Austausch allein überlassen sollten, die Kunst muss sich auch hier in der Mitte etablieren. Wenn die Theater hier sicht- und spürbar werden, kann das Netz ein Ort mit größerer Qualität werden, nach Roman Senkls Leitsatz: „Die Theater brauchen das Netz nicht, aber das Netz braucht die Theater.“ Und wo Theater gebraucht werden, sollten sie, im Sinn einer gelebten Tradition der permanenten Erneuerung, auch hingehen. Und das Publikum dankt es den Häusern schon jetzt: Onlinetheater, in welcher digitalen oder virtuellen Form auch immer, boomt. Die Auslastungszahlen übertreffen nach den Aussagen verschiedener Direktionen inzwischen oft den analogen Präsenzraum, und auch die Debattenkultur ist deutlich agiler geworden, denn Nachgespräche werden, bei angemessener Begleitung seitens der Häuser, jetzt schon häufig mehr und länger frequentiert als im guten alten Theaterfoyer nach einer Vorstellung. Menschen bleiben auch im Netz länger beieinander, sobald es relevante Inhalte zu verhandeln gibt.

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Und sie bezahlen auch dafür: Einige Institutionen berichten, dass die Bereitschaft, freiwillig einen Eintritt zu entrichten noch höher ist, als die Tickets zu festgelegten Preisen zu erwerben. Unterm Strich heißt das, dass, gleich mit welchem Bezahlmodell, die Kunst ebenso wertgeschätzt wird wie im analogen Betrieb. Das Gute ist: Die Theater fangen gerade erst an. Wenn wir uns die rasante Entwicklung in fast allen Häusern im Spieljahr 2020/21 vor Augen halten, steht uns an Erkenntnissen, Formaten, Steuerungsmöglichkeiten, Interaktion untereinander und mit dem Publikum, Reichweite und Relevanz noch viel Gutes bevor. Dazu muss allerdings zwei (noch) grundlegenden Ängsten entgegengetreten werden: a) Die digitale Bühne löst die analoge nicht ab, sondern ergänzt und erweitert die Möglichkeiten, Kunst an ein Publikum zu bringen. Eine gemeinsame Auseinandersetzung mit den neuen Narrativen ist dazu unbedingt notwendig. Die Theater haben sich immer, um auf die Welt wie sie ist zu reagieren, an allen Möglichkeiten schadlos gehalten: versenkbare Treppen in der Antike, aus der Seefahrt übernommene Seilzüge im Barock, Maschinen des industriellen Zeitalters und die Einführung der Elektrizität als zuletzt größte Veränderung, nichts davon hat das Vorherige oder zeitgleich Andere hinweggefegt, aber die Erweiterung des Spielraums und auch seiner Schauwerte war immer ein Thema der Kunst. b) Nicht jeder Versuch wird sofort gelingen, Scheitern gehört zum Handwerk. Die Angst, sich mit digitalen Produk­ tionen als unwissend oder unfähig zu zeigen, ist groß. Und das ist falsch. Nicht jede Arbeit im physischen Ko-Präsenzraum, an welcher Institution auch immer, war oder ist der große künstlerische Wurf. Und trotzdem folgt immer ein weiterer Versuch. Letztlich braucht es für den Umgang mit digitalen Technologien live auf den Bühnen, mit hybriden Formen oder im digitalen und virtuellen Raum, im Netz eine Konstituierung durch die Kunst gemeinsam mit dem Publikum – hier werden, mit etwas Glück und Pioniergeist, Theatererfahrungen erschaffen, die sich in guter Tradition als weitere Felder der Theaterkunst präsentieren können. Die Theater haben schnell gelernt: Die anfangs in die Unendlichkeit des Internets versendeten Hauptprobenmitschnitte sind schon heute einer Kultur des qualitätsvollen Produzierens für die Bedingungen des digitalen Raums gewichen. Exemplarisch für die Wertschätzung dieser Anstrengungen hat das Theatertreffen 2021 die im Vorjahr begonnene Zusammenarbeit mit der Akademie für Theater und Digitalität Dortmund mit der Schaffung eines neuen Formats‚ den „Stages Unboxed“, fortgesetzt und damit einen Teppich für die Bühnen ausgerollt, sich einem größeren Kreis zu präsentieren. Auch für die neuen Formate soll gelten: Seriös suchen, lustvoll produzieren, gut interagieren und kommunizieren – und im Falle des Scheiterns bitte weitermachen.


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FESTIVALS

NORDWIND 2021:

U.A. MIT ERNA OMARSDOTTIR / ICELAND DANCE COMPANY / THEATER FREIBURG: ORPHEUS UND EURYDIKE – NOTIZEN AUS DER UNTERWELT FOKUS TANZ #8 BLACK DANCE CULTURES (AT): U.A. MIT JOHANNA FAYE & SAIDO LEHLOUH / FRANCK EDMOND YAO / FUSION DANCE BATTLE / CONFÉRENCE DANSÉE

LIVE ART FESTIVAL #12 POSTPANDEMIC DESIRES: U.A. MIT TIANZHUO CHEN / JOSE VIDAL

DETAILLIERTES PROGRAMM AB AUGUST ONLINE TICKETS: 040 270 949 49, KAMPNAGEL.DE


LET’S WALK

ALONE

S T A D T .

K Ö R P E R .

P A N D E M I E .

Ein Audiowalk der Premiere 16. Juli 2021 Walks bis 7. Aug. 2021 Mittwoch bis Samstag jeweils 17 und 19 Uhr

Infos und Tickets: msschrittmacher.de /audiowalk

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Tickets unter 0331 73042626 www.unidram.de • www.t-werk.de


ZURCHER THEATER SPEKTAKEL «Mailles» von Dorothée Munyaneza. Foto: Leslie Artamonow. Artwork: Jean-Vincent Simonet. Konzept: Studio Marcus Kraft

1  9.8.–– 5.9.21


DER D ER E EININGEBILDETE G EBILDETE KRANKE K R A N K E Po Pop-Oper op-Oper p-Oper

frrei frei ei n nach ach M oliè oli ère Molière Premiere 20 20.. August Regie: Jacob Höhne ww w.ramba za m ba-studio21.d e www.rambazamba-studio21.de ww.rambazamba-studio21.de

THEATER GÜTERSLOH.SPIEL ZEIT 2021/2022 GASTSPIELE

Kunstfest Weimar

ENDLOSE AUSSICHT

UA von Theresia Walser

São Paulo Dance Company

PAIXÃO & ENERGIA

Thalia Theater, Hamburg

Deutsches Schauspielhaus Hamburg

von Wajdi Mouawad

von Christoph Hein Übernahme vom Schauspiel Hannover, eine Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen

VÖGEL

Münchner Volkstheater

HEDDA GABLER

TRUTZ

Rodovalho, Abranches, Mesquita

von Henrik Ibsen

… und viele mehr!

Schauspiel Hannover

Gauthier Dance//Dance Company Theaterhaus Stuttgart

EIGEN-/KOPRODUKTIONEN

ORLANDO

von Virginia Woolf

FARN. collective

THE SHAPE OF TROUBLE TO COME

Ein posthumanes Musiktheater, UA Eine Koproduktion mit Schauspiel Leipzig und Schauspielhaus Bochum

THE SEVEN SINS

Barton, Cherkaoui, Eyal, Behar, Goecke, Morau, Shechter, Waltz, UA Eine Koproduktion mit La Biennale di Venezia, Festspiele Ludwigshafen

Berliner Ensemble

ENDSTATION SEHNSUCHT

von Tennessee Williams

Neuköllner Oper, Berlin/ Theater Gütersloh

DER MANN DER SICH BEETHOVEN NANNTE

von Moritz Rinke, RUNG URAUFFÜH Mathias Schönsee und dem Trickster Orchestra

Theater Gütersloh

KALT

von Joachim Zelter

INFOS UND KARTEN ServiceCenter Gütersloh Marketing 05241 21136-36, bei allen bekannten VVK-Stellen und unter theater-gt.de

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Künstlerische Leitung: Christian Schäfer und Karin Sporer

THEATER GÜTERSLOH ONLINE

DAS THEATER TRÄUMT von Nora Gomringer, YOUTUBE Tilman Rammstedt, Moritz Rinke, Lisa Sommerfeldt, Miroslava Svolikova, Theresia Walser, Joachim Zelter

DER VIROLOGE von Joachim Zelter

YOUTUBE

Spielclub Theater Gütersloh

@RUNTERAUFNULL von Kristofer Grønskag

INSTAGRAM

… und weitere!

Design: Stahl R, www.stahl-r.de

D ie Insz Die Insze Inszenierung en e nierung n ierung ist Teiil Te Teil i l des St Stu Studio ud u diiio d o 2 211


WIEDERERÖFFNUNG

www.theater-plauen-zwickau.de

GEWANDHAUS ZWICKAU

SEPT.

2021


SCHAUSPIEL PROGRAMM

PROGRAMMAUSZUG

SCHAUSPIEL | PERFORMANCE

AUG SEP

25 11 MI, 25. AUG – SA, 11. SEP (MIT AUSNAHME VOM 1. SEP) URAUFFÜHRUNG — NURAN DAVID ÇALIŞ | TUNÇAY KULAOĞLU

MI, 1. SEP | DO, 2. SEP EUROPÄISCHE ERSTAUFFÜHRUNG — SERGIO BLANCO

MI, 25. AUG – SO, 12. SEP URAUFFÜHRUNG DES MOBILEN PROJEKTS 20 ORTE IN 19 TAGEN — STEVE KARIER

DO, 2. SEP | FR, 3. SEP | SA, 4. SEP | SO, 5. SEP URAUFFÜHRUNG DES GESAMTZYKLUS — KÖTTER | ISRAEL | LIMBERG

FR, 27. AUG | SA, 28. AUG | SO, 29. AUG | MO, 30. AUG URAUFFÜHRUNG — JUDITH ROSMAIR | THEO ESHETU

DO, 9. SEP | FR, 10. SEP | SA, 11. SEP PREMIERE DER NEUPRODUKTION — ANNA SEGHERS | AMIR REZA KOOHESTANI | THALIA THEATER HAMBURG

438 TAGE NSU-PROZESS — EINE THEATRALE SPURENSUCHE

THÜRINGEN — DIE GANZE WAHRHEIT

BYE BYE BÜHNE

SA, 28. AUG | SO, 29. AUG | SO, 5. SEP | MO, 6. SEP URAUFFÜHRUNG — MARIE BUES | THOMAS KÖCK

UND ALLE TIERE RUFEN: DIESER TITEL RETTET DIE WELT AUCH NICHT MEHR

CUANDO PASES SOBRE MI TUMBA

LANDSCAPES AND BODIES #1–5

TRANSIT

WEITERE PROGRAMMPUNKTE UNTER KUNSTFEST-WEIMAR.DE


POLYPHONIE GERECHTIGKEIT

SPIELZEIT 2021 / 2022 PREMIEREN

AMSTERDAM Maya Arad Yasur / Regie: Eva Lange DAS XIS WIRD NICHT GEHÖRT / UA von und mit dem XIS / Regie: Dominique Enz SCHNECKENWEISHEITEN ODER: DAS MITTEL GEGEN EINSAMKEIT / UA von und mit Jürgen Helmut Keuchel / Regie: Jürgen Helmut Keuchel POLLESCH WÄRE DAS NICHT PASSIERT / UA Anah Filou / Regie: Romy Lehmann DIE BOTSCHAFT DER BAUMFRAU / UA Julia Butterfly Hill / Regie: Gökşen Güntel DER FISKUS Felicia Zeller / Regie: Matthias Huber FATIMA ODER DIE BEFREIUNG DER TRÄUME Rafik Schami / Regie: Katharina Birch HANNAH! DAS ERWACHEN EINES POLITISCHEN BEWUSSTSEINS / UA Christian Franke / Regie: Christian Franke BILDER DEINER GROSSEN LIEBE Wolfgang Herrndorf / Regie: Schirin Khodadadian STRUWWELPETER (SHOCKHEADED PETER) Eine Junk-Oper nach Motiven aus „Der Struwwelpeter“ mit der Musik der Tiger Lillies DIE WELT IM RÜCKEN Thomas Melle / Regie: Eva Lange KLEIST-FÖRDERPREIS FÜR JUNGE DRAMATIKERINNEN UND DRAMATIKER 2022 / UA Autor*in noch unbekannt / Regie: Eva Lange DAS STÜCK ZUR ZEIT Autor*in noch unbekannt 800 (DAS THEATERSTÜCK) / UA Anah Filou / Regie: Carola Unser

POLYPHONY JUSTICE ÇOK SESLILIK_ ADALET WWW.HLTM.DE


für einen Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit FÄN raus aus den echokammern – aufruf zur kompliz:innenschaft!1

ADRIENNE GOEHLER und MANUEL RIVERA und 107 Stimmen aus Kunst, Wissenschaft und dem Dazwischen

FÄN Skizze in Progress Stand 23|05|21 Swaantje Güntzel • Prof. Dr. Sonja Beeck • Prof. Olafur Eliasson • Bernadette La Hengst •Tobias Rausch • Lena Reisner • Jan-Philipp Possmann • Rebecca Raue • †Prof. Dr. Rudolf zur Lippe • Amelie Deuflhard • Dr. Christine Fuchs • Davide Brocchi • Nicola Bramkamp • Andreas Rost • Heike Catherina Mertens • Prof. Florian Schneider Prof. Dr. Elisabeth Schweeger • Hans Winkler • Anne Schneider • Franziska Pierwoss • Prof. Christin Lahr Andreas Liebmann • Prof. Antje Majewski • Till Ansgar Baumhauer • Natalie Driemeyer • Sybille Neumeyer Gabriele Horn • Thomas A. Geisler • Miro Zahra • Daniel Schüßler • Dr. Kat Austen • Jürgen K. Enninger Matthias Flügge • Pauline Doutreluingne | Anne Duk Hee Jordan • Prof. Folke Köbberling • Prof. Dr. Klaus Töpfer • Prof. Dr. Patrizia Nanz • Prof. Dr. Reinhard Loske • Prof. Dr. Gesine Schwan • Adolf Kloke-Lesch • Prof. Dr. Dirk Messner • Prof. Dr. Peter Adolphi • Prof. Dr. Maja Göpel • Prof. Dr. Reinhold Leinfelder • Prof. Dr. Uta von Winterfeld • Prof. Dr Dr. Barbara Adam • Andrea Wulf • Dr. Nana Karlstetter • Prof. Dr. Uwe Schneidewind Barbara Unmüßig • Carolin Hochleichter • Prof. Dr. Rolf Sachsse • Dr. Sarah Maria Schönbauer • Kain Karawahn Dr. Sven Bergmann • Prof. Dr. Anna Katharina Hornidge • Benjamin Förster-Baldenius • Prof. Dr. Antje Boetius Dr. Thomas Flierl • Sasha Waltz • Jochen Sandig • Prof. Friedrich von Borries • Dr. Juliane Zellner •Jonas Zipf Dr. Thomas Oberender • Dr. Gabriele Knapstein • Thomas Krüger • Dipl.Ing. Matthias Schmuderer • Fabian Larsson • Rimini Protokoll • David Brandstätter • Dr. Tobias Knoblich • Nele Hertling • Christian Tschirner Prof.Dr. Harald Heinrichs • Wagner Cavalho •Christine von Weizsäcker • Prof. Dr. Harald Welzer • Ralph Zeger Kathrin Becker • Florian Malzacher• Dr. Birte Werner • Prof. Dr. Jürgen Renn • Marcus Lobbes • Kerstin Lenhart Tino Sehgal • Cesy Leonard • Thomas Locher • Dr. Inke Arns • Dr. Marion Müller• Milo Rau • Dr. Anke Strauß Prof. Dr. Eugen Blume • Annette Maechtel • Prof. Dr. Rahel Jaeggi • Prof. Dr. Silja Klepp • Agnes Meyer-Brandis Charles Landry • Dr. Christian Rauch • Wilhelm Krull• Prof. Dr. Christina v. Braun • Antje Pfundtner | Anne Kersting • Dr. Katharina Beyerl • Prof. Detlev Ganten• Prof. Dr. Sigrid Metz-Göckel • Prof. Dr. Gesa Ziemer to be continued…

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Ein Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit | FÄN Ästhetik meint, Wahrnehmung und Erkenntnis durch sinnlich-leibliche Erfahrung zu erweitern. Es geht um die Stärkung der Vorstellungskraft, um das Unter­stüt­ zen des Spekulativen, um das Erzeugen von Analogien, um “unsystematische Offenheit” für ein “Geflecht von Ganzheitsvorstellungen”, als die der erweiterte Kunstbegriff von Beuys lesbar ist, oder mit Alexander von Humboldt, “wer die Natur nicht liebt, kann sie nicht erforschen”. Der FÄN soll einen weiteren Möglichkeitsraum eröffnen und den künstlerischen Aktionsradius erweitern. Entfaltung für diejenigen, die Freiheit nicht als die Freiheit von jeder Art Nutzen, Nützlichkeit und gesellschaftlicher Resonanz verstehen, sondern die Freiheit suchen, sich in die riesige gesellschaftliche Aufgabe der Transformation einzumischen, zu kooperieren und dafür Zeit zu haben. Der FÄN muss andere Zeiträume als die ad-hoc-Projekte gewähren, um das Experimentieren so integrieren zu können, dass jede einzelne Disziplin nicht weniger, sondern mehr ist, als jede einzelne Disziplin allein leisten kann. Wie können Kunst und Wissenschaft im Sinne künstlerischen Forschens so verknüpft werden, dass sie ihre eigenen Maßstäbe nicht verlieren, sondern neue errichten? Und wie kann die Bewegung des Zweifelns, Fragens, Experimentierens in öffentliche Räume so hineinwirken, dass sie sich mit dem, was Zivilgesellschaft an Veränderungen versucht und betreibt, zu neuen Modellen verbindet? Der FÄN will _ die bloße Segmentförderung und entsprechende Versäulung des Wissens überwinden; _ einen Möglichkeitsraum herstellen für das Zusammenwirken zwischen dem Bewegungs-

für einen fonds ästhetik und nachhaltigkeit | FÄN

Zu einer ökologisch zukunftsfähigen Kulturproduktion, -präsentation und -distribution gehört auch, die heutige Projekt-Förderpraxis nachhaltig zu verändern, denn deren herkömmliche Produkt- und Outputorientierung verursacht neben unökologischen Produktionsweisen auch die Verschleuderung künstlerischer Energien und finanzieller Mittel. Viele Fördereinrichtungen schließen explizit Wiederaufnahmen von Projekten aus, funktionieren nach dem “Recht auf die erste Nacht” , also nach der Fiktion, mit jedem Antrag etwas ganz Neues, Zeitgenössisches, nie Dagewesenes präsentiert zu bekommen. Auf diese Weise bleibt von umfassenden, zeitaufwändigen künstlerischen Vorhaben nach kürzester Präsentationsdauer meist nur deren Dokumentation übrig. Danach muss für das finanzielle Überleben sofort ein neuer Antrag erfunden werden. Das heißt: auf Verschleiß fahren, die Kräfte in Selbstumkreisung gebunden. Dies kennt man aus der kapitalistischen Überproduktion mit ihrer Wegwerf- und Verschleißlogik. So können die jeweiligen künstlerischen Erprobungen nur sehr begrenzt gesellschaftliche Wirkkraft entfalten. Diese aber brauchen wir gerade dringend. Wir brauchen eine Praxis der Wiederaufführungen, Rekontextualisierungen, langlebigeren Formate, die indirekt auch dazu beitragen würde, die ‘freien’ Künstler:innen nicht qua hochgezüchtetem Wettbewerbs­ klima am Existenzminimum zu halten. Wir brauchen die Möglichkeit zu kontinuierlicherem, interdisziplinärem Forschen und Handeln, über die Grenzen unserer bishe­ rigen künstlerischen Kontexte und Räume hinaus, wir brauchen für die umfassende Transformation unserer nicht-nachhaltigen Lebensweise das künstlerische, das wissenschaftliche und das soziale Bewegungswissen. Dafür müssen wir sowohl das Silo der Kunst |Kultur als auch das der Wissenschaft verlassen, die unverbunden neben den andern Ressort-Silos stehen, und kulturpolitisch größer denken. Das erfordert andere Fördergefäße und -Strukturen. Gegenwärtig erlauben weder die großen öffentlichen Stiftungen, wie Kulturstiftung des Bundes und Deutsche Bundesstiftung Umwelt, noch die meisten privaten Stiftungen eine systematisch interdisziplinäre, Denkformen übergreifende Ausrichtung. Nirgends werden die kreativen, Wege bahnenden und Räume öffnen-

den Impulse von Kunst und Wissenschaft in einem gleichberechtigten Forschen verknüpft. Nirgends stehen deren Fähigkeiten und besonderen Mittel, die existenzielle sozialökologische Transformationsnotwendigkeit unserer Gesellschaft mit voranzutreiben, in einem gemeinsamen Fokus. Die Gesellschaft, die Nachhaltigkeit gestalten will, kommt nicht ohne die Künste und Wissenschaften aus. Von ihnen ist das Denken in Übergängen, Provisorien, Modellen und Projekten zu lernen; beide Sphären teilen auch die Lust daran, sich mit Bekanntem nicht zu begnügen und den Widerspruch zu suchen. Eine Kultur, die beide integriert, kann sehr allgemein einen individuellen Veränderungswillen meinen, der sich mit anderen verbindet, um neue Fragen, Lösungen, Wege zu erproben, zu verknüpfen und zu verwerfen. Es geht um Bewahren, Vergegenwärtigen, um die bewusste Gestaltung des Lebens, um die aktive Beschäftigung des Menschen mit seiner eigenen und mit der ihn umgebenden Natur.

adrienne goehler und manuel rivera

Das Nachdenken über die Veränderung unserer Lebens­ grundlagen durch die dramatische Erwärmung des ­Klimas kann nicht folgenlos bleiben – umso weniger, als sich die multiple Krisendynamik durch Corona gerade dramatisch zuspitzt. Wir haben keine Zeit mehr für ein bloßes Neben- statt Miteinander von Wissen und Han­ deln. Wir haben keine Zeit mehr, die Frage, ob die Kunst die ökologische Krise in ihre Realität mit aufnimmt, lediglich zu stellen. Es ist Zeit, dass wir sie beantwor­ ten – durch neue Formen des künstlerisch-wissen­ schaftlichen Eingreifens und Kooperierens.

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wissen von Nachhaltigkeits-Initiativen und wissenschaftlichen wie künstlerischen Ansätzen; _ Zeit ermöglichen für ein gemeinsames projektbezogenes multidisziplinäres Forschen; Projekte ermutigen _ in denen sich unterschiedliche Formen des Wissens begegnen _ die überregional-nationale, bestenfalls sogar internationale Ausstrahlung haben _ die innerhalb der Kunst und/oder der Wissenschaft innovativ wirken _ die thematisch und strukturell auf Nachhaltigkeit angelegt sind, indem sie modellhaft über sich selbst hinausweisen _ die eine holistische Perspektive auf sozialökologische Problemlagen ermöglichen, indem sie den Kontext des jeweiligen ‘Problems’ erweitern und somit das Bestehende ‘reframen’ _ die ko-kreativ angelegt sind mit dem Potenzial, Denk- und Handlungssilos zu sprengen _ die allgemeine Problembeschreibungen in existenzielle transformieren und umgekehrt _ die die Beteiligten dazu anstiften, ihre künstlerische und wissenschaftliche Praxis zu überdenken, auch die Art des jeweiligen Forschens. Seit Langem ist das Bedürfnis vieler Künstler:innen unübersehbar, in Kooperation mit den Nachhaltigkeitswissenschaften an den großen Fragen der Nachhaltigkeit zu forschen. Und das Bedürfnis wächst. Weltweit verhandeln Ausstellungen, Filme, Biennalen, Theaterstücke explizit Aspekte des Öko-Desasters. Aber dem erhöhten Interesse entsprechen weiterhin keine verlässlichen Formate. Vielmehr verhindern gegenwärtige Förderkriterien politischer Programme und Stiftungen Deutschlands die ästhetische Dimension nachhaltigen Denkens, Lebens und Wirtschaftens. Wir brauchen andere, nachhaltigere, übergreifende Finanzierungsformen, um das Potenzial von Kunst und Kultur auszuschöpfen, die Gesellschaft mit neuen Ideen voranzubringen. Denn die jeweiligen Akteur:innen treffen sich wegen der vollkommen unterschiedlichen Zeithorizonte ihres jeweiligen Tuns praktisch nie als gleichberechtigt Forschende. “Die Wissenschaft im Zeitalter ihrer Refinanzierbarkeit” (Uta von Winterfeld) und die Universitäten mit ihren steigenden Drittmittelanteilen und beschleunigten Studiengängen geben dafür weder Raum noch Horizont. Forschungsstipendien in der Kunst sind rar, schlecht finanziert und meist limitiert auf drei Monate (CoronaZeit: sechs Monate); in der Wissenschaft ist dies die Mindestzeit, um die Fragestellung für ein dreijähriges Forschungsvorhaben zu formulieren. Kunst, Wissenschaft und Bewegungswissen treffen sich so wegen ihrer unterschiedlichen Zeithorizonte praktisch nie als gleichberechtigt Forschende.

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Genau diese empfindliche Lücke will der FÄN helfen zu schließen, um gemeinsam ins Handeln zu kommen, denn in der Nachhaltigkeits- und Umweltpolitik stehen wir doch vor allem vor der Frage, warum so wenig individuelles und kollektives Handeln aus all den Erkenntnissen folgt? Von sozialwissenschaftlicher Seite her lässt sich die Annahme treffen, dass beim Einbeziehen der Künste in das Forschen die leiblich-existenzielle Dimension der jeweiligen Forschungsfrage eine größere Rolle spielen wird. Handlung(-salternativen) und Handelnde in der untersuchten sozialen Welt würden darstellbarer, fasslicher; Handeln an sich damit wahrscheinlicher. Daher sollte der FÄN durch die Anbindung an ein transformativ, gesellschaftsberatend ausgerichtetes Institut mit Problemstellungen an Schnittstellen von Wissenschaft und Politik rückgekoppelt werden. Der FÄN wird deshalb idealerweise nicht allein aus dem Kulturressort finanziert, sondern anteilig aus Umwelt, Kultur und Wissenschaft und Forschung.

Künstlerische Praxis nach Corona Die Pandemie verändert bereits jetzt künstlerische Praktiken und Formate, genauso wie Finanzierungsnotwendigkeiten und Existenzen. Dies wird sich fortsetzen. Künstler:innen und die Künste werden dabei aller gesellschaftlichen Legitimität und Sichtbarkeit bedürfen. Dazu kann der FÄN beitragen, indem er wissenschaftliches, künstlerisches und Bewegungswissen zusammenbringt, damit sie sich gegenseitig verstärken und in die Breite der Gesellschaft hineinwirken. Wir brauchen ein Mit-, nicht Nebeneinander der unter­ schiedlichen Wissensformen. Und eine offene Debatte darüber, ob sich ein Hochpreisland wie das unsere, das bekanntlich arm an Bodenschätzen und reich nur an der Ressource Kreativität ist, es sich leisten kann, bei der Jahrhundertaufgabe der Nachhaltigkeit auf das Können und Vermögen der Künstler:innen zu verzichten bzw. sie überwiegend am oder unter dem Existenzminimum zu halten.

(Endnotes) 1 https://www.fonds-aesthetik-und-nachhaltigkeit.de https://www.iass-potsdam.de/de/blog/2021/05/einmischenermoeglichen-kultur-und-nachhaltigkeit-verbinden


eskalation und enttäuschung transformation zwischen bottom up und top down JONAS ZIPF im Gespräch mit RAHEL JAEGGI und CARSTEN BROSDA

JONAS ZIPF:

Eine Hypothese, die in diesem Buch

an verschiedenen Stellen auftaucht, lautet, dass es kein Zufall ist, dass viele der großen Protestbewegungen, des Aktivismus, der gerade stattfindet, in der Pandemie noch mal zunehmen, sich zuspitzen und verstärken; dass es kein Zufall ist, dass kurz zuvor Fridays for Future auftauchten, dass während der Pandemie Black Lives Matter zu einer weltweiten Bewegung wurde und im engeren Sinne des vorliegenden Arbeitsbuchs auch im Theater längst aktivis­ tische Protestformen und -bewegungen ihre Forderungen hör- und sichtbar machen, sei es das Ensemble-Netzwerk, art but fair oder die feuilletonfüllende aktuelle identitäts­

politische Debatte. Wie können also die Institutionen von sichtlich notwendigen Veränderungen organisieren? Herr Brosda. Ich habe Sie erlebt, neulich beim Ausschuss für Künstlerische Fragen des Bühnenvereins, als die Gruppe der Intendant*innen vehement über einen Beitrag von Ma­ rion Tiedtke in der Süddeutschen Zeitung diskutierte, der darauf hinweist, wie männlich, weiß und alt die Intendan­ ten der deutschen Stadttheater sind. Die Diskussion in­ nerhalb des Bühnenvereins kam mir allerdings so vor, als wollte man vor allem die negative Publicity abwenden. ­Darüber, wie eine notwendige Diversifizierung stattfindet, wurde bei diesem Termin relativ wenig gesprochen …

CARSTEN BROSDA: Das habe ich nicht so erlebt. Ich hatte das Gefühl, dass man sich im Ausschuss vor allem über das Foto mokiert hat, das das Präsidium des Bühnenvereins in seinem Zustand von 2015 darstellte. In dieser Form ist der Bühnenverein vielleicht über Jahrzehnte hinweg wahrgenommen worden. Das entspricht aber nicht dem längst laufenden Transformationsprozess in seiner aktuell gestalteten Form, so wie er in der Präsidentschaft von Uli Khuon gemeinsam mit dem geschäftsführenden Vorstand Marc Grandmontagne auf den Weg gebracht worden ist. Vorher wurde der Bühnen­ verein vielleicht manchmal zu sehr als reiner Arbeitgeberverband betrachtet. Der Umstand, dass es jetzt mit dem Verhaltenskodex eine explizite Wertebasierung gibt, dass der Bühnenverein mit Themis Mitbegründer einer Beschwerdestelle ist, die im Kontext der MeTooSkandale geschaffen wurde, zeigt doch, dass man sich auf den Weg gemacht hat. Diese Debatte läuft gerade mit einer hohen Intensität. Wie sorge ich nun dafür, dass Übereinkünfte wie der Kodex – der erst mal als ethisches

eskalation und enttäuschnug

morgen, im Besonderen die Theater der Zukunft, die offen­

jonas zipf mit rahel jaeggi und carsten brosda

Wie bei so vielen Videokonferenzen der Corona-Tage, -Wochen und -Monate, so sitzen auch Rahel Jaeggi und Carsten Brosda vor ihren Bücherregalen. Doch schon der erste visuelle Eindruck deutet einen Unterschied an: Während die Bücher von Rahel Jaeggi teilweise in den Regalen stehen, teilweise auf Stapeln über den Raum verteilt liegen, stehen die von Carsten Brosda Rücken an Rücken. Stimmen Bild und Ton, Form und Inhalt überein? Einerseits die Philosophin, die sich mit Geschichte und Aktualität von Aktivismus und Protestkultur beschäftigt, anderer­ seits der Hamburger Kultursenator und Präsident des Deutschen Bühnenvereins, der es gewohnt ist, Prozesse zu steuern. Ihnen gegenüber Jonas Zipf, biografisch und sympathisch verbunden mit der Perspektive von Rahel Jaeggi, selbst aber längst in der Transition des Blick­winkels hin zur Sichtweise des politischen Trägers von Kultur und Betrieb. Welches Verhältnis braucht es zwischen top down und bottom up? Wie gelingt es den Theaterbetrieben der Zukunft, die Große Transformation zu gewärtigen, zu bewältigen, gar zu gestalten?

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Dokument eine abstrakte Verhaltensanweisung gibt – sich in betriebliche Wirklichkeit übersetzen? Welche Verfahren und Prozesse schließen sich jetzt an, sodass der Kodex nicht nur etwas ist, was auf Papier steht, sondern etwas, das tatsächlich Prägekraft für das Miteinander in den Unternehmen hat? Meistens liegt der Schlüssel zur Veränderung tatsächlich nicht in dem politisch gerne ausgesprochenen „Kommunikationsproblem“, sondern darin, dass man Probleme auf der Handlungsebene hat. Wenn man die angeht, löst sich auch das Kommunikationsproblem auf.

JONAS ZIPF:

Das ist diplomatisch ausgedrückt.

Das Foto, von dem Sie sprechen, zeigt den Vorstand des Bühnenvereins von 2015: Zehn auf einer Bühne sitzende Anzugträger – so wie Carsten Brosda und ich heute hier auch –, eine nebeneinander an einem Tisch sitzende Reihe von Männern, ein bisschen wie beim Abendmahl. Oder ist das ein Fake?

CARSTEN BROSDA: Nein. Aber gleichzeitig war 2015 doch genau das Jahr, in dem der Bühnenverein die erste Frau an seine Spitze gewählt hat: Meine mittlerweile verstorbene Vorgängerin Barbara Kisseler. Wenn man sich das heute anguckt, dann sind die verschiedenen Gruppen paritätisch besetzt; wir haben jetzt eine paritätische Besetzung sogar im Satzungsentwurf, der auf der nächsten Jahreshauptversammlung beschlossen werden soll. Der Transformationsprozess läuft, aber natürlich, wie das immer so ist, wird man in der öffentlichen Zuschreibung mit unterschiedlichen Sichtweisen – je nachdem, wo jemand hinguckt und welche Geschichte man erzählen will – konfrontiert. Das ist tatsächlich etwas, was logisch folgt, weil die Theater in den Bühnenprogrammen Vielfalt verhandeln und regelmäßig zum Thema machen. Und das gerät in einen umso schärferen Kontrast, wenn es ihnen nicht gelingt, einerseits im Sinne eines Audience Development ein vielfältiges Publikum anzusprechen und andererseits innerhalb der innerbetrieblichen Strukturen auch Diversitätskriterien oder Inklusionskriterien zu verankern. Diese Kon­ trastfolie bietet sich dann auch dafür an, die Defizite in einem schärferen Schlagschatten zu beschreiben, als das in vielen anderen vergleichbaren Organisationen, die mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben, der Fall ist. JONAS ZIPF: Kommt es Ihnen angesichts so man­ cher heutigen Debatte auch so vor, Frau Jaeggi, als hätte man vergessen, was in den Jahren ab Mitte der 1960erJahre schon geforscht und gedacht wurde? Zum Beispiel den Sozialpsychologen Serge Moscovici, der den Erfolg und Misserfolg von Emanzipationsbewegungen untersucht hat: Bei ihm findet man einige empiriegestützte Ansätze dazu, wie Emanzipation und Veränderung funktionieren, wie sich heiße und kalte Phasen abwechseln, wann es im

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Sinne einer gelingenden Transformation geboten ist, laut zu sein, und wann es eher gilt, die Sache in eine Normalität zu überführen und wieder leiser zu werden. In Bezug auf den Theaterbetrieb befinden Sie sich in einer Beobachte­ rinnenposition: Wie nehmen Sie es wahr, wenn die Theater über ihre Diversität streiten?

RAHEL JAEGGI: Ehrlich gesagt bin ich mit dem Theater vor allem als regelmäßige Zuschauerin verbunden. Manchmal auch als Gast bei Diskussionsreihen, die es ja an vielen Bühnen jetzt gibt. Ich finde die Entwicklung hin zur Diversität positiv. Wie bei allen diesen Dingen dauert es aber sehr lange, bis sich die gesellschaftlichen Entwicklungen und Diskussionen dann wirklich auch bis nach oben durchgekämpft und durchgesetzt haben. Die Veränderung wird sich aber nicht aufhalten lassen. Das Theater in seiner avantgardistischen Funktion steht da besonders unter Beschuss, und das muss es auch. Es hat ja in Bezug auf die Thematisierung gesellschaftlicher Veränderungen und Probleme eine Vorreiterrolle. Wie immer, wenn sich etwas verändert, braucht das Zeit und genau diese Art von erhöhter ­öffentlicher Wahrnehmung. So funktionieren Transformationsprozesse. Man mag einige Diskussionen und Konflikte dann zwischendurch als überspannt und ungerecht empfinden. Aber anders funktioniert es überhaupt nicht. So richtig freiwillig gibt niemand seine Einflusssphäre auf und seine Macht her. Insofern braucht es schon dieses Skandalisierungsmoment: den Umstand, dass es heutzutage wenigstens theoretisch möglich ist zu sagen, wenn ihr die Panels hier alle komplett mit Männern oder komplett mit Vertreter*innen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft – de facto der Dominanzkultur, wie Birgit Rommelspacher es genannt hat – besetzt, dann liefert ihr ein schlechtes Bild ab. Es ist gut, wenn die Verantwortlichen hier unter Druck und in Zugzwang gesetzt werden. Aber man muss auch aufpassen, dass es hier nicht zu dem kommt, was ich Benetton-Diversität nennen würde: „Alles so schön bunt hier“, die Pullover und die Menschen auf den Werbeplakaten. In den USA wird das von manchen „visual diversity“ genannt, eine visuell in Szene gesetzte Diversität. Bei der die soziale Diversität nicht vorkommt. Und die außerdem die strukturellen Bedingungen für Ungleichheit und Ungerechtigkeit und die mangelnden Einflussmöglichkeiten der normalerweise im Schatten stehenden Gruppen nicht thematisiert. Zu so etwas sollten sich die Theater und wir alle nicht hergeben. In manchen Institutionen setzen sich im Kern neoliberale unternehmensberaterische Strategien durch, die die Diversitätspolitik nutzen, um sexy zu werden. An den Unis kann man das – bei allen Fortschritten, die es hier gibt und die wir nicht missen möchten – manchmal beobachten. Die drittmittelgetriebenen Entwicklungen der Wissenschafts- und Universitätslandschaft sind teilweise von diversitätssensiblen Statuten und Initiativen begleitet.


JONAS ZIPF: Frau Jaeggi, diese Forderung nach Öff­ nung – oder das Versprechen, ich will es mal so positiv wie möglich von Herrn Brosda übernehmen, solange die Gesell­ schaft sich darüber echauffiert, hat sie noch ein Interesse oder einen Grundglauben daran, dass diese Institutionen sich verändern können – wird schon seit Jahrzehnten vor­ getragen, immer wieder mit ähnlichen Argumenten für die Hochkultur in Stellung gebracht. Kultur für alle ist ein Kon­ zept der 1970er-Jahre und hat in jahrzehntelanger kultur­ politischer Verteilung auch für große Spielräume in der Kunst- und Theaterpädagogik gesorgt. Und dennoch scheint sich im Kern der Betriebe, auf den Spielplänen und in der Belegschaft wenig verändert zu haben, dennoch be­ steht große Unzufriedenheit mit den Kultureinrichtungen. Sie haben vorher gesagt, Sie kennen Theater vor allem als Rezipientin, als Zuschauerin: Finden Sie, dass sich die reale gesellschaftliche Vielfalt ausreichend abbildet? Sind die

eskalation und enttäuschnug

CARSTEN BROSDA: Da bin ich sehr bei Ihnen. Ich glaube auch, dass man das Ganze dialektisch drehen kann und muss. Die Schriftstellerin Mithu Sanyal hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in einem Kommentar geschrieben, dass der Umstand, dass diese Proteste gegen bestimmte Verhaltensformen, oder sagen wir Diskriminierungsfälle, derartige Wellen schlagen können, im Umkehrschluss auch ein Beleg dafür ist, was man der Institution eigentlich noch zutraut. Eskalation und Enttäuschung sind Motoren dafür, dass wir als ­Gesellschaft noch etwas von den Häusern wollen. Das empfinde ich als positiven Befund. Viel schlimmer wäre es doch, wenn so etwas passieren würde, und es wäre eigentlich allen egal. Das heißt doch, dass die Fähigkeit des Theaters, einen sowohl ästhetisch-expressiven als auch diskursiven Raum aufzufalten, gesellschaftlich genutzt werden kann, um solche Themen zu verhandeln. Diese Institutionen können modellhaft vorleben, wie man tatsächlich produktiv mit der Vielfalt umgehen kann, die unserer Gesellschaft genauso inhärent ist wie ihre Transformation. Die Frage, ob ich Vielfalt will oder nicht, stellt sich für die Institutionen doch schon gar nicht mehr – that ship has sailed, gottseidank, und zwar vor Jahrzehnten –, die Frage ist stattdessen: Wie baue ich meine Strukturen so um, dass Vielfalt tatsächlich produktiv miteinander gelebt werden kann? Und da geht es natürlich nicht nur um visuelle Oberflächenphänomenologie, oder, im schlimmsten Fall, um Tokenism –, wenn ich sage, ich setze da jemanden hin, der da dann exemplarisch sitzt –, sondern um eine tiefenverankerte, intrinsische und fast schon strategische Motivation. Wenn ich um die Relevanz der Häuser in Stadtgesellschaften streite, und das tue ich, wenn ich in Verteilungskonflikten darüber stecke, wie viele Mittel aus den städtischen Haushalten zur Verfügung gestellt werden,

dann funktioniert das doch nur, wenn eine Stadtgesellschaft sagt: Ja, das ist mein Haus. Die klassischen bürgerlichen Milieus, auf denen diese Häuser mal vor 150 Jahren gegründet wurden, sind alleine mittlerweile zu klein, um die Sicherheit zu geben, dass eine Stadtgesellschaft sagt: Ja, das ist mein Haus. Das heißt, das Theater hat jenseits aller hehren gesellschaftspolitischen Ziele auch schlicht ein ganz materielles Eigeninteresse daran, dass die Vielfalt dieser Gesellschaft sich dort wiederfindet, im Programm, und auch in den Menschen, die das Programm gestalten. Das halte ich für einen ganz wesentlichen Punkt: Vor zehn Jahren hat das Theater in Freiburg sich diesen Anspruch selbst an die Außenfassade gepackt. Das ging dann wie so ein Poster durch die Feuilletons. Es war ein Bekenntnis: Wir sind das Herz der Stadt. Aber natürlich der Stadt und nicht nur eines Teils der Stadt. Und was das dann heißt, das muss ich eben transformieren, weil das was anderes heißt, als vor 100 Jahren. Weil sich Exklusionsmechanismen in den letzten 40, 50 Jahren an vielen Stellen aufgelöst haben und wir jetzt als Gesellschaft insgesamt vor der Frage stehen: Wenn die Grundgesamtheit der Teilhabeberechtigten zunehmend identisch ist mit denjenigen, die hier leben, und dazwischen keine künstliche, rechtlich errichtete Differenz fortbesteht, wie gehe ich dann damit um, dass die Vielfalt dieser Stimmen auch tatsächlich im Gespräch gehört wird und Wirkung entfaltet, in dem, was dort gesagt wird? All das wird auf das Theater projiziert, weil Theater relevant ist. Das, finde ich, macht diesen Raum so unglaublich spannend und kann ihn tatsächlich zu einem Labor der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse machen. Immer mehr Häuser erkennen die politische Relevanz dieses Wechselspiels zwischen Gesellschaft und Kunstort. Das halte ich für unabdingbar, denn dann nutze ich den laufenden Konflikt dialektisch, nehme den Protest und mache ihn tatsächlich zum Ausgangspunkt einer Ver­ änderung, und zwar einer sinnhaften Veränderung.

jonas zipf mit rahel jaeggi und carsten brosda

Gleichzeitig aber wird die Grundförderung reduziert, werden die Wissenschaftlerinnen in einen Aktivierungsmodus getrieben, der weder ihnen noch der Sache gut tut. Diversität wird hier letztlich funktionalisiert. Man muss also solche Nebeneffekte – auch die unerwünschten, nichtintendierten – immer gleich mit betrachten, Diversität so aufstellen, dass sie sich nicht modisch funktionalisieren lässt und auf die Ebene der gesellschaftlichen Strukturen durchdringt. Ein Teil der Aufmerksamkeit, die die eher symbolische Behandlung von Diversitätsfragen erlangt, hat ja damit zu tun, dass sich hier schnell Wirksamkeit erzielen lässt. Genderschreibweisen lassen sich kostengünstiger umsetzen als die Höherstufung von prekären oder schlecht bezahlten Mitarbeiter*innen. Und genau da muss man darauf drängen, nicht auf der symbolischen Ebene zu bleiben. Aber die Fortschritte auf dieser Ebene bieten umgekehrt vielleicht auch einen Hebel, mit dem sich politisch arbeiten lässt. Und man sollte beides nicht gegenein­ ander ausspielen.

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Gesellschaftsschichten da, über die wir jetzt reden? Oder bleibt die Durchlässigkeit ein bereits seit Jahrzehnten ge­ gebenes und stetig wiederholtes kulturpolitisches Ver­ sprechen?

RAHEL JAEGGI: Ja und nein. Und das ändert sich natürlich auch. Um jetzt mal so eine dinosaurierhafte Perspektive einzubringen: Ich habe miterlebt, wie mit der Übernahme der Volksbühne durch Castorf ein Theater sozusagen mit fast einem Schlag für ein ganzes Spektrum an Zuschauer*innen geöffnet wurde, die vorher sicherlich nicht ins Theater gegangen wären. Das heißt nicht unbedingt, dass das wirklich in jeder Hinsicht sozial inklusiv war, aber zumindest am Anfang traf eine Zuschauerstruktur der ehemaligen DDR auf einen neuen, westlichen Teil von Zuschauer*innen, die sonst eher nicht ins Theater gegangen sind. Während es für eine bestimmte Schicht, ein bestimmtes Milieu, eine be­ stimmte Altersgruppe, komplett uncool geworden war, ins Theater, jedenfalls ins offizielle Theater zu gehen – eben, weil man es zu sehr mit einer verknöchert her­ kömmlichen Hochkultur assoziiert hat –, war die Volksbühne auf einmal der Ort, wo man war. Das hat schon immens viel bewegt, bis hin zu den Entwicklungen, die dadurch dann auch angestoßen worden sind, die Öff­ nung des Theaters hin zu gesellschaftspolitischen Diskussionen und den entsprechenden Formaten. Herr Brosda sprach eben von einer Politisierung nicht im platten Sinne, sondern von deren Verbindung mit einer Eigenlogik und Eigendynamik des Künstlerischen. Dem kann ich nur zustimmen. Das ist ähnlich in der Wissenschaft: Alle schimpfen über Elfenbeintürme. Das Problem ist aber, es muss Orte geben, die bei allem Anspruch, ihre Arbeit in die Gesellschaft zu vermitteln, immer wieder auch eine Weile vom unmittelbaren Druck der Umsetzbarkeit, der politisch direkten Stellungnahme enthoben sind. Da haben wir in Berlin mit ganz vielen verschiedenen Experimenten, nicht nur in der Freien Szene, sondern auch an großen Häusern, wahnsinnig viel gesehen. Relativierend muss ich allerdings sagen: Selbst wenn ich jetzt von der Öffnung dieser Häuser spreche, betrifft das natürlich immer noch eher milieuspezifische Veränderungen, im Sinne der Ansprache anderer Generationen und anderer Subkulturen. Die Frage der Arbeit der Theater an einer Akzeptanz wirklich aller gesellschaftlichen Schichten, auch der sogenannten bildungsferneren Schichten, das ist, glaube ich, noch mal ein ganz anderes Kapitel und auch etwas, das viel mehr Aufmerksamkeit verdienen und vermutlich neue und andere Ansätze benötigen würde. Da gibt es beispielsweise richtig gute Kindertheaterangebote, wie ich erst als Mutter eines Kindes immer wieder festgestellt habe, die einen ganz anderen Einzugsbereich erreichen und die man unbedingt fördern muss. Ähnliches sehe ich bei Jugendtheaterinitiativen. Genau dort – und das ist ja dann etwas, wo Kitas und Schulen den ersten Zugang vermitteln können, un-

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abhängig vom Elternhaus – formt sich dann ja auch die Gewohnheit, ins Theater zu gehen. Da sieht man, dass noch Luft nach oben ist, um das Theater inklusiver zu machen. Und dass man um die Potenziale, die es hier gibt, kämpfen muss. Was ich dabei wichtig finde: Wir drehen uns bei bestimmten Debatten, auch bei den identitätspolitischen Debatten, ein bisschen im Kreis. Um die Inklusionsdebatte mal so ein bisschen weiter zu drehen, wäre es vielleicht sinnvoll, das gar nicht immer unter dem Aspekt der Zumutung zu betrachten. Mein Unbehagen an bestimmten Formen der Antidiskriminierungs- und Identitätspolitik ist gar nicht, dass sie uns bestimmten Zumutungen aussetzt – für mich ist es ­keine Zumutung, ich gewöhne mich gerne daran. Es ist ganz klar, dass man dafür sorgen muss, dass Menschen sich in öffentlichen Räumen angst- und diskriminierungsfrei begegnen können. Ich halte die von manchen Kreisen so gerne belächelten Prozesse, in denen um Sensibilität gegenüber sozialen Ausschlüssen gerungen wird, für etwas, das eine demokratische Gesellschaft immer wieder tun muss und tun sollte: das Ringen um eine gemeinsame öffentliche Kultur, eine Umgangsform und Sprache, die das Miteinander von vielen ermöglicht. Und dass die Standards dabei nicht von denen definiert werden können, die solche Ausschlüsse noch nie erlebt haben, ist doch sehr sinnvoll. Die Standards der Mehrheitskultur sind hier immer die selbstverständliche Position; Veränderung erscheint dagegen als willkürlicher Eingriff – und genau diese Normalisierung der eingeschliffenen Üblichkeiten muss man aufbrechen. Und da haben die Theater eine wichtige Funktion, weil sie eben einen ganz wichtigen Teil des öffentlichen Raums repräsentieren. Mein Problem ist eher, dass solche Diskussionen nicht weit genug gehen, zu befindlich bleiben: dass also im Grunde Inklusion und Antidiskriminierung noch nicht wirklich ein emanzipatorisches Programm per se sind. Wenn ich jetzt also einen Wunsch an solche öffentlichen Orte wie das Theater – sozusagen an die Orte, an denen Transformation geübt, gelebt und damit experimentiert werden kann – äußern dürfte, würde ich sagen, der nächste Schritt muss darin bestehen, sich klarzumachen, dass das bisher Erreichte tatsächlich noch wahnsinnig wenig ist. Bisher sprechen wir nämlich eigentlich nur über liberale Forderungen. Man kann zwar sagen, das sind radikal-liberale Forderungen. Aber das sind noch keine großen Entwürfe für gesellschaftliche Transformation. Auch wenn dieser Zustand noch weit entfernt ist: Sollten wir alle tatsächlich eines Tages nicht mehr diskriminiert werden und völlig inkludiert sein, stellt sich doch immer noch die Frage, in was wir inkludiert werden. Anders gesagt: Wie verändern sich die Institutionen und Praktiken, die inklusiver werden sollen, welche Gestalt sollten sie – abgesehen von der größeren Durchlässigkeit und Diskriminierungsfreiheit – ­haben? Findet durch die Inklusion selbst eine Transformation statt, und wie müsste die dann aussehen?


Herr Brosda, Sie haben gerade eben

Prozess notwendigen Voraussetzungen schon beisammen, es brauche nur Zeit. Eine entscheidende Frage bleibt aber offen – das ist jetzt die Zuspitzung von Frau Jaeggis Ge­ danke: Wie sieht denn das große Bild aus, auf das wir zu­ steuern? Damit sind wir wirklich bei einer politischen, auch kulturpolitischen Frage. Worin besteht die Transformation? Und: Wie steuert man sie? Mit welchen Instrumenten ­geben Sie als Kultursenator, gebe ich als Werkleiter, als Kulturamtsleiter, hier Dinge vor? Und wie sehr steht eine Steuerung im Sinne der Transformation in Konflikt mit der Freiheit, die diese künstlerischen Häuser brauchen?

CARSTEN BROSDA: Riesengroße Frage. Dazu fällt mir immer noch keine bessere Antwort ein, als die des alten Adorno, dass wir uns den besseren Zustand der Gesellschaft als den vorstellen müssen, in dem wir ohne Angst verschieden sein können. Ich finde das ist eine immer noch hinreichend prozedurale Formulierung. Ich glaube nicht an inhaltlich-materielle Bilder davon, wie eine Gesellschaft sein muss, weil ich sie – und da bin ich nah beim Transformationsbegriff von Karl Polanyi – für permanent verflüssigt halte. Es ist die permanente Aufgabe derjenigen, die in der konkreten gesellschaftlichen Formation zusammenkommen, zumindest einen Teil der Vereinbarungen neu zu schließen, auf deren ­Basis sie leben wollen. Insofern gibt es für mich keinen Zustand, von dem ich sage, da muss es hingehen. ­Sobald ich den erreicht hätte, gibt es einen neuen. Das kann man übrigens sehr schön an dem Beispiel von Hilmar Hoffmanns Kultur für alle sehen. Seine Überzeugung bestand, zumindest in der vulgär wahrgenommenen Version von Kulturpolitik, in der Idee, die Arbeiterkinder sollen auch mal in die Oper. Dass das die Oper wahrscheinlich mehr verändert als die Arbeiterkinder, war ein Punkt, der überhaupt nicht reflektiert worden ist. Im Prinzip durfte die Oper in den Vorstellungen vieler so bleiben, wie sie ist. Sie möge nur bitte alle erreichen. Deswegen hat man in Kultureinrichtungen über Jahrzehnte hinweg die Kunst unangetastet gelassen, hat

RAHEL JAEGGI: Worin unterscheiden sie sich

denn?

CARSTEN BROSDA: Die privaten sind oft viel diverser als die staatlichen Hochschulen. Immerhin haben wir in Städten wie Berlin oder Hamburg solche verschiedenen Sektoren. Ähnlich wie die unterschiedlichen

eskalation und enttäuschnug

JONAS ZIPF:

sinngemäß gesagt, im Grunde seien alle für einen Change-

aber daneben Vermittlungs- und Pädagogikangebote gesetzt, die jetzt erklären sollten, was die hehre Kunst, die ja nicht berührt werden darf, eigentlich bedeutet, damit die anderen das auch verstehen. Das ist aber immer noch ein extrem autoritäres und erzieherisches Verständnis von Kunst. Was sich übrigens bis heute in den allermeisten Kunstbauten schon baulich ausdrückt, sogar noch etwas sinnbildlicher in Museen als in Theatern: Sie steigen immer Treppen hinauf, wenn sie in ein ­Museum hineingehen. Und sie landen immer erst mal in einem großen Kuppelsaal. Das heißt, sie müssen erst mal den Anstieg zum Weltwissen vollziehen, dann werden sie vom Gebäude symbolisch klein gemacht, und so zugerichtet können sie dann durch die Räume ziehen, sich das auktorial erzählte Weltwissen präsentieren lassen, es so aufnehmen, wie es ist. So funktionieren aber Kultureinrichtungen heute nicht mehr. Die spannende Frage, wenn ich über Kultur für alle rede, ist doch: Wie sorge ich dafür, dass dieser Anspruch zu einem Merkmal der Kunst selbst wird und nicht zu einem Vermittlungskriterium, das der Kunst äußerlich bleibt? Dafür ist die Volksbühne ab den 1990er-Jahren tatsächlich ein gutes Beispiel. Auch bei vielem, was ich in der Freien Szene sehe, ist zu erkennen, dass sich Produktionsprozesse und ästhetische Positionen verändern. Sie bleiben nicht statisch und werden anders vermittelt, sondern sie verändern sich aus sich selbst heraus. Das tun sie übrigens kaum, weil die Politik es ihnen über Förderkriterien oder Förderbedingungen auferlegt. Das wäre sonst eine staatliche Erziehung der Kunst, die können wir nicht wollen, solche Dinge gingen historisch schon immer schief. Diese Veränderungen passieren, indem wir Politiker*innen mit unseren Förderprogrammen die notwendigen Bedingungen und hinreichende Freiheit schaffen. Kulturpolitik muss aus meiner Sicht in allererster Linie die Kunst davor bewahren, Zwecke erfüllen zu müssen. Welche auch immer. Auch im Sinne der Inklusion kann ich Kunst ganz furchtbar zurichten, in eine unkünstlerische Rationalisierung ziehen. Politisch muss ich mich eher darum kümmern, wie ich die Prozeduren und Verfahren der Teilhabe insgesamt befähige und stärke. Um mal ein Beispiel zu nehmen: Wir müssen uns angucken, wie durchlässig Kunsthochschulen sind. Dass die Theater nicht ausreichend divers sind, fängt mit den Zugangskriterien für die Schauspielausbildung an. Damit, wie stark staatliche Schauspielseminare und private Schauspielschulen völlig unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft rekrutieren.

jonas zipf mit rahel jaeggi und carsten brosda

Natürlich kann man die Hoffnung haben: Wenn erst mal genug Frauen oder FLINTA-Personen in den Führungsetagen oder in irgendwelchen Institutionen sind, dann gibt es per se schon eine Veränderung. Das wird aber nicht so sein. Genauso mit allen anderen Diversitäts­ kategorien. Natürlich ändern sich Institutionen dadurch, dass sie ihre Mitgliedschaft- und Teilhabekriterien anders definieren. Aber die Frage, wie die Institutionen überhaupt funktionieren sollen und wie wir leben, arbeiten, lieben und was auch immer tun, besteht, glaube ich, in noch sehr viel mehr als einfach nur darin, nichtexkludiert, nicht-diskriminiert zu sein oder in bestimmten Hinsichten nicht verletzt oder ausgeschlossen zu werden.

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Bühnen in diversifizierter Weise unterschiedliche Zielgruppen erreichen. Aber es gibt viele Kommunen, da gibt es ein Theaterhaus. Und dieses Haus muss alles leisten: Es muss gleichzeitig öffentlicher Begegnungspunkt der Kulturinteressierten und Kristallisationspunkt der Vielfalt einer Stadtgesellschaft sein. Nehmen Sie das Beispiel des Gasteigs in München: Da baut man ein Konzerthaus, und um die Investition verdaubar zu machen, plant man noch soziokulturelle Angebote ein, baut eine Bücherei ein, baut eine Volkshochschule ein. Die spannende Frage ist aber doch: Wie baue ich einen Konzertsaal, in dem nicht nur das klassische Bürgertum sitzt, sondern in den alle hineingehen? Die Versuchsanordnung in München hat dieses Potenzial und bleibt dennoch in erster Linie ein politischer Kompromiss. Wie bekomme ich es hin, dass nicht mehr alle jeweils nebeneinander ihr eigenes Angebot bekommen, sondern wie breche ich die Hochkultureinrichtung selbst auf? Die Frage nach der Zukunftsvision des Kulturbetriebs besteht genau in dieser Verschränkung. Es ist für mich eigentlich nicht auszuhalten, dass 50 Prozent der Bevölkerung regelmäßig und immer wieder in Befragungen sagen, sie nutzen kategorisch keine öffentlich geförderten Kulturangebote. 50 Prozent! Das sagt uns die Nicht-Besucher*innenforschung in hübscher Regelmäßigkeit. Solche Werte werden irgendwann immer zu Legitimationsfragen mit den Kämmerern führen: Seid ihr überhaupt so wichtig, wie ihr behauptet? Meine kleinere Sorge dabei ist, dass ein Gutteil derjenigen, die Kulturangebote nicht nutzen, das deshalb nicht tun, weil sie sich inhaltlich für das Angebot nicht interessieren. Denn dann würde ich einfach sagen: O. k., dann findet ihr andere Orte, andere kulturelle Inhalte. Unsere ganze Gesellschaft ist geronnene Kultur. Schlimm wird es doch aber dann, wenn Menschen Bedenken haben, dass sie nicht über die kulturellen und sozialen Codes verfügen, dass sie nicht die habituellen Voraussetzungen haben, dass sie vielleicht Sorge haben: Lache ich dort dann an der falschen Stelle? Wenn ich da mit den Kindern hingehe, und die laufen durch den Raum, bekomme ich dann Stress? Habe ich das Richtige anzuziehen? Im englischen Audience Development nennt man diesen Umstand das Not-for-the-likes-of-us-Argument: Das Gefühl eines vom Angebot ausgehenden Sich-ausgeschlossen-undnicht-gemeint-Fühlens. Da müssen wir ran! Das ist für mich die Hauptaufgabe. Das geht nicht mehr, indem ein halbwegs homogenes Haus behauptet, heterogenes Angebot zu machen. Das Haus muss aus sich heraus heterogen werden. Und an dieser Stelle kann Kulturpolitik tatsächlich steuern. Da gilt es dann übrigens, top down und bottom up zu kombinieren. Der Druck der Transformation ist von beiden Seiten da.

JONAS ZIPF: Dieser Punkt scheint mir strukturell

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reich der Digitalisierung könnte man die Sache in die Peri­ pherie des Spielplanbetriebs abschieben und sagen, das ist eigentlich nur eine Vermittlungsaufgabe, eine Vermark­ tungsaufgabe und nichts, was die Kunst in ihrem Kern for­ matiert, re-formatiert. Gilt auch für den Nachhaltigkeits­ diskurs: Ist nur eine Frage unserer Klimabilanz und nicht eine Frage, die auch Einfluss nimmt auf den ästhetischen Kern der künstlerischen Planung. Damit haben Sie den wichtigen Hinweis gegeben, dass es auf inhaltliche und strukturelle Veränderungen des Kulturbetriebs ankommt, im Spielplan, in der Personal- und Organisationsentwick­ lung, auch in der Architektur. Die Frage, auf die ich jetzt fokussieren möchte: Von wem gehen diese aus? Von der Hausleitung? Von der Belegschaft? Von den Künstler*in­ nen? Vom Publikum? Welche Rolle spielt dabei die Kultur­ politik?

RAHEL JAEGGI: Das müssen die Häuser hinbe-

kommen. Wenn sie sich öffnen wollen, müssen sie auch so sein, dass sie sich öffentlich mit Fremdem konfrontieren, aber gleichzeitig dafür sorgen, dass Fremde und Fremdes sich dort nicht wie Not-for-the-likes-of-me anfühlen. Dafür müssen sich die Institutionen ändern. Auf der anderen Seite scheint mir die Frage der Erziehung und der Bildung des Publikums auch da wirklich sehr wichtig: Die Frage, warum da nicht mehr gemacht wird, warum die Gewöhnung daran, ins Theater zu gehen, nicht Bestandteil des Curriculums in einer Art und Weise ist, die dann wiederum nicht nur ein paar privilegierte Gymnasien in besseren Bezirken betrifft, sondern flächendeckend funktioniert. Ich meine, genau da müsste es doch anfangen, dass man lernt, die Scheu, die unsichtbaren und sichtbaren Schwellen des Betretens dieser Häuser, zu überwinden.

JONAS ZIPF: Letztlich verstehe ich diesen Hinweis wieder politisch, als eine bildungspolitische Aufgabe. Da­ mit komme ich zum Jenaer Beispiel, wo es eine kulturpoli­ tische Entscheidung war, die eine bahnbrechende Wei­ chenstellung mit sich brachte. Das hiesige Theaterhaus hatte vor der Wiedervereinigung einen Zuschauerraum von mehr als 1.000 Plätzen. Vereinfacht gesagt, ist es bekannt als das älteste und einzige Bauhaus-Theater, was Gropius und Schlemmer gebaut und gestaltet haben. Aber der Zu­ schauerraum wurde in den 1980ern abgerissen und sollte als Schillertheater neu gebaut werden. Die weitsichtige kulturpolitische Entscheidung meines Vorvorvorgängers bestand darin, das nicht zu tun, den Bühnenturm frei ste­ hen zu lassen und ihn sommers mit einem großen Festival, der Kulturarena, zu bespielen. Wenn man heute in so einer kleinen Stadt wie Jena mit einem starken Theaterangebot nebenan in Gera, Weimar, Rudolstadt jeden Abend noch über 1.000 Plätze füllen müsste, dann würde das genau die schwierige Anforderung an eine künstlerische Leitung stel­

übertragbar auf die anderen beiden Transformationsfelder,

len, von der Sie, Herr Brosda, vorhin sprachen: die Quadra­

die im vorliegenden Arbeitsbuch vorkommen. Auch im Be­

tur des Kreises der Bedürfniserfüllung unterschiedlichster


rische Leitungen, eine Kaderschmiede für Theatertalente, passend zum Charakter der Wissenschafts- und Studen­ tenstadt Jena. Nicht zuletzt ausgehend von der Architek­ tur sind die Künstler*innen hier dazu gezwungen, ein ande­ res Raumverständnis jenseits der Zentralperspektive zwischen Bühnen und Zuschauerraum zu entwickeln. So viel als Beispiel für ein kulturpolitisch steuerndes Eingrei­ fen. Angefangen von der Auswahl der Intendant*innen über Zielvereinbarungen oder den jeweiligen Rahmenvertrag bis hin zu den architektonischen Entscheidungen lassen sich die Transformationsthemen doch gestalten. Wir könnten hier neben den Zielen der Diversifizierung und Inklusion selbstverständlich auch von Nachhaltigkeitszielen oder Digitalisierungsdesideraten sprechen. Gleichzeitig greifen wir dann aber massiv in die Freiheit der Kunst ein. Sie ha­ ben vorher von einer Analogie zur Wissenschaft gespro­ chen, Frau Jaeggi, von der tatsächlich mittlerweile stark eingeschränkten Freiheit der Wissenschaft. Diese Ein­ schränkungen, beispielsweise durch eine übermäßige Orientierung auf größtenteils staatliche Drittmittel, rüh­ ren auch von einem lenkenden Verständnis der Wissen­ schaftspolitik her. Herr Brosda, Sie sprachen von einer libe­ ralen Kulturpolitik und der unabdingbaren Möglichkeit, die Transformation kulturpolitisch zu steuern. Wie lösen wir nun den aufgezeigten Widerspruch auf?

CARSTEN BROSDA: Zunächst mal denke ich da an Rahmenbedingungen, beispielsweise Qualitätsstandards und entsprechende Zertifizierungen. Davon gibt es im Theater nicht sehr viel. Aber wenn wir mittlerweile im Museumsbereich eine veritable Diskussion im deutschen Museumsbund und international im ICOM darüber erleben, wie wir Museen künftig definieren, ob das nicht tatsächlich viel stärker zivilgesellschaftliche Selbstermächtigungsorte sein sollen, die nicht mehr nur den klassischen vier Museumsfunktionen folgen, dann spielt die Steuerung beispielsweise schon eine starke Rolle. Aber ich zögere ein wenig, diese Aufgabe der notwendigen Transformation den Kulturverwaltungen zu überlassen, also zu glauben, dass Kulturverwaltungen besser wissen, wie Kulturinstitutionen gut funktionieren und die notwendige Transformation deswegen mit beherztem und starkem Steuern schon richten werden. Diese Hybris entwickeln Staatsapparate zwar gerne, aber weniger in der hiesigen Kulturpolitik, und das ist ehrlicherweise auch gut so. Ich glaube, es tut sich viel darüber, dass eine neue Generation kommt. Das klingt jetzt banal, aber diejenigen, die jetzt aus den Regieschulen kommen, diejenigen, die jetzt als Dramaturginnen und Dramaturgen ausgebildet werden, die folglich die perspektivischen Intendanzen und künstlerischen Leitungsteams bilden werden, haben einen neuen, frischen und in Teilen auch ganz anderen Blick auf die Häuser. In Hinblick auf ihre Ideen und Vorstellungen

sehe ich vielmehr den Handlungsbedarf bei den Trägern, nicht jede Idee, wie man künstlerische Arbeitsprozesse organisieren kann, sofort wieder zuzurichten auf die Steuerungserfordernisse einer Beteiligungsverwaltung einer Kommune, die sagt, das muss aber im Kern nach dem immer gleichen Kennzahlen-Set funktionieren, nach dem ich auch mein lokales Spaßbad und meine Müllabfuhr organisiere. Aber ob der Träger jetzt vorschreiben muss, dass auf folgende Art und Weise inhaltlich zu arbeiten wäre, da wäre ich sehr skeptisch. Natürlich haben wir die Möglichkeit, in der Auswahl der Profile und in der Vereinbarung darüber, was im Rahmen einer Intendanz – sei es einer Einzelperson, sei es einer Doppelspitze, sei es eines Leitungsteams – im künstlerischen Bereich dann auch umgesetzt werden wird, vieles zu verhandeln. Aber Kulturpolitik ist – und ehrlicherweise ist das etwas, was sie mir sehr sympathisch macht – weniger administrativ vermachtet, als das andere Politikbereiche sind. Wir müssen viel stärker dadurch führen, dass wir tatsächlich argumentieren und dass wir im Gespräch sind. Ich würde mir vor diesem Hintergrund oft eine stärkere Beteiligung der Träger und Gesellschafter der Bühnen im Deutschen Bühnenverein wünschen, als es aktuell der Fall ist. Das merke ich an mir selber, dass ich immer wieder gefragt werde: Aber wieso sind Sie denn jetzt Präsident des Bühnenvereins, Sie sind doch gar kein Intendant? In der öffentlichen Wahrnehmung ist der Bühnenverein ein Club der Intendant*innen. Aber auch das stimmt ja überhaupt nicht. Im Bühnenverein treffen sich auch die Träger, da sind die kaufmännischen Geschäftsführer*innen, da sind sozusagen alle Beteiligten, die in unterschiedlicher Form leitend Verantwortung tragen für die Theaterinfrastruktur. Die allermeisten Theater sind doch kommunale oder Landesbetriebe. Und als solche sind dann eben auch die Länder und die Kommunen dort zu vertreten, weil sie auch eine Verantwortung für diese Häuser haben. Und in diese Verantwortung darf man bitteschön auch sichtbar hineingehen. Am Ende kann der Bühnenverein einen Raum aufspannen, indem wir zwischen den Trägern und den künstlerisch Verantwortlichen und den kaufmännisch Verantwortlichen gemeinsam darüber sprechen und Modelle entwickeln, wie Theaterbetriebe im 21. Jahrhundert aussehen können. Wie das dann konkret umgesetzt wird, da haben wir keinerlei Direktive, das passiert dann vor Ort in den konkreten Verhandlungen auf kommunaler Ebene, und da würde auch jeder städtische Kulturdezernent, jeder Werkleiter vor Ort, uns sagen: Haltet euch da raus. Und das ist auch gut so. Aber wir können natürlich trotzdem den Reflexionsraum öffnen. Und damit wäre schon viel gewonnen; da ist mir manchmal zu viel Zurückhaltung, so nach dem Muster: Ich berufe jemanden, und dann kümmere ich mich fünf Jahre nicht darum; dann entscheide ich nach vier Jahren, ob ich verlängere oder mir jemand Neuen suche. Das ist wiederum zu wenig an Steuerung. Umgekehrt jetzt aber zu sagen: Das sind die

eskalation und enttäuschnug

terhaus heute eine Experimentierstube für junge künstle­

jonas zipf mit rahel jaeggi und carsten brosda

Zielgruppen unter einem Dach. Stattdessen ist das Thea­

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folgenden zehn Ziele, die musst du abarbeiten; und wenn du das bis zum vierten Jahr nicht geschafft hast, dann schmeiß ich dich raus, entspräche einer Art neoliberaler Logik von Managementführung. Das hielte ich für problematisch. Ich glaube, es geht ganz viel darum, miteinander, gemeinsam, Vorstellungen davon zu entwickeln, wie es gehen kann. Darum, die Häuser tatsächlich auch – und da bin ich dann wieder bei den aktuellen gesellschaftlichen Aufregungen – in die lokalen und regionalen öffentlichen Resonanzräume zu stellen. Das ist das beste, weil demokratischste Steuerungsinstrument.

JONAS ZIPF:

Damit sind wir bei einem Demokratie­

verständnis, das nicht nur über repräsentative Wege läuft. Ich hab einleitend gesagt, die Veränderung ist etwas, was nur in der Verzahnung von top down und bottom up statt­ finden kann. An dieser Stelle möchte ich einen Vergleich mit einem anderen Bereich der Kultur, der kulturellen Bil­ dung, bringen, der mich jetzt auch gerade hier in Jena kon­ kret stark beschäftigt, weil wir eine Bibliothek bauen. Wenn wir auf die Entwicklung der öffentlichen Bibliotheken schauen, dann sehen wir, dass dort ein starker, auch archi­ tektonischer Switch ihrer Daseinsformatierung gefunden wurde. Bibliotheken sind weggekommen von der reinen Ausleihstation, möglichst viele Menschen möglichst schnell im Rein/Raus-Modus mit Inhalten, mit Medien zu versorgen. Sie sind heute Orte der Aufenthaltsqualität. Sie haben vorher mal vom öffentlichen Raum gesprochen, und das spielt eine riesige Rolle, auch bei der Gestaltung dieser Räume. Ich denke da an Innenarchitekten wie Aat Vos oder an flexible Raumkonzepte wie Tøyen in Oslo: eine Biblio­ thek, die alle zehn Jahre in einem partizipativen Prozess mit den Zielgruppen neu gestaltet wird. Jetzt ist die Frage: Wie kriegen wir den auch in den Theatern, innerhalb der Häuser, innerhalb der Schauspielschulen, innerhalb der Belegschaften, der Ensembles spürbaren Druck von unten und außen in eine ähnliche positive Transformation über­ setzt?

RAHEL JAEGGI: Ich finde es einerseits wichtig, sich klarzumachen, dass soziale Transformationen an vielen Stellen durch solche Verzahnungen stattfinden. Sie geht tatsächlich von beiden Richtungen aus: Manchmal ist es tatsächlich so, dass top down Dinge ermöglicht werden, die dann überhaupt erst angenommen werden. Umgekehrt versanden viele bottom-up-Initiativen, wenn sie keine Resonanz im institutionellen Raum erzeugen. Das mit den Bibliotheken finde ich interessant. Ich bin auch eine große Bibliotheksliebhaberin, vor allem der Berliner Staatsbibliothek am Potsdamer Platz. Vorhin haben wir ja über Eingangsschwellen gesprochen, darüber, dass du dann erst mal einen Kopf kürzer bist und dich sozusagen erst mal unterwerfen musst, bis du am Kulturbetrieb teilnehmen kannst. In der Scharoun-Staatsbibliothek erlebe ich es, dass dieser Bau einerseits genauso einen Mechanismus erzeugt, der

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sofort dazu führt, dass alle Leute ihre Stimme senken, wenn sie die Treppe hochgehen. Was natürlich für eine Bibliothek funktional extrem wichtig ist: Dass der Lärmpegel dort begrenzt bleibt. Es scheint mir aber auf der anderen Seite so, als ob es dort irgendwie keine Hierarchie gäbe, als ob dieser Ort gleichberechtigend wirkt, zu einer Art des Einschwingens auf die anderen einlädt. Auch dafür ist die Stille konstitutiv. Es geht nicht um etwas Sakrales, das mich vor Ehrfurcht vor dem gespeicherten Wissen erstarren lässt, sondern ich empfinde diesen Ort als eine sehr demokratische Architektur, einen Ort, an dem immer wieder ganz andere Beziehungsformen ersonnen werden können. Dafür wäre es aber dann tatsächlich manchmal sinnvoll, wenn die Nutzer*innen gefragt würden. Diese Möglichkeiten gibt es nicht immer, nicht ausreichend. Insofern kann es schon ein Schlüssel sein, Beteiligungsverfahren zu schaffen. Das sollte bei Institutionen wie dem Theater auch angedacht werden. Natürlich kann nicht einfach das Publikum das Theater machen. Das würde vermutlich auch sehr häufig zu sehr fragwürdigen Ergebnissen führen. Aber irgendeine Art von Reaktion auf das, was gesellschaftlich passiert, scheint mir wichtig. Es ist sehr deutlich, dass beides da sein muss: ein Raum, der in gewisser Hinsicht entlastet ist vom unmittelbaren Handlungsdruck und gleichzeitig Experimente möglich macht. Im Sinne von: Hier wird Gesellschaftlichkeit im Modus des Probehandelns vorgeführt; und da werden verschiedene Dinge zu Ende gedacht, aber eben auch plastisch gemacht, die man ansonsten in gesellschaftlichen Experimenten erst mal nicht so vor Augen hat. Insofern, glaube ich, ist die Durchlässigkeit, über die wir schon geredet haben, ein entscheidender Punkt. Wenn wir über Wandel im Wandel reden, und darüber, dass die Transformation so oder so stattfindet, finde ich es wichtig, dass man die Veränderung aus der Gesellschaft heraus entstehen lässt. Einerseits verfechte ich diese bottom-up-Perspektive, die Perspektive sozialer Bewegungen, die Geschichte machen und die irgendwann genug Druck ausüben, damit sich auch institutionell und von oben etwas ändert. Andererseits glaube ich aber auch, dass man gleichzeitig nicht in einen Voluntarismus verfallen sollte. Als ob es nur des richtigen Worts zur richtigen Zeit, der richtigen sozialen Bewegung, die die richtige Forderung mit den richtigen kommunikativen Mitteln zur richtigen Zeit stellt, bedürfte. Was die Veränderung von Geschlechterverhältnissen, Familienstrukturen etc. angeht, so gingen diese nicht nur vom Feminismus aus, sondern wurden auch von einem sich verändernden Arbeitsmarkt erzeugt oder jedenfalls ermöglicht. Und so gibt es für jede dieser Veränderungen Beispiele dafür, wie soziale Transformationen auf technische Veränderungen, sozial-ökonomische Veränderungen zurückzuführen sind, die dann nichtintendierte Nebeneffekte haben und den Spielraum für soziale und emanzipative Veränderungen ermöglicht haben. Ein berühmtes Beispiel wäre die Erfindung der


JONAS ZIPF:

Dieser Punkt hat sicher viel mit Digi­

talisierung zu tun und der Art und Weise, wie in Zukunft kommuniziert wird. Ich habe als Regieassistent am Thalia Theater gearbeitet, zu der Zeit, als Joachim Lux in den so­ zialen Medien eine Umfrage zur Gestaltung des Spielplans angeboten hat. Die ging ungefähr so aus, Frau Jaeggi, wie Sie es gerade vermutet haben: Die Stücke, die das Publi­ kum gerne gesehen hätte, hat das Theater dann entgegen

eskalation und enttäuschnug

CARSTEN BROSDA: Bei manchen kulturpolitischen Diskursen hat man momentan in der Tat das Gefühl, als ob wir sozusagen auch noch das letzte ökonomische Problem so weit kulturalisieren wollen, dass wir es als eine Überbauthematik diskutieren wollen, wenn wir jetzt mal die alten Marx’schen Begriffe nehmen, und nicht als eine Thematik, die dort verhandelt wird, wo sie hingehört: Dorthin, wo es tatsächlich um eine materielle Ressourcenverteilung und nicht um symbolische Ressourcenausdeutung geht. Deswegen wird Kultur auch mit Themen überfrachtet. Und dafür lassen wir die eigentlichen Fragestellungen der Kultur – nämlich die Debatte darüber, was denn eigentlich Sinn erzeugen könnte, der dann auch wieder so was wie Kohärenz gesellschaftlicher Wahrnehmung mit sich bringen könnte –, diese Fragen lassen wir dann liegen. Das frappiert mich manchmal. Am Ende geht es bei vielen aktuellen, gerade den identitätspolitischen Diskursen aber immerzu darum, dass Menschen sagen: Meine Position taucht nicht auf, weil nicht genug Menschen über die Ressourcen verfügen, sie zu erzählen, und solange das so ist, ertrage ich es nicht, dass ihr stellvertretend für mich meine Position erzählt. Wenn ich das so herum ausspreche, ist das eine völlig nachvollziehbare Position, mit der ich auch umgehen muss und dafür sorgen muss, dass das jeder kann. Dann stellt sich das Problem hoffentlich irgendwann nicht mehr. Denn dann bin ich bei einer harten materiellen Verteilungsfrage, bei der Frage nach den Ressourcen zur Inanspruchnahme einer Freiheit. Sprechen wir also lieber noch mal über Kulturpolitik. Darüber, wie ich Kulturinstitutionen verändere. Tatsächlich finde ich Bibliotheken vor diesem Hintergrund sehr spannend. Die haben sich ehrlicherweise nicht verändert, weil die Verwaltung jetzt eine Bibliothek anders baut. Sondern weil Bürgerinnen und Bürger sie anders nutzen, nämlich als diesen berühmten dritten Ort, in dem ich mich zwi-

schen Freizeit und Arbeitsplatz aufhalte, als einem der wenigen noch verbleibenden öffentlichen Orte. Was wir, glaube ich, schaffen müssen in der Gestaltung von kulturellen Institutionen: mit klugen Prozessen des Social Design zu verstehen, wie sich Bürgerinnen und Bürger ihr Umfeld selber gestalten. Wir müssen viel stärker erkennen, was Bürger und Bürgerinnen sinnvoll finden. Und da bin ich übrigens nicht bei denen, die die kuratorische oder dramaturgische Perspektive völlig aus der Hand geben. Kulturinstitutionen müssen Angebote machen. Aber das Angebot steht nicht mehr unangreifbar da, es ist der erste Satz eines Gesprächs. Das geht nur, wenn man vom Sockel herabsteigt. Das ist ein bisschen die Entwicklung, die der Journalismus vor 20 Jahren durchgemacht hat: Wenn ich früher einen Text für Die Zeit geschrieben habe, dann war der quasi mit Drucklegung Teil des journalistischen Weltkulturerbes. Und ich konnte jeden Leserbrief letztlich wunderbar ignorieren. H ­ eute schreibe ich einen Text, der geht online, und fünf Minuten später schreibt jemand darunter: Seh ich ganz anders, alles total falsch, stimmt nicht, ist so und so. Und das kann ich entweder als furchtbare narzisstische Kränkung empfinden oder als eine Möglichkeit, in ein Gespräch zu kommen, zu einer Aktivierung von Gesellschaft zu kommen. Das ist die Frage, vor der Kultureinrichtungen stehen.

der eigenen Ankündigung schließlich nicht gespielt, hat sich daraufhin zwar einen Shitstorm zugezogen, den digi­ talen Dialog aber aufrechterhalten. Daraus resultierend gab es dann folgende Versuchsanordnung: eine Inszenie­ rung von Peer Gynt, übrigens ein Stück mit einem starken ersten Satz, einem echten Gesprächsangebot: Peer – Kom­ ma – du lügst. Und parallel zu dieser Inszenierung von Jan Bosse gab es einen Beteiligungsprozess zum Thema der Lüge. Da wurden Bürger*innen der Stadt befragt: Was fällt euch zu Lüge ein. Daraus entstand letztlich ein inszenierter Parcours durch den Stadtraum. Am Ende gab es beides: die Inszenierung auf der Bühne, mit ausgehendem Licht und Jens Harzer als Peer Gynt, und das Beteiligungstheater im Stadtraum.

CARSTEN BROSDA: (lacht) Wenn ich das richtig überblicke, wird die Idee, so eine Art Bürgerspielplan ­erstellen zu lassen, heute im Haus eher als Nicht-diebeste-Idee-die-man-so-hatte begriffen. Was auch richtig ist: Bei aller Partizipation darf man nicht die professionellen Kompetenzen der Häuser drangeben. Und die

jonas zipf mit rahel jaeggi und carsten brosda

Pille in den 1960er-Jahren und den Effekt, den diese hatte. So bestehen in einigen äußeren Faktoren wesentliche Grundlagen dafür, dass zum richtigen Zeitpunkt dann jemand pushen kann und sagen kann: Auf, jetzt dahin! Das heißt: Was soziale Bewegungen wesentlich machen, ist auch, auf Unstimmigkeiten oder auf MissMatches in diesen verschiedenen sozialen Praktiken hinzuweisen und aus diesen Handlungsmöglichkeiten zu schöpfen. Da gibt es manchmal Transformationsdynamiken, die auf den ersten Blick unabhängig voneinander scheinen, sich auf dem zweiten Blick aber entweder von sich aus vernetzen oder vernetzen lassen. Es wäre eine Fehleinschätzung zu glauben, dass eines aus dem anderen unmittelbar folgt. Aber richtig ist: Da gibt es schon etwas an der materiellen Basis, was sich tun muss, damit sich andere Dinge anschließen können oder damit Lücken, Brüche, Widersprüche, Risse entstehen, die dann für diejenigen, die Gesellschaft emanzipativ verändern wollen, Anknüpfungspunkte bieten.

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professionellen Kompetenzen der Häuser sind natürlich Spielpläne und Inszenierungen. Die Frage ist nur: Muss das nach dem Schema funktionieren, das wir über Jahrhunderte hinweg tradiert und eingeübt haben? Unter diesem Aspekt finde ich die Corona-Zeit spannend. Ich nehme mal Kampnagel in Hamburg. Als klar war, dass die Kulturräume zu sind, hat Amelie Deuflhard irgendwo einen Container gemietet und tatsächlich dezentral in der Stadt Theater veranstaltet. Als auch das nicht mehr ging, hat sie Plakatwände in der Stadt gebucht und darüber immerhin noch eine Kommunikation mit ihrem ­Publikum aufrechterhalten. Immer wieder einen Weg zu suchen, auf anderen Wegen mit dem Publikum im Gespräch zu bleiben: Das ist der Punkt. Wer keine Idee von sich selbst hat, ist meistens kein spannender Gesprächspartner. Diejenigen hingegen, die eine Idee von sich selbst haben, aber bereit sind, darüber zu sprechen, worin diese Idee besteht, die sind die spannendsten ­Gesprächspartner. Diese Reibungsfläche ist spannend …

RAHEL JAEGGI: … Ja. Da ist ein Bedürfnis nach Öffentlichkeit, nach öffentlichen Räumen, an die das Theater doch anknüpfen kann und muss! Während jetzt manche befürchten, durch die Corona-Digitalisierung werden die Leute es sich dauerhaft auf ihrem Sofa bequem machen, bei Netflix bleiben und nicht mehr ins Theater gehen, würde ich ja die vorsichtige Prognose wagen, dass das nicht so sein wird. Ich erlebe es eher so, dass gerade viele feststellen, was sie vermissen und wie viel ihnen entgeht, wenn sie sich nicht in solchen Räumen bewegen können. CARSTEN BROSDA: Diese Zuversicht teile ich. Das kollektive Erleben des Entstehens eines Kunstwerks ist etwas anderes, als das auf der heimischen Couch stattfindende Rezipieren eines irgendwann mal perfektionierten Werks aus der Konserve. Das kann auch ein tolles Erlebnis sein, aber dieser Drahtseilakt, dieses Ganzkörpererlebnis, in so einem Saal zu sitzen und andere Menschen zu spüren, hat so viele Dimensionen mehr, dass ich das immer noch für etwas sehr Eigenständiges halte, dem übrigens immer schon der erste Ansatz eines kollektiven Transformationsprozesses durch Publikumsanwesenheit innewohnt. Diese beinahe Habermas’sche Dimension fängt doch schon in der ­Pause an. Vorher habe ich vielleicht im Stück eine Frage beantwortet bekommen, von der ich bis dahin gar nicht wusste, dass ich sie mir gestellt hatte. Das ist so ein Epiphanie-Erlebnis: Irgendwann begreife ich etwas, von dem ich bis dato gar nicht wusste, dass ich es nicht begriffen habe. Und das beseelt mich dann. Sehr. Manchmal so sehr, dass ich wirklich mein Umfeld damit richtig nerven kann. Aber in der Pause muss ich dann meistens feststellen, dass keinen der anderen, mit denen ich da bin, der gleiche Moment genauso beseelt. Dafür vielleicht andere Momente, die mir völlig egal sind. Damit

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lerne ich eine ganze Menge, das ist eine Form von Bewusstwerdung und Selbstwirksamkeit, von Teilhabe an einer offenen Situation. Das beginnt immer mit dem Angebot, das mir gemacht wird. Wenn ich dagegen einen Spielplan zur Abstimmung stelle, hätte ich immer die Sorge: Da steht 2 x Schiller, 3 x Goethe, noch 1 x Shakespeare drauf, und irgendwie was Modernes dazwischen. Und ich glaube, das kriegt eine kluge Dramaturgie besser hin.

RAHEL JAEGGI: Das Abstimmen über den Spielplan, das ist vielleicht besser, als wenn man nur alle vier Jahre ein Mal über die Regierung abstimmt, aber demokratietheoretisch betrachtet ist es nichts wirklich anderes als das pure Abfragen von Präferenzen, ein reiner Wunschzettel, keine echte Wahl zwischen bestehenden Alternativen. Damit würde das Theater nicht nur die ­Expertise, von der Sie beide gesprochen haben, sondern auch ein Potenzial für Transformation aufgeben. Wenn man einfach nur abfragt, was das Publikum sowieso schon immer wollte, dann führt das nicht dazu, dass sich Dinge auflösen, verflüssigen und andere Dinge ­gewollt werden können, dann richtet man sich wahrscheinlich in einem relativ lauen Status quo ein, so wie Sie es schon richtig sagen: 2 x Schiller, 1 x Shakespeare und 1 x Wagen-wir-auch-mal-was-Modernes, so fürs Abonnement-Publikum zugeschnitten. Wie gesagt, das kann’s nicht sein, das riecht nach den Algorithmen von Netflix & Co, und nicht nach Kunst. Theater muss etwas sein, das das Publikum herausfordert, transformiert, ­Üblichkeiten auflöst und genau damit zu Veränderungen führt. JONAS ZIPF:

Was Sie jetzt beide beschrieben

­haben, kündet von einer Sehnsucht, dass es mit dem Thea­ ter und der Kunst endlich wieder losgehen mag. Die spüre ich auch. Das ist da, wo sich Gesellschaft und Demokratie ereignen. Ganz basal, ohne große Reflexion: Wenn mein Nachbar riecht, mit der Hose raschelt oder einfach anderer Meinung ist und in der Pause etwas sagt, was mir nicht gefällt, dann ist das schon ein kommunikativer Akt, ein demokratischer Aushandlungsprozess, der da stattfindet. So, wie Habermas es sagt. Genau wie im vorliegenden Arbeitsbuch. Genau wie heute hier. Daher danke ich allen Beteiligten und Ihnen beiden für die schönen Plädoyers, für das Verzahnen von bottom up und top down, für die Gestaltung von Transformation und für das Forschen und Entwickeln, für das F und E in der Kunst.


10 JAHRE NACH ENTDECKUNG DES NSU

WO STEHT DER KAMPF GEGEN RECHTEN TERROR HEUTE?

Wie weit war der Weg von den Verdächtigungen der Opferangehörigen des sogenannten NSU in den 2000ern zur öffentlichen Wahrnehmung der Familien der Getöteten des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau 2020? Erst jetzt scheint sich eine längst überfällige gesamtgesellschaftliche Debatte in Bewegung zu setzen: über mangelnde Repräsentation, mahnende Erinnerung und sich verändernde Gedenkkultur, über strukturellen Rassismus und Behördenblindheit gegenüber Menschen, die sich längst nicht mehr als Teil einer Gesellschaft fühlen. Die Beiträger*innen des Bandes setzen sich mit Rassismus, Rechtsextremismus und Erinnerungskultur auseinander und gehen vor allem der Frage nach, wo der Kampf gegen rechten Terror und seinem gesellschaftlichen Nährboden heute steht.

Onur Suzan Nobrega, Matthias Quent, Jonas Zipf (Hg.)

Onur Suzan Nobrega (PhD) ist Soziologin mit den Schwerpunkten Kultur und Migration sowie Frauen- und Geschlechterforschung am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Matthias Quent (Dr. phil.), geb. 1986, ist Soziologe und Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena sowie Mitglied im Rat des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ). Jonas Zipf, geb. 1982, Musik- und Sprechtheaterregisseur, ist Kulturverantwortlicher der Stadt Jena.

Oktober 2021, ca. 360 Seiten, kart., 19,90 € (D/A), ISBN 978-3-8376-5863-7, E-Book/E-PUB: Open Access

Mit Beiträgen u.a. von Ayse Gülec, Azadeh Sharifi, Dietrich Kuhlbrodt, Nuran David Calis, Maria Alexopoulou, Heike Kleffner und Verena Krieger

Rassismus. Macht. Vergessen. Von München über den NSU bis Hanau: Symbolische und materielle Kämpfe entlang rechten Terrors

https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5863-7


KUNSTFORUM Band 275 lesen:

UTOPIA

Weltentwürfe und Möglichkeitsräume in der Kunst

cken! e d t n e Jetzt stforum.de un www.k

„Es ist keine Option, woanders hinzusehen. Wir müssen diesen Ort zu einem besseren Ort machen, nicht irgendeinen anderen.“ — Peter Weibel Jetzt mehr erfahren: www.kunstforum.de/275


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NICHTS GESCHENKT! Eine kurze Geschichte der Frauenrechte in der Schweiz Mirjam Neidhart Mitarbeit: Katharina Rupp Uraufführung Regie: Katharina Rupp

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FERFERI ‫فرفری‬ Vom Ankommen und Fernbleiben Atina Tabé Uraufführung Regie: Katharina Rupp

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BRAVE NEW LIFE Dennis Schwabenland Uraufführung Regie: Dennis Schwabenland

Ab 12 | 11 | 21

DIE MARQUISE VON O… nach Heinrich von Kleist Regie: Deborah Epstein

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FAUST I Johann Wolfgang von Goethe Regie: Nis Søgaard

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DER EINGEBILDETE KRANKE Molière Regie: Katharina Rupp

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DIE JAHRESZEITEN nach Peter Bichsel Uraufführung Regie: Deborah Epstein

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PREMIEREN 2021|2022

Premieren S c h au S P i e l 2021/22

Paul*

von Eva Rottmann Klassenzimmerstück ab 13 Jahren 23. September 2021 | in einem Klassenzimmer in der Region

Hilfe, die Mauer fällt!

i n t e n da n t: Jens Neundorff von Enzberg S c h au S p i e l d i r e k t o r : Frank Behnke

Komödie von Karsten Laske 2. Oktober 2021 | Große Bühne

18.09.2021, Kammerspiele 1000 Serpentinen Angst · Olivia Wenzel, R: Pia Richter

Die Schneekönigin

von Olivier Garofalo und Evelyn Nagel nach Hans Vielen Dank Christian Andersen ab 5 Jahren für die Förderung der Produktion 28. Oktober 2021 | Große Bühne

08.+10.10.2021, Großes Haus Julius Caesar / Die Politiker · William Shakespeare / Wolfram Lotz, R: Frank Behnke 26.11.2021, Kammerspiele Antigone · Sophokles, R: Elina Finkel

Ziemlich beste Freunde (Intouchables)

28.+30.01.2022, Großes Haus Thüringer Spezialitäten (UA) · Franz Wittenbrink R: Franz Wittenbrink

Komödie nach dem gleichnamigen Film von Éric Toledano und Olivier Nakache in einer Bühnenfassung von René Heinersdorff 30. Oktober 2021 | Foyerbühne

11.02.2022, Kammerspiele Auf der Flucht (DSE) · Tennessee Williams R: Frank Behnke

ZUGABE Der schönste Tag der DDR

Szenische Lesung zum 4. November 1989 4. November 2021 | Foyerbühne

25.+27.03.2022, Großes Haus Kabale und Liebe · Friedrich Schiller, R: Julia Prechsl

Nur ein Tag

09.04.2022, Kammerspiele Waldstück (UA) · Björn SC Deigner R: Shirin Khodadadian

Kinderstück von Martin Baltscheit ab 4 Jahren 26. November 2021 | Foyerbühne

Freie Wahl

20. + 22.05.2022, Großes Haus Vor Sonnenaufgang · Ewald Palmetshofer, Gerhart Hauptmann, R: Nicolas Charaux

von Esther Rölz 19. Februar 2022 | Foyerbühne

04.06.2022, Kammerspiele Der Revisor · Nikolaj Gogol, John von Düffel R: Ronny Miersch

Vor Sonnenaufgang

... und außerdem:

ZUGABE Entdeckungsreise Bücherwelten

von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann 5. März 2022 | Große Bühne

22.10.2021, Kammer-Box Kassandra Reloaded · nach Christa Wolf R: Miriam Haltmeier

Szenische Lesung aus Romanentdeckungen der Dramaturgin Ann-Kathrin Hanss 17. März 2022 | Stadtbibliothek Lutherstadt Eisleben

17.12.2021, Kammer-Box

Stokkerlok und Millipilli

Rum und Wodka · Conor McPherson, R: Janis Knorr

Ein abenteuerliches Puzzlespiel von Rainer Hachfeld und Volker Ludwig ab 5 Jahren 14. April 2022 | Große Bühne

10.04.2022 Immer auf dem rechten Weg (UA) Performativer Audiowalk, R: Nicola Bremer

Jedermann Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes

11.06.2022 Wir träumten · Stadtprojekt in ehem. Kultdisko „Diele“, R: Gabriela Gillert, Koproduktion mit Jungem Theater + Bürgerbühne

von Hugo von Hofmannsthal 18. Juni 2022 | Lutherstadt Eisleben

ZUGABE FÜR KINDER Emil und die Detektive Szenische Lesung aus dem gleichnamigen Kinderbuch von Erich Kästner ab 10 Jahren 30. Juni 2022 | Theatergarten

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PREMIEREN2021/22 Rainald Goetz

08. OKT 2021

Philipp Gärtner

10. OKT 2021

Paul Maar/Ulrich Limmer

13. NOV 2021

REICH DES TODES REGIE: SIBYLLE BROLL-PAPE GOLD REGIE: WILKE WEERMANN

HERR BELLO UND DAS BLAUE WUNDER WEIHNACHTSMÄRCHEN AB 5 JAHREN REGIE: JANA VETTEN

Björn SC Deigner

19. NOV 2021

DER ENDLOS TIPPENDE AFFE URAUFFÜHRUNG AUFTRAGSWERK REGIE: MIRJAM LOIBL

Eduardo de Filippo

26. NOV 2021

Miroslava Svolikova

21. JAN 2022

Olga Grjasnowa

28. JAN 2022

DIE KUNST DER KOMÖDIE REGIE: SEBASTIAN SCHUG

Gi3F (GOTT IST 3 FRAUEN) URAUFFÜHRUNG REGIE: JAKOB WEISS GOTT IST NICHT SCHÜCHTERN

REGIE: SIBYLLE BROLL-PAPE

E.T.A. Hoffmann

11. MÄR 2022

DER SANDMANN E.T.A.-HOFFMANN-JUBILÄUM 2022 REGIE: HANNES WEILER

Heinrich von Kleist

18. MÄR 2022

DER ZERBROCHNE KRUG REGIE: FABIAN GERHARDT

Theresia Walser

EIN NEUES STÜCK

13. MAI 2022

URAUFFÜHRUNG AUFTRAGSWERK REGIE: SIBYLLE BROLL-PAPE 38. BAYERISCHE THEATERTAGE BAMBERG ’22

William Shakespeare

ROMEO UND JULIA CALDERÓN-SPIELE

25. JUN 2022

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biografien

Judith Ackermann ist Forschungsprofessorin für Digitale und vernetzte Medien in der Sozialen Arbeit an der FH Potsdam und leitet anteilig die BMBF-Projekte „Postdigitale Kunstpraktiken in der Kulturellen Bildung (PKKB)“ und „Digitale Inklusion im Kontext Sozialer Angststörungen (DISA)“. Ackermann ist wissenschaftliche Beirätin der Akademie für Theater und Digitalität Dortmund und betreibt als @dieprofessorin Wissenschaftskommunikation auf TikTok.

Annett Baumast Dr., ist Inhaberin und Geschäfts-

führerin von baumast. kultur & nachhaltigkeit, Hamburg, Dozentin und Nachhaltigkeitsexpertin sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf Nachhaltigkeit im Kulturbetrieb. Kontakt: info@kulturnachhaltig.de.

Carolin Baedecker Dr., ist Stellv. Abteilungs­

leiterin und Co-Leiterin des Forschungsbereichs Innovationslabore. Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie.

Friedrich von Borries Prof. Dr., (*1974), ist Architekt und Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. In Berlin leitet er das Projektbüro Friedrich von Borries und agiert in den Grenzbereichen von Stadtentwicklung, Architektur, Design und Kunst. Nicola Bramkamp ist Dramaturgin, Kuratorin & Dozentin. 2014 gründete sie die Art meets Science Initiative SAVE THE WORLD, die weltweit globale Zukunftsfragen in Szene setzt. Von 2013–2018 war sie Schauspiel­ direktorin am Theater Bonn. Kate Brehme ist freie Kuratorin und Kunstvermitt-

lerin mit einer Behinderung. Seit 2002 hat sie eine Vielzahl von Projekten, Ausstellungen und Veranstaltungen geleitet und als Kunstvermittlerin für verschiedene ­Galerien gearbeitet. Sie ist Mitbegründerin von Berlin­ klusion, dem Berliner Netzwerk für Barrierefreiheit in Kunst und Kultur, das sich zum Ziel gesetzt hat, die ­­Berliner Kunst- und Kulturszene für Künstler*innen und Publikum mit Behinderungen zugänglicher zu machen. Seit Oktober 2020 arbeitet Kate als Referentin für Disability in Kunst und Kultur bei Diversity Arts Culture.

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Carsten Brosda Dr., ist Senator für Kultur und

Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Er ist Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie und Co-Vorsitzen­ der der Medien- und Netzpolitischen Kommission des SPD-Parteivorstands.

Nenad Čupić ist Systemischer Coach, Trainer und

Berater für Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung, sowie Mitgründer und Leiter der diskriminierungskritischen Beratungsplattform Ne_uN Consulting. Er war Lehrbeauftragter an deutschen Universitäten und an verschiedenen Theaterproduktionen beteiligt. Zu seinen inhaltlichen Schwerpunkten zählen: Diskriminierungskritik, Diversität, Rassismuskritik, Empowerment, (Neo) Kolonialismuskritik, Weißsein, koloniale Kontinuitäten, Klassismuskritik, Männlichkeit. Nenad Čupić ist Migrationsanderer und hat einen Magisterabschluss in Theaterwissenschaft, Psychologie und Pädagogik.

Amelie Deuflhard war von 2000 bis 2007 Künst-

lerische Leiterin der Sophiensäle (Berlin), 2004/05 war sie Teil der Künstlerischen Leitung von „Volkspalast“; seit 2007 ist sie Intendantin von Kampnagel (Hamburg). 2017 war Amelie Deuflhard Teil des Viererkuratoriums von Theater der Welt. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen und hat regelmäßig Lehraufträge an Hochschulen inne. Für ihr Schaffen wurde sie 2012 mit dem CarolineNeuber-Preis und 2013 mit den Insignien des Chevaliers des Arts et Lettres ausgezeichnet. 2018 erhielt sie die Auszeichnung Europäische Kulturmanagerin des Jahres.

Silke van Dyk Prof. Dr., (*1972) ist Professorin

für Politische Soziologie an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie sozialer Ungleichheit, die ­Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats, die Soziologie des Alter(n)s und der Demografie sowie Gesellschaftstheorie und Kapitalismusanalyse.

Manfred Fischedick Prof. Dr., ist Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie.

Benjamin Egger ist akademischer Mitarbeiter

im BMBF-Projekt Postdigitale Kunstpraktiken in der Kultu­rellen Bildung an der FH Potsdam. Er promoviert zum postdigitalen Kuratieren als queeres Phänomen am Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien der Leuphana Universität Lüneburg. In Ergänzung zu seiner Forschung kuratiert er Ausstellungen, die seine thematischen Schwerpunkte aufgreifen und in seine Theoriearbeit zurückwirken.


studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen sowie bei DesArts in Amsterdam. Giesche geht es nicht so sehr darum, Handlung in einem herkömmlichen Sinne zu erzählen. Oft schafft er eher Landschaften und Atmosphären, poetische Situationen, die die Zuschauenden in einen anderen Rhythmus versetzen. Sein Visual Poem Der Mensch erscheint im Holozän nach Max Frisch wurde beim Theatertreffen 2020 mit dem 3Sat-Preis ausgezeichnet und erhielt den Nestroy in der Kategorie beste Aufführung im deutschsprachigen Raum.

Adrienne Goehler: Psy3chologin, Initiatorin und

Abgeordnete der GAL Frauenfraktion Hamburg; 1989–2001 Präsidentin der Kunsthochschule Hamburg, 2001–02 Sena­torin für Wissenschaft, Forschung und Kultur im Übergangssenat Berlin, 2002–2006 Kuratorin Hauptstadtkulturfonds, 2018–2020 Fellow am IASS, seit 2006 freie Kuratorin und Publizistin.

Helgard Haug ist Autorin, Regisseurin und Mit­ begründerin von Rimini Protokoll. Rimini Protokoll wurde u. a. mit dem Mülheimer Dramatikerpreis, dem Deutschen Theaterpreis Faust, dem Grand Prix Theater des Schweizer Bundesamts für Kultur, dem Europäischen Theaterpreis, dem Silbernen Löwen der Theaterbiennale Venedig sowie dem Deutschen Hörspielpreis und dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Darüber hinaus wurden vier ihrer Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Zuletzt Chinchilla Arschloch, waswas. Rahel Jaeggi (1966*) ist Professorin für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin und Leiterin des Centers for Humanities and Social Change in Berlin. Gegenstand ihrer Forschung sind u. a. die Begriffe der Entfremdung, der Kommodifizierung bzw. Verdinglichung, der Ideologie, der Lebensform, der Institution und der Solidarität. Jaeggi gilt als eine Vertreterin der zeitgenössischen Kritischen Theorie. Marcus Lobbes, Direktor der Akademie für Theater und Digitalität Dortmund, arbeitet seit 1995 als Regisseur, Ausstatter und Autor in Musik- und Sprechtheater. Seit 2014 ist er außerdem regelmäßig als Dozent an verschiedenen Hochschulen im deutschsprachigen Theaterraum gefragt. Tina Lorenz, Theaterwissenschaftlerin, war Dozen­ tin für Theatergeschichte an der Akademie für Darstellende Kunst Bayern, Dramaturgin am Landestheater Oberpfalz und Referentin für digitale Kommunikation am Staatstheater Nürnberg. Sie ist Gründungsmitglied zweier Hackspaces und sitzt in der Fellowship-Jury der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität. Seit 2020 ist sie Projektleiterin für digitale Entwicklung am Staatstheater Augsburg.

Miriam Michel ist Regisseurin, Performerin, Do-

zentin, bildende Künstlerin. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit Wahrnehmungsstrategien. Michel ist Magister der Theaterwissenschaft, Amerikanistik, Soziologie und Master of Arts der Szenische Forschung. Mit dem postinklusiven Performancekollektiv dorisdean arbeitet sie zu Unbehagen und unperfekten Menschen. Kooperationen u. a. am Theater Hagen, Schauspiel Essen, Schauspielhaus Bochum, Burg Hülshoff Center for Literature, Theater Münster.

Bettina Milz studierte Angewandte Theaterwis-

senschaft in Gießen und arbeitete anschließend als ­Dramaturgin, Kuratorin, Dozentin und Autorin. Nach der wissenschaftlichen Arbeit bei Prof. Hans-Thies Lehmann an der Universität Frankfurt, Theater, Film- und Medienwissenschaften, Dramaturgien und künstlerischen Projektleitungen u. a. in Erlangen und für die KulturRegion Stuttgart / TanzRegion 97 war sie von 1999 bis 2003 als Produktionsleiterin, Dramaturgin und Geschäftsführerin der Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart tätig. 2008 bis 2013 kuratierte sie das Internationale Sommerlabor / TANZLABOR_21 am Mousonturm Frankfurt. Seit 2009 leitet Bettina Milz das Referat für Theater und Tanz im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

Jean Peters, Autor und Aktionskünstler, gründete

2013 mit Freund_innen das Peng Kollektiv. Er lehrt regelmäßig an Universitäten, findet plumpe Wortspiele immer lustig und freut sich über alle Häuser, die mit ihm über medienkünstlerische Interventionen nachdenken möchten. Mehr Infos auf jeanpeters.de

Anta Helena Recke arbeitet als Regisseurin,

Dramaturgin, Konzept-Künstlerin und Autorin von diskursiven sowie fiktionalen Texten. Sie studierte Szenische Künste an der Universität Hildesheim. Ihre Regiearbeiten MITTELREICH und Die Kränkungen der Menschheit wurden 2018 und 2020 zum Berliner Theatertreffen sowie zum radikal jung Festival eingeladen. 2020 wurde ihr vom Fonds Darstellende Künste die Tabori-Auszeichnung ­verliehen. Sie ist Ko-Direktorin des Deutschen ­Museums für Schwarze Unterhaltung und Black Music.

Lisa Scheibner ist Schauspielerin und Kultur­

wissenschaftlerin. Sie war zwei Jahre am Stadttheater Hildesheim engagiert und ist seit 2007 in der freien Theaterszene aktiv. Seit 2017 arbeitet sie bei Diversity Arts Culture, sie ist dort Referentin für Sensibilisierung und Antidiskriminierung. Lisa spricht aus einer weißen und nicht-behinderten Perspektive.

biografien

Alexander Giesche, geboren 1982 in München,

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Berthold Schneider ist seit 2016/17 Intendant der Oper Wuppertal. Der Dramaturg und Regisseur war zuvor u.a. am Nationaltheater Mannheim, dem Saarländischen Staatstheater und der English National Opera, London engagiert. Von 1999 bis 2004 leitete er im ­Kollektiv den unabhängigen Aufführungsort staatsbankberlin in Berlin Mitte. Uwe Schneidewind Prof. Dr., ist Oberbürgermeis-

ter der Stadt Wuppertal und war vormals Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie (2010–2020). Unter seiner Leitung öffnete sich das ­Institut zur Stadt Wuppertal im Sinn eines Reallabors. 2018 erschien sein Buch „Die Große Transformation – Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels“, in dem er erstmals den Begriff der „Zukunftskunst“ in die Nachhaltigkeitsdebatte einführte.

Marc Sinan ist Komponist und Gitarrist. In seiner

Arbeit erprobt er neue Wege der Kollaboration zwischen Künstler:innen im transkulturellen und transmedialen Kontext. Dabei arbeitet er meist in Personalunion als Komponist, künstlerischer Leiter, Gitarrist und Produzent mit seinem eigenen Ensemble, der Marc Sinan Company, sowie wechselnden internationalen Gästen und institutionellen Partnern. Aufnahmen seiner Werke werden bei ECM Records veröffentlicht. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Joseph Vogl, geb. 1957, ist Professor für Neuere

deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/ Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Zuletzt erschienen Das Gespenst des Kapitals (2010), Der Souveränitätseffekt (2015), das Handbuch ­Literatur und Ökonomie (2019, hg. mit Burkhardt Wolf), Senkblei der Geschichten. Gespräche (2020, zus. mit ­Alexander Kluge) und Kapital und Ressentiment. Eine ­kurze Theorie der Gegenwart (2021).

Hortensia Völckers ist seit dem Gründungsjahr 2002 Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes in Halle. 1995-1997 war sie Leitungsmitglied der documenta X, 1998–2001 im Direktorium der Wiener Festwochen an. Mit der Kulturstiftung des Bundes ­entwickelt Hortensia Völckers Programme für den internationalen Kulturaustausch und zu Themen wie Digitalisierung, ökologische Nachhaltigkeit oder Diversität.

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Katharina Warda ist Soziologin und Literatur­ wissenschaftlerin. Sie promoviert zu Tagebuch-Blogs und marginalisierte Identitäten in Berlin und arbeitet als freie Autorin mit Schwerpunktthemen Ostdeutschland, Rassismus, Klassismus und Punk. Seit 2021 ist sie ­Beiratsmitglied von »Kein Schlussstrich!«, einem bundesweiten Theaterprojekt zum NSU-Komplex. In ihrem Projekt Dunkeldeutschland erkundet sie die Nach­ wendezeit von den sozialen Rändern aus und beleuchtet blinde Flecken in der deutschen Geschichtsschreibung, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen als Schwarze ostdeutsche Frau in der DDR und nach 1989/90. Birgit Wiens PD Dr., ist Theaterwissenschaftlerin (LMU München); im Rahmen ihres DFG-Projekts „Szeno­ graphie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart“ organisierte sie u. a. eine Tagung über „Szenographisches Wissen“ (Volksbühne Berlin, 01/2020); derzeit entsteht dazu ein Buchprojekt. Publ. zuletzt (als Hg.): Contemporary Scenography. Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design, Bloomsbury (2019) 2021. Juliane Zellner Dr., ist Theaterwissenschaft­ lerin und Urbanistin. Nach ihrem Studium in München, Canterbury und London promovierte sie an der Hafencity-Universität Hamburg zu Theaterräumen in Buenos Aires und Istanbul. Neben türkischem und argentinischem Theater forscht sie zu Inszenierungsstrategien im öffentlichen Raum, Comparative Urbanism sowie Kulturpolitik. Aufbauend auf ihrer wissenschaftlichen Arbeit leitet sie künstlerische und wissenschaftliche Projekte an der Schnittstelle zwischen Stadt und Kunst. Jonas Zipf arbeitet seit 2016 als Werkleiter von JenaKultur, des städtischen Eigenbetriebs für Kultur, Kulturelle Bildung, Tourismus und Marketing in Jena. In seiner Funktion ist der studierte Musik- und Sprechtheaterregisseur der Kulturverantwortliche der Stadt Jena und initiiert Kulturprojekte und stadtgesellschaftliche Prozesse wie „72 Stunden Urban Action Lobeda“. Daneben fungiert er als Präsident des Thüringer Kulturrats. Zuvor war er als Dramaturg, Regisseur und Schauspieldirektor tätig, u. a. als Mitbegründer der Freien Gruppe O-Team in Stuttgart, am Thalia Theater Hamburg, dem Theaterhaus Jena oder dem Staatstheater Darmstadt.


P R E M I E R E N 202 1 | 202 2 Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder Reich und reich gesellt sich gern nach Bertolt Brecht Früchte des Zorns nach John Steinbeck Endspiel von Samuel Beckett Look at me. Schau mich an! Mobile Produktion Der Zauberer von Oz nach Lyman Frank Baum Der Mann, der eine Blume sein wollte nach Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri und Uli Krappen Arbeiterinnen / Pracujące kobiety von werkgruppe2 AufRuhr (UA) von Christine Lang, Volker Lösch und Ulf Schmidt Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing Extrem laut und unglaublich nah nach Jonathan Safran Foer Eine Inszenierung von Zafer Tursun Das achte Leben (Für Brilka) nach Nino Haratischwili Bitte beachten Sie wegen möglicher Programmänderungen auch den aktuellen Stand des Spielplans auf unserer Website.

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Buchverlag Neuerscheinungen

Georg Lukács gehört zu den herausragenden Denkern des 20. Jahrhunderts. Seine Schriften sind ein Schlüssel zur Ideengeschichte der Moderne und bieten auch Ansätze für die Gegenwart. Ein Bezug auf das Theater durchzieht sein gesamtes Schaffen. Doch die Rezeption seiner Werke ist gekennzeichnet von Brüchen. Dieser Reader mit Texten zum Theater, der zu Lukács’ 50. Todestag erscheint und einen vorurteilsfreien Blick ermöglichen soll, macht schwer erhältliche Beiträge wieder zugänglich und erstveröffentlicht auch Fundstücke aus den Archiven. Eine Einleitung von Dietmar Dath bezeugt die ungebrochene Relevanz des Denkens von Lukács.

Wutbürger und ihre empörten Schwestern bestimmen den Alltag. Desintegrierte fühlen sich beleidigt, Aktivistinnen sind entsetzt über die Langsamkeit der demokratischen Prozesse, und in den sozialen Netzwerken toben die Erregungsvirtuosen. Je stärker die Zersplitterung der Gesellschaft voranschreitet, desto mehr Gruppen und Individuen kämpfen um die knappe Ressource Anerkennung. In der Spätmoderne ist die Politik der Kränkung beherrschend geworden. Bernd Stegemann zeigt in seinem brillanten Essay, wie eine Wutkultur die Balance zwischen Produktivität und Negativität finden muss, damit wir in den Stürmen des 21. Jahrhunderts nicht untergehen.

Georg Lukács Texte zum Theater Herausgegeben von Jakob Hayner und Erik Zielke

Bernd Stegemann Wutkultur

Klappenbroschur mit 312 Seiten ISBN 978-3-95749-362-0 EUR 22,00 (print) / EUR 17,99 (digital)

Leinengebundenes Hardcover mit 100 Seiten ISBN 978-3-95749-341-5 EUR 12,00 (print) / EUR 9,99 (digital)

Theater und Leben – nicht zu trennen für Julian Beck! Der amerikanische Aktivist und Poet, Maler und Anarchist war vor allem eins: ein Mann des Theaters. Zusammen mit seiner Frau, der Schauspiel-Ikone Judith Malina, gründete er das weltberühmte Living Theatre, eine Institution gegenkulturellen Aufbegehrens. Mit ihren Stücken spielte die Gruppe auf den Straßen New Yorks, in Gefängnissen und Krisengebieten in Amerika, um mit ihrem revolutionären Theater aufzurütteln.

Theater braucht Räume. Räume, um neue, experimentelle Ästhetiken zu entwickeln und für soziale Experimente. Aber auch einen öffentlichen Raum für die Auseinandersetzung des Publikums mit der darstellenden Kunst, mit sich selbst und untereinander. In diesem Buch haben die Räume der Freien Szene in der Theaterstadt Berlin selbst einen Auftritt.

Mit „Das Theater leben“ liegt ein Klassiker des politisch-aktivistischen Theaters mit einem Vorwort von Thomas Oberender und Texten von Judith Malina und Milo Rau.

33 Berliner Spielstätten werden in dieser reich bebilderten Publikation porträtiert. Ein erster Versuch, die freien Räume für die darstellenden Künste in ihrer Breite und Unterschiedlichkeit abzubilden.

Julian Beck Das Theater leben Herausgegeben von Thomas Oberender

Andere Räume – Other Spaces Die Freien Spielstätten in Berlin – The Independent Performing Arts Venues in Berlin Herausgegeben von Janina Benduski, Luisa Kaiser und Anja Quickert

Paperback mit 280 Seiten ISBN 978-3-95749-343-9 EUR 20,00 (print) / EUR 16,99 (digital)

Klappenbroschur mit 304 Seiten ISBN 978-3-95749-360-6 EUR 19,50 (print) / EUR 16,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


Anzeigenberatung Tel +49 (0)30 4435285-20 www.theaterderzeit.de/media

IMPRESSUM transformers digitalität   inklusion   nachhaltigkeit Arbeitsbuch 2021 Herausgegeben von Juliane Zellner, Marcus Lobbes und Jonas Zipf © 2021 Theater der Zeit Redaktion Juliane Zellner, Jonas Zipf und Harald Müller Korrektorat Sybill Schulte Cover und Bildstrecke Michalea Rotsch Art Direction Ute Müller-Tischler Satz und Gestaltung Gudrun Hommers

Redaktion Theater der Zeit, Winsstraße 72, 10405 Berlin, Germany Tel +49 (0)30 4435285-0 / Fax +49 (0)30 4435285-44 Geschäftsführung Harald Müller Tel +49 (0)30 4435285-20, h.mueller@theaterderzeit.de Paul Tischler Tel +49 (0)30 4435285-21, p.tischler@theaterderzeit.de Abonnements Tel +49 (0)30 4435285-12, per Fax +49 (0)30 4435285-44 abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis EUR 24,50 (print) / EUR 19,99 (digital) Jahresabonnement (10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch) Digital: EUR 75,00 Print: EUR 85,00, ermäßigt EUR 68,00 (außerhalb Deutschlands zzgl. EUR 25,00 Porto) Kombi-Abo Digital + Print: EUR 95,00 (außerhalb Deutschlands zzgl. EUR 25,00 Porto) Probe-Abo (3 Ausgaben) Inland EUR 18,00 (außerhalb Deutschlands. zzgl. EUR 10,00 Porto) www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf unseren sozialen Netzwerken www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit www.instagram.com/theaterderzeit/

Druck Druckhaus Sportflieger, Berlin 76. Jahrgang; Nr. 7/8 2021 ISBN 978-3-95749-364-4 (Paperback) ISBN 978-3-95749-386-6 (E-PDF) ISBN 978-3-95749-387-3 (EPUB) Redaktionsschluss: 1. Mai 2021

Alle Rechte bei den Autor*innen und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des ­Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber*innen und den Verlag.

Schauspiel Premieren und Festivals Die gute Erde (UA) nach dem Roman von Pearl S. Buck R: Mina Salehpour Premiere 25. Sep 2021 → Schauspielhaus FAUST Gretchen Eine theatrale Videoinstallation nach Johann Wolfgang von Goethe R: Bert Zander Premiere 25. Sep 2021 → TiF – Theater im Fridericianum Sein oder Nichtsein Komödie von Nick Whitby nach dem Film von Ernst Lubitsch R: Christian Weise Premiere 9. Okt 2021 → Schauspielhaus Der Funke Leben (UA) nach dem Roman von Erich Maria Remarque R: Lars-Ole Walburg Premiere 22. Okt 2021 → Schauspielhaus

A Divine Comedy Tanzperformance von Florentina Holzinger Premiere 29. Okt 2021 → Schauspielhaus Tausend deutsche Diskotheken (UA) Eine Serie nach dem Roman von Michel Decar R: Lina Gasenzer, Tobias Schilling, Tim Wittkop Premiere 5. Nov 2021 → in einem Kasseler Nachtlokal mädchentreu (UA) Eine theatrale Recherche zu Frauenbildern und Erziehung der Neuen Rechten von Mirja Biel R: Mirja Biel Premiere 6. Nov 2021 → TiF – Theater im Fridericianum Amok nach dem Roman von Emmanuel Carrère R: Jan-Christoph Gockel Premiere 27. Nov 2021 → TiF – Theater im Fridericianum

Grimm. Ein deutsches Märchen Ein Theaterprojekt nach den Brüdern Grimm von Jan-Christoph Gockel und David Schliesing R: Jan-Christoph Gockel Premiere 4. Dez 2021 → Schauspielhaus Auf Wache (UA) Ein Stück Unsicherheit von Dirk Laucke R: Lars-Ole Walburg Premiere 28. Jan 2022 → TiF – Theater im Fridericianum Die Verwandlung nach der Erzählung von Franz Kafka R: Stef Lernous Premiere 29. Jan 2022 → Schauspielhaus Die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht mit Musik von Kurt Weill ML: Peter Schedding R: Martin G. Berger Premiere 19. Mrz 2022 → Opernhaus

Intendant: Florian Lutz Schauspieldirektorin: Patricia Nickel-Dönicke Ein Mann der Kunst (UA) nach dem Roman von Kristof Magnusson R: Dariusch Yazdkhasti Premiere 8. Apr 2022 → TiF – Theater im Fridericianum Der Kirschgarten Komödie von Anton Tschechow R: Jan Friedrich Premiere 7. Mai 2022 → Schauspielhaus Your Very Own Double Crisis Club Ein übersetztes Klagelied mit furchtbarem Akzent von Sivan Ben Yishai R: Laura N. Junghanns Premiere 8. Mai 2022 → im Stadtraum Temple of Alternative Histories (UA) Ein interdisziplinäres Projekt von Anna Rún Tryggvadóttir und Thorleifur Örn Arnarsson ML: Mario Hartmuth R: Thorleifur Örn Arnarsson Premiere 9. Jul 2022 → Opernhaus

Spielzeit 2021/22 Festivals Kein Schlussstrich! Ein bundesweites Theaterprojekt mit künstlerischen und zivilgesellschaftlichen Interventionen zum NSU-Komplex 21. Okt bis 7. Nov 2021 fast’n’d.ramadan Eine interreligiöse, interkulturelle und zeitgenössische Festivalreihe während des jährlichen Ramadans 26. Apr bis 2. Mai 2022 Inbetween. Theater zwischen Vorstellung und Ausstellung 20. bis 22. Mai 2022 Weitere Premieren und Uraufführungen der Sparten Musiktheater, Tanz, Konzert und Junges Staatstheater + unter https://neu.staatstheaterkassel.de



ABER JETZT SIND WIR ERWACHT.

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