Offen! Das internationale figuren.theater.festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach

f f e n O Das internationale figuren.theater.festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach

Anke Meyer und André Studt (Hg.)

f f e n O Das internationale figuren.theater.festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach Anke Meyer und André Studt (Hg.)

4 Editorische Notiz 5 Anke Meyer Gestern und heute. Festivals für das Publikum, die Stadtgesellschaft und die Künstler*innen Auftakt 11 Neville Tranter „Being a Puppeteer“. Über den Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit 13 „Ein großes Festival muss eine Dynamik entwickeln“.

Gespräch mit Karl Manfred Fischer und Lisa Puyplat über die Anfänge des Figurentheater-Festivals 18 Anke Meyer 45 Jahre Festival im Regal. Blättern in Programmbroschüren und Presseausschnitten 21 Langer Atem beim Netzwerken.

Festivalleiter*innen im Gespräch: Hubertus Lieberth, Renate Dix, Bodo Birk und Katja Spiess (Moderation) 25 Gabriele Hänel Jäger beim Figurentheater-Festival. Zum Kontext eines Gastspiels im Jahr 1989 27 Silvia Brendenal Freiheit des Theater-Erlebens. Nachsinnen über eine Festivalrezension 31 Gyula Molnár Schräges in Erlangen. Ein Abenteuer auf dem Hoteldach Programmieren. Kuratieren. Organisieren 41 Florian Malzacher Widersprüche am Leben halten. Ein Exkurs über performatives Kuratieren 44 Isabelle Kessler Risiko: Das Salz unseres Lebens. Von Festivalmenüs und einer kurzen Inszenierungskarriere 46 Visual Theatre, Schubladen und das Publikum. Mascha Erbelding spricht mit Frank Soehnle 49 Annika Gloystein Sachbearbeiter*in Kultur. Vom Glück, meinen Beruf nicht mit einem Satz erklären zu können 51 Ästhetische Übereinstimmung, strukturelle Unterschiede. Festivalleiter*innen im Gespräch: Michael Bader, Bodo Birk, Sandra Hoffmann-Rivero, Gerti Köhn und Eveline Gfeller (Moderation) 54 Freiheit und Treue. Nicole Mossoux und Patrick Bonté beantworten Fragen von Silvia Brendenal Grenzen ausloten 65 Meike Wagner Nie gesehen, bodenlos, undenkbar, riskant, erschöpfend. Grenzüberschreitende Figurentheater-Erlebnisse 69 Jacques Templeraud Das Theater – ein Ort permanenter Innovation. Offen sein für die Sekunde, die kommt 71 André Studt Material und Mensch. Gastspiele aus Frankreich 73 Christine Auernheimer Spiele nicht! Akhe – Überraschen und Überfordern als künstlerisches Programm 76 Grenzgänge – Künstler*innenstatements Kate McIntosh: Das Lebendige im Material Klaus Obermaier: Einladung mit Überraschungseffekt Eva Meyer-Keller: Re-Inzenieren von Unbegreiflichem Dries Verhoeven: Verschwinden und Präsenz 79 Kunst, Tabu und Verantwortung. Pauline Kalker und Hermann Helle über die Arbeit von Hotel Modern 82 Dieter Stoll Rückkopplungen. Nachträgliche Anmerkungen eines Kritikers 2

Fördernd und kritisch begleiten 95 Tristan Vogt Ermutigen und herausfordern. Vier Jahrzehnte Praxis als Akteur und Zuschauer 97 Michael Bader Vor Ort und exklusiv. Ein internationales Festival als Förderer der regionalen Szene 99 Bodo Birk Auf Augenhöhe. Zum Verhältnis zwischen Festivalveranstalter*innen und Künstler*innen 102 Christoph Bochdansky Erlangen? Was’n Erlangen? Sechs Thesen 104 Charlotte Wilde und Michael Vogel Erlanger Garagen-Schnaps-Idee führt zu langjähriger Kooperation. Ein Rückblick 106 Renaud Herbin Das inspirierende Festival. Gedanken zur Theaterpuppe und zum figuren.theater.festival

Inhalt

Das Festival als Akademie 117 Matthias Warstat Produktive Irritationen. Das Figurentheater-Festival und die Erlanger Theaterwissenschaft 120 Franziska Burger/Mareike Gaubitz/Christina Röfer An(ge)kommen im Kosmos. Das Junge Forum als Erprobungsraum in Theorie und Praxis 123 Lehrende, Alumni und Studierende: O-Töne zum Jungen Forum in Erlangen Hans Jochen Menzel zu den Anfängen des Jungen Forums Jan Jedenak über das Privileg eines Formats Rafi Martin über die Nachhaltigkeit des Anschauens Sven Tillmanns kurzer Erinnerungsparcours Marta Pelamatti zu Austausch und Entdeckungen 126 Spannend bis zu spannend. Festivalexkursionen als Teil der Ausbildung Li Kemme im Gespräch mit Stephanie Rinke, Julika Mayer und Florian Feisel 130 Globale Perspektiven? Studierende zu einer Sonderreihe des Festivals 2023 132 Markus Joss Warum wir Festivals brauchen. Plädoyer für einen verdichteten Erfahrungsraum Räume 145 André Studt Festival-Topografie(n). Annäherungen an (Erlanger) Theaterräume 148 Achim Niekel Spielräume schaffen. Notizen aus dem Blickwinkel der Technik 150 „Bei uns ist es Leidenschaft“. Ein Gespräch mit Nora Dörr über das Hotelchen am Theater 153 Eva Koch-Schulte After-Show-Party ohne Gästeliste. Essen, Trinken, Reden als essenzieller Teil des Festivals 155 Anke Meyer Ephemer, einladend und wirkmächtig. Das Festival im Freien 158 Kurt Hentschläger ORT_ZEIT_RAUM. Innen, außen und dazwischen – gibt es nicht?

160 „Die Choreografie des Texts“. Fragen an Oliver Zahn zur Online-Produktion „Lob des Vergessens, Teil 2“ 162 Nina Tecklenburg Hybridgemeinschaften? Fünf Thesen zum digitalen Theater 174 André Studt Übermorgen. Eine kurze Spekulation 3

Editorische Notiz

Die Idee, das internationale figuren.theater.festival Erlangen, Nürnberg, Fürth, Schwabach – wie es offiziell benannt und in dieser Publikation immer als Ganzes gemeint ist, auch wenn die einzelnen Beiträge die beteiligten Städte unterschiedlich gewichten – in seiner Vielgestaltigkeit zu erzählen, seinen Ursprüngen, Kontexten und Besonderheiten nachzuspüren, bestand schon länger. Es war schließlich die „Zäsur“, die vom global wirksamen Gesundheitsnotstand Covid-19 ausgelöst wurde, die den entscheidenden Impuls für eine konkrete Befragung dieses Kulturformats gab. Gleichermaßen motiviert durch die Gefährdung des Festivals, ja überhaupt der Theaterkunst, wie durch die augenscheinliche Resilienz des Genres und seiner Festspiele, erstaunt bis begeistert vom Mut und Einfallsreichtum der Künstler*innen und Festivalmacher*innen, in kürzester Zeit neue Darstellungsweisen und Formate zu entwickeln, brandaktuelle Themen aufzugreifen, ein Festival neu zu denken, sagten wir uns im Juni 2021: Wann, wenn nicht jetzt?

Wir begannen also, dokumentarisches und anekdotisches Material zu sichten, das Festivalteam mit Fragen zu löchern, Schwerpunkte zu setzen und potenzielle Autor*innen anzuschreiben, um unterschiedlichste Perspektiven auf das fränkische Großraumfestival zu generieren.

Allerdings sollten die Pandemie und ihre Folgen dann auch den Entstehungsprozess dieses Buches in einer Weise prägen, die uns als Herausgeber*innen forderte. Nun, da das Ergebnis eines Prozesses vorliegt, der deutlich länger als geplant gedauert und manchen Autor, manche Autorin von zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstandenen Beiträgen auf eine harte Geduldsprobe gestellt hat, bleibt uns der Dank an die vielen Menschen, die an dieses Projekt geglaubt und es nach Kräften unterstützt haben. Und die Hoffnung, dass das Engagement der an diesem Buch Beteiligten in einer neugierigen und kritischen Lektüre eine freudvolle Resonanz findet.

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Bei den im Buch verwendeten Bildern handelt es sich (fast) ausnahmslos um Aufnahmen der vom Festival engagierten Fotografen während der Vorstellungen. Wenn nicht anders gekennzeichnet, liegen daher die Bildrechte beim internationalen figuren.theater.festival. Die Jahreszahl in den Bildunterschriften bezeichnet das Jahr, in dem die Inszenierung beim Festival gastierte.

Wir haben es unseren Autor*innen freigestellt, ob und in welcher Form in den Texten gegendert wird; für unsere eigenen Beiträge haben wir uns auf das Gender-Sternchen geeinigt.

Ansonsten gehen wir davon aus, dass – so dies nicht eigens ausgewiesen ist – sämtliche Personenbezeichnungen gleichermaßen für alle Geschlechter gemeint sind. Dass unsere „Hauptfigur“ zum einen als internationales figuren.theater. festival, zum anderen als Internationales FigurentheaterFestival auftaucht, dürfte Kenner*innen der Szene nicht erstaunen, sind doch in den mehr als 45 Jahren seit Gründung des Festivals einige weitere Varianten entstanden – immer auf der Suche nach einer adäquaten Benennung für ein sich stets im Wandel befindendes Kulturereignis.

Anke Meyer und André Studt Januar 2025

Gestern und heute Festivals für das Publikum, die Stadtgesellschaft und die Künstler*innen

Anke Meyer „Jeder von uns kann davon profitieren, vor allem diejenigen, die etwas zu sagen haben, aber nicht wissen, wie sie es sagen sollen, die bei ihrer Wahl zögern, zaudern und verzweifeln. Das Wunderbare an diesem Abenteuer ist, dass es die Gefahr vermeidet, in einer fatalen Uniformität zu enden; die ganze Bandbreite der Möglichkeiten wird angeboten, die ganze Palette der Modi und Genres wird an diesem einzigartigen Ort vereint, wo jeder, wenn er will, sich selbst beurteilen, testen und vergleichen kann …“1 Man könnte fast glauben, dies sei ein Kommentar zum internationalen figuren.theater.festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach, vielleicht anlässlich der schwierigen finanziellen Lage, in die es 2024 aus Gründen, die weder eingeladene Theater noch die ausrichtenden Kulturämter im Geringsten zu verantworten hatten, geraten war. Um den Politiker*innen, die über Gedeih und Verderb dieses einzigartigen Theaterfestes zu entscheiden hatten, die Augen zu öffnen über dessen besonderen Wert. Ein flammendes, vielleicht etwas altmodisch formuliertes Plädoyer für das Weiterbestehen dieses so vielfältigen, breit aufgestellten und für Randständiges immer offenen Festivals.

Nährboden und Resonanzkörper Doch das Zitat stammt weder aus dem Jahr 2024 noch aus 2011, dem Jahr, in dem das Festival schon einmal vor dem Aus stand. Nein, die zitierte Aussage traf A. M. Julien, Gründer und Direktor des Festival international d’art dramatique de Paris, im Jahr 1955 in einem Magazin des Internationalen Theaterinstituts. Und er stellt bereits damals einen Aspekt ins Zentrum, der für internationale Festspiele neben der wichtigen Aufgabe der kulturellen Bereicherung eines Stadtoder Großraums nicht aus dem Blick geraten sollte: gegenseitige Inspiration, Kritik und Ermutigung der teilnehmenden Künstler*innen. Dazu gehört auch die Chance für New­

comer, sich in einem für sie noch unübersichtlichen Genre zu orientieren, Vorbilder zu finden, vielleicht sogar Mentor*innen – eine Chance, die das Junge Forum als Teil des Erlanger Festivals in hohem Maße bietet, wie die im Kapitel „­Das Festival als Akademie“ versammelten Stimmen bezeugen mögen.

Dass diese Chance von jungen Künstler*innen genutzt wurde, erweist sich in über fünf Jahrzehnten Programm sehr deutlich. Nur ein Beispiel: Das Materialtheater Stuttgart war erstmals 1989 zu Gast, in Erlangen und Nürnberg zeigten die beiden jungen Absolvent*innen des ersten westdeutschen Studiengangs Figurentheater ihren „Lästerreigen“, ein lustvoll-ätzendes Spektakel zu François Villon, und in Fürth ihre später zum Objekt-Kultstück mutierte Zweisamkeits­ komödie „Das Frühstücksmärchen“. Beim Festival 2023 entführte die inzwischen mehrfach preisgekrönte, in Ensemble Materialtheater umbenannte und auf eine zweistellige Zahl fester sowie temporärer Mitglieder angewachsene Gruppierung das wie immer erwartungsfrohe Publikum in „Dingdarium“, eine Wunderkammer der Dinge, verborgen in einem labyrinthischen Zelt im Erlanger Schlossgarten. In den Jahren dazwischen zählt man 18 Inszenierungen des ­ (Ensemble) Materialtheater beim figuren.theater.festival – eine enge und treue Wegbegleitung, von beiden Seiten aus betrachtet. Kein Einzelfall. Mehrere Künstler*innenstatements in diesem Buch resümieren ein sich verstetigendes Interesse an der künstlerischen Entwicklung junger und später gar nicht mehr so junger Theatermacher*innen und im Gegenzug eine Art Treue zum Veranstaltungsort. Nicht zu vergessen sei das offensichtliche Faible des Publikums zu einigen Stammkünstler*innen.

Der Gedanke liegt nahe, dass derartige Solidarität zwischen Veranstaltungsteams, Künstler*innen und Publikum auch zur Bildung eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer gemeinsamen Szene beiträgt, überdies in einem Theatergenre, dessen allgemeine Reputation noch immer nicht sei5

ner tatsächlichen künstlerischen Präsenz, seiner immensen Vielfalt, Wandlungsfähigkeit und Strahlkraft entspricht, und dessen Protagonist*innen überwiegend dem Freien Theater zuzurechnen sind, also in eher fragilen, oft gefährdeten Strukturen arbeiten. Dieses andere Theater ist „den Vaganten des Mittelalters näher als den etablierten Theater-Institutionen (…). Nicht Subvention und Apparat, sondern allein die Qualität ist die Basis des Überlebens. Und die Festivals, die dem Figurentheater in aller Welt ausgerichtet werden, sind notwendiger Nährboden und Resonanzkörper.“ (Aus dem Vorwort zum Programmheft 1987) Theatrale Verschiebungen Resonanzkörper einer alten, sich rasant erneuernden Kunst, für die in den 1990er Jahren der Begriff „das andere Theater“ geprägt wurde, zu verstehen als „medienübergreifendes Theater, in dem Grenz- und Spartenüberschreitungen selbst­­ verständlich geworden sind, auch wenn das traditionelle Puppentheater weiterhin seinen festen Platz hat“ (Programmheft 1991). Letzteres scheint eine der Besonderheiten im Genreverständnis des Theaters mit Puppen, Figuren, Objekten, Material – oder, wie es heute auch genannt wird, im Theater animierter Formen zu sein: der immer präsente, nicht selten auch geforderte Rückbezug auf tradierte Formen, dem man im Schauspiel oder Tanztheater so nicht begegnet.

Vielleicht macht es tatsächlich einen Teil seiner Attraktion aus, dieses Oszillieren zwischen altbekanntem Figurenpersonal, vertrauten und manchmal an Kinderzeiten rührenden Theaterritualen auf der einen Seite und äußerst produktivem, lustvollem Überschreiten jeglicher Genregrenzen auf der anderen. Und das sowohl innerhalb einer Inszenierung beziehungsweise Performance als auch in der Programmierung von Festivals. Wobei das figuren.theater.festival eine besonders große Spannweite aufweist. Da kann sich ein fränkischer Handpuppen-Faust neben den symbolhaften Tanz-Bild-Video-Rätseln eines Jo Fabian oder den furiosen „para-theatralischen Aktionen“ des Katalanen Joan Baixas ebenso behaupten wie die fragwürdigen (­Bühnen-)Orte und genialen (bildnerischen) Täuschungen der belgischen Gruppe Berlin neben Adeline Rüss’ Bauchladentheater der entscheidungsschwachen Eistüten, florschütz & döhnerts elektrischen Schatten oder Annina Mosimanns szenisch-philosophischer Abhandlung über Körperbilder und Hefeteig.

Niemals aber fehlt die Irritation, der doppelte Boden des Spiels oder der selbstbestimmte Akt der Zuschauenden, der ja beunruhigende theatrale Verschiebungen zwischen lebendig und nicht-lebendig überhaupt erst möglich und fruchtbar werden lässt. Und diese essenzielle Beunruhigung erscheint 6

„On the Concept of the Face, Regarding the Son of God“, Romeo ­Castellucci/Socìetas Raffaello Sanzio (ITA). 2019, Foto: Georg Pöhlein

in einer Zeit, in der weltweit mit Hochdruck an der Aufhebung der Blutschranke zwischen lebendigen Wesen und 0-1-(bzw.

Qubit-)Rechenmaschinen gearbeitet wird, von nie geahnter Relevanz.

Damit wäre vielleicht auch schon die sich angesichts der noch immer zunehmenden Verflüssigung von Genregrenzen, die sich sehr deutlich im Programm des figuren.theater. festivals abbildet, aufkommende Frage, wozu es dann eigentlich noch Genrefestivals braucht, beantwortet. Es ist eben keine beliebige Zusammenstellung von irgendwie schlecht einzuordnenden Inszenierungen oder irgendwie gerade hochgejazzten Theatern, der wir in Erlangen, Fürth,

Nürnberg und Schwabach begegnen. Eher ist hier der Versuch zu erkennen, in der Zusammenschau von radikal unterschiedlichen ästhetischen, inhaltlichen und dramaturgischen Ansätzen sich immer wieder neu dem Kern des Genres zu nähern. Wobei wahrscheinlich selbst dieser Kern nicht unverändert bleiben kann in einer Welt der hyperschnellen Veränderungen – politischen, gesellschaftlichen und nicht weniger einflussreichen der natürlichen Umwelt. Veränderungen, die vor allem auf die Sujets, die inhaltlichen Fragestellungen, aber auch auf das Selbstverständnis der Künstler*innen sowie ästhetische Entscheidungen und Arbeitsweisen einwirken.

Ressourcen Noch einmal zurück zu der alten, zerfledderten, kürzlich in einem Antiquariat entdeckten Ausgabe von Le théâtre dans le Monde, in der noch ein weiterer Punkt zur Sprache kommt: das Theaterfestival als Produktionsort, als Kooperationspartner. Zum einen wird zwar konstatiert, dass die Anzahl der Festivals nach Ende des Zweiten Weltkriegs immens gestiegen sei, zum anderen aber auch, dass diese Festivals wichtige Funktionen erfüllen, darunter die, aufwendige Produktionen zu ermöglichen. So wird vermutet, dass ohne die Gelegenheit und die ökonomischen Ressourcen, die das Festival de Bordeaux ihm bot, Jean Louis Barrault seine bewundernswerte „Orestie“ wohl nicht hätte auf die Bühne bringen können, und „der Welt eine der großartigsten Inszenierungen dieser Zeit entgangen wäre“.2 Auf wie viele großartige Inszenierungen des Theaters mit Puppen, Figuren und Objekten der letzten Jahrzehnte mag diese Äußerung wohl zutreffen! Mir kommt „Manto“ vor Augen, ein fast beängstigend magisches Puppensolo der Numen Compagnie, 2015 unter anderem vom figuren.­ theater.festival koproduziert. Ein Beispiel aus jüngster Zeit wäre die vom figuren.theater.festival 2023 in Auftrag gegebene, so verzweifelte wie kunstvoll vitale Open-Air-Performance „Ikarus“ der aus Sankt Petersburg geflohenen Künstlergruppe Akhe – dazu ist Genaueres in Christine Auernheimers kenntnisreichem Beitrag nachzulesen. Oder „The ceremony of weight“ von Rafi Martin & Julika Mayer, ebenfalls 2023 im ­Erlanger Programm und koproduziert gemeinsam mit drei weiteren internationalen Festivals.

Die Beteiligung von Festivals als Förderer oder Koproduzent von Inszenierungen ist längst keine Ausnahme mehr, ein im Wortsinne großes, bildstarkes Werk wie „On the Concept of the Face, Regarding the Son of God“ von Romeo Castellucci/Socìetas Raffaello Sanzio wurde gar von einem Dutzend Theaterfestivals koproduziert und unterstützt, gastierte viele Jahre weltweit, 2019 konnte Bodo Birk die Insze-

nierung endlich auch in Erlangen zeigen und damit einen lange verfolgten Programmwunsch realisieren. Der seit 2003 amtierende Festivalleiter zeichnet in einem eigenen Beitrag im Abschnitt „Fördernd und kritisch begleiten“ nach, wie sich beim Kuratieren der Schwerpunkt vom Präsentieren zum Ermöglichen verlagert hat.

Dank Und ermöglicht haben sein eigenes unbeirrbares Engagement und das seines Teams auch dieses Buch – zum einen, weil sie alle sich offen für eine Zusammenarbeit zeigten, das heißt, Informationen, Archivalien, Ressourcen, Zeit und schließlich eigene Artikel beisteuerten; zum anderen gäbe es ohne den Festivalleiter Bodo Birk in Erlangen, ohne die Kolleg*innen Sandra Hoffmann-Rivero in Schwabach, Gerti Köhn in Fürth, Michael Bader in Nürnberg sowie ihre mit Hingabe agierenden Teams den Grund und das Sujet für dieses Buch nicht: das internationale figuren.theater.festival. Dass es dies gibt, dafür sei ihnen allen gedankt!

Gedankt sei an dieser Stelle auch meinem Mitherausgeber André Studt, nicht zuletzt für seine beharrliche Zuversicht in den kritischen Phasen, die mit der Herstellung dieser Publikation verbunden waren. Sein Schlusstext „Übermorgen“ wagt einen Ausblick in mögliche Zukünfte des figuren. theater.festivals, einen Blick ins Offene …

1 „À chacun de nous d‘en tirer profit et particulièrement à tous ceux qui ont quelque chose à dire et qui ne savent comment le dire, à ceux qui hésitent dans le choix de leur engagement, qui se morfondent et se désespèrent. Le merveilleux de l‘aventure, c‘est qu‘elle évite le risque d‘aboutir à une redoutable uniformité; c‘est toute la gamme des possibilités qui se trouve offerte, toute la palette des modes et des genres rassemblés dans ce lieu unique, où chacun peut, s‘il le veut, en se ­jugeant soi même, se controler, se comparer …“ A. M. Julien. Directeur général du Festival d’art dramatique de Paris, A propos d’un théâtre des nations. in: Le théâtre dans le monde. Hiver 1955/56. Revue trimestrielle publiée par l’Institut internationale du théâtre avec le ­ ­concours de UNESCO, S. 17.

2 Ebd., S. 70.

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Festivalflaggen in der Erlanger Innenstadt. 2019, Foto: Georg Pöhlein

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Auftakt

„Schicklgruber alias Adolf Hitler“, Stuffed Puppet/Neville Tranter (AUS/NLD). 2003, Foto: Erich Malter

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„Being a Puppeteer“ Über den Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit

Neville Tranter „Zart und brutal. Anrührend und schmerzvoll. Romantisch und abstoßend. Komisch und bitterböse. Neville Tranters Figurentheaterstücke für Erwachsene sind all das und viel mehr. Auch wer das Schaffen des Australiers, der in den Niederlanden lebt, seit langem verfolgt, staunt wie beim ersten Mal. Und wundert sich, dass Tranter von Jahr zu Jahr noch präziser, noch virtuoser zu agieren scheint. Dass er beim Führen seiner Puppen immer mehr Leichtigkeit gewinnt, was die Belebung der archetypischen Kreaturen noch eindringlicher macht. Neville Tranters Geschöpfe, sie atmen. Theatermagie ist das.“ So beschrieb die Journalistin Lara Hausleitner einst in der Fränkischen Landeszeitung (22.6.2012, Kritik von ­ Vampyr) mit wenigen Worten die unwiderstehliche Bühnenpräsenz Neville Tranters und seiner Figuren.

Dass man die Entwicklung der künstlerischen Arbeit dieses weltweit renommierten Meisters und seines Stuffed Puppet Theatre im Fränkischen „Jahr für Jahr“ beobachten und fasziniert den immer neuen existenziellen Konflikten, in die er sich mit seinen Puppen warf, folgen konnte, ist in erster Linie dem internationalen figuren.theater.festival zu verdanken. Denn der Schauspieler, Puppenspieler und Regisseur Neville Tranter gehört seit seinem Auftritt mit „Studies in Fantasy“ im Jahr 1983 bis in die Gegenwart zu den Stammkünstler*innen des Festivals, zunächst in Erlangen, dann auch in Nürnberg und Fürth. Er zeigte hier die ganze Palette seines künstlerischen Schaffens – unter den fast 20 Inszenierungen so legendäre Arbeiten wie „Manipulator/Underdog“, „Nightclub“, „Macbeth“ oder „Schicklgruber alias Adolf Hitler“.

Bei der Festivalausgabe 2023 war Tranter mit seiner vom Publikum wie jeher voller Spannung erwarteten und begeistert aufgenommenen neuesten Inszenierung, einer Soloversion des „Ubu“ vertreten; er gastierte erstmals

auch in Schwabach und somit in allen vier Festival­städten.

Keine Frage: Ein Rückblick dieses Ausnahmekünstlers – den der Kritiker Andreas Radlmaier 1997 in einer Rezension als „Festival-Schutzheiligen“ bezeichnete – auf die Anfangszeit des Festivals sollte das erste Kapitel dieses Buches einleiten. Hubertus Lieberth, der langjährige Nürnberger Festivalleiter und ausgezeichnete Kenner von Neville Tranters theatraler wie bildkünstlerischer Arbeit, schickte ihm einige Fragen, als Antwort kam dieser Text: Nachdem ich 1976 meine Puppenspielerausbildung in Australien abgeschlossen hatte, entschied ich mich dazu, hauptberuflicher Puppenspieler zu werden. Ich hatte den Traum, Puppentheater für ein erwachsenes Publikum zu machen.

Meine Puppenspiellehrerin Barbara Turnbull, die ursprünglich aus Wien stammte, hatte Albrecht Roser mit der Aufführung seiner Show „Gustaf und sein Ensemble“ in Melbourne gesehen. Ihre Begeisterung über die Aufführung überzeugte mich davon, dass es möglich war, Puppentheaterinszenierungen für Erwachsene zu machen. Es dauerte viele Jahre, bis ich selbst Roser mit seinem Gustaf live erleben konnte.

Dass er ein erwachsenes Publikum 20 Minuten lang mit einer Puppe und ohne Text unterhalten konnte, machte mir klar, dass ich noch viel zu lernen hatte.

Ich kam nach Europa (ich hatte ein One-Way-Ticket gekauft) in der Hoffnung, dass ich hier vielleicht meine ­Theaterarbeit für Erwachsene weiterentwickeln könnte. Ein Auftritt beim Festival of Fools in Amsterdam brachte es mit sich, dass ich erstmals nach Deutschland kam. Mein erstes Gastspiel auf dem Internationalen Figurentheater-Festival in Erlangen war zugleich die Präsentation meiner ersten Soloshow für Erwachsene „Studies in Fantasy“, eine Sammlung von kurzen Szenen und Sketchen, satirisch, komisch, ­poetisch und dramatisch, in denen ich mit verschiedenen Arten von Puppen experimentierte. Ich erforschte auch die Möglichkeiten des Puppenspielers, sichtbar oder unsichtbar 11

Neville Tranter in der Garderobe des Markgrafentheaters. 1987, Foto: Erich Malter

„Vampyr“, Stuffed Puppet/Neville Tranter. 2009, Foto: Erich Malter

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oder mit Maske zu agieren sowie mit oder ohne Stimme oder Text. Ich erinnere mich, dass diese erste Aufführung in Erlangen nicht in einem Theater stattfand, sondern eher in einem Café. Ich musste die Marionettenszenen auf einem Tisch vor dem Castelet spielen, damit das Publikum die Puppen gut sehen konnte.

Das Plakat für die Show basierte auf dem Bild „Being a Puppeteer“, das ich gemalt hatte. Es zeigt einen einsamen nackten Mann (sprich: Puppenspieler) auf einer palmenbewachsenen Insel, der dort mithilfe von zwei Handpuppen (Punch and Judy) inmitten haiverseuchter Gewässer fischt (sprich: überlebt). Das Bild war als komische und satirische Reflexion meiner Entscheidung, Puppenspieler zu werden, entstanden. Damals ahnte ich noch nicht, dass diese Show der Beginn einer langen Zusammenarbeit mit dem Figurentheater-Festival sein würde. Was ich damals nämlich nicht wusste, war, dass ich ein Festival gefunden hatte, bei dem sowohl die Organisatoren als auch das Publikum wirklich an dieser Form des Theaters interessiert waren. Dieses ernsthafte Interesse am Puppentheater als Kunstform für Erwachsene bestätigte mich in meiner Überzeugung und darin, den eingeschlagenen Weg weiterzuverfolgen.

Das Festival ist dann nicht nur eine Plattform geworden, auf der ich meine Arbeit zeigen kann, sondern auch ein Ort, an dem ich Freund*innen, Fans, Programmgestalter*innen anderer Festivals, alte und neue Kolleg*innen treffe. Die Teilnahme am Festival habe ich nie als Wettbewerb mit anderen Puppentheatern erlebt. Ich denke, dass ich als Künstler für alle Quellen offen sein sollte, um den Puppen dienen zu können und um die Art von Theater zu machen, die ich mache.

Deshalb finde ich es wichtig, neue künstlerische Arbeiten, neue Tendenzen und neue Bühnenmedien zu sehen. Mit anderen Worten: zu lernen und sich inspirieren zu lassen.

Und genau das ermöglicht das Internationale Figurentheater-Festival, denn es steckt einen sehr weiten konzeptionellen Rahmen für das, was Puppenspiel sein kann. Ich kann mich in diesen Auswahlprinzipien des Festivals wiedererkennen, denn auch ich habe versucht herauszufinden, wo die Grenzen in der Beziehung zwischen Schauspieler und Puppe liegen. Letztendlich ausschlaggebend ist, was beim Publikum ankommt oder nicht ankommt. Und das Festival hat für mich bei der Beantwortung dieser Frage eine wichtige Rolle gespielt. Übersetzung aus dem Englischen und Vorbemerkung: Anke Meyer

„Ein großes Festival muss eine Dynamik entwickeln“ Die Anfänge des Figurentheater-Festivals

Gespräch mit Karl Manfred Fischer und Lisa Puyplat Wir führen dieses Gespräch im Juni 2022, kurz zuvor ist der Internationale Comic-Salon Erlangen zu Ende gegangen – der Salon gehört neben dem jährlich im August anstehenden Poet*innenfest und dem internationalen figuren.theater.festival zu den weiterhin lebendigen und erfolgreichen Kulturformaten, die vor mehr als 40 Jahren von Ihnen, Herr Fischer, initiiert wurden. In einem jüngst publizierten Interview mit der Süddeutschen Zeitung meinte Erlangens Alt-OB ­Dietmar Hahlweg über seinen Beitrag zu diesem überregional wirksamen Profil der kleinen mittelfränkischen Großstadt, dass sein Verdienst nur darin bestünde, die richtigen Personen nach Erlangen geholt zu haben. Damit waren vor allem Sie gemeint, Herr Fischer, als Leiter der seinerzeit neu geschaffenen Abteilung Bildende Kunst und Kulturelle Programme, die Sie ab 1974 aufbauten und bis 2002 innehatten. Sehen wir das richtig?

Karl Manfred Fischer: Ja, das war wohl so – aber neben Dietmar Hahlweg muss auch Wolf Peter Schnetz, der damalige Kulturreferent, genannt werden; denn beide, neu in ihrer Funktion, waren es, die mich aus Ingolstadt geholt haben.

Dort hatte ich 1959 den Kunstverein gegründet und geleitet.

Schon damals hatte ich damit begonnen, Programm­ konzepte zu entwickeln und zu verwirklichen, die sich auf ein ganzheitliches Kulturverständnis bezogen – was in den 1960er Jahren noch neu und ungewohnt war. Ich interessierte mich vor allem für die Beziehungen und Wechselwirkungen der Künste, das inhaltliche wie das ästhetische Zusammenspiel von unter anderem Bildender Kunst, Literatur, Musik, Theater und Film bis hin zu den damals neu aufkommen­ den multimedialen Ausdrucksformen vor entsprechendem gesellschaftskritischen Hintergrund.

Wie kam es zu der Anfrage aus Erlangen?

KMF: Wegen verschiedener Veranstaltungen und Ausstellungsprojekte kam es zunehmend zu heftigen Auseinandersetzungen im Stadtrat von Ingolstadt, wo man mich unter anderem mit dem Vorwurf der „systemkritischen Programmausrichtung“ konfrontierte. Es war – wie wir alle wissen – die Zeit eines spannungs­ ge­ ladenen gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, verbunden mit der Forderung nach politischen sowie auch kulturellen Veränderungen, die in der Studentenbewegung der 1968er Jahre bis weit in die 70er hinein in einer auf der Straße und in den Hörsälen ausgetragenen Protestkultur zum Ausdruck kam. Die aufgeworfenen Themen der kulturpolitischen Debatten haben sich zum Teil auch in meinen Projekten widergespiegelt. Die Folge war: Die Ausstellungsräume des Kunstvereins wurden gekündigt, seine finanzielle Förderung eingestellt.

Damit war auch mein Ende als Leiter des Kunstvereins besiegelt. Diese Auseinandersetzungen und Kontroversen sorgten für das bundesweite Presseecho, das Oberbürgermeister Hahlweg auf mich aufmerksam machte. Und er meinte spontan – so wurde mir gesagt –, dass ich genau der Richtige für Erlangen sei. ­Vorhersehbar kollidierten auch in Erlangen zunächst meine kultur- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen mit den hier bisher üblichen Haltungen und ­­Wertvorstellungen.

Lisa Puyplat: Da ich seit 1964 in Erlangen lebte, habe ich den „Aufbruch“ hautnah erlebt. Es kam mir wie ein großes, lang ersehntes Aufwachen, wie eine Befreiung von dem konservativen, teilweise reaktionären Charakter der Erlanger Stadtgesellschaft vor. Klar, bis zur weitgehenden Akzeptanz seiner Ideen und Ziele hat es Zeit und vor allem die enorme Durchsetzungskraft von Karl Manfred Fischer gebraucht.

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Frau Puyplat, wann hat Karl Manfred Fischer Sie als Mitarbeiterin gewinnen können?

LP: 1979. Ich war damals freie Mitarbeiterin bei den Erlanger Nachrichten. Fischer hatte Kulturberichte und Ausstellungsrezensionen von mir gelesen und mich gefragt, ob ich den einen oder anderen Beitrag für Publikationen der Städtischen Galerie schreiben möchte. So hat das angefangen und nach und nach bin ich in die Kulturprojekte – Ausstellungen und Festivals und alles andere – hineingewachsen. Und im Bereich der jeweiligen Festivals übernahm ich auch dramaturgische Funktionen.

Von Herrn Fischer haben wir gerade erfahren, dass er durch sein Interesse an der Bildenden Kunst und deren „Übergriffigkeiten“ auf andere Bereiche der Kunst, des Theaters, auf das Figuren-, Objekt- und Bildertheater gelenkt wurde. Was war ihr thematischer Zugang zum Figurentheater-Festival?

LP: Zum einen war ich von dem interdisziplinären Ansatz, den Fischer konzipiert und verwirklicht hat, überzeugt. Zum anderen habe ich mich gleichermaßen für den Stellenwert von Erlangen als Festivalstadt interessiert. Als junge Frau habe ich Kunstgeschichte studiert mit dem Nebenfach Theaterwissenschaft – warum macht man das in dieser Kombination? Weil man sich begeistert für das eine wie das andere.

Ich habe mich unter anderem auch mit Wagner beschäftigt.

Warum ist er von München nach Bayreuth gegangen? Nach Bayreuth! Und warum funktionieren bestimmte Festivals wie beispielsweise in Bayreuth und Salzburg bis heute? Bei aller Unterschiedlichkeit in ihrer programmatischen Ausrichtung sind vor dem Hintergrund ihrer ursprünglichen gesellschaftspolitischen Visionen die fußläufigen und somit zwanglosen Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten für das Publikum wichtig. Und nicht zuletzt das wechselseitige Zusammenwirken von Stadtlandschaft und „Theatralik“. Wo dies funktioniert, handelt es sich meist um Städte mittlerer Größe, die ein ideales Zentrum bieten oder das Geschehen auf einen Ort fokussieren. Angoulême mit seinem Festival International de la Bande Dessinée als Ausrichter des bedeutendsten französischen Comic-Festivals ist gar eine Kleinstadt.

Erlangen als Festivalstadt, das ist immer ein Thema gewesen, bis heute und auch in diesem Buch …

KMF: Ich hatte gleich am Anfang den Eindruck, Erlangen sei als Stadt dafür prädestiniert, Festivals zu veranstalten. Über14

regionale Aufmerksamkeit in den Feuilletons hatten schon die zwischen 1949 und 1968 alljährlich durchgeführten Internationalen Theaterwochen der Studenten bekommen sowie die Open-Air-Festivals für internationale Freie Theatergruppen, die Manfred Neu, ab 1974 Theaterleiter des neu geschaffenen Theaters in der Garage, von 1974 bis 1988 veranstaltete.

Das heißt, der Boden für die Idee, Erlangen sowohl als eine Festivalstadt, aber auch als ein Festivalzentrum in der Metropolregion zu etablieren, war vorbereitet und die Realisierung dieser Idee nahm in mir sehr schnell Gestalt an. Letztlich ging es darum, den allgemeinen kulturellen Aufbruch auch in Erlangen mit Leben zu erfüllen. Die Devise „Kultur für alle“ musste von der Theorie in die Praxis überführt werden.

Und zu diesem kulturellen Aufbruch gehörte die Ausrichtung eines internationalen Figurentheater­ ­ festivals?

KMF: Ja, aber ein Figurentheaterfestival zu etablieren, erwies sich schwieriger als gedacht. Allein dadurch, dass zumindest bis in die späten siebziger Jahre hinein die öffentliche Wahrnehmung des Puppenspiels und des Figurentheaters, von wenigen Ausnahmen abgesehen, traditionell und konventionell geprägt war. Von den Stadt- und Staatstheatern wurde es mit Herablassung angesehen und als Kinderbelustigung abgetan. Erst allmählich entstand auch unter dem mit der „Wende“ geschärften und offenen Blick auf die Länder des ehemaligen „Ostblocks“ sowie auf die künstlerischen Entwicklungen dieser Theaterform in der internationalen Szene ein Bewusstsein für das besondere schöpferische Potenzial dieses Theaters der Figuren, Bilder und Objekte, später auch das „andere Theater“ genannt.

Nichtsdestotrotz fand sehr schnell die Ausdehnung der Festivalidee auf die anderen Städte in der – wie es heute heißt – Metropolregion statt; Nürnberg war ja schon bei der zweiten Ausgabe des FigurentheaterFestivals dabei …

KMF: Der erste Versuch, 1979 in Erlangen ein Figurentheaterfestival – zunächst im Alleingang – durchzuführen, sollte zeigen, wie effizient die Chancen für die Etablierung eines Großraumfestivals sein könnten, wie hoch der Publikumszuspruch sein würde und in welchem Turnus es künftig stattfinden müsste. Gleichzeitig stand Überzeugungsarbeit in den politischen Gremien der Stadt an, war die Öffentlichkeit von dieser neuen Festivalidee zu überzeugen. Erst als etliche Steine geklopft waren, bin ich Schritt für Schritt auf die

Vertreter der anderen Städte des Großraums zugegangen.

Nach Nürnberg, bereits ab 1981 dabei, war Fürth ab 1983 mit von der Partie und Schwabach schloss sich 1989 der Kooperation an.

Das erste Festival nannte sich bescheiden 1. Erlanger Puppen- und Figurentheaterfestival. Eingeladen waren elf Gruppen und Solisten aus drei Ländern mit 21 Produktionen.

Mit Auftritten vorwiegend im Markgrafentheater und der Theatergarage, mit einem Straßentheaterprogramm, mit einer Filmreihe von Scherenschnittfilmen der legendären Lotte Reiniger und mit animierten Puppenfilmen des Tschechen Jiří Trnka.

Dass es inzwischen nicht nur das größte Figurentheaterfestival in Deutschland ist, zu den wichtigsten in Europa zählt und meines Wissens nach die älteste bis heute existierende Kulturkooperative von den vier Städten innerhalb des Großraums ist, war damals keinesfalls vorauszusehen.

LP: Wobei Erlangen von Anfang an das Zentrum des Festivals war, zuständig für die übergreifende Organisation und Zusammenarbeit. Die beteiligten Städte hatten die Möglichkeit, aus den Erlanger und eigenen Vorschlägen eine Programmauswahl zu treffen, welche die Publikumsstruktur vor Ort, das Budget und die unterschiedlichen Spielstätten in ihrer Größe und technischen Infrastruktur berücksichtigte.

KMF: So hatte das Festival in jeder Stadt sein eigenes Profil, das sich jedoch zu einem Ganzen fügte. Diese Selbstverantwortung für die Gestaltung des künstlerischen Programms in der jeweiligen Stadt ist ein wesentlicher Grund dafür, dass dieses Großraumprojekt seit Jahrzehnten besteht und funktioniert.

Der Arbeitskreis für gemeinsame Kulturarbeit bayerischer Städte (heute STADTKULTUR Netzwerk Bayerischer Städte e. V.) gab – allen Schwierigkeiten zum Trotz – bis zu Ihrem Ausscheiden als dessen Geschäftsführer den Rahmen vor für die übergreifende Ausrichtung Erlangen, Nürnberg, Fürth und Schwabach …

KMF: Das Festival unter das Dach des Arbeitskreises zu stellen, ging von meiner Überlegung aus, es als Exempel einer innovativen und nachhaltigen Kulturpolitik zu statuieren: nicht nur als ästhetisches Format, sondern auch als regionales kommunalpolitisches Gemeinschaftsprojekt. In der Hoffnung, vonseiten des Freistaats Bayern finanzielle Förderung für ein Vorhaben zu bekommen, das mit seiner Größe und internationalen Programmausrichtung punkten

konnte. Eine Hoffnung, die sich leider trotz aller Anstrengungen unsererseits damals nicht erfüllte. Für den Unterhalt der Geschäftsstelle standen lediglich 40 000 DM zur Verfügung.

Zum Vergleich: Das etwa zeitgleich gegründete Kultursekretariat Nordrhein-Westfalen hatte ein Millionenbudget. Für unseren Arbeitskreis waren Projektmittel weder vorgesehen noch eingeplant. Das bedeutete, dass das Großraumfestival ausschließlich aus den Kulturetats der beteiligten Städte finanziert werden musste. Es war ein personeller, finanzieller und politischer Drahtseilakt, alle Städte bei der Stange zu halten.

Ihnen war immer daran gelegen, dass Festival als überregionales Ereignis auch medial zu platzieren.

LP: Zunächst reagierten selbst die lokalen Tageszeitungen zurückhaltend. Doch der spontane Erfolg beim Publikum weckte zunehmend deren Interesse. Schließlich befeuerten sich das Publikum mit seiner Begeisterung und die regionalen Medien – von den Erlanger/Nürnberger Nachrichten bis hin zur Abendzeitung – mit ihrer Berichterstattung gegenseitig. Später dann erschienen Rezensionen in der Süddeutschen Zeitung, in Theater Heute und Theater der Zeit, dem Fachmagazin aus ursprünglicher DDR-Provenienz. Ich kann mich allerdings auch an ein Telefonat mit der FAZ erinnern, wo ich auf das Festival aufmerksam machte und fragte, ob man nicht jemanden zur Berichterstattung vorbeischicken könne. Man antwortete mir, dass die FAZ nur über Menschentheater berichten würde und natürlich wurde niemand geschickt.

KMF: Der überregionale Durchbruch in der Aufmerksamkeit der Presse, deren Feuilletons damals ein ungleich bedeutenderes Gewicht hatten als heute, kam erst mit einer in den 1990er Jahren erschienen Artikelreihe von Helmut Schödel in der Wochenzeitschrift Die Zeit. Schödel erkannte das Besondere dieses Festival-Zusammenklangs in Erlangen.

Die ästhetische Ausrichtung des Festivals ist von Beginn an interdisziplinär gewesen. Dazu gab und gibt es bis heute unterschiedliche Einschätzungen in der Presse. Es wird immer mal wieder konstatiert, im Programm würde vieles, was nicht ins allgemeine Spartendenken passt, keinen Ort findet oder undefinierbar bleibt, einfach unter Figurentheater subsumiert und somit zur Auflösung des Genres beigetragen. Würden Sie diese Aussage eher als Kompliment verstehen oder als Kritik?

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KMF: Als Kompliment war das sicher nicht zu verstehen, sondern als deutliche Kritik an unserem Programmkonzept.

Mir ging es aber tatsächlich von Anfang an darum, das enge und traditionelle Spartendenken aufzubrechen und das Figurentheater als eine für neue künstlerische Entwicklungen und Tendenzen offene Theaterform zu behaupten. Erkennbar beispielsweise in den Vorworten unserer Programmhefte, wo recht bald von einem Theater der Figuren, Bilder und Objekte zu lesen war. Die Festivalgestaltung und die Programmauswahl wurden maßgeblich geprägt von unterschiedlichsten künstlerischen Positionen. Wobei wir aber auch stets den Solisten und Gruppen einen prominenten Platz einräumten, die sich an dem traditionellen Puppenund Marionettentheater orientierten – soweit es sich um herausragende Produktionen handelte.

Und bei den grenzüberschreitenden Inszenierungen haben wir zum Beispiel jene eingeladen, in denen neben Schauspiel oder Tanz Elemente des Masken- oder Figurentheaters eine bedeutende Rolle spielten. Darunter die „Antigone“ vom Schauspiel Frankfurt in der Regie von Tom Kühnel und Robert Schuster oder den Geniestreich von Gregor Seyffert, dem 1. Solotänzer der Komischen Oper Berlin, der mit seiner szenischen Lesart von Kleists Essay „Über das Marionettentheater“ die magische Einheit von Tänzer und Puppe auf unvergessliche Weise interpretierte. Wir holten auch Gruppen, die Rekonstruktionen des Figurentheaters der zwanziger Jahre auf die Bühne brachten, als nicht zuletzt das Bauhaus bereits eine frühe „Liaison“ zwischen allen Künsten propagiert hatte.

Mit dem Einzug der Neuen Medien auf die Theaterbühnen tat sich dann für das Festival ab den 1990er Jahren ein neues Feld auf. Für manche der sich auf diesem Terrain erprobenden Solisten, Theatergruppen oder Compagnien fungierten wir mit unseren Festivaleinladungen nicht zuletzt auch als Wegbereiter.

Oft finden sich im Programm Arbeiten von Künstler*innen aus Frankreich. Allein in ihrer Amtszeit gab es Gastspiele von rund 40 französischen Compagnien auf dem Festival – was hat Sie am französischen Figurentheater besonders fasziniert?

LP: Wir haben uns sehr viele französische Theaterproduktionen angesehen, waren regelmäßig bei den Festivals in Charleville-Mézières und Avignon zu Gast, haben einzelne Gruppen in Paris angeschaut, fuhren zu den deutsch-französischen Festivals nach Saarbrücken. Das Innovative des französischen Figurentheaters, insbesondere des théâtre 16

des objets war unverkennbar. Uns faszinierte nicht nur das Spiel herausragender Solisten, uns interessierten auch größere Ensembles mit Inszenierungen, in denen auf virtuose Weise traditionelle und experimentelle Mittel des Figurentheaters miteinander verbunden wurden. Im Gegensatz zu der Theaterstruktur in Westdeutschland mit seinen dominierenden Stadt- und Staatstheatern boten die Produktionsbedingungen den Künstlern in Frankreich – ähnlich wie in den Niederlanden – viel Raum für ein freies Theater mit eigenwilligen kreativen Ausdrucksformen.

KMF: Das ästhetisch und narrativ Außergewöhnliche der französischen Figurentheaterszene, die Verbindung von Bildern und Objekten, von Puppen und Gegenständen des Alltags, die Arbeit mit Film- und Lichtprojektionen, mit Geräuschen und musikalischen Zitaten unterschiedlicher Art, die Thematisierung von Körpern, das Artistische oder ein an Performances orientiertes Theaterspiel bereiteten uns überwältigende und neue Theatererfahrungen, die wir unbedingt in unsere Festivalprogramme aufnehmen wollten. Dazu gehörte beispielsweise das Théâtre de la Mezzanine, unter seinem Leiter Denis Chabroullet, mit den opulenten, verstörenden Poesien kriegerischer Endzeit-Desaster; oder die Compagnie Philippe Genty mit ihren zauberischen, nie zuvor gesehenen Metamorphosen. Unter den Solisten so hintersinnige Tüftler wie Jacques Templeraud vom Théâtre Manarf oder Charlot Lemoine vom Vélo Théâtre, die die ganze Welt in ihre wundersamen, bildhaften Szenerien holten. Außerdem war es wichtig, ob der Ereignisse des 20. Jahrhunderts, Anlässe für kulturelle Begegnungen zu schaffen. Den Dialog zu beleben, das war eine politische und gesellschaftliche Notwendigkeit.

Das sahen auch die Leiter des französischen Kulturinstituts hier vor Ort so. Sie waren nicht nur sehr aufgeschlossen gegenüber unserer Festivalarbeit, sondern sorgten zudem für finanzielle Förderung durch den französischen Staat.

Dadurch kam auch der Kontakt mit Margarita Niculescu zustande, der Direktorin der Hochschule für Puppenspiel, der École Supérieur Nationale des Arts de la Marionnette in Charleville-Mézière. So konnten wir die deutsche Lizenzausgabe der von ihr begründeten weltweit einmaligen Theaterzeitschrift Puck – das Figurentheater und die anderen Künste herausgeben.

Auffällig ist, dass das Festival nie ein Motto formuliert hat – andere Festivals tun das regelmäßig.

KMF: Das ist sinnvoll und auch umsetzbar für kleinere Festivals mit einem überschaubaren Publikum. Wir haben ein

übergreifendes Motto immer als einengend empfunden. Ein Festival muss eine Dynamik entwickeln und lebt aus der Spannung der Unterschiede und Gegensätze in den Theaterformen, den Erzählansätzen, den Formatierungen der Produktionen. Wenn man ein zahlreiches Publikum für ein großformatiges Festival erreichen und gewinnen will, ist vor allem ein attraktives und kontrastreiches Programm erforderlich.

Wir haben statt eines einzigen übergreifenden Mottos programmatische und länderspezifische Schwerpunkte gesetzt, hatten beispielsweise stets Gruppen aus den damaligen, sogenannten sozialistischen Ländern zu Gast. Überwältigend war 1983 die Begegnung mit dem russischen Puppenspieler und Leiter des Staatlichen Puppentheaters Moskau, Sergej Obraszow, den das Publikum mit Ovationen feierte.

LP: Oder einzelne Solisten und Gruppen, deren künstlerische Arbeiten uns über Jahre besonders begeisterten und überzeugten, wurden in den Fokus gerückt, darunter die franko-belgische Compagnie Mossoux-Bonté oder der bis heute unerschöpfliche Bildertheatermacher Achim Freyer.

KMF: Und bis heute – seit rund 40 Jahren – als „Kultfigur“ präsent beim Festival: Neville Tranter, der australische Puppenspieler, in den Niederlanden lebend, den wir 1983 quasi noch als Geheimtipp nach Erlangen einluden und der von hier aus seine Weltkarriere startete. 1989 war er der erste Preisträger des Internationalen Figurentheater-Preises der Stadt Erlangen, der bis 1995 viermal verliehen wurde und dessen Vergabe dann wegen Etatkürzungen eingestellt werden musste.

LP: Ein eigenes Schaufenster haben wir von Anfang an auch für regionale Gruppen geschaffen.

KMF: Und 1997 gründeten wir das Junge Forum International, regelmäßige Treffen von Studenten und Professoren europäischer Theaterhochschulen mit dem Ausbildungszweig Figurentheater, bis heute fester Bestandteil des ­Festivals.

LP: Mit der Städtischen Galerie im Palais Stutterheim hatten wir in Erlangen ideale Voraussetzungen, unser Konzept der Entgrenzung der Künste zu verwirklichen mit das Festival flankierenden Ausstellungen. 1991, unmittelbar nach der Wende, zeigten wir Schätze aus dem Puppentheatermuseum Dresden; ein einziges Mal außerhalb Frankreichs das

Puppentheater des Maurice Sand – unter strengen Auflagen wanderte es aus dem Schloss von Nohant, dem Lebensort seiner Mutter George Sand, ins Palais Stutterheim. Auch die kostbare Theatermasken-Sammlung von Erhard Stiefel, dem Maskenbauer von Ariane Mnouchkine, wurde in Erlangen erstmals öffentlich präsentiert. Außerdem stellten wir Plakate der aus der ehemaligen DDR stammenden ComicZeichnerin Anke Feuchtenberger, die stets für das Figurentheater gearbeitet hat, aus und schließlich die szenischen Kompositionen des italienischen bildenden Künstlers Enrico Baj unter dem Titel „Apokalypse“.

KMF: Wir versuchten, mit unserer Programmdramaturgie immer auf Außergewöhnliches hinzuweisen, machten aufmerksam auf das, was wir als anregend, experimentell und künstlerisch herausragend empfanden. Inwieweit das Publikum sich jeweils begeistern ließ, das musste sich ergeben.

Das Erlanger Publikum und das der anderen Städte ist diesen Weg in erstaunlicher und beglückender Weise mitgegangen.

Jedes Festival war ein Wagnis – aber so muss es sein, damit man wach für das Kunstereignis bleibt. Aber auch sehnsüchtig danach wird, Unbekanntes, Herausforderndes zu erkunden und sich immer wieder aufs Neue überwältigen zu lassen. Nur so bleibt Theater lebendig.

Die Fragen stellten Anke Meyer und André Studt.

Karl Manfred Fischer wurde 1974 Leiter der neu geschaffenen Kulturreferats-Abteilung Bildende Kunst und kulturelle Programme in Erlangen. Er gründete innerhalb kurzer Zeit die Städtische Galerie Erlangen mit der Städtischen Sammlung internationaler druckgrafischer und multipler Kunst (1974), das Internationale Figurentheater-Festival (1979), das Poetenfest (1980) und den Internationalen Comic-Salon (1984) – deren Leitung er bis zu seiner Pensionierung 2002 innehatte. Interdisziplinäre Ansätze, wie sie vor allem das Figurentheater-Festival bis heute prägen, hatte Fischer u. a. bereits 1973/74 im Rahmen einer kommissarischen Professur für Ästhetische Theorie und Praxis an der Gesamthochschule Kassel verfolgt, teils in Zusammenarbeit mit dem Hochschullehrer und Künstler Harry Kramer – bekannt für seine szenisch agierenden Objektgebilde –, teils in Kollaboration mit dem Theatermuseum München.

Die Kunsthistorikerin, Theaterwissenschaftlerin und Publizistin Lisa ­Puyplat wirkte von 1979 bis 2002 bei der Vorbereitung und Durchführung der Erlanger Festivals mit und war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Städtischen Galerie und der Städtischen Sammlungen Erlangen, deren Leitung sie 2003 übernahm. Bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2008 zeigte Puyplat in der Städtischen Galerie und an anderen Orten regelmäßig Ausstellungen, die mit dem jeweiligen Festivalprogramm korrespondierten.

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45 Jahre Festival im Regal Blättern in Programmbroschüren und Presseausschnitten

Anke Meyer Was bleibt von 23 Festivalausgaben in mehr als 40 Jahren?

Außer den Erinnerungen von Publikum, beteiligten Ensembles und Veranstaltern an außergewöhnliche, vielleicht auch irritierende ästhetische Erlebnisse, an eindrückliche Begegnungen, an das Glück, noch einen Platz ergattert zu haben bei einer zutiefst berührenden Vorstellung, an Jubel oder konsterniertes Schweigen, komische Missgeschicke, Veranstaltungspannen oder falsche Feueralarme, an heftige Diskussionen über streitbare Theaterentwürfe …, an mehr oder weniger deutliche Bruchstücke aus verschiedensten Inszenierungen, die eigentlich wenig miteinander zu tun haben, dennoch sich zu einem atmosphärischen Gesamtbild verdichten, zu einem fragmentarischen Panoptikum künstlerischer Entwicklungen und deren Rezeption? Festivals ist eben dasselbe Schicksal beschieden wie der ephemeren Kunst Theater generell: Vorbei ist vorbei, das gilt gleichermaßen für jeden Moment einer einzelnen Theateraufführung wie für jeden Moment eines Festivals.

Es gibt natürlich Fotos und Videoaufnahmen. Und nicht zuletzt: Programmbroschüren, im Falle Erlangens 45 Jahre Figurentheater-Festival auf weniger als einen Regalmeter „Flachware“ zusammengepresst. Welche Einblicke erlauben diese Selbstpräsentationen? Und was erzählt sich beim Durchblättern und bei sporadischer Zusammenschau mit Presserezensionen, vornehmlich aus der ersten Festival­ dekade?

Nicht nur Schall: Der Name Da ist zunächst einmal der Name/Titel der Veranstaltung: Sie begann im Mai 1979 als 1. Erlanger Puppen- und Figurentheaterfestival für Kinder und Erwachsene. Sieht ­ man von der Nennung der jeweils beteiligten Städte ab1, ändert sich der Name der Biennale folgendermaßen: 18

Die Ausgaben 1981 bis 1985 führen den Doppeltitel Internationales FIGURENTHEATER Festival – Figuren- und Puppentheater für Kinder und Erwachsene. Es folgt die Variante Internationales FigurenTheaterFestival. Ab 2005 setzt sich internationales figuren.theater.festival auf dem Cover des Programmhefts durch – in den Texten steht wie bisher Internationales Figurentheater-Festival. Seit 2017 lesen wir durchgängig internationales figuren.theater.festival.

So hat sich aus einem Namen, der „eigentlich kein richtiger Name, eher eine Beschreibung“ ist (Grußwort des Festivalteams im Programm 2015), durch ortho- und typografische Finessen doch ein Festivaltitel entwickelt, der über eine reine Genrebenennung hinausgeht. Zugleich schafft diese Schreibweise mit akzentuierenden Punkten Sprechpausen, Zwischenräume, auch Irritation hinsichtlich eines eindeutig genrebezogenen Titels. Die darin aufscheinende Tendenz, den Begriff „Figurentheater“ auszuweiten und zu hinterfragen, verstärkt bis 2017 der Untertitel „Figuren. Objekte. Bilder“ (der sich auf den Plakaten sogar bis 2021 hält). „Gleich alle drei Schlagwörter des Festival-Untertitels vereint die Tänzerin Anja Röttgerkamp in Gisèle Viennes Stück „The Pyre“. Die Frau auf der Bühne ist Figur, ist Bild, ist Objekt und lässt in den Nuancen ihres Tanzes zugleich auch diese Zuschreibungen als Beschreibungskategorien fraglich werden. Ihr Körper windet und verbiegt sich, zunächst ruckartig, später geschmeidiger, setzt sich rastlos in Posen und arbeitet sich unerbittlich an ihnen ab, als sei er auf der Suche nach der passenden Form. Schwer lässt sich ausmachen, ob sie von der Bewegung kontrolliert wird oder diese selbst bestimmt“, schreibt Christina Röfer 2015 in ihrer Festivalrezension im Magazin double 2. Die hybriden Inszenierungen der französischen Choreografin, Regisseurin und studierten Puppenspielerin Gisèle Vienne stehen im Rahmen des Erlanger Festivals geradezu ikonografisch für heftige Auseinandersetzungen über essenzielle Merkmale und not­wendige (?)

Grenzen des Figurentheaters. Ausein­ andersetzungen, die sich zumeist im jeweils aktuellen Diskurs über die Verschiebung oder gar Verflüssigung der Ränder sämtlicher Kunstformen verorten – hin und wieder aber auch als Reminiszenz an eine dem Puppentheater angeblich immanente Traditionsverhaftung daherkommen. Eine Diskussion, die das Festival von Beginn an zu begleiten scheint.

Spiel der Dinge und siebter Sinn Die Neigung, „Figurentheater“ weit zu fassen, deutet sich bereits in den Texten der ersten Programmhefte an: So heißt es in der Ankündigung der Inszenierung „Zirkus der Dinge“, mit der das österreichische Ensemble Pupodrom beim 1. Erlanger Puppen- und Figurentheaterfestival für Kinder und Erwachsene 1979 gastierte, „das Spiel mit den Dingen wird zum Spiel der Dinge“. Dieser kleine Satz bringt früh ein wesentliches Charakteristikum eines Objekttheaterverständnisses jenseits zielgerichteter, virtuoser Manipulation auf den Punkt, zeugt von reflektierendem Interesse seitens der Veranstalter*innen an neuen Formen der Genres. Indes bleibt die Subjektwerdung von Alltagsdingen manchen damaligen Kritikern suspekt, selbst viel später finden sich in der Presse Sätze wie diese: „Doch bleibt die Frage offen, ob diese Off-Produktion in ein Figurentheaterfestival einfach dadurch passt, daß man die skurrilen Requisiten kurzerhand zu Objekten erklärt“ – womit der Rezensent der Nürnberger Nachrichten (11.6.1991) sich selbst widerspricht, hatte er doch gerade deutlich gemacht, dass in der betreffenden Inszenierung, nämlich der sehr eigenwilligen Schneewittchen-Variante „Blanche-Neige“ von Jaques Templeraud und Guyla Molnár, die Aufladung der Gegenstände mit menschlichen Eigenschaften auch ohne überdeutliche Anthropomorphisierung bestens funktionierte und sie mitnichten als bloße Requisiten im Spiel waren.

Doch zurück zu den ersten Festivalausgaben. Die Lektüre der frühen Programmhefte lässt auch aus anderer Sicht einen siebten Sinn für zukünftige Entwicklungen erkennen.

Zum Beispiel bei der Einladung des gerade erwähnten Pupodrom, das außer dem genannten Kinderstück auch Sławomir Mrożeks gesellschaftspolitische Groteske für Erwachsene „Das Martyrium des Piotre o Hey“ in Erlangen zur Aufführung brachte: Das später in Serapionstheater umbenannte und mehrfach mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnete Ensemble wurde zu einem der renommiertesten Freien Theater Österreichs. Das konnte damals natürlich noch niemand wissen, auch nicht, dass das zur zweiten Festivalausgabe eingeladene Kinderstück „Keine Angst vor großen Tieren“ der Bochumer Bühne Theaterra weltweit gastieren und dass

diese Inszenierung mit verfremdeten Haushaltsgegenständen bis heute im Repertoire des Objekttheaterkünstlers Peter Ketturkat präsent bleiben würde. Oder dass der junge Australier, der 1983 ein Solo für Erwachsene zeigte, zu einem der international bekanntesten, für seinen bösen Witz und sein mitreißendes Spiel gerühmten Puppenspieler, avancieren würde. Oder dass die tschechische Inszenierung „Piškanderdulá“ von ihren Schöpfer*innen Věra Říčařová und František Vítek noch Jahrzehnte gespielt und zu einer wahren Puppentheaterlegende werden würde – deren nackte Holzpuppen mit offenliegender Mechanik sowie der risikobereite, rüde und dennoch in kostbaren Momenten zart beseelende Umgang von Říčařová mit ihrem Spielmaterial riefen später in New York die Bemerkung hervor: „If John Cage were a puppeteer, this is what he would do“3. Nein, dass es sich dabei um ein fast 40 Jahre weiter andauerndes Theaterexperiment handelte, konnte niemand wissen, als „Piškanderdulá“ 1983 in Nürnberg und Erlangen gastierte.

Ohne Berührungsängste Bei der kompletten Lektüre der bis heute vorliegenden 23 Programmhefte verfestigt sich der Eindruck, dass von Beginn an mit der Auswahl der Inszenierungen etwas gezielt angegangen wurde, was dem Festival weiterhin eigen ist, nämlich die außerordentliche ästhetische Vielfalt des Programms. Neben Bühnenformaten wie wortlosen Ausflügen ins Innere des Gehirns (Compagnie Daru/Frankreich, „La porte close?“, 1981), die laut Programm versuchen, „den engen Rahmen des Sprechtheaters zu sprengen und stattdessen eine sinnliche Theaterform zu entwickeln, die der Sprache des Traumes und dessen theatralischen Bildern“ vertraut, findet sich das psychoanalytische Drama „Schillen“ (1983) des niederländischen Bildenden Künstlers und Performers Hinderik de Groot, das „mit dem üblichen Puppentheater wenig zu tun“ hat und „eher an die Bilder der Surrealisten Magritte und Dalì erinnert“, das Figurentheater Triangel, dessen kurze, textlose Szenen „Assoziationen zu Kunstströmungen wie dem magischen Realismus oder zu Hieronymus Bosch wecken“4, oder das farbenprächtige, experimentelle Schattentheater des italienischen Teatro Gioco Vita – bis heute gern gesehener Gast auf internationalen Festivals. Auch die ersten Auftritte des französischen Künstlers Philippe Genty, der mit seiner Compagnie bis 2013 elfmal in Erlangen, Nürnberg und Fürth gastierte, datieren in das erste Festivaljahrzehnt; seine berühmten „Zigmund ­Follies“, eine Identitätssuche mit skurrilen Fingerpuppen und Schauspiel wurden 1985 gezeigt und 2001 noch einmal eingeladen …

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Daneben stehen in jeder Festivaledition ganz ungezwungen auch eher konventionelles Kindertheater, wie es zum Beispiel das Puppentheater Burgas aus Bulgarien mitbringt, und traditionelle Puppenspielformen, wie das ­Krakauer Krippenspiel „Jaselka“ in einer modifizierten Maskentheatervariante vom Teatr Groteska, beides im zweiten Festivalprogramm. Auch mit nur lückenhafter Kenntnis der zu den Figurentheater-Festivals eingeladenen Inszenierungen entnimmt man allein den bebilderten Ankündigungen im Programmheft ein durchgängiges Anliegen des Programmteams und der Festivalleitung, das Genre in seiner ganzen Breite abzubilden, ohne Berührungsängste, weder mit verschiedensten Schwesterkünsten noch mit klassischen, überkommenen Manifestationen des Puppentheaters.

Multikulturelles Wenn ich heute im Programmheft von 1981 lese, dass sich die belgische Gruppe Tie-3 mit „Problemen der Dritten Welt auseinandersetzt“ und „abendländische Theaterkonventionen mit fremden Formen und Inhalten einer fremden Kultur“ konfrontiert, spüre ich einen Hauch damaliger multikultureller Euphorie, zugleich kommen automatisch aktuelle identitätspolitische Skrupel auf beziehungsweise der Verdacht kultureller Vereinnahmung. Doch die Gruppe, die auch unter dem Namen Tiedrie – Het Théâtre van de derde Wereld in Europa auftrat, war eine belgisch-malayische Gründung. Mit ihrer Produktion „Charkawa“ (Sonnenaufgang) setzte sie eine Vorlage des berühmten ägyptischen Autors Salah Abdul-Saboor um, „als Marktspektakel um die Rolle der Frau in der arabischen, aber auch in der westlichen Welt“ (­Programmtext). Und zwar – so berichtet ein interviewgestützter Artikel in den Erlanger Nachrichten (3.6.1981) – mit einem Ensemble aus Professionellen und Laien, darunter marokkanischen Gastarbeitern. Als Grundanliegen von Tie-3 wird die Integration von Gastarbeitern und Asylsuchenden in die Theaterarbeit genannt. Allerdings beklagt der Leiter der Kompagnie in dem Interview zunehmende Schwierigkeiten, Arbeitserlaubnisse für seine migrantischen Schauspieler zu bekommen. In Erlangen erhielt Tie-3 die Gelegenheit, eine Produktion speziell für den Außenraum zu entwickeln. Der Rezensent kategorisiert die Inszenierung als „theatralische Abrechnung mit dem Imperialismus“ …

So klingen in der zweiten Ausgabe des Figurentheater-Festivals – bereits Themen an, die über die Jahre immer wieder in eingeladenen Produktionen verhandelt werden, bei der 23. Fe­s­­­­ ti­valedition im Jahr 2023 sogar im Rahmen eines kontrovers diskutierten Schwerpunkts „Globale Perspektiven“: Diversität, Rassismus, Postkolonialismus …

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„Piškanderdulá“, Věra Říčařová/František Vítek (CSZ).

1983, Foto: Bernd Böhner

Wer sich einige Dekaden weiter, sagen wir in den 2050er Jahren, durch alle bis dahin vorliegenden Programmbroschüren des Festivals blättert (das Blättern als sinnlicher, geradezu performativer Akt, fast eine Art Daumenkino, bleibt ja vielleicht möglich, aller digitalen Verfügbarkeit zum Trotz), muss hoffentlich nicht allzu oft aufseufzen: „Ach, damals schon die gleichen Konflikte …“ Wünschenswert hingegen wäre ein freudig erstaunter Ausruf zukünftiger Programm­ leser*innen, angesichts so lange Zeit fortdauernder, nimmermüder konzeptioneller Offenheit und kuratorischer Neugierde: „Oh, damals schon!“ 1 Das zweite Erlanger Programmheft (1981) erwähnt Nürnberg, wo ein großer Teil des Programms ebenfalls stattfand, und Ingolstadt (das nur dieses eine Mal in der Festivalgeschichte auftaucht) nur im Impressum.

Die beiden Städte hatten eigene Veranstaltungsprospekte herausgegeben. 1983 und 1985 steht auf der Titelseite des nun gemeinsamen Programmhefts: Nürnberg, Fürth Erlangen. Später immer Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach (Letzteres, sofern es dabei war).

2 Christina Röfer, Lust an der Verunsicherung. Das 19. internationale Figurentheater-Festival in Erlangen, Nürnberg und Fürth. In double.

Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater 2/2015.

3 Zitiert aus der Vorstellungsankündigung von „Piškanderdulá “ in der Originalbesetzung Říčařová/Vítek, Dezember 2022 im Archa Theater Prag. https://divadloarcha.cz/en/program/detail/2593/2022-12-17-­piskander­dula-josefe, letzter Zugriff am 7.2.2023.

4 Alles in diesem Absatz zitiert aus den Programmheften der genannten Festivalausgaben.

Langer Atem beim Netzwerken Festivalleiter*innen im Gespräch

Ein Gespräch mit den ehemaligen Festivalleiter*innen Hubertus Lieberth (Nürnberg), Renate Dix (Fürth) und dem seit 2003 amtierenden Erlanger Festivalleiter Bodo Birk über die Entstehung und Entwicklung des Festivalnetzwerks. Moderiert wurde das Gespräch im Herbst 2022 von der Stuttgarter Festival- und Theaterleiterin Katja Spiess.

Katja Spiess: Das erste Figurentheaterfestival in der Region fand 1979 in Erlangen statt und wurde vom dortigen Kulturamt und seinem damaligen Leiter Karl Manfred Fischer initiiert. 1981 kam Nürnberg als Mitveranstalter dazu, 1983 Fürth. Im Jahr 1989 wurde Schwabach in den Festivalverbund aufgenommen. Die Initiativen gingen von den jeweiligen Kulturverwaltungen aus. War also das Großraumfestival ein ­Wunschprojekt der Kulturverwaltungen der beteiligten Städte?

Bodo Birk: Auf der formalen Ebene sicherlich, aber so etwas hängt immer auch vom Engagement einzelner Personen ab.

Die Chemie zwischen den Initiatoren muss, legen die Erzählungen aus der Gründerzeit nahe, einfach gestimmt haben – so unterschiedliche Charaktere da letztlich zusammenkamen. Ich denke, das erklärt, warum das Internationale Figurentheater-Festival das am längsten und besten funktionierende Kooperationsprojekt dieser vier Städte ist.

Könntet ihr entscheidende Impulse oder Faktoren benennen, die die Gründung des Netzwerks ermöglicht oder begünstigt haben?

Hubertus Lieberth: In Nürnberg war es ganz klar die Fertigstellung des stadteigenen Spielorts Tafelhalle, die ermöglicht hat, das Festival in der Stadt auszurichten. Von Anfang an planten die Verantwortlichen, das Haus nicht nur als ­Spielstätte für die Freien Gruppen aus dem Großraum ­Nürnberg zu nutzen, sondern auch als Veranstaltungsort für Festivals.

Renate Dix: In Fürth spielten mehrere Faktoren, die diese Idee beförderten, eine Rolle. Der damalige StadttheaterIntendant Kraft-Alexander hatte eine große Affinität zu osteuropäischem Theater und lud beispielsweise die tschechische Puppentheater-Compagnie Spejbl und ­Hurvínek regelmäßig nach Fürth ein. Es bestand also ein gewisses Interesse am Figurentheater. Und wir hatten eine sehr engagierte Lehrerschaft, die Aufführungen in den Schulen ermöglichte, die anfangs die einzigen Auftrittsorte waren. Der dritte Faktor basiert auf einer Lücke: Es gab in Fürth kein Puppentheater.

Das Festival bot nun die einzigartige Möglichkeit, mit dieser Kunstform breitgefächert in Berührung zu kommen.

BB: Wichtig war sicher auch, dass in den Gründungsjahren bereits Netzwerke zwischen den Städten existierten, vor allem der Arbeitskreis für gemeinsame Kulturarbeit bayerischer Städte, der heute Stadtkultur e. V. heißt. Dies ermöglichte den beteiligten Städten, gemeinsame Projekte auf die Beine zu stellen und zu finanzieren.

RD: Und es gab schon ein paar Beispiele gelungener Zusammenarbeit, wie zum Beispiel wandernde Gastspiele oder Ausstellungen.

HL: Wobei ich es damals für eine gute Entscheidung hielt, zunächst in einem kleineren Kreis zu versuchen, ein gemeinsames Festival auf die Beine zu stellen.

BB: Und schon früh wurde bemerkt, dass es schwer genug sein wird, drei, später dann vier deutlich unterschiedliche Städte mit ebenso unterschiedlichen Bedürfnissen und ästhetischen Auffassungen unter einen Hut zu bekommen.

Deshalb ist es wohl bis heute bei den vier Städten geblieben.

Was würdet ihr sagen: Sind es eher Persönlichkeiten oder Strukturen, die das Netzwerk zusammenhalten?

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HL: Ich sag’s mal so: Wenn wir alle „Normköpfe“ gewesen wären, wäre das Festivalnetzwerk nicht zustande gekommen.

RD: Vor allem braucht es Neugier und Liebe zur Sache. Ich selbst komme vom Schauspiel und mir hat dieses „andere Theater“ gezeigt, was für ein großes künstlerisches Potenzial es jenseits der klassischen Theaterformen zu entdecken gilt. Das hat mich fasziniert.

BB: Ich stimme zu: Mit jemandem ein Festivalprogramm auf die Beine zu stellen, mit dem oder mit der es keine gemeinsame programmatische Basis gibt, wird nicht funktionieren.

Andererseits ist die Struktur natürlich ebenfalls wichtig. Das Netzwerk bildet einen Schutzschirm für alle veranstaltenden Festivalstädte.

RD: Die Gemeinsamkeiten haben wir uns – vor allem in den ersten Jahren – aber auch erarbeitet. So haben wir zum Beispiel als Veranstaltergruppe gemeinsam Festivals besucht.

Wir waren in Arnheim, in Neuchâtel und nach der Wende auch viel in den neuen Bundesländern und haben dann über die Inszenierungen, die wir gesehen hatten, miteinander diskutiert.

HL: Und was ganz wichtig war: Man konnte und durfte unterschiedlicher Meinung sein.

BB: Leider habe ich dieses gemeinsame Reisen und SichAustauschen nicht mehr miterlebt. Was daran liegt, dass die Zeitkontingente für solche aufwendigen Reisen heute gar nicht mehr vorhanden sind. Und natürlich sind auch die Möglichkeiten, Stücke digital zu sichten, inzwischen ganz andere.

Das Videomaterial der Gruppen ist heute so gut, dass man sich auf dessen Basis ein Urteil bilden kann.

HL: Ich verstehe, dass das Entscheiden nach Video zeitsparender ist und manchmal auch die einzige Möglichkeit, neue Inszenierungen kennenzulernen. Aber dadurch geht auch etwas verloren. Bei den Festivals, zu denen wir gereist sind, ging es ja nicht nur um die Inszenierungen, sondern es gab auch ein starkes Bedürfnis nach Austausch. Vieles über die Theaterszene vor Ort erfuhren wir beispielsweise beim gemeinsamen Frühstück mit Veranstaltern und Künstlern …

Als Netzwerkveranstalter*innen hattet ihr gewissermaßen eine doppelte Vermittlerrolle. Zum einen gegen22

über dem Publikum, zum anderen gegenüber den ­Kolleg*innen im Festivalverbund. Wie habt ihr das organisiert? Und wie kamt ihr zu einem gemeinsamen ­Programm?

RD: Ich habe meine Arbeit immer von einem konzeptionellen Grundgedanken aus geplant und so praktizierten es meiner Beobachtung nach auch die anderen Kollegen. Die Kunst bestand dann darin, zwischen den Einzelkonzepten der beteiligten Veranstalter zu moderieren.

HL: Nicht zu vergessen die direkten Kontakte zum Management und den Künstlern der einzelnen Gruppen, von denen viele bis heute bestehen. Hier habe ich oft Informationen und Tipps bekommen, die ich dann direkt in den Verbund hineintragen konnte.

RD: Von diesen Kontakten haben wir sehr profitiert, denn wir haben dem vertraut, was uns die Kollegen empfohlen haben.

Und Vertrauen gehörte zu den Fundamenten unserer Zusammenarbeit.

HL: Einer Zusammenarbeit ohne Konkurrenz. Allenfalls dann, wenn die Zeitkorridore knapp wurden. Zum Beispiel, wenn sich klar herauskristallisierte, dass eine Gruppe aus Termingründen nur in einer Stadt spielen konnte, stellte sich natürlich ganz schnell die Frage: Bei wem wird die Inszenierung gezeigt?!

BB: Neben dem Austausch leisteten wir tasächlich Überzeugungsarbeit. Ich erinnere mich an Sitzungen, bei denen sehr viel Energie aufgewendet werden musste, um die Partner von bestimmten Gruppen oder Inszenierungen zu über­ zeugen. Andererseits haben wir immer darauf geachtet, nicht an allen Spielorten das Gleiche zu zeigen. In einem Jahr ­ verständigten wir uns auf mehrere, gemeinsam gezeigte Produktionen, im nächsten dominierten eher Einzeleinladungen. Diese Bewegungen muss man aushalten.

Genauso wie die Reibungen und Diskussionen bei den Programmsitzungen.

RD: Wir achteten auch sehr auf die Verbindung von Internationalität und Regionalität. Uns allen war es ein Anliegen, auch für Theatergruppen aus der Region eine Plattform zu schaffen und für einen Austausch regionaler Künstler innerhalb des Städteverbunds zu sorgen.

BB: Das hat beispielsweise dazu geführt, dass eine Inszenierung wie die „Zauberflöte“ von Thalias Kompagnons, die in Nürnberg Premiere hatte, dann noch einmal auf dem Figurentheater-Festival in Erlangen gezeigt wurde. Und daraus wiederum ergab sich eine große internationale Tournee, weil internationale Veranstalter vor Ort waren und die Inszenierung eingeladen und weiterempfohlen haben.

kann, sondern sich auf einen Entwurf einigen muss, der niemals allen Interessen und ästhetischen Vorlieben entsprechen kann?

Und wie habt ihr die endgültige Zusammenstellung und Umsetzung des Programms ­organisiert?

BB: Vermutlich ist das so. Auch hier muss darauf geachtet werden, dass keine Unwucht in Richtung eines Festivalpartners entsteht. Entsprechend haben wir uns vor ein paar Jahren für die Grafikerin der Nürnberger Tafelhalle entschieden, damit das Festival in seinem Corporate Design wieder etwas näher an Nürnberg herangerückt wird.

BB: Die heiße Phase war und ist bei uns immer der Herbst und Winter des Festivalvorjahres. Da treffen wir uns alle 14 Tage in der großen Programmgruppe und stellen einander die Produktionen vor, die wir entdeckt haben. Vor den Treffen verschicken wir unsere sogenannten Masterlists: Das sind Listen mit kurzen Angaben zu allen Produktionen, die wir gesehen haben und diskutieren möchten. Solche Tools werden immer wichtiger in der Zusammenarbeit.

HL: Auch in der Pressearbeit geriet der gemeinsame Auftritt oft nicht einfach. Immer wieder tauchte die Frage auf: Wie kann man sich der Presse gegenüber als Verbund und gleichzeitig mit dem eigenen Programm profilieren? Da kam es gelegentlich zu Schieflagen, zum Beispiel dadurch, dass die Nürnberger Zeitungen in ihrem Kulturteil häufig über Erlangen berichtet haben, und dabei manche Nürnberger Produktion unter den Tisch gefallen ist.

RD: Die dann folgende Abstimmung von Abläufen und Transfers war immer von großer Selbstverständlichkeit und Kollegialität geprägt.

BB: Ich glaube, wir müssen hier von unterschiedlichen Phasen sprechen. Als ich die Künstlerische Leitung des Erlanger Festivals übernommen habe, rezensierten noch viele Printmedien in entsprechend vielen Besprechungen das Festival.

Das hat sich stark geändert. Heute registrieren wir eine Zersplitterung der Berichterstattung. Auch wenn wir früher manchmal konkurriert haben, wurden wir in der Tagespresse damals deutlich stärker als Verbund wahrgenommen, als das heute der Fall ist.

Wie wurden Budget sowie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortet?

BB: Was die Finanzen betrifft, so lag und liegt die Budgetverantwortung bei jedem einzelnen Veranstalter. Budgetmäßig gesehen agieren wir als Einzelfestivals. Auch die Verträge schließt jede Stadt separat ab. Bei gemeinsam gezeigten Produktionen werden die Kosten zwischen den Partnern gleichmäßig verteilt, wobei man sagen muss, dass es inzwischen deutlich schwieriger geworden ist, Vorstellungen an mehreren Orten „im Paket“ zu verhandeln, da der technische Aufwand der Gruppen häufig so groß ist, dass die Ensembles diese Vorstellungen wie Einzelveranstaltungen ­behandeln.

RD: Der wichtigste Bereich, den wir als Festivalverbund gemeinsam verantwortet haben, war die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Und so reibungslos die Zusammenarbeit in der Organisation des Festivals verlief, so spannungsreich gestaltete sie sich oft bei der Öffentlichkeitsarbeit. Besonders bei der Auswahl des Plakatmotivs kam es immer wieder zu hitzigen Diskussionen und Auseinandersetzungen.

Ist die Grafik – bis heute – vielleicht deshalb ein so großes Thema, weil man hier eben nicht dezentralisieren

Bodo, im Zusammenhang mit dem Sichtungsprozess sprachst du vorhin von knapper werdenden personellen und zeitlichen Ressourcen. Ist denn so ein – mal ­zugespitzt ausgedrückt – „Ressourcenfresser“ wie ein Großraumfestival überhaupt noch zeitgemäß?

BB: Mir ist heute – während des Sprechens über das Festival – erst klar geworden, was für einen Aufwand solch ein Netzwerk für alle Beteiligten mit sich bringt. Möglicherweise wäre es für uns als Veranstalter unaufwendiger, ein Festival nur in der eigenen Stadt zu organisieren. Man würde aber niemals diese Vielfalt, Qualität und Strahlkraft erreichen.

Und auch im Kulturbereich wird es immer wichtiger, den CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Es macht also ökologisch total Sinn, Gastspiele zu bündeln und dafür zu sorgen, dass aus dem Ausland anreisende Gruppen mehrfach auftreten können. Und noch ein Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist: Die Arbeit in einer so heterogenen Programmgruppe ist auch 23

deshalb wertvoll, weil man oft mit einer anderen Haltung aus einer Diskussion herausgeht als der, mit der man hineingegangen ist. Das habe ich mehrfach erlebt.

Ein Festivalverbund als Übungsparcours in Sachen Demokratie?

RD: Ja, ich denke, so kann man das durchaus sehen.

Der Theaterwissenschaftler Bodo Birk leitet seit 2003 das internationale figuren.theater.festival in Erlangen sowie die beiden anderen großen ­Erlanger Festivals, den Internationalen Comic-Salon und das Poet*innenfest. Bereits während seines Studiums an der Friedrich-­Alexander-Universität ErlangenNürnberg war er dem Figurentheater-Festival verbunden, zudem gehörte er zu den Begründern und Organisatoren des Studententheater-Festivals ARENA. Seit 2014 leitet Bodo Birk die Abteilung Festivals und Programme beim Kulturamt der Stadt Erlangen und fungiert als stellvertretender Amtsleiter.

Renate Dix studierte Schauspiel und Theaterwissenschaft in Leipzig.

Nach Theaterengagements u. a. als Dramaturgin und Intendantin ging sie 1984 nach Westdeutschland. 1987 wurde sie als erste Kulturbeauftragte bzw. Kulturamtsleiterin der Stadt Fürth berufen. Dort war Dix bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand 2004 tätig und gründete u. a. das bis heute erfolgreiche Internationale Klezmer-Festival/Yewish Music Today Fürth. In dieser Zeit brachte sie die Stadt Fürth in den Städteverbund des Figurentheater-Festivals ein und verantwortete das Programm vor Ort als Festivalleiterin.

Hubertus Lieberth, ebenfalls Theaterwissenschaftler, war von 1987 bis 2013 als Kulturmanager beim Amt für Kultur und Freizeit der Stadt Nürnberg für Organisation und Programm des Internationalen FigurentheaterFestivals verantwortlich. Zu seinen persönlichen Highlights in dieser Zeitphase zählt er die meisten Produktionen von Stuffed Puppet Theatre sowie die erdrückende Intensität in den Stücken der spanischen Gruppe Semola.

Katja Spiess leitet seit über 20 Jahren das europäische Produktions- und Veranstaltungszentrum FITZ Theater animierter Formen in Stuttgart. Und sie ist Leiterin des Internationalen Theaterfestivals animierter Formen Imaginale, das seit 2008 biennal in Stuttgart, Mannheim und vier weiteren Städten Baden-Württembergs ein Programm im Grenzbereich zu Tanz, Musiktheater, Performance und Digitalkunst präsentiert.

„Die Jäger des verlorenen Verstandes“, Zinnober (DDR). Bühne und Puppenensemble in der Ausstellung „Chistian Werdin, Berlin Ost – Bühnenbildner und Puppenbauer“ im Erlanger Markgrafentheater. 1991, Foto: Erich Malter

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Jäger beim Figurentheater-Festival Zum Kontext eines Gastspiels im Jahr 1989

Gabriele Hänel Es braucht eine Weile, bevor ich mich entschließe, für das Festivalbuch einige Erinnerungen zu notieren. Möglich, dass das ungeklärte interne Drama von Missverständnissen, Nicht-Anerkennungen und Verletzungen nach Auflösung des theater zinnober im Jahr 1989 an meinem ausführlichen Zögern teilhat: ein Drama, das seltsam deutlich mit dem politisch-geschichtlichen Zeitraum seines Entstehens zusammenhängt. Was hätte sich im Kleinen wie im Großen in West und Ost klären müssen? Das frage ich heute mit einem ungläubigen Blick auf die Welt, nachdem unsere BlechBühne längst im Museum steht1.

Ich erinnere mich in dem Zusammenhang, dass wir im Mai 1989 beim Figurentheater-Festival Erlangen/Nürnberg/Fürth, nach einem Besuch des ehemaligen Märzfeldes auf dem Reichsparteitagstagsgelände, am Abend in Nürnberg eine Vorstellung der „Jäger“2 spielten. Vor eben noch lachendem Publikum stand plötzlich ein Mann mit Pistole auf der Bühne.

Wir brachen ab, Entsetzen machte sich breit und der Kollege Hans Krüger, der eigentlich ein Kenner im Umgang mit Aggressivität war, blieb diesmal verschwunden. Einmal muss man seine stolzen theoretischen, hobbypsychologischen Kenntnisse anwenden, dachte ich. Ich trat näher und sagte dem Typen die schlichte Wahrheit, dass wir Angst vor ihm hätten. Er brüllte sofort: „Vor mir muss niemand Angst haben!“ Polizei erschien, begann den Saal zu räumen, und führte den Täter ab. Danach spielten wir irgendwie vorsichtig das Stück doch noch zu Ende.

Unser Teufel (entstanden 1982) war ein mega-aggressiver NVA3-Kapo vor einem scheinbar hilflos stotternden Kasper. Ich muss tatsächlich nachschauen, was seinerzeit los war: Punk und New-Wave, Atomwaffen-Stationierungen, die Stones tourten durch Europa, die Anti-WAAhnsinns-Festivals in Burglengenfeld fanden statt, Ostermärsche … und in Erlangen kam 1982 im Universitätsklinikum das erste deutsche „Retortenbaby“ zur Welt. Und ja, „Ein bißchen Frieden“, „Ich will Spaß“ oder … in China fällt ’ne Schippe um …

Neue Räume erobern „Explosionsmotoren oder Warum Festivals?“4 lautet die Überschrift eines Artikels von Thomas Oberender in Theater der Zeit von 2014. Er geht der Frage nach, was ein Festival im Zeitalter multimedialer Präsentationsformen unter der Diversifizierung politisch-wirtschaftlicher Mächte bedeutet.

Was es in den achtziger Jahren für uns bedeutet hat, darüber versuche ich nachzudenken. Und wenn ich seine Behauptung befrage, dass sich neben dem künstlerischen „Austausch von konzeptionell und ästhetisch Außerordentlichem“ im Festival „neue, ungewohnte Räume erobern“ ­lassen, so antworte ich: Stimmt, das traf auf uns, als erste freischaffende Theatergruppe der DDR, tatsächlich zu.

Denn 1982 erhielten wir, obwohl nur zum Nebenprogramm eingeladen, beim III. Internationalen Puppentheaterfestival in Magdeburg für die Inszenierung „Die Jäger des verlorenen Verstandes“, einen Förderpreis des Ministers für Kultur. Dieser Preis wurde aufgrund des durchschlagenden Erfolges quasi für unser Werk erfunden. Es handelte sich um einen zweistündigen Theaterabend, das Ergebnis eines heftig diskutierten, weit über ein Jahr dauernden Prozesses zum Thema Kaspertheater. So entstanden sieben rasend neue archetypische Figuren: Prenzlauer Berg-Kasper mit rotem Zopf, Punk-Prinzessin, sächsischer Clownskönig, Stasi-Polizist, der Militär-Teufel, eine winzige, schwarze Großmutter, eine sächsische Gretel, ein depressiver kleiner Gnom und ein verfressenes Krokodil, das Kasper und Gnom vor der Pause verschluckt, worauf erst mal der Weltuntergang prophezeit wird. Wie wir das Krokodil zum Kotzen gebracht haben, fällt mir gerade nicht ein.

Die Gruppe „Zinnober nimmt das Medium Theater wieder ernst in seinem Ursprung“, schrieb die taz. „… indem sie nicht Leben zeigen will, sondern das Vitale selbst ist. Hier [wird] ­Theater als das Bedürfnis erinnert, aus dem es einst entstand …“ Diese offizielle Anerkennung öffnete uns trotz immer noch zahlreicher Auftrittsverbote neuen Spielraum, namentlich durch eine grandiose internationale Solidaritätsspende, konkret das Geld für eine Forster-Heizung in unserem Proberaum. Die Tür zu diversen Festivals hatte sich, wie 25

auch die verschließ­ baren Türen unseres Blech-Spindes, einen Spaltbreit geöffnet. Dadurch konnten wir, wieder in einem erschöpfenden Gruppenprozess, das große, biografisch grundierte Projekt „traumhaft“ realisieren. Christa Wolf und Heiner Müller setzten dann 1987 zu einer Sitzung der Sektion Darstellende Kunst die Vorstellung dieser Inszenierung vor Mitgliedern der Akademie der Künste durch. Fortan galten wir verblüffenderweise als opportun.

Erfahren in Grenzüberschreitungen Im Juni desselben Jahres reiste Honecker zur Aufnahme besserer Beziehungen in die Niederlande. In diesem Zusammenhang half die niederländische Botschaft einer Einladung für ein Kinderstück zum Figurenfestival in Dordrecht sehr klug auf die Beine. Jetzt konnten wir Bedingungen stellen: „Wir fahren alle oder keiner.“ Gegenbedingung: „Alle kommen zurück oder keiner darf wieder fahren.“ Ergebnis: Am 3. Juni 1987 gingen für uns unter Begleitung einer weiblichen Stasi-Beobachtung die Blechtüren auf.

Durch die Festivals in Magdeburg waren wir innerhalb der internationalen Szene keine Fremden mehr. Neben den üblichen Preisverleihungen, Fachgesprächen, recht ausufernden Trinkgelagen gab es damals Kontaktaufnahmen bis hin zu Heiratsanträgen in alle Richtungen. In Dordrecht geschah das Nämliche, jetzt vielleicht bei so manchem unter Zuhilfenahme unbekannter Rauschmittel. Ich erinnere mich an den großartigen Fingerring eines Puppenspielers mit ­auf­­klapp­­barem Deckel. Ich muss gestehen, dass meine persönlichen Erinnerungen, besonders an theatrale Soloper­ formances des Figurentheaters, stark überlagert sind von Erlebnissen außerhalb dessen. Alle wussten, dass wir nicht fleißig in den Festivalräumen ausruhen würden, sie halfen uns also mit Empfehlungen und Adressen weiter. Auf diese Weise entkamen wir irgendwie der Beobachtung, die dadurch ihrerseits davon entlastet wurde, ein Protokoll über unseren Ausflug nach Amsterdam zu erstellen.

Kein Amsterdamer Künstler pilgert mehr in das VanGogh-Museum. Soll ich erzählen, dass ich dort ein Schlüsselerlebnis hatte zum Thema Reproduktion von Kunstwerken?

Ich stand, noch ganz erschöpft von all den nie gesehenen Großwerbeflächen, zum ersten Mal vor einem Van Gogh. „Feeling must have a medium in order to function at all.“5 Es war der kleine Schnittlauchtopf. Ich roch scharf – fast entsetzt – die Essenz von Lauch. Ich weiß nicht, wie oft Kunst das Unsagbare so direkt kommunizieren kann. Gut. Natürlich war nahe dem Bahnhof unter anderem auch die Rotlichtmeile ein Muss. Soll ich erzählen, dass K. im Rausch der Freundlichkeiten dort sofort das Portemonnaie 26

geklaut wurde oder dass Z. sich stehenden Fußes in ein Schaufenster-Mädchen verliebte, es retten und nicht mehr zurück in den Osten wollte oder dass H., beim Bummel durch viele interessante Läden, vom Staunen schon traurig, einen gefährlichen Anfall von Kleptomanie erlitt? Nein. Kurz gesagt: Wir fanden uns zuletzt wieder im Zug nach Hause.

Deshalb gewährte man uns wie versprochen von 1987 bis zum Schluss diverse Reisen nach Westdeutschland und ins kapitalistische Ausland. Im Stempel des Dienststempels (sic!) unserer Reisepässe wurde nun bei „ein - mehr - malig“ die handschriftliche Markierung „ein-“ mittels Kugelschreiber durchgestrichen.

Tausendundeine Nacht Geschichte wäre zu erzählen, bis wir viel später, erfolgsgewohnt und einigermaßen erfahren in Grenzüberschreitungen, eingehüllt in Schutzmäntel aus Ironie und Arroganz, wieder einmal im alten Barkas B 1000 auf offener Straße liegen blieben. Unser Filou Udo ­Petter reiste deshalb sogar kurzerhand in den Osten zurück, um die Zylinderkopfdichtung zu besorgen. Eine Reparatur hätte im Westen 3 000 DM gekostet. Nach einer vergleichenden Rechnerei wurde von der DDR-Künstleragentur seine nochmalige Ausreise gestattet. Er hat dann wohl schnell noch ein 50-Pfennig-Bier getrunken und ist erfolgreich in den Westen zurückgekommen, damit wir 1989 endlich wohlbehalten in Erlangen, Nürnberg und Fürth einreiten konnten.

Gabriele Hänel gehörte zu den ersten Absolvent*innen der Abteilung Puppenspiel an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin, wo sie später selbst unterrichtete – wie auch an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Sie war Gründungsmitglied des Staatlichen Puppentheaters Neubrandenburg und der Freien Theatergruppe Zinnober Berlin (Ost), aus der in den neunziger Jahren das Berliner ­Theater o. N. hervorging. Hänel arbeitet als Regisseurin, Performerin und Autorin in Berlin und anderswo (u. a. Köln, Gera, Halle, Hannover), sie schreibt eigene Stücke und übersetzt, sie hat z. B. Werke von Shakespeare und Gertrude Stein neu übertragen.

1 Diverse Figuren/Ausstattungen aus Inszenierungen der Gruppe ­Zinnober befinden sich in der Puppentheatersammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Siehe https://skd-online-collection.skd. museum.

2 „Die Jäger des verlorenen Verstandes“, Theater Zinnober, Berlin DDR. Text: Hartmut Mechtel/Zinnober. Ausstattung: Christian Werdin. Regie: Steffen Reck. Spiel: Gabriele Hänel und Hans Krüger.

3 NVA = Nationale Volksarmee der DDR. 4 Thomas Oberender: „Explosionsmotoren oder Warum Festivals? Der Intendant der Berliner Festspiele erinnert daran, was Festivals ­anderen Produktions- und Präsentationsformen voraus haben“. In: Theater der Zeit 10/2014.

5 Mark Rothko, zitiert nach https://en.wikiquote.org/wiki/Mark_Rothko# Beyond_the_Aesthetics_(1946), letzter Zugriff am 15. März 2023.

Freiheit des Theater-Erlebens Nachsinnen über eine Festivalrezension

Silvia Brendenal 1991. Das 7. Internationale Figurentheater-Festival in Erlangen war das erste, das ich nach der Wiedervereinigung im westlichen Teil Deutschlands besuchte, ausgestattet mit einem Dienstreiseauftrag der ostdeutschen Zeitschrift ­Theater der Zeit. Kaum hatte ich den Erlanger Bahnhof verlassen, empfing mich die besondere Festivalatmosphäre dieser sympathisch anmutenden Stadt. Auf Schritt und Tritt begegneten mir Menschen mit dem Festivalprogrammheft in der Hand, im Schlosspark fanden theatralische Aktionen statt, an der Städtischen Galerie verwies ein Plakat auf eine Ausstellung der Puppentheatersammlung Dresden, auf dem Marktplatz zeigten unter anderem Günter Gerlach, Horst Günther und Frieder Simon, Puppenspieler aus dem östlichen Teil Deutschlands, Open-Air-Inszenierungen.

Ich war folglich nicht die einzige Vertreterin des einstigen kleinen Landes hinter dem Eisernen Vorhang, die in ­Erlangen präsent war, und ich registrierte mit leisem Stolz, dass 25 Inszenierungen aus meiner Puppenspielheimat gezeigt wurden – verteilt auf die vier am Festival beteiligten Städte. Nicht alle unbedingt die meiner Wahl, aber darunter so interessante wie Jochen Menzels „Seltsame Schleifen“, „Lavendel“ vom Theater Handgemenge, Hans Krügers „Rotkäppchen für Erwachsene“, die „Psychogramme einer Revolution“ von Joachim Damm, Kammertheater Neubrandenburg, und als historische Kostbarkeit das Sächsische Wander-Marionettentheater Dombrowsky mit seiner „Gräfin Cosel“-Adaption.

Ankunft im Hotelchen am Theater. Ich war in diesem Kleinod untergebracht, im Zimmer 14, gleich rechts neben dem Eingang. Das Fenster weist auf die Festivalmeile, was bedeutete, dass des Nachts erst spät Ruhe einzog und man morgens von frühzeitiger Betriebsamkeit geweckt wurde. Im Laufe der zahlreichen folgenden Festivalbesuche wohnte ich jedes Mal im Hotelchen, jedoch wohlweislich nie wieder im Zimmer 14.

Gerade rüber im Zimmer 13 logierte Dr. Elisabeth Schwarz, die damalige Grande Dame des westdeutschen Figurentheaters, die mich flugs unter ihre Erlangen­-erfahrenen Fittiche nahm und mir den Einstieg in diese so andere (westdeutsche) Festival-Welt auf die ihr eigene charmante Weise erleichterte. Als Erstes stellte sie mich ihrem Lieblingspuppenspieler vor: Neville Tranter. Ihn erlebte ich dann mit seiner Inszenierung „Room 5“ und mir war sehr schnell klar, warum Frau Schwarz ihn so verehrte. In meiner Festivalrezension beschrieb ich ihn als den Magier des Puppenspiels.

Ein Urteil, an dem ich während meiner gesamten Theaterpraxis und auch nach all den Tranter-Produktionen, die ich sah, festhielt.

Diese so andere Festival-Welt Geprägt von der ostdeutschen Festivalrealität, die auf den vom Theaterverband der DDR veranstalteten WerkstattTagen des Puppentheaters und den vom Ministerium für Kultur verantworteten nationalen Puppentheater-Festivals der DDR basierte und die im Prinzip den Kriterien eines künstlerischen Leistungsvergleichs entsprach, trudelte ich in ­Erlangen nicht nur in eine mich schier überwältigende Vielfalt an Lesarten des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters, ich genoss auch den Festcharakter dieser Festivaltage, der dem Ganzen eine Leichtigkeit gab, die mich faszinierte. Eine Leichtigkeit, die den einen künstlerischen Blick ebenso zuließ wie den anderen, die Diskussionen über das Gesehene – zustimmende, ablehnende oder auch widersprüchliche – nicht scheute, gar provozierte.

Ich glaube, selten so intensiv mit Kolleg*innen, vor allem aus der DDR, über die gesehenen Inszenierungen debattiert zu haben wie in jenen Nächten in Habibs Theatercafé.

Diese Intensität hatte zum einen damit zu tun, dass wir – die aus dem Osten – es gewohnt waren, uns entsprechend den durch die Hochschule für Puppenspielkunst vorgegebenen, wohl auch verinnerlichten künstlerischen Maßstäben mit 27

Festivalbeiträgen auseinanderzusetzen, und zum anderen damit, dass genau diese Maßstäbe oft mit den ästhetischen und dramaturgischen Intentionen der während des Festivals gezeigten Inszenierungen kollidierten. Ich erinnere mich, dass das Gesehene nach dem roten Faden, nach der erzählten Geschichte befragt wurde, den artifiziellen Fähigkeiten der Darsteller*innen ab und an mit Skepsis begegnet und manchmal die künstlerische Aussagekraft der Objekte oder des Bühnenraums bezweifelt wurde. (Eine gehörige Portion dieser Fragen beziehungsweise Vorbehalte schwingt auch in meiner Rezension der Festivalausgabe 1991 mit.)

Die aufgrund ihrer hohen Professionalität, garantiert durch die ­hervorragende Ausbildung an der Hochschule für Schau­ ­­spielkunst Ernst Busch Berlin, zum Erlanger F ­ estival eingeladenen Ensemblepuppenspieler*innen der zu diesem Zeitpunkt schon ehemaligen DDR sahen sich einem meist solistischen Spiel internationaler Kolleg*innen gegenüber, das sie und ihr Verständnis vom Theater-­Spielen herausforderte.

Und mittendrin ich. Kind des (Puppen-)Theaterlandes DDR, jedoch nicht Darstellerin, sondern Theaterwissenschaftlerin, Kritikerin, eine, die das Geschehen meist von außen betrachtete. Ebenfalls ausgestattet mit einem von DDR-Regisseuren (sic!) geprägten Theaterverständnis, das zudem auf einem verhaltenen, politisch-subversiven Bündnis von Zuschauern und Machern fußte, spürte ich, wie sich für mich während dieses 7. Internationalen FigurentheaterFestivals in Erlangen auch in künstlerischer Hinsicht eine Mauer öffnete und ich mich mit zwar vorsichtigen Schritten, aber dennoch neugierig auf mir bisher unbekannte Theatersprachen einließ. Beispielsweise auf die des théâtre des objets eines Gyular Molnár, des Théâtre Manarf, des Vélo Théâtre, des Théâtre Tohu-Bohu ...

Das Theater der Dinge Dieses Theater der Dinge, eine deutsche Übersetzung, die mich noch immer überzeugt, elektrisierte mich nahezu durch seinen hohen Grad an Freiheit (und Respekt): gegenüber dem agierenden Material, dem Spiel der Darsteller*innen (das den Unterschied zwischen Dar- und Verstellung nachgerade sinnfällig machte) und der unabdingbaren fantasievollen Mittäterschaft des Publikums. Das Theater verwandelte sich für mich aus einem vertrauten Ort des Betrachtens, Bewertens und Erkennens, dem einer mehr oder weniger linearen Identifikation, in einen assoziativen Spielplatz für individuelle Lesarten eigenwilliger, überraschender szenischer Interpretationen. So wurde Gyular Molnárs und Lelia Serras Inszenierung „Veillées“, in der Regie der ebenso fan28

„Seppele ou Yoseph et ses frères“, Théâtre Toho Bohu/Gilbert Meyer (FRA). 1991, Foto: Erich Malter

tastischen wie originären Regisseurin Francesa Bettini, für mich zu einem meinen weiteren Theaterweg prägenden künstlerischen Schlüsselerlebnis. Diese tragikomische Liebesgeschichte, angesiedelt in schmerzvollem historischen Kontext, erzählte mit wenigen Objekten – einer Schreibmaschine, einem Tisch, einem Stuhl, zu großen Schuhen, einer weißen Tasse und einer Spur aus Scherben – von all den verlorenen Hoffnungen, den zerbrochenen Illusionen, die ein jedes Leben letztlich begleiten. Das Spiel dieser beiden wunderbaren Darsteller*innen, eher leise, subtil als laut und direkt, fesselte mich auf eine bisher unbekannte Weise.

Nicht nur, dass ich zum ersten Mal ein mich derart überwältigendes théâtre des objets sah, ich fühlte mich auch zum ersten Mal als gleichberechtigte Mitschöpferin eines Theatererlebnisses gesehen.

Das heißt, ich verließ (noch unbewusst) den Schutz des kollektiven Verstehens und Reagierens im Theater und begab mich in den selbstverantworteten Raum der intellektuellen und emotionalen Verbindung mit dem szenischen Geschehen. Noch nicht erkennend, wohl aber ahnend die Einsamkeit und Verletzlichkeit, die dieses andere Sein im Zuschauerraum mit sich bringen würde. Letztlich führte es auch dazu, dass ich begann, eine ganz andere Sicht auf meinen Beruf als Theaterkritikerin zu entwickeln.

Mir scheint, dass die Freiheit, die mir die Maueröffnung brachte, vor allem eine des Theater-Erlebens und -Sehens war (und ist). Und vermutlich schlich sich diese Erkenntnis beim 1991er Erlanger Festivalbesuch unverrückbar in meine Seele. Nur so verdeutlicht sich mir die Rezension, die ich damals in der Zeitschrift Theater der Zeit schrieb, deren Kern sich auf die oben genannten Künstler*innen konzentrierte und versuchte, ihre poetischen, philosophisch-hintergründigen Geschichten zu dechiffrieren.

So ungefähr dieser Gedanke auch sein mag – schaue ich mir Programmhefte der später von mir kuratierten internationalen Festivals an, fällt es mir leicht zu behaupten: In diesen Erlanger Tagen wurde der Grundstein gelegt für meine sich immer selbstbewusster formulierende, andere Wahrnehmung von Theater, erkannte ich doch in dem Theater der Dinge die Chance, dem sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnis zur dinglichen Welt ein künstlerisches Antlitz zu geben. Mir war es wichtig, die Künstler*innen in ihrem szenischen Diskurs mit ebendieser Welt zu unterstützen, indem ich ihnen die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür zur Verfügung stellte.

Und auch dies ist gewiss: Jeder weitere Besuch des Erlanger Figurentheater-Festivals ermöglichte mir Begegnungen mit außergewöhnlichen Inszenierungen und Theatermacher*innen, gab mir, bildlich gesprochen, wertvolle Steine an die Hand, die ich jenem Theater-Haus, an dem ich bis 2015 baute, hinzufügen konnte.

Silvia Brendenal, Theaterwissenschaftlerin und freie Autorin, arbeitete zunächst als Dramaturgin und war dann bis 1992 Redakteurin und Theaterkritikerin bei Theater der Zeit. Von 1992 bis 1997 leitete sie als Direktorin des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst das FIDENA – Figurentheater der Nationen in Bochum. Anschließend war sie bis 2015 Künstlerische Leiterin der Schaubude Berlin sowie mehrerer internationaler Festivals, die sie an der Schaubude und andernorts kuratierte. 2012 wurde sie zum „Chevalier dans l’ordre des Arts et des Lettres“ ernannt. Für das vorliegende Buch haben wir Silvia Brendenal gebeten, aus ihrem Erfahrungsschatz heraus einen Blick zurückzuwerfen, auf das erste „gesamtdeutsche“ Figurentheaterfestival 1991, das zugleich Anlass ihres ersten journalistischen Berichts aus Erlangen war. Viele weitere Besuche des figuren.theater.festivals und noch manche Festivalrezension u. a. für Theater der Zeit oder für das Magazin double sollten folgen.

„Psychogramme einer Revolution“, Kammertheater Neubrandenburg/Joachim Damm (DEU). 1991, Foto: © J. Damm

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„Nachtwandler“, Gyula Molnár und Annette Scheibler (ITA/DEU). 2005, Foto: Georg Pöhlein

„Veillées/Nachtwache“, Teatro Settimo (ITA)/Les Théâtres de Cuisine (FRA)/Gyula Molnár und Lelia Serra. 1991, Foto: Erich Malter

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Schräges in Erlangen Ein Abenteuer auf dem Hoteldach

Gyula Molnár Aus dem Buch, in dem ich alles aufschreibe, ergibt sich, dass mein erster Auftritt in Erlangen auf den 8. Juni 1991 datiert, mit „Veilées“1, einer Aufführung in französischer Sprache.

Diese Erinnerung verknüpft sich sofort mit dem Namen von Silvia Brendenal, die zu den ganz wenigen Zuschauern gehörte, die bis zum Schlussapplaus im Saal blieben.

Etliche Jahre später, im Mai 2001 (die Erlanger Festivals sind in meinem Buch alle im Mai datiert), erzählte ich Silvia Brendenal bei einem Ausflug in die Oberpfalz, wo ich als Schüler einige Jahre im Internat verbrachte, von meinen goliardischen Heldentaten aus dieser Zeit. Besonders gewagt war es, als ich eines Nachts über den Grat des steilen und rutschigen Daches des Klosters Kastl, in dem sich unsere Schule befand, geritten war, um den Wetterhahn mit einem Nachttopf zu krönen. Silvia schien von meiner Geschichte sehr beeindruckt zu sein.

Am selben Abend klopfte sie an die Tür meines Zimmers im Hotelchen, wo wir wohnten. Es handelte sich um einen Notfall. Im Hof stand der berühmte Puppenspieler Neville Tranter am Fuß einer sehr, sehr langen Leiter, die an der Dachtraufe lehnte. Am oberen Ende der Leiter befand sich das Fenster von Silvias Dachbodenzimmer, zu dem sie die Schlüssel verloren hatte. Sie sagte mir: Neville hat den Aufstieg bereits dreimal versucht, schafft aber aufgrund seiner Höhenangst nicht mehr als die Hälfte. Hast du, der du mit dem Dachreiten vertraut bist, Lust, es auszuprobieren? Da oben ist das Fenster angelehnt, es sollte nicht schwierig sein, hineinzukommen und die Tür von innen zu öffnen.

Und tatsächlich, das Fenster war dort oben einigermaßen ausgeklappt, mit schräg geneigten Fensterflügeln. Die Öffnung befand sich oben. Die Aufgabe sah schwierig aus, doch weil ich damals dünn, elastisch und waghalsig war, habe ich sie vollbracht. Noch ein Abenteuer, von dem ich den Enkelkindern erzählen kann, dachte ich mit einem gewissen Stolz.

Der aus Ungarn stammende, seit langer Zeit in Italien lebende Objekttheaterkünstler Gyula Molnár war viele Male zu Gast beim Festival. U. a. 2001 mit „Drei kleine Selbstmorde“, seiner frühen, minimalistischen und inzwischen Kultstatus genießenden Objekt-Inszenierung über ein verachtetes und ausgegrenztes Alka Selzer, die Liebe eines schwedischen Streichholzes zu einer Kaffeebohne und über die Zeit an sich; er warf sich gemeinsam mit Jacques Templeraud in eine objekt-artistische, rüde und zärtliche Version von „Blanche neige/Schneewittchen“; im Solo „Gagarin“ stellte er 1997 auf den Bühnen aller vier beteiligten Festivalstädte mittels ausgesuchter Dinge, zu denen ein Hula-Hoop-Reifen gehörte, irritierende Mutmaßungen über die wahre Reise des ersten Kosmonauten an; er lud in seinen oder vielleicht auch seines Kollegen Carrignon geordnet-chaotisch philosophischen Kopf ein („Unaussprechlich QKWZVA“) und wirkte als Spieler in ­Produktionen des Ensemble Materialtheater mit – z. B. in dem ebenso witzigen wie bewegenden atheistischen Mysterienspiel „­Passion der Schafe“, das 2009 im Nürnberger Festivalprogramm gezeigt wurde. Und dies ist nur eine Auswahl der Inszenierungen, mit denen sich Gyula Molnár in über 20 Jahren, zumeist in Erlangen, in die Herzen der Besucher*innen des ­Figurentheater-Festivals spielte. Inszenierungen, wie „Drei kleine Selbstmorde“ oder „Gagarin“, die ästhetisch und inhaltlich nicht wirklich zu altern scheinen – vielleicht, weil sie sich von Beginn an mit ihrer Mehrdeutigkeit, ihrer künstlerischen Genauigkeit und ihrem ­typisch molnárschen Spielwitz einer zeitgeistigen Kategorisierung entzogen. Wie auch „Veilées“, das ­Molnár 14 Jahre nach der offenbar wenig erbaulichen Zuschauerreaktion von 1991 noch einmal beim Festival zeigte: 2005 in Erlangen, in einer Neufassung unter dem Titel „Nachtwandler“ mit Annette Scheibler vom Ensemble Materialtheater als Partnerin. Für Festivalneulinge ein besonderes Theatererlebnis, für Festivalfans der ­ersten Stunde zusätzlich eine wunderbare Chance, künstlerische Entwicklung in nucleo zu betrachten.

1 Teatro Settimo (Italien), Les Théâtres de Cuisine (Frankreich); Gyula Molnár und Lelia Serra, „Veillées/Nachtwache“ (Anm. Hg.).

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„Romeo und Julia“, The Nesher Puppets (AUT/ISR). 1981, Foto: Johannes C. Lubig

„Paradise now“, Materialtheater Stuttgart (DEU). 1993, Foto: Luigi Consalvo © Materialtheater

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„Antigone“, Schauspiel Frankfurt am Main (DEU). 1999, Foto: Werner Schwenke

„Enveloppes et Déballages“, Vélo Théâtre (FRA). 1991, Foto: Erich Malter

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„Odyssee“, Gioco Vita (ITA). 1985, Fotos: Bernd Böhner

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„Sigmunds Follies“, Cie. Philippe Genty (FRA). 1985, Foto: Bernd Böhner

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„The Pyre/Der Scheiterhaufen“, Gisèle Vienne (FRA). 2015, Fotos: Erich Malter

„Über das Marionettentheater“, Gregor Seyffert&Compagnie (DEU). 1997, Foto: Erich Malter

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„Manto“, Numen Compagnie (DEU/FRA). 2015, Foto: Werner Schwenke

„Orchesterstück“, Freyer Ensemble (DEU). 1999, Foto: Georg Pöhlein

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Programm ieren.

Kuratieren.

Organisieren

Aufgang Festivalbüro. 2015, Foto: Katja Rausch

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Widersprüche am Leben halten Ein Exkurs über performatives Kuratieren

Florian Malzacher Was könnte das bedeuten: „performatives Kuratieren“? Was wäre das Potenzial einer kuratorischen Praxis, die ihre ­Stärken in den Möglichkeiten ihres eigenen Mediums sucht?

Es ist frappierend, wie sehr sich bereits der kuratorische Diskurs in den Bildenden Künsten auf theatrales Vokabular beruft: Harald Szeemann, Prototyp aller gegenwärtigen Kurator:innen, hat seine Arbeit früh mit der eines Theaterregisseurs verglichen; die Kunsttheoretikerin Beatrice von Bismarck begreift Kurator:innen als Dramaturg:innen und das Kuratorische als ein „dynamisches Feld“, in dem alle beteiligten Elemente und Personen – inklusive des Publikums – zusammenkommen. Nimmt man Szeemanns Anliegen, Ausstellungen „zu inszenieren“, ernst, dann zeigt sich eben nicht nur, dass kuratorische Konzepte gerne (und oft unbewusst) Anleihen beim Handwerk des Theaters, der Performance und der Choreografie machen. Es stellt sich vor allem die Frage: Wie könnten sie noch mehr von theatralen Praktiken profitieren, indem sie deren Strategien und Techniken bewusst integrieren und Kuratieren selbst als performative Praxis verstehen?

Rückgewinnung von Terrain Durch ein Festival kann man gehen wie durch eine Landschaft.

Manches ist zufällig, manches ist sinnfällig. Verweilen oder weiterziehen, intuitiv erfassen oder intellektuell wenden. Das Ausdehnen, Verkürzen, Unterbrechen, Variieren von Zeit – als Spiel mit körperlicher und geistiger Ausdauer, Erschöpfung, Langeweile, Enthusiasmus – erzeugt eine andere Wahrnehmung, ebenso wie räumliche Komplexität oder Verdichtung.

Anders als in einer Inszenierung wird kaum ein Zuschauer solchen Dramaturgien als Ganzes folgen, und doch sind sie spürbar. Der Blick auf den Bogen einer Programmierung ist Teil des Versuchs einer Rückgewinnung von Terrain für das Theater als Kunstform. Ablauf, Tempowechsel, Intensitätswechsel, Blickwechsel. Die Erfindung spezifischer Dramaturgien oder das Spiel mit den Möglichkeiten und Grenzen von Erzählungen oder Partituren sind weitere Optionen, ebenso wie die Konfrontation von Werken, die auf den ersten Blick

vielleicht nicht kompatibel sind, um durch ihre Reibung Spannung und Offenheit zu erzeugen. Die Liste ließe sich fortsetzen, die Möglichkeiten sind vielfältig – aber immer ­bedeutet ein performatives Verständnis des Kuratierens, den Fokus auf das Hier und Jetzt zu legen. Im besten Fall schafft es eine temporäre, partikulare, poröse Realität, die auf viele andere Realitäten verweist und so ermöglicht, Kunstwerke zwar nicht als autonome Einheiten, aber doch mit ihrem eigenen Recht, ihrem eigenen Leben – in Beziehung zu anderen – zu erfahren. Über Zusammenhänge definieren Dabei spielen Kontexte eine besondere Rolle: Verbindungen zwischen Künstler:innen, Kunstwerken, Zuschauenden, Kulturen, sozialen und politischen Realitäten, Parallelwelten, Diskursen, Institutionen. Nicht zufällig sind Kurator:innen in der Bildenden Kunst zu einer Zeit in Erscheinung getreten, als Kunstwerke ohne Kontext oft nicht mehr funktionierten, nicht mehr funktionieren wollten. Als sie im Gegenteil begannen, sich eben gerade über ihre Zusammenhänge zu definieren, sich selbst zu suchen oder gar zu kreieren und die sie umgebenden Institutionen kritisch zu hinterfragen. Als die Idee des autonomen Werkes und des auratischen Autors verschwand zugunsten einer Kunst, die ohne Relation nicht mehr zu verstehen war. Nicht nur die Menge an Information über die und aus der Welt, auch die Komplexität der Kunst war exponentiell gewachsen – und die Menge der Kunst, die produziert wurde. Kurator:innen waren sowohl eine der Ursachen als auch eines der Resultate dieser Entwicklung.

Gute kuratorische Arbeit wäre also, das Kunstwerk in seiner Eigensinnigkeit zu bestärken, und es dennoch nicht für unantastbar zu halten. Wie nah darf der Rahmen an die Arbeit rücken, wie eng das eine neben das andere gestellt werden, wie aufgeladen das Drumherum sein: Das sind zentrale Auseinandersetzungen zwischen Künstler:innen und Kurator:innen in jeder Ausstellung – sie gelten auch für die Programmierung eines Festivals oder eines Hauses. Kontexte können künstlerischen Arbeiten eine bessere Rezeption ermöglichen, sie aber auch entmündigen. Doch sind Theater- und Tanzaufführungen keine Bilder, transportable Artefakte oder zumindest klar definierte Installationen. Sie 41

sind fast immer aufwendiger, personell, räumlich, zeitlich, finanziell. Zusätzlich verlangt eine Aufführung in aller Regel die ungeteilte Aufmerksamkeit der Rezipient:innen für eine von den Künstler:innen festgelegte Dauer. Die Reihenfolge also, in der Besucher:innen den Arbeiten eines Festivals folgen können, ist von ihnen nur minimal und seltener noch spontan beeinflussbar. Selbst wenn die Programmierung (viel zu selten) sich der Aufgabe stellt, die gezeigten Werke in Bezug zu setzen, sie als gegenseitige Kommentare oder Ergänzungen zu betrachten, sie zu verweben mit Ausstellungen, Theorie, Musik, kann bestenfalls beim Lesen eines Programmhefts, also nur auf dem Papier, das Ganze als Ganzes verstanden werden.

Aber nicht nur die Schwerfälligkeit und Zeitintensität des Mediums, auch jahrhundertelange Programmpragmatik, die mehr mit Besetzungsmöglichkeiten, Vorstellungsdauer und vermeintlicher Verpflichtung zu einer gewissen Breite des Angebots zu tun hat als mit ästhetischen Fragestellungen, hat verhindert, dass das Publikum, die Kritik und auch die meisten Programmmacher:innen einen Blick für Zusammenhänge ausbilden konnten.

Kontexte des Lokalen Kaum eine Ausstellung hat die organisatorische Komplexität und Unberechenbarkeit eines Festivals. Theater wird als soziale Kunstform immer ein anderes Verhältnis zu Pragmatik und Kompromiss haben, es wird mehr Zeit und Raum brauchen und damit an Wendigkeit anderen Genres unterlegen sein. Das mag in einer Ära der Geschwindigkeit und Ortlosigkeit ein Marktnachteil sein, wie es zu anderen Zeiten ein Vorteil war. Doch so mühsam und vergleichsweise gering die Kontextualisierungsmöglichkeiten innerhalb eines Festivals oder eines zu Knoten verdichteten Spielplans sind, so effektiv können sie sein. Das Nicht-Kontrollieren-Können ist eine Herausforderung, der man sich produktiv stellen muss, denn das Nicht-Kontrollieren-Wollen schafft nur Langeweile.

Mehr als in anderen Künsten spielt dabei auch der Kontext des Lokalen eine Rolle: Selbst ein an avancierten Theaterformen interessiertes Publikum ist weit weniger als seine Pendants in Kunst, Film oder Musik über das aktuelle künstlerische Gesamtfeld informiert; es reist weniger und seine Kunstwerke sind schwerer verfügbar beziehungsweise nicht in Katalogen reproduzierbar. In aller Regel (von ein paar Großstädten weltweit abgesehen) definiert also ein einzelnes Haus, ein einzelnes Festival den Horizont des Publikums (und lokaler professioneller Kritik). Das Terrain ihrer Beurteilung wird dabei paradoxerweise von der kuratierenden Person selbst gesteckt – es gibt nur die Kunst, die sie 42

zeigt. So werden internationale Arbeiten zwangsläufig lokalisiert und in Bezug gesetzt zu dem, was bekannt ist. The state of the art ist in jeder Stadt ein anderer. Dadurch haben lokale Programmmacher:innen einen denkwürdig großen Einfluss, sie stellen die Arbeiten nicht nur in einen vorhandenen Diskurs, mehr als in anderen Künsten kreieren sie ihn für ihr Umfeld selbst (bestenfalls in Diskrepanz zu ihren Vorgängern). Dabei spielt die Geschichte des jeweiligen ­ ­Hauses oder Festivals eine Rolle, natürlich das Niveau der lokalen performativen Künstler:innenszene (falls überhaupt nennenswert vorhanden), der Entwicklungsstand der angrenzenden Künste in der Stadt – und die spezifische Struktur, Offenheit und Bildung regionaler Publika.

Das Theater ist der Raum, in dem die Gesellschaften ihre eigenen Mittel, Verfahren, Ideale und Grenzen erforschen. Es ist, wie Hannah Arendt sagt, „die politische Kunst par excellence; nur auf ihm, im lebendigen Verlauf der Vorführung, kann die politische Sphäre menschlichen Lebens überhaupt so weit transfiguriert werden, dass sie sich der Kunst eignet“1. Doch was bedeutet das – in einer Zeit, in der sich vermeintliche politische Gewissheiten auflösen und unsere Demokratien permanent bedroht sind – für die kuratorische Praxis? Für mich ist hier seit Langem das Konzept des agonistischen Pluralismus der politischen Theoretikerin Chantal Mouffe sehr hilfreich: Agonistischer Pluralismus beschreibt Demokratie als ein Kampffeld, auf dem wir die Gelegenheit haben müssen, unsere Differenzen als Gegner auszuagieren, ohne sie beizulegen. Diese Forderung ist nicht leicht zu verdauen, denn sie widerspricht nicht nur jeder Hoffnung auf Demokratie als umfassenden safe space, sie geht auch über das Modell „Konkurrenz belebt das Geschäft“ weit hinaus: „Die Gegner bekämpfen sich – sogar erbittert –, aber sie halten sich dabei an einen gemeinsamen Regelkanon. Ihre Standpunkte werden, obwohl letzten Endes unversöhnlich, als legitime Perspektiven akzeptiert.“2 Nur wenn wir dazu bereit sind, können wir einen Antagonismus verhindern, der allem Verhandeln und Verstehen ein Ende setzt und dessen letzte Konsequenz (realer oder zumindest symbolischer) Bürgerkrieg ist. „Als Hauptaufgabe der Demokratie könnte man die Umwandlung des Antagonismus in Agonismus ansehen.“3 Denn Demokratie muss immer neu erstritten und ausgehandelt werden, sie lebt von Konflikt und Parteinahme.

Fragen der Machtstrukturen Welche Meinungen halten wir aus, welchen wollen wir den Raum verweigern? Welche Konflikte kann das Theater abbilden, zu welchen sollte es schweigen? In einer Zeit, in der

einerseits George W. Bushs Diktum „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ auf allen Seiten des politischen Spektrums eine erstaunliche Renaissance erlebt, andererseits die Logik des Konsenses noch immer viele demokratische Diskussionen einschläfert, können Theater und Festivals Räume sein, in denen ein spielerischer (aber ernsthafter) Agonismus Widersprüche nicht nur am Leben hält, sondern vor allem erlaubt, sie frei zu artikulieren. Kunst, nicht im, sondern als öffentlicher Raum – um eine Formulierung der Kunsttheoretikerin Miwon Kwon zu verwenden. Schließlich ist es kein Zufall, dass Mouffes Konzept seinen Namen den antiken Turnieren in Sport und Kultur entlehnt hat. Agon, so heißt auch der Wettstreit der Argumente in der griechischen Tragödie.

Dabei lässt sich nicht übersehen, dass auch in diesem Feld „westliche“ Grenzregime – in Hinblick auf Traditionen, Ästhetiken, Kriterien aber auch konkrete Künstler:innen – noch immer dominieren: Mehr als in den Bildenden Künsten definieren sie weiterhin die meisten theatralen und kuratorischen Visionen und schränken sie ein. Kuratieren ist immer auch eine Frage von Machtstrukturen, hegemonialen Diskursen und Hierarchien. Aber es sind eben auch kuratorische Eingriffe, die es ermöglichen, solche Beschränkungen entweder zu überschreiten oder zumindest sichtbar zu machen. In dieser Hinsicht ist das Auftreten von Kurator:innen im Bereich der Live-Künste auch eine Reaktion auf die falsche Scheu, mit der sich viele Programmmacher:innen hinter den von ihnen produzierten oder präsentierten Werken verstecken – als ob es nicht eine Reihe von Kriterien gäbe, wie unsichtbar oder unbewusst auch immer. Als ob nicht bei jeder Entscheidung Abneigungen, Pragmatismus, Ökonomie, Politik, verinnerlichte koloniale Prägungen usw. eine Rolle spielten. Kuratorische Diskurse über die eigenen Funktionsweisen und Bedingungen lassen solche Machtstrukturen natürlich nicht verschwinden. Aber sie machen sie diskutierbar, zu einem Thema für Kritik und Veränderung.

Vereinfacht lässt sich vielleicht sagen, dass derzeit drei Diskursverschiebungen in der Gesellschaft, aber auch in der Kunst dominant sind: Fragen des Postkolonialismus beziehungsweise der Dekolonisierung. Die heißen Debatten um Identitäts- und Erinnerungspolitiken. Die sich längst spürbar vollziehende Klimakatastrophe. Alle drei Themenfelder sind nicht voneinander trennbar – und alle drei spielen beim Kuratieren derzeit fundamentale Rollen; zu glauben, sich ihnen entziehen zu können, wäre eine Illusion, wie nicht nur ein Blick auf die Auseinandersetzung um die documenta ­fifteen in Kassel zeigt.

Solche Fragen tauchen notwendigerweise am deutlichsten im Bereich sozial und politisch engagierter Kunst auf, die

in den vergangenen zehn Jahren fundamental an Bedeutung gewonnen hat. Wo Politik und Ethik ihr so nahekommen, wird die Notwendigkeit, Kunst in all ihren Aspekten des Produzierens und Zeigens politisch zu begreifen, unübersehbar. Und lenkt zwangsläufig den Blick auch auf die Institutionen, die wir erben, übernehmen, schaffen, verändern.

Dass sich das Konzept des Kuratierens nicht von Fragen der Institutionskritik oder des neuen Institutionalismus trennen lässt, zeigt sich auch an der immer lauter werdenden Forderung nach anderen – beispielsweise kollektiven – Leitungsmodellen in Theatern und Festivals. Die Freie Theaterlandschaft ist ohnehin längst geprägt von sehr unterschiedlichen Konstellationen des Zusammenarbeitens, die sich nicht in einzelne Protagonist:innen und Jobprofile auseinanderdividieren lassen. Dazu kommen zahlreiche Regieduos und -trios, die gleichberechtigte Arbeitsmodelle erproben und den Unterschied zwischen produzierenden und reproduzierenden Künstler*innen verwischen. Langsam und meist ohne ideologische Aufladung wird so die romantische Idee des genialischen Künstler:innensubjekts von kollektiveren Zusammenarbeitsmodellen abgelöst.

All dies im Gepäck haben Ansätze eines performativen Kuratierens das Potenzial, sehr unterschiedliche Erfahrungsräume für spezifische temporäre Gemeinschaften zu eröffnen. Was zur Verhandlung steht, sind die Spielregeln des Gesellschaftsspiels Theater gemeinsam mit allen Beteiligten – von den Künstler:innen über die Zuschauer:innen bis hin zu Programmmacher:innen. Das Gespenst der Überkurator:in, die dreist aus Kunstwerken anderer ihr eigenes schafft, braucht man in den performativen Künsten nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Eher fehlt es am Mut, überhaupt Bedeutung zu stiften – und das meist nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Furcht vor der Aufgabe.

Florian Malzacher ist Kurator, Autor und Dramaturg. Nach Abschluss des Studiums der Angewandten Theaterwissenschaft an der Universität ­Gießen arbeitete er zunächst als freier Theaterkritiker und Kulturjournalist. Er war u. a. Künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festivals in Düsseldorf, Köln und Mülheim/Ruhr 2013–2017, Leitender Dramaturg/Kurator des multidisziplinären Festivals steirischer herbst in Graz/Österreich 2006–2012 sowie 2018–2020 kuratorischer Berater der Ruhrtriennale. Seit 2021 ist er Gastgeber von The Art of Assembly, einer Serie von Vorträgen und Gesprächen über das Potenzial von Versammlungen in Kunst, Aktivismus und Politik.

Malzacher ist Herausgeber und Autor zahlreicher Bücher und Essays zu Theater und Performance sowie zum Verhältnis von Kunst und Politik.

1 Hannah Arendt: Vita Activa oder vom tätigen Leben, München 1967, S. 233f.

2 Chantal Mouffe. Über das Politische. Wider die kosmopolitische ­Illusion, Frankfurt am Main 2007, S. 30.

3 Ebd.

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Risiko: Das Salz unseres Lebens Von Festivalmenüs und einer kurzen Inszenierungskarriere

Isabelle Kessler Auch 28 Jahre nach der Aufführung erinnere ich mich sehr genau an meine Überraschung, meine Ungläubigkeit und die tief empfundene Freude, die ich beim Lesen der Einladung zur Teilnahme am Erlanger Figurentheater-Festival verspürte. Für mich war es eine große Ehre, mit meinem Stück „Briefe an die Toten“ Teil des sehr erlesenen und professionellen Erlanger Festivals sein zu dürfen. Doch zugleich war es diese Art von Einladung, die man erst annimmt, nachdem man sich fünfmal vergewissert hat, dass auch ja kein Faden aus der Naht guckt – verbunden mit einem Lampenfieber, das größer ist als der eigene Bauch.

Ich reagierte aus mehreren Gründen verunsichert. Zum einen wäre das von mir gesprochene Deutsch zu nennen, das man als „verschroben“ bezeichnen könnte. Selbst in einer hervorragenden Übersetzung blieb der Text lang und anspruchsvoll, und mit meinem starken französischen Akzent vorgetragen, erforderte er vom Publikum ein überaus konzentriertes Zuhören, die Bereitschaft, sich 60 Minuten sehr anzustrengen.

Zweitens konnte man die Inszenierung keinesfalls als Puppenspiel bezeichnen: Keine Puppe trat auf, nicht einmal als flüchtige Erscheinung. Das Tüpfelchen auf dem i: Dias gaben die „Figuren“ vor, projiziert auf mobile Bildschirme, alle mechanisch bewegt. Also nichts, was man als Animation bezeichnen könnte. War das Theater? Eher nicht, denn es agierte nur eine nicht identifizierte Frau, die Geschichten aus der Historie des 20. Jahrhunderts erzählte, umgeben von einem Chaos aus Objekten. Oder Requisiten? Oder doch Objekten? War das Objekttheater?

Diese Inszenierung stieß somit deutlich an die Grenzen eines internationalen Figurentheaterfestivals.

Aber gerade in Deutschland habe ich die Qualität der Vielfalt bei Festivals erlebt. Ein guter Kuchen besteht aus verschiedenen Zutaten, die zusammenhalten. Doch manch44

mal fallen sie auseinander. Ist das ein Grund, das Rezept zu verdammen?

Wir alle wissen, dass die Zusammenstellung eines Menüs genauso wichtig ist wie die Speisen selbst. Und um in der Allegorie des Essens zu bleiben: Die wichtigste Funktion der Kunst ist es, uns zu ernähren, nicht uns zu erfreuen. Wir können eine Verdauungsstörung, Sodbrennen oder sogar Magenschmerzen überleben, aber wir sollten nicht verhungern, weder körperlich noch intellektuell, geistig oder emotional. Mit anderen Worten: besser eine schlechte Inszenierung als gar keine. Ich habe einiges auf der Bühne gesehen, das ich in dem Moment gehasst, eine Woche später jedoch geliebt habe. Manches davon ist mir über Jahrzehnte im Gedächtnis geblieben.

Festivals werden vom Publikum, von den professionellen Veranstalter*innen und von den Künstler*innen ge­ braucht. Die Festivals wiederum brauchen Publikum, ­professionelle Veranstalter*innen und Künstler*innen. Wenn ein Teil des Trios fehlt, kommt das Dreirad nicht sehr weit. In Europa habe ich das Fehlen des Publikums mehr als einmal erlebt. In den USA dagegen mangelt es oft an der Beziehung der Kunstschaffenden untereinander, was Anregungen und Herausforderungen zunichte macht. Und der Ausfall von professionellen Multiplikatoren lässt Künstler*innen in der engen Sackgasse des Amateurdaseins stecken ­bleiben.

Ein Festival ist ein Kunstwerk: keine Kunst ohne Recherche, keine Recherche ohne Fehler. In unserer auf Sicherheit bedachten Gesellschaft scheint es immer seltener möglich, Risiken einzugehen. Dabei ist Risiko das Salz unseres Lebens. Danke an alle Festivalleiter*innen und Kurator*innen, die Risiken eingegangen sind und noch eingehen.

Danke auch an das Publikum, das ebenfalls Risiken eingeht.

Ich bedanke mich jedoch nicht bei den Macher*innen, denn es ist ihre Aufgabe, das Risiko der Schöpfung an seine – momentane – Grenze zu treiben.

„Briefe an die Toten. ‚Warum das Leben erdulden?‘“, Cie. Phénomène Tsé-Tsé/Isabelle Kessler (FRA). 1995, Foto: Georg Pöhlein

Ich vermute, es war Gert Engel, der damalige Manager der Compagnie Phénomène Tsé-Tsé, der die Inszenierung „Briefe an die Toten“ dem Festivalteam in Erlangen vorgeschlagen hat. Und wer auch immer dort die Entscheidung getroffen hat, er ging das Risiko ein, eine unbekannte Künstlerin mit einer unbekannten Show von einer unbekannten Compagnie einzuladen. Mein einziger Kontakt nach der Aufführung fand statt, als ein sehr vornehmer Herr, von der Festivalleitung, wie man mir sagte, hinter die Bühne kam, um mir zu gratulieren und zu danken. Ich befand mich im Vakuum der Nachaufführung und verstand ihn nicht, aber bis zum heutigen Tag, dem 4. Oktober 2023, kann ich seine Hand auf meinem Arm und das Gefühl, das sie vermittelte, spüren.

Wir haben nach dieser Aufführung keine weiteren Einladungen erhalten, und so war das Erlanger Gastspiel das Ende der kurzen deutschen Karriere der Inszenierung. „Briefe an die Toten“ wurde sieben Mal aufgeführt, hauptsächlich auf Festivals, doch ich bereue den enormen Aufwand nicht, den wir betrieben haben, um dieses Ergebnis zu erreichen. Würde ich es wieder tun, für dasselbe Ergebnis?

Ja, ohne zu zögern.

Die Gründerin der Compagnie Phénomène Tsé-Tsé, die Französin I­sabelle Kessler, ist Objekttheaterkünstlerin, Schauspielerin, Regisseurin, sie lebt seit vielen Jahren in den USA. Mit „Briefe an die Toten“ zeigte sie 1995 beim Internationalen Figurentheater-Festival in Erlangen eine Arbeit, die nicht nur inhaltlich Bezug nimmt auf Kriege des 20. Jahrhunderts in Europa, sondern auch über die Darstellungsmittel: Briefe an Soldaten, die ihre Empfänger nie erreichten, Fotos aus Archiven und Familienalben erzählen in berührenden Text-Bild-Objekt-Collagen von der Absurdität und Grausamkeit des Krieges. Ein Stück, das bis zur heutigen bedrohlichen Situation mit Kriegen an verschiedensten Fronten an Aktualität leider nichts verloren hat. Aber auch in ihrer ästhetischen Offenheit, ihrem dramaturgischen Wagemut bewies diese Inszenierung mit der „kurzen deutschen Karriere“ große Wirksamkeit und Weitsicht, nahm einige Entwicklungen dessen, was man später als Verflüssigung von Genregrenzen bezeichnete, voraus. Jacques Templeraud, der in derselben Festivalausgabe den „Preis für Innovation“ erhielt, war als Regisseur an der Arbeit beteiligt, ebenso der Bildende Künstler Philippe Lefebvre/Flop, dessen aktuelle eigene Licht-Objekt-Installationen einen Resonanzraum zwischen Ausstellung und Performance eröffnen. Übersetzung aus dem Amerikanischen und Nachbemerkung: Anke Meyer

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Visual Theatre, Schubladen und das Publikum Wege, um ins Genre einzutauchen

Mascha Erbelding spricht mit Frank Soehnle über Figuren und Festivals Ich treffe Frank Soehnle Ende 2022 in einer Videokonferenz, während er in Frankreich einen Workshop gibt.

Soehnle war mit dem figuren theater tübingen mehrfach in Erlangen, Nürnberg und Fürth eingeladen und hat auch als Regisseur von Hochschulprojekten Studierende aus Stuttgart auf dem Festival begleitet.

Mascha Erbelding: Wann warst du erstmals auf dem Figurentheater-Festival in Erlangen?

Frank Soehnle: Da ich am Studiengang Figurentheater in Stuttgart studiert habe, bin ich von Anfang an auf die Festivals gegangen. Das waren immer Ereignisse, denen man schon entgegengefiebert hat. Ich erinnere mich, dass, als ich eingetreten bin in diese Festivalsphäre, Eric Bass und Neville Tranter ganz, ganz große Namen waren. Und die standen damals für einen neuen Zugriff auf das Figurentheater, Eric Bass mit seiner inhaltlichen Ausrichtung und Neville Tranter auch formal. Ich glaube, es war damals, Anfang der achtziger Jahre, durchaus mutig, Neville Tranter einzuladen.

Natürlich hat sich seitdem vieles geändert, jetzt kennt man ja seine Theatersprache, und sie ist fast zu einem Standard geworden. Aber zu der Zeit hat man seine künstlerische Ausdrucksweise eher als anarchistisch wahrgenommen.

Und würdest du sagen, es war auch mutig oder experimentell, dich einzuladen?

Ich war in Erlangen und Fürth das erste Mal mit „Nachtgesichter“ zu Gast. Das war damals wahrscheinlich formal eine Ohrfeige für einen großen Teil des Publikums. Sie waren nicht gewohnt, dass jemand so schroff und so extrem rhythmisch mit Theaterbildern umgeht. Die Rückmeldungen nach 46

dem Auftritt gingen jedenfalls in die Richtung, dass man so etwas nicht zeigen könne. Was interessant war: Über Festivals entstehen ja Kontakte und Einladungen in andere Länder, und das generiert letztlich auch eine Akzeptanz in Deutschland. Ich weiß noch, ich war sehr beeindruckt von dem damaligen Leiter des Festivals in Jerusalem, der das Stück einladen wollte und sehr begeistert nach der Vorstellung hinter die Bühne kam. Und ich fragte mich, ob ich das eigentlich will, ob ich mich traue, so ein Stück in Jerusalem zu zeigen. In „Nachtgesichter“ geht es um den französischen Juden Max Jacob, der zum Christentum konvertiert war und dann in einem französischen KZ umkam. Und das spiele ich als Deutscher in Jerusalem!? Aber es hat hervorragend funktioniert, der Festivalleiter kannte offensichtlich sein Publikum sehr gut. Und irgendwann hatte das Stück auch hier in Deutschland Erfolg. Aber ich glaube, dieser Umweg über das Ausland, der war klassisch.

Gibt es in deiner Wahrnehmung das berühmte „Festivalkarussell“ mit immer den gleichen Produktionen?

Ja und nein. Das hängt stark von den Personen ab, die die Festivals machen. Es entstehen da Verbindungen zu Menschen, die eine künstlerische Auswahl treffen und sich entscheiden, bestimmten Entwicklungen zu folgen. Und dann gibt es Festivalmacher*innen, die einfach jede Sparte bedienen möchten, und die an der künstlerischen Entwicklung Einzelner gar nicht so interessiert sind. Kolleg*innen, die einen Stil gefunden haben, der für sie stimmt, in dem sie variieren können, treffen auf Festivalveranstalter*innen, die sagen: Oh ja, das wollen wir jetzt immer haben, das kaufen wir immer ein. Ich nenne das den Mint-Geschmack, der in jedem Festival vertreten sein muss. Ich selbst zum Beispiel werde, obwohl ich in meinen Inszenierungen sehr unterschiedliche Mittel einsetze, gern als Marionettenvirtuose eingeladen, auch mit Stücken ohne Marionetten. Das ist dann

lustig für mich, weil ich merke, ich habe jetzt diesen Platz ein für alle Mal besetzt. Auf der anderen Seite ist das aber dem Publikum gegenüber nicht ehrlich, denn es handelt sich um eine künstlerische Arbeit, in der, wie in meinem Fall, dieses Mittel mal viel, mal wenig, mal gar nicht benutzt wird. Am Anfang habe ich mich darüber geärgert, dass ich als „­ Marionettenonkel“ eingeladen werde. Aber mittlerweile denke ich, das liegt in der Verantwortung der jeweiligen ­Festivalorganisation.

Empfindest du die Konzepte der Festivalmacher*innen auch manchmal als Korsett, in dem du dann in eine Abfolge mit Produktionen rutschst, die sehr wenig mit deiner Arbeit zu tun haben?

Generell schätze ich die Vielfalt im Figurentheater, die mir auch als Zuschauer so gut gefällt, die ist immens wichtig.

Aber wer da jetzt direkt vor oder nach mir spielt – das weiß ich als Veranstalter eines eigenen Festivals –, ergibt sich oft aus organisatorischen Notwendigkeiten, das kann man gar nicht so genau steuern.

Was ich vom Draufschauen aus der Ferne in Erlangen/ Fürth/Nürnberg spannend finde, ist, dass sich das Festival in Erlangen selbst diesen Avantgardecharakter erhalten hat, aber zum Beispiel die Stadt Fürth Formate für Menschen zeigt, die nicht von Anfang an Fans eines avantgardistischen Figurentheaters waren, und ihnen auf diese Weise einen Einstieg in das Genre ermöglicht. Denn meine Beobachtung ist, dass ein kleiner Teil des Publikums herausfordernde, neue Formate fantastisch findet, der größere Teil aber erst einmal davor zurückschreckt. Und ich glaube, das hängt damit zusammen, dass der Einstieg fehlt. Dass ein Bühnengeschehen möglicherweise nicht in seiner Essenz wahrgenommen wird, weil eine Art Seherfahrung fehlt. Dass es Wege braucht, um in das Genre einzutauchen und um dann auch die avantgardistischeren Formen schätzen zu können.

Darin liegt, glaube ich, das Problem jedes Festivals: Wie experimentell wird man? Und wie schaffen wir es, dass das Publikum da noch mitgeht?

Mir fällt dabei ein Gespräch ein, das ich mit Helen Lannaghan vom Mime Festival in London geführt habe. Das hat sich aus einem Pantomime-Festival in den 1970er und 1980er Jahren zu einer tollen Mischung aus Visual Theatre, Zirkus und eben auch Figurentheater entwickelt. Helen interessiert sich sehr für Figurentheater und überlegte damals, ein spezielles Figurentheaterfestival in London zu gründen.

Ich hatte bereits zwei Mal auf dem Mime Festival gespielt und es sehr genossen, dort auch Gruppen und Menschen

kennenzulernen, denen ich in anderen Festivalzusammenhängen nicht begegne. Deshalb habe ich zu ihr gesagt: Für mich als Figurenspieler ist es so toll, in diesem VisualTheatre-Kontext wahrgenommen zu werden und auch die Kolleg*innen zu sehen. Ich fände es schade, wenn sie jetzt ein Extra-Figurentheaterfestival installieren würde und ­Figurentheater wäre beim Mime Festival nicht mehr dabei.

Da hat sie mich sehr erstaunt angeschaut, und ich dachte: Oh Gott, jetzt hast du womöglich ein Figurentheaterfestival in London verhindert! Aber ein paar Jahre später sagte sie mir, es sei eine gute Entscheidung gewesen, das Figurentheaterfestival nicht zu gründen.

Wenn man sich Erlangen anschaut, könnte man sagen, es kommt vom Figurentheater, hat sich aber auch zu einem Bild-Material-Theatersprachen-Festival entwickelt.

Diese Frage würde ich gern vertiefen, denn das ist ja viel diskutiert worden: Will man eine eigene Sparte ­bleiben und als diese mehr Beachtung finden? Oder will man einfach „gutes Theater“ machen und als Darstellende Künstler*innen wahrgenommen werden und die entsprechenden Arbeitsmöglichkeiten haben? Mein Eindruck ist, viele jüngere Spieler*innen möchten genau das, und dieses Label „Figurentheater“ ist ihnen nicht so wichtig. Ich bin da unentschlossen, denn ich sitze ja in einem Museum mit einer Puppentheatersammlung. Was fürs Genre gut ist? Mir fällt es schwer, eine Antwort zu finden. Vielleicht hat man zu intensiv mit anderen Kunstformen geflirtet, um von deren Renommee zu profitieren, und läuft nun Gefahr, das Spezifische des Figurentheaters zu verlieren?

Da möchte ich an meinen Kommentar zum Festivalprogramm in Fürth anknüpfen: Mich persönlich interessiert am Figurentheater die Verbindung von Bildender und Darstellender Kunst. Nutzen Inszenierungen das Potenzial gestalteter und animierter Theaterfiguren nicht, schwindet schnell mein Interesse. Aber das ist das Schöne an Nürnberg, Fürth und Erlangen: Ich kann mir die „klassische Moderne des Figurentheaters“ ansehen, wie Neville Tranter, Eric Bass oder Philippe Genty, und zugleich ganz neue Positionen, Fragestellungen und Experimente erleben, bei Vorstellungen, die sich durchaus in Grenzbereichen zu verschiedenen anderen Künsten bewegen können.

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„Nachtgesichter“, figuren theater tübingen/Frank Soehnle (DEU). 1993, Foto: Manuela Seeber © Theater

Mascha Erbelding, studierte Dramaturgin, ist Leiterin der Sammlung Puppentheater/Schaustellerei des Münchner Stadtmuseums sowie künstlerische und organisatorische Leiterin des Internationalen Figurentheaterfestivals „Wunder.“ und des Festivals „Kuckuck“ für Kinder von 0 bis 5 Jahren. Sie gehört der Redaktion des double-Magazins für Puppen-, Figuen- und Objekttheater an.

Frank Soehnle zählt zu den international gefragtesten deutschen Figurentheaterspielern und -regisseuren. Er war 1987 einer der ersten Absolventen des Studiengangs Figurentheater an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Das von ihm gegründete figuren theater tübingen widmet sich der Entwicklung eines Visuellen Theaters mit der bildnerisch gestalteten Theaterfigur im Zentrum. Soehnle gastiert weltweit

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mit Solo- und Ensembleproduktionen, die sich oft als visuelle Gedichte auf der Schwelle zwischen Bildender und Darstellender Kunst bewegen, die Kontexte sind literarischer, persönlicher oder politischer Art. So bei „­Kinder der Bestie“, gemeinsam mit dem israelischen Schauspieler Yehuda ­Almagor entwickelt und in Erlangen 2001 gezeigt, oder den in den neunziger Jahren ebenfalls zum Figurentheater-Festival eingeladenen Inszenierungen „Nachtgesichter“, „Flamingo Bar“, „Rothschilds Geige“. Inter­­ nationale Kooperationen, Regiearbeiten für andere Theater und Lehrveranstaltungen an verschiedenen Hochschulen ergänzen die eigene Theaterarbeit. Soehnles europaweite Regiearbeiten erforschen das Verhältnis von Spieler*in und Theaterfigur und setzen visuelle Akzente in modernes und klassisches Textmaterial. Oftmals verlässt er sich auf die Magie der Figur und entwickelt ein Theater, das ohne gesprochenes Wort auskommt.

Sachbearbeiter*in Kultur Vom Glück, meinen Beruf nicht mit einem Satz erklären zu können

Annika Gloystein Wenn mich jemand fragt, was ich beruflich mache, dann merke ich immer wieder, dass es nicht mit einem Wort oder einem Halbsatz beantwortet ist. Nenne ich meinen Arbeitgeber, die Stadt Erlangen, oder die Organisationseinheit, das Kulturamt, beziehungsweise die Abteilung Festivals und Programme als Arbeitsplatz, dann ist klar, wo ich arbeite, aber nicht, was ich dort mache. Spreche ich von „Festivalarbeit“ oder „Festivalorganisation“, kommt nicht selten die Nachfrage, ob es sich dabei um Musikfestivals handele.

Dann nenne ich die Titel unserer Festivals: internationales figuren.theater.festival Erlangen, Internationaler ComicSalon Erlangen und Erlanger Poet*innenfest. Ich erkläre, dass wir – ein Team von acht Festangestellten – im Mai/Juni jeden Jahres das figuren.theater.festival und den ComicSalon alternierend veranstalten und jährlich Ende August das Poet*innenfest. Also zwei Festivals pro Jahr, in enger Abfolge, mit wenig Zeit für die Nachbereitung des vergangenen und die Vorbereitung des kommenden Festivals.

Nach dem Festival ist vor dem Festival Wenn andere Kulturinstitutionen in die Sommerpause gehen, dann arbeiten wir unter Hochdruck am Programm unseres Literaturfestivals. Wenn andere erholt mit uns die Planungen des nächstjährigen Festivals angehen wollen, dann machen wir Urlaub und bauen Überstunden ab.

Auch wenn gerade ein Festival im Fokus steht, sind die anderen jederzeit präsent. Da arbeiten wir zum Beispiel am Lesungsprogramm vom Poet*innenfest und parallel gilt es, die Übernahme einer großen Comic-Ausstellung zu besprechen, und eine Figurentheater-Compagnie fragt nach Koproduktionsmöglichkeiten. Bei aller zeitlichen Nähe: Inhaltliche Überschneidungen existiert zwischen den Festivals kaum.

Natürlich zeigen wir auch ab und an performative Formate beim Comic-Salon oder veranstalten eine Comic-Lesung beim

Poet*innenfest. Die bedeutendste Publikumsüber­ schnei­ dung existiert wohl zwischen Literatur- und Theaterfestival. Als wir während des Poet*innenfests 2021 Figurentheater-Produktionen gezeigt haben (weil wir zum Festivaltermin nur kontaktlos/digital stattfinden konnten und versprochen hatten, über das Jahr verteilt möglichst viel vom geplanten Programm nachzuholen), gab es Publikum, das sich gefreut hat, dass „die vom figuren.theater.festival auch was zum Poet*innenfest beitragen“.

Kontinuität Kaum zu glauben ob der unterschiedlichen Genres, aber es sind dieselben Personen mit der inhaltlichen und organisatorischen Vorbereitung dieser drei Festivals beschäftigt. Die daraus resultierende inhaltliche Vielfalt ist persönlich sehr bereichernd. Man bleibt flexibel im Kopf. Gleichzeitig ist es auch herausfordernd: Wenn wir einem Genre aus zeitlichen Gründen nicht kontinuierlich unsere volle Aufmerksamkeit schenken können, wie schaffen wir es dann trotzdem, die jeweiligen künstlerischen Entwicklungen ausreichend wahrzunehmen?

Wir haben das Glück, je nach Festival, mit tollen Literaturkritiker*innen und Ausstellungskurator*innen zusammenarbeiten zu können. Menschen, die uns inhaltlich beraten.

Dennoch ist es unser Anspruch, dass wir das Programm machen. Im Team bestehen individuelle Vorlieben – die jeweiligen Lieblingsfestivals sind recht fair verteilt – und somit sind unterschiedliche Gewichtungen in der Beobachtung der drei Szenen möglich. Vielleicht liegt es auch an den damit verbundenen spannenden Arbeitsprozessen, dass unsere Abteilung eine hohe personelle Kontinuität aufweist, einige Kolleg*innen sind über 20 Jahre dabei, die Fluktuation ist gering. Natürlich vergrößert sich unser Team, je näher die Festivals rücken, mit befristet Beschäftigten, mit Praktikant*innen und vielen anderen Menschen, die das Durchführen der Veranstaltungen erst möglich machen. Auch hier gibt es einen über die Jahre gewachsenen Stamm an Freien, die 49

immer wieder mitarbeiten – mal bei allen Festivals, mal bei nur dem einen alle zwei Jahre. Unser Kernteam bleibt währenddessen weitestgehend stabil. Wir wissen, was wir aneinander haben. Uns verbindet ein Kunst- und Theaterverständnis, das auf einer gemeinsamen Grundlage basiert: Fast alle aus unserem Team haben, wenn auch zu sehr unterschiedlichen Zeiten – wir sind zwischen Jahrgang 1992 und 1968 –, Theaterwissenschaft in Erlangen studiert. Früher oder später kommt man dabei in Kontakt mit den Festivals. Während meines Studiums habe ich mit einem Uniseminar (geleitet von André Studt) am Jungen Forum des figuren.theater.festivals 2009 teilgenommen. Daraus entstand der Wunsch, bei diesem Festival ein Praktikum zu machen.

Programm und Organisation Seit meinem 2011 tatsächlich absolvierten halbjährigen Praktikum im Kulturprojektbüro (wie die heutige Abteilung bis 2013 hieß) ist Festivalorganisation das, was ich machen möchte.

Die Aufgaben sind so vielseitig: kuratieren, redaktionell arbeiten, Inhalte auf die Website einpflegen, sich ums Ticketing kümmern, Schulworkshops organisieren, Presseanfragen bearbeiten und vieles mehr. In unseren E-Mail-Signaturen und auch auf unseren Visitenkarten führen wir die Bezeichnung „Programm und Organisation“. Das beschreibt einigermaßen, was wir tun: Wir entwickeln gemeinsam das Programm und setzen dies um – ohne eine „künstlerische Leitung“ oder die personelle Trennung von inhaltlicher und organisatorischer Planung. Der Festivalleiter arbeitet zusammen mit dem Team auf Augenhöhe am Programm. Wir haben ein besonderes Verhältnis zur Organisation, weil wir unser Programm realisieren. Und es liegt auf der Hand, dass es bei der Umsetzung vieles einfacher macht, sich inhaltlich auszukennen.

Beim figuren.theater.festival hat jede*r von uns Kontakte zu Compagnien, die über die Jahre gewachsen sind. Beim Zusammenstellen des Programms gilt es, eine Balance zwischen dem Begleiten bekannter Gruppen und der Entdeckung neuer zu schaffen. Der Weg von einer großen ExcelDatei, in der alle Infos zu interessanten Produktionen gesammelt werden, bis hin zur Programmauswahl ist immer wieder aufs Neue faszinierend, selbst wenn man den Prozess seit Jahren kennt. Begleitet wird er von viel Recherche: Wir schauen uns Produktionen auf anderen Theaterfestivals und Videoaufnahmen an, tauschen uns intensiv im Team aus und fragen sämtliche Konditionen bei den Gruppen ab.

Der Zauber des Kuratierens kollidiert zuweilen mit der harten Realität von zeitlichen Verfügbarkeiten, finanziellen Konditionen und technischen Anforderungen. Selbst wenn wir von einer Produktion künstlerisch überzeugt sind, kann ein Gast50

spiel trotzdem an so vielem noch scheitern. Es ist eine Puzzle­arbeit, mit dem Anspruch, ein Ganzes zu kreieren, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Welches Statement setzt man mit diesem Programm? Wird das, was mich berührt hat, auch die Zuschauer*innen berühren?

Verbindung(en) Wir versuchen, mit den Festivals Möglichkeitsräume zu schaffen: eine Pause vom Alltag, künstlerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, einen Ort für gesellschaftliche Debatten, für Begegnungen (mit sich, alten oder neuen Bekannten, Ängsten und Sehnsüchten), zugleich eine Plattform des Austauschs, ein Art Klassentreffen der jeweiligen Szene. Wenn die eigene Arbeit den Menschen – Publikum wie Künstler*innen – eine gute Zeit bereitet und dabei neue Verbindungen entstehen, sei es im Kopf, zwischen Besucher*innen, Künstler*innen und Fachbesucher*innen oder indem neue Kooperationen angestoßen werden, dann ist ein Festival für mich gelungen.

Es ist ein großes Privileg, Künstler*innen über Jahre begleiten zu dürfen und die Entwicklung ihrer Arbeit verfolgen zu können. Am deutlichsten wird das beim Jungen Forum: Zu Beginn des Studiums sind Figurentheater-Studierende mit den „Manifesten“ zu Gast, zwei Jahre später mit den „­Szenenstudien“, dann mit der Bachelor-Abschlussproduktion und irgendwann als freischaffende Künstler*innen.

Bei all der Arbeitsbelastung, die Festivalorganisation mit sich bringt, hilft es, sich ins Bewusstsein zu rufen, wie sehr das jeweilige Festival und damit unsere Arbeit in der betreffenden Szene geschätzt wird. Was es den Künstler*innen bedeutet, nach Erlangen eingeladen zu werden. Wie sich das Publikum auf die Veranstaltungen freut. Genau diese Rückmeldungen geben Energie und erklären, warum wir uns diesem Ausnahmezustand „Festival“ immer wieder aufs Neue aussetzen. Wenn das Publikum nach der Aufführung den Künstler*innen applaudiert, fühle ich mich als Teil des Festivalteams mitgemeint. Übrigens: Wenn mich jemand fragt, was ich beruflich mache, erwähne ich jedenfalls nie die Bezeichnung, die in meinem Arbeitsvertrag steht: Sachbearbeiterin Kultur.

Annika Gloystein studierte Theater- und Medienwissenschaft sowie ­Germanistik (B. A.) und Theater- und Medienwissenschaft (M. A.) an der FAU Erlangen-Nürnberg. Sie gehört der Redaktion des double – Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater an. Seit 2013 ist Annika Gloystein Teil des Programm- und Organisationsteams des Erlanger Kulturamts.

Neben dem Abteilungsleiter Bodo Birk sind die weiteren Festangestellten (Stand 01/2025): Christine Auernheimer, Jana Dupke, Volker Holzmann, Katja Rausch, Sina Schroeder, Kristina Schott, Anna Zumbrunnen (in ­Elternzeit, vertreten durch Sarah Stumpe).

Ästhetische Übereinstimmung, strukturelle Unterschiede Festivalleiter*innen im Gespräch

Ergänzend zum Gespräch über die Entstehung des ­Festivalnetzwerks folgt hier ein Gespräch mit den heutigen Festivalleiter*innen über die gegenwärtigen Herausforderungen im Prozess des gemeinsamen Kuratierens. Dafür fanden sich im Herbst 2022 Michael Bader (Direktor ­KunstKulturQuartier Nürnberg), Bodo Birk (Abteilungsleiter Festivals und Programme/Kulturamt Erlangen) Sandra ­ ­Hoffmann-Rivero (Leiterin Kulturamt Schwabach) und Gerti Köhn (Leiterin Kulturamt Fürth) zu einem Online-Austausch zusammen. Sie alle fungieren aktuell in ihrer Stadt als ­Festivalleitung beim internationalen figuren.theater.festival.

Moderiert wurde das Gespräch von Eveline Gfeller, Künstlerische Leiterin des Internationalen Theaterfestivals animierter Formen Figura in Baden/Schweiz.

Eveline Gfeller: Die Städte Erlangen, Fürth, Nürnberg und Schwabach veranstalten alle zwei Jahre gemeinsam ein großes Figurentheater-Festival. Wie kommt das Programm zustande?

Voraussetzungen nicht einladen kann, und bin dann sehr froh, wenn diese beispielsweise in Erlangen zu sehen ist.

Wir sind also teilweise darauf angewiesen, dass wir bestimmte Additive zusammenstellen. Auf der anderen Seite unternehmen wir zumindest den Versuch, jeder Stadt eine eigene Festivalfarbe zu geben, die sich unter Umständen in Nuancen ausdrücken kann.

Beeinflussen gesellschaftliche Kontexte jeweils die Programmgestaltung?

Gerti Köhn: In den letzten Jahren haben wir häufig ein gemeinsames Thema gesucht, das in allen vier Städten aufscheinen kann. Zuletzt waren es die Veränderungen in der Gesellschaft, die durch Digitalität entstehen. Für das nächste Festival sind wir auf der Suche nach Produktionen aus dem globalen Süden, um aus dieser eurozentrischen Sicht rauszukommen. Aber natürlich werden wir auch andere Inszenierungen zeigen, die gut in das Profil einer der beteiligten Städte passen.

Bodo Birk: Im Grunde sind es vier programmatisch unabhängige Festivals in vier unterschiedlichen Städten unter einem gemeinsamen Dach. Wir haben jedoch den Anspruch, dass das Festival als kuratorisches Ganzes wahrgenommen wird.

Die Zusammenarbeit geht also über reinen Pragmatismus hinaus. Es gehört zum Konzept, dass einige Produktionen in mehreren Städten zu sehen sind, aber ebenso, dass es Produktionen gibt, die nur in einzelnen Städten laufen. So kommt das Publikum in Bewegung, weil die vier Städte sehr nah beieinander liegen. Wir sind folglich nicht gezwungen, uns in allen Fällen einig zu sein.

BB: Wir haben in den letzten Jahren zwar immer den Anspruch verfolgt, einen Schwerpunkt zu setzen, aber wir hatten und haben kein übergeordnetes Festivalthema, dem sich alles unterordnen muss. In der Regel ergeben sich aus aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen gewisse Fragestellungen, die man im Programm verstärken möchte, oder ein Thema, dem man besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen will. Dies kennzeichnen wir dann bewusst im Vorwort oder indem wir beispielsweise ausgewählte Inszenierungen als Reihe labeln.

Michael Bader: Auch der finanzielle Aspekt spielt eine Rolle bei der Programmierung, denn nicht jede Stadt hat die gleichen Möglichkeiten. Ich würde in Nürnberg gern so manche Produktion zeigen, die ich aber aufgrund der wirtschaftlichen

Ich stelle es mir als ziemliche Herausforderung vor, bei einem gemeinsamen Programm als Stadt das eigene künstlerische Profil beizubehalten und auch weiterzuentwickeln.

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BB: Zurzeit ist eine große ästhetische Übereinstimmung vorhanden, was unsere Vorstellung von zeitgenössischem Figurentheater anbelangt. Die personelle Kontinuität in der Arbeit der Programmkommission ist dabei sehr hilfreich. Ich glaube stark an diesen Austausch im gemeinsamen Kuratieren und denke, dass die Unterschiedlichkeit der Städte und der differenzierte Blick der einzelnen Veranstalter die Entwicklung unseres gemeinsamen Festival-Projekts eher vorantreiben, anstatt sich als hinderlich zu erweisen.

Sandra Hoffmann-Rivero: Wir sind als kleinster Partner einerseits aus Tradition mit dabei, andererseits aber eben auch, weil wir genau von diesem Austausch profitieren. Tatsächlich haben wir in Schwabach keine Theaterräume. Vor meiner Zeit wurde versucht, sich vor allem im Bereich Papiertheater zu etablieren, da es sich um kleine Formate handelt, die wir in unseren Räumen gut zeigen können.

Inzwischen haben wir uns etwas von diesem Format entfernt und zeigen auch größere Produktionen, darunter viele aus der Region. An diesem regionalen Schwerpunkt möchten wir künftig festhalten, ergänzt um überregionale und internationale Produktionen, die die Vielfalt des Figurentheaters präsentieren beziehungsweise auf ein interessantes, gesellschaftlich relevantes Thema Bezug nehmen.

MB: Schwabach mit seiner eigenständigen Schwerpunktsetzung erachte ich in unserer Konstellation als Glücksfall und Bereicherung für das ganze Festival. Bei uns in Nürnberg ist eine Uraffinität zu Tanz und Tanztheater vorhanden. Es gelingt uns aber nur selten, diese im Festival zu bedienen.

Ursächlich geht es da tatsächlich ums Geld. Man darf nicht vergessen, dass wir städtische Häuser vertreten und im Dienste der Stadt berufene Veranstalter sind. Wir haben weniger Möglichkeiten, uns auf dem freien Drittmittelmarkt zu bewegen, als vielleicht ein privater Veranstalter.

Wir müssen meines Erachtens aber nicht unbedingt nach profilschärfenden Maßnahmen oder übergeordneten Themen suchen. Auch der Schwerpunkt Digitalität beim Festival 2021 entstand ja nicht dadurch, dass wir eine gesellschaftliche Entwicklung abbilden wollten, sondern als Reaktion auf die aktuelle Pandemielage. Uns interessiert, was die Künstlerinnen und Künstler im Bereich des Figuren- und Objekttheaters aktuell produzieren, welche Themen sie in ihren Inszenierungen verhandeln, und allein dadurch sind gesellschaftliche Einflüsse bereits wirksam.

BB: Wir zieren uns wohl alle bewusst ein wenig, die jeweiligen Profile auszuformulieren – denn dann entstehen schnell 52

Schubladen. Bei uns in Erlangen stehen die Kontakte zur experimentellen Figurentheater- und Performanceszene im Vordergrund. Erlangen hat zudem den Vorteil, dass hier das Junge Forum stattfindet, in das viele Studierende der Hochschulen aus Stuttgart, Berlin und Erlangen eingebunden sind. Dadurch ist es für uns zum einen leichter, diskursive Begleitveranstaltungen durchzuführen, zum anderen können wir uns aufgrund der Publikumszusammensetzung vermehrt an Experimente wagen. Aber ich stimme Michael zu, dass uns diese Profile nicht so wichtig sind, die muss man nicht unbedingt sehen und erkennen können.

Es spielen also auch andere Faktoren in die Programmgestaltung hinein?

GK: Es sind eher die Strukturen, die in den jeweiligen Städten berücksichtigt werden. Wir begrüßen es, wenn das Publikum unterwegs sein kann und in den Städten nicht überall das Gleiche zu sehen ist. Fürth hat zum Beispiel eine lebendige Kunstszene und eine gut frequentierte Fußgängerzone.

Kooperationen mit der Szene vor Ort und die Bespielung des öffentlichen Raumes könnten hier künftig die Vorstellungen im Kulturforum und im Stadttheater ergänzen.

Unterscheidet sich das Zielpublikum in den einzelnen Städten?

BB: Ja, das Publikum in unseren Städten ist natürlich unterschiedlich geprägt. Das hat ebenso mit dem Profil der einzelnen Spielstätten wie auch damit zu tun, dass zum Beispiel Erlangen eine Universitätsstadt mit vielen Studierenden ist.

Die Einwohnerschaft wechselt hier im Schnitt alle zehn Jahre fast vollständig. In Fürth gibt es ein viel stärkeres Bürgertum, welches sich offenkundig mit dem Kulturangebot der Stadt identifiziert. Und Nürnberg ist eine richtige Großstadt mit der ganzen Palette an Angeboten und mit den vielen Menschen, die man mit Kultur noch nicht erreicht hat.

Bedienen Sie bewusst die Publikumserwartungen an das Programm?

BB: Nein, ich glaube nicht. Aber dieser Aspekt ist uns nicht egal. Wir haben ein Publikum, welches die Entwicklung von bestimmten Compagnien verfolgen möchte und darauf gespannt ist, was als Nächstes von ihnen kommen wird. Das hat sich in den letzten Jahren verstärkt, weil wir als Festival auch Karrieren von Künstler*innen begleiten. Und dazu gehören eine gewisse Kontinuität und Treue in der Zusam-

menarbeit. Wir verpflichten uns daher in manchen Fällen, Einladungen bereits in der Probenphase einer Produktion auszusprechen, und beteiligen uns in bescheidenem Maße auch finanziell daran ...

MB: Ich halte es prinzipiell für legitim, auch mal eine Produktion einzuladen, von der man nicht unbedingt überzeugt ist, in der Annahme, dass sie für das Publikum trotzdem interessant wäre. Das Figurentheater-Festival ist ja in erster Linie ein Publikumsfestival.

BB: Dabei wollen wir jedoch weder dem Publikumsgeschmack hinterherlaufen noch Erwartungshaltungen befriedigen. Andererseits ist es eine große Qualität, dass wir ein Publikum haben, das überhaupt eine Erwartungshaltung formuliert!

Welche Chancen und Risiken bietet die Zusammenarbeit der vier Städte?

GK: Die große Chance ist, dass in die gemeinsame Programmgestaltung unterschiedliche Perspektiven und ­ Expertisen eingebracht werden können. Ein in Zusammenarbeit kuratiertes Programm braucht allerdings auch viel Zeit. Deshalb sind wir mit der Veröffentlichung des Programms oft später dran als geplant. Aber letztendlich steigert es die Qualität des Festivals, dass wir uns genau diese Zeit nehmen. Und Risiken gehen wir mit jeder neuen Festivalausgabe bewusst ein, wir wollen ja frisch und experimentell ­bleiben.

SHR: Wir profitieren von der Fachkompetenz und den Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen, die uns ein Stück weit in einem Bereich mittragen, zu dem wir in Schwabach ansonsten keine Bezugspunkte haben.

MB: Wenn überhaupt ein Risiko der Zusammenarbeit genannt werden kann, dann, dass wir uns mittlerweile vielleicht zu gut kennen und es nicht mehr knallt. Und vielleicht bräuchte es tatsächlich mal einen Umbruch, neue Blicke und Ansätze.

gen nicht die Partnerstädte überlagert. Denn damit man als gemeinsames Festival wahrgenommen wird, braucht es ein gewisses Gleichgewicht der beteiligten Städte. Zu Michaels Hinweis: Vielleicht ist es tatsächlich ein bisschen langweilig, wenn man sich so lange und so gut kennt. Aber: Die Festivalkooperation funktioniert ja nicht zuletzt deswegen, weil ein gemeinsames Arbeitsverständnis vorherrscht und es untereinander keine Konkurrenz gibt.

MB: Ich würde meine vorherige Aussage gerne zurechtrücken: Ich mag kreative Auseinandersetzungen, wo man mit Themen und Fragestellungen konfrontiert wird, auf die man selbst nicht kommen würde. Dass wir uns so gut verstehen, wie wir uns verstehen, ist natürlich nur gut.

Michael Bader, Theaterwissenschaftler und Journalist, gründete und führte bis 1997 gemeinsam mit der Tänzerin und Choreografin Jutta Czurda das freie Tanztheaterensemble Czurda Tanztheater. Daneben ­ ­arbeitete er u. a. als Musikdramaturg. Ab 1998 leitete er die Tafelhalle und ab 2008 weitere Nürnberger Veranstaltungshäuser und Festivals. Seit 2018 ist Bader Direktor des KunstKulturQuartiers der Stadt Nürnberg, seit 2019 verantwortet er das Nürnberger Programm des internationalen figuren.theater.festivals.

Bodo Birk, siehe S. 24 Die Theaterwissenschaftlerin, Journalistin und Kulturmanagerin Eveline Gfeller ist Künstlerische Leiterin des Figura Theaterfestivals in Baden/ Schweiz. Sie war von 2001 bis 2010 Co-Leiterin des Fabriktheaters Rote Fabrik Zürich. Daneben war sie als freie Theaterkritikerin tätig und bis 2016 Leitende Redakteurin der Figurentheaterzeitschrift figura (UNIMA Suisse).

Sandra Hoffmann-Rivero studierte Literaturwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen und ist seit 2012 Leiterin des Kulturamts Schwabach. In dieser Funktion verantwortet sie auch diverse Festivals, neben dem Schwabacher ­Programm des figuren.theater.festivals u. a. die Schwabacher Kunstbiennale ortung.

Die Theater-, Literatur- und Politikwissenschaftlerin Gerti Köhn arbeitete als künstlerische Betriebsdirektorin, Kuratorin und Programmleiterin an verschiedenen Kultureinrichtungen wie dem Theater Erlangen, dem Kulturinstitut der Stadt Braunschweig sowie den Kulturreferaten in Erlangen und Nürnberg. Ab 2006 war sie Programmkoordinatorin und Dramaturgin an der Tafelhalle Nürnberg, ehe sie im Juni 2019 als Kulturamtsleiterin nach Fürth wechselte.

BB: In Erlangen haben wir hinsichtlich des Festivals personell und finanziell den größten Spielraum im Städtegroßraum, auch wenn es absurderweise unsere Stadt war, die beinahe das Figurentheater-Festival abgeschafft hätte. In der Öffentlichkeits- und Pressearbeit für das FigurentheaterFestival müssen wir besonders darauf achten, dass Erlan53

Freiheit und Treue Oder: Interferenzen künstlerischer Ausdrucksmittel

Nicole Mossoux und Patrick Bonté beantworten Fragen von Silvia Brendenal Die belgische Compagnie Mossoux-Bonté gehört zu den Ensembles, die mit zahlreichen künstlerischen Produktionen in Erlangen, Fürth oder Nürnberg zu sehen waren. Auf meine Frage an Karl Manfred Fischer, damals Künstlerischer Leiter des Erlanger Festivals, warum er die Compagnie so häufig eingeladen hatte, antwortete er: „Wir finden es wichtig, daß wir Gruppen, von deren Arbeit wir überzeugt sind, immer wieder und über einen längeren Zeitraum Auftrittsmöglichkeiten bieten, um die künstlerischen Auseinandersetzungen, Erprobungen und Prozesse dieser Gruppen mitzutragen und für das Publikum nachvollziehbar zu machen“ (Das andere Theater, 3/1999). Zum Publikum gehörte auch ich und ich entdeckte in den szenischen Arbeiten von Mossoux-Bonté eine Theatersprache, die mich damals wie heute faszinierte.

Es wäre vereinfacht, von Bildertheater zu sprechen, wenngleich auf der Bühne großartige Bilder entstanden, angesiedelt im Tanztheater, in dem Théâtre du mouvement, dem Schauspiel, letztlich auch dem Puppentheater. Bilder, die einen ganz originären Blick auf Theater beziehungsweise Welt warfen, die sich jeglicher Kategorisierung verweigerten.

Dazu, wo sie selbst ihre Idee von Theater im Kontext des figuren.theater.festivals verorten, schickte ich im Sommer 2022 Fragen an Nicole ­Mossoux und Patrick Bonté. Sie antworteten per E-Mail.

Dass die Cie Mossoux-Bonté mit ihren Produktionen mehrfach nach Erlangen, Nürnberg und Fürth eingeladen wurde, belegt, dass es eine große künstlerische Nähe zwischen eurem Verständnis von Theater und dem, was sich in den Programmen der Festivals widerspiegelte, geben muss. Tatsächlich definierte und definiert beispielsweise das Erlanger Festival den Begriff Figurentheater breit gefächert, schließt in die Definition sowohl das Puppen-, Objekt- oder Bildertheater, selbst Multimediaprojekte ein. Wie ordnet ihr eure Arbeit in dieses breite Spektrum ein?

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Deutsch ist die einzige Sprache, die diese hybriden Formen, denen wir uns zugehörig fühlen, so treffend benennt: ­Figuren-Theater. Wir haben uns dafür entschieden, unter dem Begriff Theater-Tanz zu firmieren. Wir verorten uns allerdings eher an der Schnittstelle zwischen diesen beiden Darstellenden Künsten – so wie der Bindestrich, mit dem wir sie verbinden. Da der eine von uns vom Theater und die andere vom Tanz kommt, pendeln wir unaufhörlich zwischen zwei künstlerischen Arbeits- und Sichtweisen hin und her und achten darauf, nie das eine dem anderen zu opfern: Die Geste ist die Trägerin des Sinns, der Bedeutung. Selbst wenn diese manchmal dechiffriert werden muss, das Spiel wird immer von einer Form getragen.

Letztlich findet in unseren Inszenierungen eine Kombination unterschiedlicher künstlerischer Ausdrucksformen statt, sind Interferenzen zwischen Bild und Ton, Material und Dramaturgie, Schauspiel und Bewegung gewollt.

Was unserer Meinung nach den Reichtum des Programms dieses internationalen Festivals an vier sehr unterschiedlichen Orten ausmacht, ist die Vielfalt der Genres und Ästhetiken. Das Publikum kann Aufführungen vor einem ­traditionellen Castelet ebenso anschauen wie den zeitgenössischen Entwurf eines Romeo Castellucci. Es ist diese atypische, von Moden und Mainstream unberührte Festivalkonzeption, die uns gefällt und in die wir uns gern einfügen.

Und dass wir so oft nach Erlangen eingeladen wurden, war beruhigend für uns. Diese Aufmerksamkeit hatte etwas Ermutigendes! Vor allem, weil sie in der Beziehung, die wir mit der Künstlerischen Leitung des Festivals und in dem schöpferischen Austausch, den wir mit dem Publikum hatten, unglaublich viel Sinn ergab.

Patricks Arbeit als Direktor des Festivals Brigittines in Brüssel ist dem Prinzip der Treue und Freiheit in der Programmierung – wie von den Erlangern praktiziert – sehr ähnlich. Auch unter diesem Blickwinkel war das FigurentheaterFestival für uns ein ideales und dynamisches ­Beispiel.

Nicole, war deine Affinität zum Spiel mit dem Material, mit der Figur, eigentlich a priori vorhanden und hat sie

sich durch die Begegnungen mit dem Theater der Dinge verstärkt?

Die animierte Figur hat sich auf beinahe unmerkliche Weise in unsere Arbeit geschlichen. Es passierte wie eine Selbstverständlichkeit. Nachdem wir während der Probenarbeit von den Darstellern verlangt hatten, Distanz zu halten zu ihren Emotionen, hinter diese zurückzutreten, bar jeglicher Expressivität zu agieren, ergab es sich zwangsläufig, dass wir eines Tages mit der Puppe experimentierten, die ihrem Wesen nach ohne Bindungen ist, frei von Affekten und Gefühlen. Wie überrascht war ich, als ich feststellte, dass man der Puppe letztlich, um eine annähernd gleiche Präsenz von Darsteller und Puppe zu erreichen, einen psychologischen Hintergrund verleihen muss, dass man ihre Intentionen durch den Blick verdeutlichen und die unter­schiedlichen Rhythmen überhöhen muss – in etwa das genaue Gegenteil der Spielweise des Schauspielers an ihrer Seite. Ich glaube, „Twin Houses“ ist im Grunde genommen eine Inszenierung über die Puppe, hinterfragt deren Wesen.

Später haben wir auf Festivals, zu denen wir eingeladen wurden, viele Aufführungen mit animierten Figuren gesehen.

Die erste, die wir wirklich überwältigend fanden, war „­Snuffhouse Dusthouse“ der englischen Compagnie Faulty Optic, später sahen wir Ilka Schönbein und so viele andere, die alle hier zu nennen schwierig wäre.

Ich erinnere mich, dass die Inszenierung „Twin Houses“, von mir in Erlangen gesehen, nicht nur ein sensationeller Erfolg war, sondern auch wesentliche Impulse setzte in der künstlerischen Auseinandersetzung über die Interaktion zwischen dem menschlichen Körper und dem Körper der Puppe. Wie hast du die Reaktionen auf deine Aufführung in Erlangen erlebt?

Wir werden nie den Abend mit Karl Manfred Fischer und Lisa Puyplat nach der ersten Vorstellung von „Twin Houses“ vergessen. Karl Manfred wurde nicht müde, unsere Gläser mit dem guten Rotwein aus der Region zu füllen, und Yves Degen, unser Manager, wankte schließlich doppelt beschwingt zurück ins Hotel. Denn wir waren so glücklich.

Darüber, dass die Aufführung von der Puppen-Welt, die wir gerade kennengelernt hatten, akzeptiert, gar wertgeschätzt wurde. Wir trafen auf jeden Fall auf eine Gesellschaft von wirklich großzügigen Menschen, die nicht im Geringsten eifersüchtig ihre Kunst hütete, sondern im Gegenteil neugierig darauf war, andere Ausdrucksmöglichkeiten des Theaters zu entdecken.

Anlass genug für uns, bis heute engen Kontakt zu den Puppenspieler ausbildenden Hochschulen in Stuttgart und Charleville zu halten, um gemeinsam mit der neuen Darstellergeneration die Verbindung zwischen der Präsenz des Schauspielers und der der animierten Figur auf der Szene permanent zu hinterfragen. Ohne ein Modell entwerfen zu wollen, sondern vielmehr aus dem Ehrgeiz heraus, mitzuwirken an der Entwicklung weiterer theatralischer Grenzüberschreitungen.

Ich habe eure szenischen Arbeiten in Erlangen immer mit großer Neugier erwartet, wissend, dass ich „großem Theater“ begegnen würde. Nicht nur, weil ihr oft mit einem großen Ensemble gearbeitet habt, wie beispielsweise in „Noli me tangere“, sondern auch – und das vor allem – weil jede eurer Aufführungen die Zuschauer*innen mit einem Blick auf Welt konfrontierte, der sowohl ästhetisch als auch unter philosophischen Aspekten eine Herausforderung war.

Unsere Absicht ist, Seinszustände und Handlungen zu thematisieren, die, wenn auch nur mittelbar, auf eine in sich selbst zurückgezogene Persönlichkeit verweisen, die nicht „wahr“, sondern „anders“ ist, und die die Entfremdung in unserer Gegenwart veranschaulichen. Diese Absicht dient allein der Erforschung des Geheimen, des Verborgenen, des Intimen, ist angesiedelt in den Sphären des Zweifels und der Fantasie. Dadurch werden die Zuschauenden mit Facetten aus dem Bereich des Nicht-Formulierbaren, des Undefinierten und des Unbewussten konfrontiert – was natürlich verunsichernd wirken kann. Aber all die geheimen Welten sind in jedem Zuschauer und jeder Zuschauerin vorhanden und wir ermöglichen ihnen, diese wahrzunehmen beziehungsweise auf das zu projizieren, was sie auf der Bühne sehen. Übersetzung aus dem Französischen und Einleitung: Silvia Brendenal, siehe S. 29

Nach ihrer Tanzausbildung an der Schule Maurice Béjarts in Brüssel schuf Nicole Mossoux ab 1978 zunächst eigene Solostücke. Patrick Bonté studierte Philosophie, Literatur und Dramaturgie, schrieb dann Texte für Theater, Film und Hörfunk und inszenierte u. a. in Brüssel und in Québec.

Nach ihrer Begegnung entwickelten Nicole Mossoux und Patrick Bonté 1985 mit „Juste Ciel“ die erste gemeinsame Choreografie, Ausgangspunkt ihrer bis heute andauernden, fruchtbaren Zusammenarbeit als Compagnie Mossoux-Bonté. Beim figuren.theater.festival 2023 war in der ­Nürnberger Tafelhalle ihre große Ensemblearbeit „Les Arrière-Mondes“ zu sehen, eine Art fantastische und zugleich formstrenge Groteske des ­Alltäglichen.

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v. o. n. u.: „Light“, Cie. Mossoux-Bonté (BEL). 2003; „Twin Houses“, Cie. Mossoux-Bonté. 2011, beide Fotos: Erich Malter; „Noli me tangere“, Cie Mossoux-Bonté. 2007, Foto: Georg Pöhlein

„Miroku Densho“, Dondoro Theater (JPN). 2001, Foto: Georg Pöhlein

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„Sonja“, Alvis Hermanis/Jaunais Rigas Theater (LVA). 2009, Foto: Werner Schwenke

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„Gagarin“, Gyula Molnár (ITA). 1997, Foto: Erich Malter

„Oma Roma oder die Geschichte der Signora Mongiolino“, Kasoka (DEU). 2003, Foto: Erich Malter

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„A distances“, Jean-Pierre Larroche (FRA). 2003, Foto: Erich Malter

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„Schattenwerfer“, Tangram Kollektiv (DEU/FRA). 2023, Foto: Erich Malter

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„Visual Poetry“, Akhe/Pavel Semchenko (RUS) zu Gast beim Erlanger Poet*innenfest 2022, Foto: Erich Malter

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Grenzen­ u ausloten

„The Artificial Nature Project“, Mette Ingvartsen (DNK). 2013, Foto: Erich Malter

„Pulling Strings“, Eva Meyer-Keller (DEU). 2013, Foto: Erich Malter

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Nie gesehen, bodenlos, undenkbar, riskant, erschöpfend Grenzüberschreitende Figurentheater-Erlebnisse

Meike Wagner Figurentheater ist nichts für schwache Nerven. Puppen sind unheimlich, beunruhigend, provozierend, übergriffig, exzessiv und vor allen Dingen: Sie stellen meine sorgfältig aufgeräumte und gemütlich eingerichtete Existenz geradewegs infrage. Man sollte also wissen, womit man es zu tun hat, wenn man ihnen die Tür öffnet ins eigene Leben …

Das Internationale Figurentheater-Festival ist für mich immer der Ort, an dem ich die Grenzüberschreitungen der Puppe, des Objekts, des Materials aufsuche, aushalte und, ja, auch sehr genieße. Im Rückblick auf unsere gemeinsame ­Festivalgeschichte sind mir auffällig viele Produktionen der 2013er-Edition im Gedächtnis geblieben. War das ein besonderes Festivaljahr? War das Programm in jenem Jahr besonders provokant, besonders grenzüberschreitend?

Waren die Figurentheater-Künstler*innen zu dieser Zeit mehr als sonst darauf aus, das abgesteckte Feld zu sprengen, mich mitzunehmen über die Schwelle in die Entlegenheit, ins Außer-mir, ins Offene?

2013 habe ich eine Studierenden-Exkursion nach Erlangen begleitet und konnte mir bei dieser Gelegenheit viel Zeit für Aufführungsbesuche nehmen. Dadurch behielt ich ein facettenreiches Festival im Gedächtnis. Es ist ja nie möglich, alles zu sehen in diesem unglaublichen Kosmos der Produktionen, aber die von mir erinnerten Theaterereignisse sind so verschiedenartig, dass sie ein Bild von der immensen Vielgestaltigkeit des Erlanger Figurentheater-Festivals abgeben.1 Und in ihrer Verschiedenheit hatten diese Erlebnisse dennoch eines gemeinsam: Auf die eine oder andere Art haben sie mich aus meiner Komfortzone hinauskatapultiert, lieb gewonnene Sehgewohnheiten und Zuschauhaltungen weggefegt, Erwartungen suspendiert und mich emotional aufgewühlt.

Wenn die Rede von „grenzüberschreitenden“ Theatererlebnissen ist, dann stellt sich natürlich die Frage, in wel-

chem Sinne hier überhaupt von „Grenze“ und „überschreiten“ gesprochen wird. Ich habe bereits oben beschrieben, dass es um eine Art von Verunsicherung auf der Zuschauer*innenseite geht. Und das hat sehr viel mit eingespielten Verhältnissen zu tun. Wenn nun die Grenzen dieser Verhältnisse verschoben, verwischt oder überschritten ­ werden, dann entsteht ebenjene produktive „Krise“ der ästhetischen Erfahrung, die mit Angst und Lust durchlebt werden will. Dabei handelt es sich gar nicht einmal um die „­wuchtigsten“ Performances und Stücke des Festivals (wie etwa die Bild- und Materialschlachten von Akhe, z. B. „Monochrom“, 2015, „Between Two“, 2017, oder die sensorisch überwältigenden Tanzperformances von Gisèle Vienne, z. B. „The Pyre“, 2015), sondern eher um diejenigen, bei denen eine solche Intensität des Erlebens vorher eher nicht zu erwarten war. Einige der von mir 2013 erlebten Figurentheater-Produktionen lassen sich grob ­ einteilen in die folgenden Kategorien einer Grenzüberschreitung: Explosion von Spielformen (das nie Gesehene), Bespielen der Metaebenen (das Bodenlose), Verunklarung von Daseinsformen (das Undenkbare), riskante Begegnungen (das Beängstigende) mit erschöpfender Wirkung.

Nie gesehen Schon von Anfang an hat sich das Erlanger FigurentheaterFestival auf die Fahnen geschrieben, die Grenzen des Genres Figurentheater zu befragen und im Zweifel auch aufzudehnen, zu verschieben. Ein avantgardistisches Versprechen von Innovation und Provokation stand über der kuratorischen Konzeption des Programms. Das heißt nicht, dass nicht auch hochinteressante Figurentheater-Inszenierungen in eher klassischem Gewand ihren Platz finden, aber die Signatur des Festivals ist doch durch neue Formen, neue Ästhetiken und Crossover der Genres zwischen Theater und Performance geprägt.

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Die Objekt-Performances von Eva Meyer-Keller, die bisher sechsmal beim Figurentheater-Festival gastierte, gehören in diese Kategorie. Bereits 2009 hatte sie mit „Death is Certain“ in Erlangen Furore gemacht. Ihre sachliche und systematische „Ermordung“ von Kirschen spielte mit der ganzen Bandbreite unseres cineastischen und ikonografischen Kulturgedächtnisses – eine goldangesprühte Kirsche ließ uns sofort an James Bonds „Goldfinger“ (1965) denken – und konnte gleichzeitig ohne jede Spur von Animation ein unbehagliches Gefühl bei den anwesenden „Zeug*innen“ der Kirschenmorde hervorrufen.

2013 stellte sie mit „Pulling Strings“2 eine künstlerische Verbindung her zwischen traditionellem Marionettentheater und site specific performance. Leuchtend gelbe Fäden durchkreuzten den fast leeren Spielraum. An diesen Fäden waren im Theaterraum vorgefundene Objekte befestigt. In provokanter Verkehrung der Verhältnisse machte die Performancekünstlerin durch beherztes Fadenziehen das sichtbar, was ansonsten in der klassischen (Figuren-)Theater-Situation möglichst unsichtbar bleiben sollte, nämlich die Fäden der Marionette selbst und die technischen Objekte des Theaters – Besen, Scheinwerfer, Mikrofone, Kabeltrommel, Eimer usw. Diese Dinge durchquerten nun am Faden in einer sorgsam eingerichteten Choreografie den Theaterraum, begegneten sich, verharrten, drehten und verdrehten sich im Scheinwerferlicht. Der große Auftritt, die Neuinterpretation des Marionettenspiels.

Das Berührende der Performance war nun genau die Lakonie dieses Auftritts, die weniger von der „Magie der Belebung“ als von der „Magie der Unbelebung“ herrührte.

Dabei ist sie keinesfalls als ironische Geste gegenüber dem Marionettentheater zu werten, zu ernsthaft erscheint das künstlerische Unterfangen, die Objekte ins Bild zu setzen und uns eine performative Raum-Ding-Erfahrung zu schenken. Die ästhetische Schwebe zwischen sachlicher Funktionalität und künstlerischer Transformation der gewohnten Sicht-Verhältnisse erzeugt eine Schönheit, die mich bewegt, die mich verrückt.

Ohne Boden Die literarische Technik des Mise en abyme – auf Deutsch etwa: in den Abgrund (unendlicher Wiederholung) gesetzt – führt im Theater dazu, dass über den Repräsentationsrahmen hinaus immer neue Ebenen der (Selbst-)Reflexion gesetzt werden. Diese Spirale führt ins Bodenlose, aber auf dem Weg dahin öffnen sich immer wieder neue Sicht- und Erkenntnisweisen dessen, was im Kern der Sache steht und dennoch niemals ganz gefasst werden kann.

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„Puppen sterben besser!“, Florian Feisel (DEU). 2013, Foto: Erich Malter

„Puppen sterben besser“3, so der Titel von Florian Feisels mittlerweile ikonischer Lecture Performance zur ­ Essenz des Puppenspiels, die uns in Wort und Tat geradewegs in diesen Abgrund führte. In immer neuen Szenen und Materialerkundungen lotste er uns an die Schwelle zwischen Leben und Tod, um dann in einer Wendung der Dinge eine genau gegenteilige Lesart zu eröffnen.

Ein einfacher Müllsack wurde mit Helium gefüllt, nahm Form an und begann, langsam in die Höhe zu wandern, bis er etwa einen halben Meter über dem Boden verharrte. Ein ungelenkes waberndes Ding, schwebte er langsam über die Bühne, jeden von Gesten und Schritten des Puppenspielers erzeugten Lufthauch in Bewegung umsetzend. Leichte Drehungen hin und wieder weg vom Spieler, der in kurzem Abstand abwartend stehen blieb. Kurze Momente der Resonanz zwischen Tüte und Puppenspieler führten meine vorsichtige Wahrnehmung eines mit Spuren von Leben ausgestatteten Plastiksacks vollends in die Richtung einer Subjektivierung. Ich sah nun eine etwas tumbe Person, die sich mit schüchternen Annäherungsversuchen in die Aufmerksamkeit des Puppenspielers hineinzuspielen suchte.

Mit Vergnügen verfolgte ich die schwachen Bewegungen und dachte immer neue Charaktereigenschaften und Handlungsweisen in diesen personalisierten Luftsack hinein. In diesem Moment, als das Leben des Müllsacks voll etabliert war, zog Florian Feisel die Theaterpistole aus der Tasche und schoss. Voll getroffen. Die Luft entwich langsam aus der Plastikhülle und schrumpfte die Bühnenfigur wieder auf das Format eines zerknüllten Müllsacks zurück. Mit bedauerndem Ooooh begleiteten die Zuschauer*innen das langsame Bühnen-Sterben des zu Boden sackenden Plastikmaterials.

Da lag es nun. Zerstört. Aber nur für den Moment, umgab es doch noch immer die Bühnenaura einer potenziellen Wiederbelebung. Die erfolgte aber nicht.

Leben – Tod – Leben – Tod – Leben … Eines spiegelte sich immer im anderen und führte in weitere Abgründe. Nur konsequent, dass der suizidale Marionetten-Tod selbst am Ende den Puppenspieler anflehte, ihn sterben zu lassen. Ein Faden nach dem anderen wurde liebevoll mit der Schere durchschnitten und ließ den kleinen Tod zufrieden seufzend langsam in die Kiste sinken.

Diesseits und jenseits des Denkbaren Figurentheater und Objektperformance haben das Potenzial, künstlerisch bestehende ontologische Ordnungen zu hinterfragen. Sie können unsere festgeschriebenen Unterscheidungen in Daseinsformen wie Mensch, Objekt, Tier, Natur, Kultur als performative Setzungen ins Schwanken bringen und neue Differenzierungen in das System unseres Denkens einziehen. Wenn nun die norwegische Künstlerin Mette Ingvartsen ihrer Performance den Titel „The Artificial Nature Project“4 gibt, dann verweist dies genau auf eine solche Überschreitung gewohnter Kategorien, nämlich auf die Schaffung einer anderen Natur, einer „zweiten Natur“.

In der ästhetischen Theorie des Idealismus ist die „zweite Natur“ kein Resultat einer Gewöhnung im Sinn von „etwas ist uns zur zweiten Natur geworden“, sondern Resultat einer ästhetische (spielerischen, schöpferischen) Praxis5, die unsere gewohnten Denkweisen und sittlichen Normen in Bewegung bringt. Vor diesem Hintergrund kann man Kunst als eine Praxis verstehen, die eine ästhetische Erfahrung von utopischen und imaginären Daseinsformen und Anschauungen ermöglicht und somit eine produktive Erweiterung unserer „Natur“ entfalten kann.

Auf der Bühne von „The Artificial Nature Project“ befanden sich: ein abgestecktes Karree, sieben Performer*innen, Berge von metallisch glänzenden Papierschnipseln in diffuser Beleuchtung. Nach und nach griffen immer mehr ­Performer*innen in die Papierschnipsel und schleuderten sie kraftvoll nach oben. Die Schnipsel schossen einige Meter in die Höhe, explodierten in einer Glitzerkaskade von Lichtpunkten und flatterten dann langsam wieder herab. Neben­ einander, hintereinander stehend schleuderten die Performer*innen immer neue Glitterdinger in den Bühnenhimmel, gänzlich hinter dem Material-Licht-Wirbel verschwindend.

Staunend erlebte ich die Kreation einer nicht endend wollenden wunderbaren Wasserfontäne. Minutenlang. Es war fast schmerzhaft schön, war ich mir doch die ganze Zeit bewusst, dass es sich hier eben um die Performance einer „artificial nature“, einer „zweiten Natur“, und kein erhebendes Naturschauspiel handelte.

Diese Ambivalenz, die perfekte Inszenierung des Naturspektakels und gleichzeitig unverhüllte Darstellung der materiellen Technik (Papierschnipsel, Arbeitsanzüge und Schutzmasken der Performer*innen, später hinzukommende Laubbläser), erzeugte Entzücken und Erschrecken gleichermaßen: Entzücken über die gelungene Illusion der Wassermassen, über das Aufrufen von Erinnerungen an glückliche Naturerlebnisse und die kindliche Faszination an barocken Wasserspielen, Erschrecken über das Menschengemachte der „Natur“ und über die sofortige Erinnerung an die irreversiblen Eingriffe des Menschen in die Umwelt im Zeitalter des Anthropozäns. Verschiebt sich hier der gewohnte Naturbegriff? Sind das bereits unsere künftigen Naturerlebnisse, virtuell, imaginär, Ersatz, konsumgerecht verfügbar – und dennoch so emotional wirksam?

Im zweiten Teil verwandelte die Wasserfontäne sich mit Rotlicht und Laubbläsern in eine gigantische Feuersbrunst.

Hier deutete die Performance den Rand der Kontrollierbarkeit der Natur und „zweiten Natur“ aus, und im Kopf läuft die Risikoanalyse: ein Feuer solchen Ausmaßes im Markgrafentheater …

Schön riskant Kleine Kinder fühlen sich unwiderstehlich angezogen von Baufahrzeugen und vor allen Dingen Baggern. Wurde von einem solchen auch nur das kleinste Loch in unserer Siedlung aufgerissen, so war es oberste Elternpflicht, mit den Kleinen eine Besichtigungstour zu wagen. Über-oberste Elternpflicht war es dann auch, die Kinder außerhalb der Bauabsperrung zu halten und den sicheren Abstand zu wahren. Dieser Tänzer ist mir viel zu nah am Bagger dran, der Bagger bewegt sich viel zu schnell und die Zuschauer*innen müssten doch bitte schön jetzt erkennen, welches Desaster hier unmittelbar bevorsteht. Unverantwortlich.

Und so schön! So wahnsinnig schön, was der Tänzer Philippe Priasso da mit dem Bagger aufführt6, diese unwahrscheinliche Begegnung, Umarmung und Abstoßung, Zärtlichkeit und technische Härte, die hier stattfindet. Was für ein Rhythmus. Ein Pas de deux zwischen Mensch und Maschine, zwischen Tanz und Arbeit, leicht und schwer.

Gestisch ausladend und mit tänzerischen Schritten umzirkelte der Tänzer das schwere Arbeitsgerät auf dem Erlanger Schlossplatz und schien einen Ansatzpunkt für eine Kontaktaufnahme zu suchen. Die Baggerplattform begann, sich zügig zu drehen, und beschrieb mit der Baggerschaufel einen ausladenden Kreis, in den der Tänzer sich immer wieder hineinschraubte, nur um sich vor der nahenden Baggerschaufel kurz wegzuducken. Mal hängte sich der Tänzer an die groben 67

Zähne der Baggerschaufel und drehte auf drei Metern Höhe frei schwingend mit, mal schmiegte er sich in ihre Schale, mal kletterte er triumphal auf das Führerhäuschen, dann wurde er wieder sanft, aber bestimmt zur Seite geschoben, um an die wirklichen Kräfteverhältnisse zu erinnern.

Der französische Titel der Performance, „Transports Exceptionnels“ (auf Deutsch: „Schwertransporte“, wörtlich: „außerordentliche Transporte“), führte mich an die emotionale Wurzel meiner Angst-Lust. Das zirzensische Urgefühl ward Theaterschönheit: Mein Risikoempfinden überlagerte sich mit der Erfahrung von Schönheit und transportierte meine rationale Einschätzung der Lage in außerordentliche Zonen. Der Verstand sagte: weglaufen, in Sicherheit ­bringen; das Gefühl sagte: hierbleiben, nicht aus den Augen lassen, bitte noch lange weitermachen!

Was bleibt Es gäbe noch viel zu sagen zu Theatererlebnissen des 2013er-Festivals: über die physische Erschöpfung durch die Lachstürme bei „The Table“ (The Blind Summit Theatre)7, über die esoterische Schönheit des Jenseitigen bei „Cocon + Limen“ (Uta Gebert) und dessen anarchistisch-ironisches Gegenbild bei „Alles über die Welt“ (Christoph Bochdansky), die politische Umschreibung der deutsch-kolonialen Geschichte bei „Unserdeutsch“ (Nicola Unger und Yvette Coetzee) und die beunruhigend zermalmende Plastikwelle bei „Springville“ (Miet Warlop) … Alles über die Grenze spielend und insofern ästhetisch wirksam.

Was bedeuten nun diese Grenzüberschreitungen für mich? Im Englischen wird das Verb „to complicate some­ thing“ verwendet, um eine Verwischung von Gewissheiten, eine Überschreitung von Normen zu beschreiben. Das Einfache verkomplizieren, verschieben und sich damit aus den inneren Komfortzonen, aus den simplen Ordnungen, Gedankensystemen und emotionalen Klarheiten heraustragen lassen, um Raum für kreative Neubestimmungen zu erschaffen. Insofern „verkompliziert“ Figurentheater mein Leben, meine Existenz, mein Denken und Fühlen. Inspirierend …

Meike Wagner hat seit September 2022 den Lehrstuhl für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Davor war sie als Theaterwissenschaftlerin an den Universitäten Sorbonne Nouvelle Paris, Mainz und Stockholm tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in den Feldern Theater und Medialität, Performance und zeitgenössisches Theater, Puppen- und Figurentheater. Sie ist Redakteurin bei ­double – Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater (Theater der Zeit) und seit 2018 Generalsekretärin der International Federation for Theatre Research. Sie führte das Gesprächsformat „Tiefenbohrungen“ beim ­figuren.theater.festival Erlangen ein.

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„Transports Exceptionnels“, Cie. Beau Geste (FRA). 2013, Foto: Erich Malter

1 Diese vielfältigen Seherlebnisse resultierten in einer Festivalrezension für das Web-Portal des Goethe-Instituts, siehe https://www.goethe.de/ de/kul/tut/gen/tup/20377602.html, letzter Zugriff am 2.2.2023.

2 Pulling Strings, Idee und Perfomance: Eva Meyer-Keller, ­Internationales Figurentheater-Festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach 2013.

3 Puppen sterben besser!, Spiel, Konzeption: Florian Feisel, Beratung: Julika Mayer, Internationales Figurentheater-Festival Erlangen ­Nürnberg Fürth Schwabach 2013.

4 The Artificial Nature Project, Konzept und Choreografie: Mette ­Ingvartsen, Internationales Figurentheater-Festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach 2013.

5 Vgl. Thomas Khurana: „Die Kunst der zweiten Natur. Zu einem modernen Kulturbegriff bei Kant, Schiller und Hegel“, in WestEnd. Neue ­Zeitschrift für Sozialforschung, Heft 1, Januar 2016, S. 35–55, hier: S. 41.

6 Transports Exceptionels, Cie. Beau Geste, Performer: Philippe ­Priasso, Bagger-Fahrer: William Dufresne, Regie: Dominique Boivin, Internationales Figurentheater-Festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach 2013.

7 Zur physischen Herausforderung von „The Table“, The Blind Summit Theatre, vgl. ausführlich Wagner, Meike: „Who am I? Challenging the Self through Puppets.“ In: Uneins. Identitätsentwürfe zum Gegenwartstheater, hg. von Beate Hochholdinger-Reiterer und Laurette Burgholzer, Berlin: Alexander-Verlag, 2021, S. 44–61.

Das Theater – ein Ort permanenter Innovation Offen sein für die Sekunde, die kommt

Jacques Templeraud Innovation meint per definitionem: etwas Neues einführen, sich erneuern. Wenn das Publikum im Zuschauerraum sitzt, erlebt es die sich ständig erneuernde Gegenwart des Schauspielers. Dieser kann versuchen zu tricksen, auf seine Routine zurückzugreifen, auf seine vertrauten Arbeits- und Handlungsweisen, kann seine Manien und Ticks nutzen, aber: Er ist immer präsent, nackt, unfähig, sich dessen sicher zu sein, was in der folgenden Sekunde passieren wird. Um aber seine Sicherheit zu gewährleisten, arbeitet der Schauspieler, er strukturiert und steckt seinen Weg bis ins kleinste Detail ab, damit er niemals in Gefahr gerät, sich vor dem Publikum zu verlieren.

Doch so sehr er sich auch müht, er wird immer wieder mit dem Augenblick konfrontiert, mit der großen Leere der nächsten Sekunde. Sein Spiel findet auf dem schmalen Grat zwischen dem Bekannten, das er vorbereitet hat, und dem Unbekannten, das er zu greifen sucht, statt. Dieses wohlbekannte Paradoxon forderte mich bereits während meiner Ausbildung und in meinen ersten Erfahrungen mit dem Theaterspiel heraus und: Es kitzelt mich noch immer.

Wenn ich mich darauf einlasse, mit dieser großen Leere, die permanent mitschwingt, zu spielen, gehe ich das Risiko ein, in ein schwarzes Loch zu fallen, improvisieren zu müssen, den Partner zu verunsichern, an darstellerischen Möglichkeiten einzubüßen.

Das Publikum kann daran Spaß haben. Warum nicht.

Aber das ist nicht der springende Punkt.

Die Tragödie von Hamlet beginnt mit der Frage: „Wer da?“ Worte, von einem einfachen Wachmann ausgesprochen, der nach dieser Replik die Bühne verlässt und den man nie wieder sehen wird.

Er allein eröffnet die Aufführung.

Ich kann mir vorstellen, wie der Darsteller des Wachmanns sich vorbereitet, wie er probt. Nach seinem Auftritt

kann ich ihn mir hinter der Bühne vorstellen. Der Regisseur flüstert ihm zu: – Ich habe dich vor deinem Auftritt gesehen, du warst am Rande der Leere, man sah dir an, dass du nichts vorhattest. Du hast das letzte Wort vergessen, das „da“ – oder ich habe es nicht gehört! Aber du hast die Verwirrung des tapferen Wachmanns spürbar gemacht. Und das war die Herausforderung: Du hast wahrhaftig den Raum für deine Partner, für das Publikum geöffnet.

Großartig.

Oder: – Ich habe das letzte Wort noch nicht gehört! Aber du bist auf dem richtigen Weg, arbeite weiter.

Oder aber: – Du hast es schon ein paar Mal verpatzt, du bist ­gefeuert.

Wenn der Schauspieler sich an den Rand des Abgrunds begibt, geht er Risiken ein.

In fernen Zeiten gab es an einem Feuer wohl eine erste Frau oder einen ersten Mann, die es wagten, aufzustehen, zu hüpfen, zu springen, Geräusche oder Gesten zu machen, einen Stock zu greifen, mit den Flammen zu spielen.

Haben die erstaunten Zuschauer gelacht? Haben sie geklatscht? Begannen auch sie, zu springen und zu tanzen?

Haben sie die Gesten nachgeahmt, um sich mit den Schatten, die sie umgaben, zu verbinden, um sich untereinander zu verbinden? Ist das Theaterspiel aus diesem ungewöhnlichen Augenblick, diesen ersten „Innovationen“ entstanden?

Um heute einen Sonnenuntergang über dem stürmischen Meer auszudrücken, kann sich der Schauspieler auf unerwartete Lichteffekte, auf beispiellose Bühnenbilder, auf überraschende Tonaufnahmen stützen, er kann sich in einem originellen Kostüm winden, kann Ideen verbiegen, Worte verdrehen wie nie zuvor ...

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Warum nicht?

Aber er hat immer auch die Möglichkeit, alles mit wenigen Worten auszudrücken, mit ein paar Gesten, mit einem einfachen Stock. Anstatt um jeden Preis etwas „Neues“ hinzuzufügen, kann er seine Geste, seine Worte ihres „Amtes entheben“ und die Tür offen lassen für unsere Imagination.

Was zählt, ist der innere Zustand des Darstellers, seine Art, da zu sein – ohne etwas aufzudrängen –, nur verfügbar für die Sekunde, die folgen wird, offen mit dem Zuschauer für alles, was über ihn hinausgeht, für alles, was geschehen kann, was sein kann.

Letztendlich kann er noch so viele Worte, Worte, Worte, Worte – oder was auch immer – hinzufügen, er landet unausweichlich bei der rätselhaften, immer wiederkehrenden Frage: „Wer da?“

Übersetzung aus dem Französischen: Anke Meyer und Silvia Brendenal Jacques Templeraud, der hier über den Begriff der Innovation reflektiert, ist als Objekttheaterkünstler, Regisseur, Schauspieler, Ideengeber … seit Jahrzehnten einer der prägenden Akteure der französischen Objekttheaterszene. Nach eindrucksvollen Auftritten mit seinem Solo „Paris Bonjour et ­persil“ (1987) und „Blanche Neige“ (1991) wurde er 1995 auf dem Internationalen Figurentheater-Festival in Erlangen mit dem „Innovationspreis“ ausgezeichnet. Den Preis erhielt er für die Inszenierung „gros maux d’amour“, ein lyrisch-groteskes Licht-, Schatten- und Masken-Schau-Spiel um die Monster, die in jeder Liebe entstehen. Diese von Jacques Templeraud gemeinsam mit Isabelle Hervouet und dem Lichtkünstler ­ ­­Philippe Lefebvre erfundene, in der Regie von Catherine Poher weiterentwickelte Arbeit überzeugte die Jury mit ihrem ästhetischen Wagemut und ihrer herausragenden Intensität.

„gros maux d’amour“, Théâtre Manarf/A. T. H. associés (FRA). 1995, Foto: Georg Pöhlein

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Material und Mensch Gastspiele aus Frankreich

André Studt Der erste Blick in den mit Unmengen rostigen Stahls bis unters Dach beladenen Theatertruck aus Frankreich war erschütternd: Wohin um alles in der Welt sollten diese Teile gebracht werden? Denn: Die Bühne im Markgrafentheater ist klein – es gibt weder eine nennenswerte Hinterbühne, geschweige denn Seitenbühnen, auf denen man Bühnenteile oder sperrige Requisiten zwischenlagern könnte … Der Lastwagen gehörte zum Théâtre de la Mezzanine, dieses war mit „Chiens de Faience“ (1997) zum ersten Mal in Deutschland und bescherte dem Figurentheater-Festival eine „deutschsprachige Erstaufführung“ (wobei in der Aufführung kein Wort gesprochen wurde). Mir stehen die damaligen Umstände noch ziemlich klar vor Augen: Zwei Personen mit Klemmbrett in der Hand gaben uns studentischen Helfern kurze und präzise Ansagen, wo die schweren, unförmigen Teile zu platzieren seien, der Frachtwagen leerte sich langsam, irgendwann lag alles – in einer geheimnisvollen Ordnung – auf der Bühne.

Aus dem nunmehr geordneten Haufen aus Brettern, Stahlrohren, Spiegeln, Falltüren, Seilen, Winden, Flaschenzügen, meterweise Stoff, dick, dünn, transparent – und natürlich viel Eisen und Schrauben entstand ein Bild, gefasst von einem großen goldenen Rahmen, das das Innere einer Bauernkate zeigte; das Zimmer wurde durchquert von einer Wäscheleine, auf der schmutzige Unterhosen hingen. Mittig stand ein alter, ratternder Kühlschrank, an der Wand links und rechts hingen zwei Kuckucksuhren, hinten in der Ecke ein Waschbecken und ein Ofen, aus dem sich ein Rohr gen roh verputzter Decke wand. In diesem hyperrealistischen Szenario agierten zunächst zwei Figuren, Jäger mit Pfeil und Bogen, die ein erratisches Ritual vollzogen und dabei einen intensiven Bilderreigen von permanenter Verwandlung in Gang setzten. Die Figuren verschwanden, ohne Worte zu nutzen, in den Nischen der Mauern, wanden sich aus Klap-

pen und Kühlschrank, klar, dass die Unterhosen an der Leine dann irgendwann zu Wolken an einem endlos scheinenden Himmel wurden. Überbordende Materialfülle, permanentes Kreisen Zwei Jahre später, bei einer anderen Vorstellung dieser Compagnie, wieder von Denis Chabroullet mit einer überbordenden Materialfülle inszeniert, drängte sich angesichts der verhandelten Stoffe zu den europäischen Tragödien des 20. Jahrhunderts die Analogie zur kriegerischen Metapher Materialschlacht geradezu auf: In „La Transhumance des riens“ haust eine Gruppe Menschen, die man als Überlebende einer Katastrophe bezeichnen kann, in den Überbleibseln ihrer bisherigen Existenz zwischen Kruzifix und Abort. Dabei bewegen sie wie Galeerensträflinge ein Karussell, aus dem ein Pferd monströs herausragt – und ähnlich dem Exemplar von Troja einige Geheimnisse in sich birgt.

Alles dreht sich, alles wiederholt sich, ob nun als Tragödie oder als Farce …

Als formale Steigerung der szenischen Kreisbewegungen, die bereits im permanenten Kreiseln des Karussells und dem einsamen Radfahrer im Bildhintergrund von „La Transhumance des riens“ angelegt war, kann die Produktion „Shooting Star“, die vom Théâtre de la Mezzanine eigens für das Festival 2003 wiederaufgenommen wurde, bezeichnet werden: Unvergessen bleibt der grandiose, wortlose Bilderparcours, durch den ikonografische Gestalten des 20. Jahrhunderts, seiner Schrecken und Begierden, stolpern, rennen, tanzen – gehetzt von der suggestiven Musik von Roseline Bonnet Des Tuves und begleitet von unablässig ihre Runden drehenden Rennradfahrern.

Orte multipler Metamorphosen Alors: Französische Compagnien sorgten in Erlangen für außergewöhnliche Aufführungen, die mit dem Begriff des „spectacle“ adäquat erfasst sind und dabei den Bühnenraum 71

als Raum zum (An-)Schauen verstehen: In einer Mischung aus Bildertheater, Akrobatik, Nouveau Cirque und Tanz wurden die Grenzen der Kunstgattungen erforscht und produktiv verschoben. Damit wurde die Idee des Gesamtkunstwerks, dem Theater theoretisch zugeschrieben, weil es in der Lage sei, andere Kunstgattungen in sich produktiv aufzunehmen, konkret: Die Materialität der Szene und ihre prinzipielle Wandelbarkeit sorgten für einen assoziativen Raum, in dem sich die Akteur*innen handelnd aufhielten, ohne dabei für die szenische Erzählung dominant zu sein. Die Bühne wurde für die Zeit der Aufführungen so zu einem magischen Ort multipler Metamorphosen: Figuration ohne Verbalisierung, Kompositionen aus Licht, Schatten, Musik, Bewegungen, ein permanentes Aufscheinen und Verschwinden – modellierte Atmosphären, die sich rein kausal-logischen Sinnzuweisungen charmant entzogen.

In diesen Zusammenhang müssen unbedingt auch die Arbeiten Philippe Gentys erwähnt werden, der vor allem mit den Produktionen „Ne m’oublie pas“ (1995/2013) und „Le voyageur immobile“ (1997) einen bleibenden Eindruck hinterließ. Er beschreibt die Muster in seinen Arbeiten wie folgt: „Die Landschaften, die auf der Szene auftauchen, stellen Innenlandschaften dar, und die Inszenierung selbst ist weitgehend vom Unterbewussten bestimmt. Dadurch gibt es Konstanten, Elemente, die in jeder Aufführung wiederkehren. Ich habe beispielsweise gemerkt, dass ich Bühnenauftritte von der Seite her nicht ausstehen konnte. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis mir das klar wurde. Bei den meisten Aufführungen kommt alles vom Mittelpunkt, alles erscheint im Zentrum der Bühne und verschwindet dort. Schließlich habe ich begriffen, dass die seitlichen Auftritte die Außenwelt darstellen, während das Zentrum die Kontinuität garantierte: die Einheit von Ort und Zeit. Diese Einheit ist für mich von fundamentaler Bedeutung; alles muss da sein, alles muss sich da abspielen. So sehr das Kino oder das Fernsehen mit der Aufsplitterung von Ort und Zeit spielen können, so sehr verlangt das Theater, wie mir scheint, diese Einheit. Alles ist dort möglich, alle Verwandlungen – das macht seinen Zauber aus. Doch der Zauber wirkt nur, weil von ihm gleichsam ein Sog ausgeht, der uns in das Innere der Bühne reißt: in das Unbewusste einer Figur.“1 Annäherung von Mensch und Material Als Gegenpol zu den hier zur Sprache gekommenen voluminösen Inszenierungen betreibt das intimere Théâtre des objets eine andere, ebenso konsequente Annäherung von Mensch und Material. Jean-Pierre Larroche, einer der Wegbereiter dieser Theaterform, zeigte das in der Produktion 72

„A Distances“ (2003): Auch hier sah sich das Bühnenhaus des Markgrafentheaters vollgestellt mit diversen Materialien, zumeist Alltagsgegenständen wie Porzellangeschirr, alten Koffern, verbeulten Musikinstrumenten und vielem mehr, alles scheinbar vom Speicher eines alten Hauses zusammengesammelt. Diese Dinge wurden von Fäden und Drähten zusammengehalten, um auf mal offensichtliche, mal geheimnisvolle Weise in Bewegung zu geraten, zu verrutschen, zu fallen ... oder in der Logik einer Kettenreaktion, wie man sie aus der ikonischen Arbeit von Peter Fischli und David Weiss („Der Lauf der Dinge“, 1987) kennt, einer dazugehörigen Dynamik zu folgen. Als Zuschauer sehr nah am Geschehen, sah man den schwankenden Objekten zu, wie sie ihr Gleichgewicht zu wahren suchten, und dem Spieler, wie er sie aus großer Distanz daran hinderte; wie er in den Dingen sich finden, aus den Dingen sein Konterfei zusammensetzen möchte, sich selbst respektive seinem Miniaturabbild unvermutet begegnet, sich mit ihm schlägt.

Die (späte) Einsicht, dass ein Bühnenbild nicht nur den Rahmen für szenische Aktionen schauspielender Menschen setzen, dabei möglicherweise auch eine eigene erzählerische Dimension entwickeln kann, sondern dass dieses Bild beziehungsweise dessen materielle Einzelteile selbst zu Akteuren werden können, indem diese mit den Menschen in, auf, neben, über und unter ihnen spektakulär interagieren, verdanke ich vor allem den Festivalgastspielen aus Frankreich. Die dramaturgische Frage, ob der Mensch letztlich dabei die Oberhand behält, wäre vermessen – es ist immer die Materie, die gewinnt …

„Chiens de Faience“, Théâtre de la Mezzanine (FRA). 1997, Foto: Werner Schwenke

1 Philippe Genty: Das Tor zum Imaginären. In: PUCK, Nr. 4/1997, S. 83– 87, hier: S. 87.

Spiele nicht!

Akhe – Überraschen und Überfordern als künstlerisches Programm

Christine Auernheimer August 2022, der Krieg in der Ukraine ist bereits ein halbes Jahr alt und die Mitglieder der St. Petersburger Theatergruppe Akhe versuchen nach und nach, Russland zu verlassen. Als Erster hat es Pavel Semchenko geschafft, der nun mit einer Künstlerresidenz in Helsinki lebt. Um ihm eine Auftrittsmöglichkeit zu bieten, haben wir ihn zum Erlanger Poet*innenfest eingeladen, wo er seine Performance „Visual Poetry“ zeigt. Auf dem zentralen Hugenottenplatz ist dafür eine Holzwand aufgebaut, auf der er mit Farbe Wörter und Bilder entstehen lässt, die ständig übermalt und weiter verändert werden. Der ganze Körper kommt dabei zum Einsatz, ob als Längenmaß oder erweiterte Malfläche. Als er auf einmal einen prall gefüllten Farbeimer anhebt und sich diesem mit dem Kopf nähert, entfährt einigen Zuschauer*innen ein kurzes: „Nein, das wird er nicht machen, oder?“ Die AkheKenner*innen im Publikum schmunzeln nur, kurz bevor der Kopf komplett in der weißen Farbe untertaucht.

Spiele nicht! So bringt Pavel Semchenko den Grundsatz der Akhe’schen Theatersprache kurz und knapp auf den Punkt. Elementar ist demzufolge nicht die Nachahmung von Emotionen, sondern die performative Erschaffung spezieller, nahezu unerträglicher Situationen und physisch anstrengender Zustände, welche die gewünschten Emotionen schließlich auslösen. Die Performer überfordern sich bei Akhe laut Semchenko zudem ständig selbst, wenn sie zugleich als Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner, Kostüm- und Maskendesigner agieren und außerdem noch die Requisiten, das Licht und das Soundkonzept für jedes Stück mitdenken. „Heute stellt sich für Akhe aber auch die Frage nach einer ganz anderen Art der Überforderung, der Überforderung durch den aktuellen Krieg. Ist es das alles wert, ist es für Künstler noch möglich, interessante ‚unerträgliche‘ Spielbedingungen zu schaffen, wenn gleichzeitig täglich Menschen sterben? Wenn das Gefühl der Hilflo-

sigkeit stetig wächst, die Zukunft immer ungewisser und die Schuld der eigenen Mitbürger immer größer wird?

Die Frage bleibt rhetorisch. Wir sehen uns!“ (Pavel ­Semchenko, November 2022) Metaphern materialisieren Das erste Mal gastierte Akhe in Erlangen beim Festival Arena im Jahr 2000. Gezeigt wurde in dieser von Student*innen der Erlanger Universität organisierten internationalen Woche des Jungen Theaters „White Cabin“, ein bis heute viel und weltweit gespielter Klassiker von Akhe, in dem neben Pavel Semchenko auch der zweite künstlerische Kopf der Gruppe, Maxim Isaev, agierte sowie die Schauspielerin Jana Toumina. Die Inszenierung, die sublime Wechselwirkungen zwischen Publikum und Bühnengeschehen befragt und über einfachste Handlungen eine metaphorische und absurde Welt evoziert, gewann den Jurypreis des Arena Festivals, verknüpft mit dem Angebot einer Koproduktion für die nächste Ausgabe.

So entstand 2001 in den Erlanger Gossenhallen ein groß angelegtes, in dieser Form vielleicht nur in einer Festivalstadt wie Erlangen realisierbares Theaterprojekt, mitgetragen von einem kleinen Team theaterbegeisterter Student*innen, die vor Selbstüberforderung ebenso wenig zurück­schreckten wie die Performer von Akhe: „Sine Loco“. Als die Inszenierung nach einer halbjährigen Entstehungsphase mit Workshops in St. Petersburg und Erlangen im Juli 2001 schließlich ­Premiere hat, reisen die Zuschauer*innen auf einer fahrenden Tribüne mehr als 60 Meter weit an 14 verschiedenen Bühnenräumen entlang, in denen sich die Handlung abspielt.

Ausgangspunkt sind Figuren und Geschichten der griechischen Mythologie. Ohne Sprache, aber mit für das Stück komponierter Musik, Licht- und Feuereffekten werden Theseus, Ariadne, das Labyrinth und der Minotaurus, ­ ­Dädalus und Ikarus in bildgewaltigen Assoziationsketten heraufbeschworen. Die Bühnenbilder, die am Ende die kom73

einem großen beiderseitigen Vertrauen: in die Qualität der plette alte Fabrikhalle ausfüllen, nehmen dabei eine ebenso künstlerischen Arbeit auf der einen Seite und auf der andewichtige Rolle ein wie das deutsch-russische Performerteam, ren in den Willen der Organisator*innen, sich auf verrückte das darin agiert. Einen Unterschied zwischen Mensch und Ideen einzulassen und diese gemeinsam zu realisieren.

Material gibt es nicht bei Akhe, sie selbst bezeichnen sich als „Engineering Theatre“: Die Künstler verstehen sich als Demiurgen – als Handwerker und Erbauer und zugleich als Schöp- Nie aufgeben Das Weitermachen, das Sich-neu-Sortieren und das Nichtfer. Manchmal verlassen sie sich auf einen Menschen, selteAufgeben sind bezeichnend für Akhe. Als der Musiker und ner auf Schauspieler*innen, sehr oft jedoch verlassen sie Sounddesigner Andrei Sizintsev, ein maßgeblicher Mitgestalsich auf Metaphern und versuchen, diese zu ­materialisieren. ter von Akhe, 2013 nach langer, schwerer Krankheit stirbt, Vielleicht ist es neben der performativen Eindringlichkeit verarbeiten seine Freunde und Kollegen den Tod mit dem die absurde Größe des Projekts und die bei allen Beteiligten Stück „Between Two“ über das Bardo Thödol, das Tibetische damit einhergehende Verwunderung darüber, dass es tatTotenbuch. Dieses handelt vom Vergehen des Körpers, von sächlich realisiert werden konnte, die bis heute zur LegenSeelenwanderung und Wiedergeburt – eine Art Ratgeber für denbildung von „Sine Loco“ beiträgt. Als einzige Koprodukdas Leben nach dem Tod, versehen mit Beschreibungen der tion in der Geschichte des Arena Festivals kommt es einige Zwischenzustände, genannt „Bardo“ (wörtlich „ZwischenzuMonate später zu einer Wiederaufnahme in Erlangen, es folstand“ oder auf Englisch „between two“), auf dem Weg ins gen Einladungen zum Donaufestival in Korneuburg, nach Jenseits hin zur nächsten Inkarnation. In Akhes assoziativer St. Petersburg zum wichtigsten russischen Theaterfestival Interpretation, deren vier Teile beim figuren.theater.festival Goldene Maske (wo „Sine Loco“ 2003 den Preis für die inno2017 zu sehen waren, verschmelzen die einzelnen Episoden vativste Inszenierung gewinnt) und nach Moskau. und Bausteine dieses Werkes der Weltliteratur zu einem Als beteiligte Technikerin und damalige Tourmanagerin ­furiosen Gesamtkunstwerk. Der Bühnenraum im alten ehestellte sich für mich eine ganz praktische Art der Überfordemaligen Wasserkraftwerk der Thalermühle veränderte sich rung ein, begründet in der umfangreichen Logistik des Großdafür jeden Tag und bildete die Grundlage für eine Mischung projekts, für das letztendlich die adäquaten finanziellen Mitaus Theater und Installation, Tanz und Gesang, Filmprojektel fehlten. Und in dem Problem, das für Organisator*innen tion und Videomapping. „Between Two“ wurde so zu einer und Veranstalter*innen bis heute bei fast jeder Akhe-ProdukBetrachtung über die Schönheit des Lebens und die Größe tion irgendwann auftaucht: Wie lässt sich ein Kompromiss des Sterbens, aber auch über unsere Fehler, unsere Versuzwischen den gewünschten und meist selbst entwickelten che und unser etwaiges Scheitern.

Feuereffekten und den strengen Regulierungen finden, die Organisatorisch kaum weniger aufwendig ist eine von der deutsche Veranstaltungsbetrieb mit sich bringt? Nicht Akhe zwei Jahre später in Erlangen gezeigte Trilogie. Der selten läuft es darauf hinaus, dass sich während Akhe-Pererste Teil – „Demokratie“ – ist dem Rohöl gewidmet, dem formances auf einmal nervöse Feuerwehrleute mit LöschSchmierstoff der neuen Weltordnung. Der Siegeszug der vorrichtungen am Bühnenrand positionieren. Und wahrDemokratie im globalisierten und kapitalistischen 20. Jahrscheinlich werden im Vorfeld nie wirklich alle Effekte hundert ist untrennbar mit dem Rohstoff und seiner Ausbeuverraten, um Diskussionen darüber einfach aus dem Weg zu tung verbunden. Die Performer tauchen im wahrsten Sinne gehen. Macht doch der unmittelbare Einsatz dieser Eledes Wortes ein in die zähe Flüssigkeit und bringen die Fässer mente gerade den Reiz der Inszenierungen aus. zum Überlaufen. Und die Festivalmitarbeiter*innen schrubDen gemeinsam überwundenen Schwierigkeiten und ben anschließend die halbe Nacht den Boden im Kulturzentdem Erfolg von „Sine Loco“ ist es mit zu verdanken, dass rum E-Werk. Mit dem zweiten Teil – „Utopie“, einige Tage späeine langjährige Freundschaft zwischen den Performern und ter auf dem Oberdeck eines Erlanger Parkhauses zu sehen dem Festivalteam in Erlangen entstand, die zu regelmäßi– überprüft Akhe szenisch die großen utopischen Ideen der gen Einladungen von Akhe zum internationalen figuren.­ Denker der Neuzeit auf ihre Stärke und Anziehungskraft, bildtheater.festival nach Erlangen führte. Seit 2003 – in dem gewaltig und am eigenen Leib. Auch hier ist der Aufwand, den Jahr wurde „White Cabin“ noch einmal in Erlangen gezeigt, das Festival aufbringen muss, um die überbordende Perfordiesmal auf Einladung des figuren.theater.festivals – waren mance zu realisieren, ein beachtlicher – und als Veranstaltenahezu alle Produktionen in Erlangen zu sehen und das rin habe ich in diesen Tagen durchaus Momente, in denen ich Festival hat den Entwicklungsprozess von Akhe begleitet mich ärgere, den Umfang wieder einmal unterschätzt zu wie von kaum einer anderen Theatergruppe. Geprägt von 74

haben, und in denen ich mich frage, ob sich das alles wirklich lohnt. Die Antwort darauf liefert spätestens zum Festivalabschluss im Experimentiertheater der dritte Teil – „Diktatur“.

Akhe probt den Aufstand der Kunst gegen die Diktatur des Raumes, gegen aktuelle Diktatoren. Aus Brettern, Feuer und Wasser entsteht eine neue Weltordnung, mit einem Lächeln auf den Lippen kämpfen die Performer gegen die Monster der Neuzeit – bis die Wände zertrümmert werden, das PutinBildnis zu Boden stürzt, Schaum die Bühne flutet und alles ertränkt. Das Ganze mit einer Unmittelbarkeit und einer Urgewalt, wie ich sie selten im Theater erlebt habe. Frenetischer Applaus und schon 2019 die Sorge, wie lange es wohl noch möglich sein wird, diese Art von Theater in Russland zu zeigen, ohne Repressalien fürchten zu müssen.

Theater ohne Nationalität und festen Ort „Grenzenlosigkeit. Visuelle Freiheit, die Freiheit, sich zwischen den Genres zu bewegen und natürlich auch die Freiheit des Ausdrucks waren immer grundlegend für Akhe. Nun sind die Grenzen zwischen Russland und Europa geschlossen, auch für zahlreiche russische Künstler*innen. Auf den ersten Blick eine Überforderung für Akhe, die eine Art Reset mit sich bringt.“ So beschreibt Vadim Gololobov die Situation im November 2022. „Doch statt die eigene Identität aufzugeben oder die aktuelle weltpolitische Lage zu akzeptieren, wandeln wir unsere russische Identität und entwickeln uns hin zu einem Theater ohne Nationalität und ohne festen Ort. Denn das Theater wohnt nicht im Theaterbau, sondern in den Menschen. Erlangen und seine Festivals – von Arena bis zum figuren.theater.festival – haben uns immer die Möglichkeit gegeben, alle Freiheiten zu leben. Wenige (Spiel-) Orte in Erlangen, an denen Akhe in den letzten 20 Jahren noch nicht aufgetreten ist. Und ohne Grenzen werden bestimmt auch noch einige folgen!“ Und so hat sich zum figuren.theater.festival 2023 ein Kreis für Akhe geschlossen: Nach Kriegsbeginn und der Flucht aus Russland unterstützten die Kulturstiftung und das Festival Akhe mit einer Förderung und dem Auftrag einer Koproduktion für 2023. Entstanden ist „Ikarus“, eine Performance über eine der bekanntesten Figuren der griechischen Mythologie: Ikarus und sein Vater Dädalus werden von König Minos im Labyrinth des Minotaurus auf Kreta gefangen gehalten. Um fliehen zu können, erfindet Dädalus Flügel für sich und seinen Sohn und befestigt Federn mit Wachs an einem Gestänge. Vor dem Start schärft er Ikarus jedoch ein, nicht zu hoch zu fliegen, da sonst die Hitze der Sonne zum Absturz führen würde … Seit den ersten Gastspielen in Erlangen sind über zwei Jahrzehnte vergangen, Akhe war

überall auf der Welt mit Performances zu Gast. Die Faszination für die kretischen Sagen, die bereits die Grundlage für „Sine Loco“ bildeten, ist geblieben – heute kommt jedoch eine neue und sehr persönliche Komponente hinzu. „Es ist lange her, dass Akhe ein Stück namens ‚Sine Loco‘ in Erlangen entwickelt hat. (...) Mittlerweile ist Russland zu einem kriminellen Staat geworden. In Putins Russland gibt es heute keinen Platz mehr für Kultur, sie wurde längst durch Propaganda ersetzt. Wir haben daher die einzige mögliche Entscheidung getroffen, Russland zu verlassen. Zunächst wussten wir nicht wohin, ohne ein Zuhause, ohne ein Theater, ohne ein Land – ‚sine loco‘, im ursprünglichen Sinn.“ (Maxim Isaev, November 2022) Wie hoch ist der Preis der Freiheit, und auf welche Weise kann sie erreicht werden? Wenn ich an Akhe denke, habe ich Erfinder, Baumeister, Künstler und Alchimisten vor Augen, die wie Dädalus ständig Neues erschaffen müssen. Die ausbrechen und immer höher fliegen wollen, höher fliegen müssen, auch auf die Gefahr hin, sich am Ende doch zu verbrennen und abzustürzen. Ihre eigene Fluchterfahrung haben sie nun in „Ikarus“ spektakulär verarbeitet. Schräge Segel und meterlange Fluchttreppen wurden zu visuellen Dominanten der Performance. Begleitet von Feuer, Wasser und Rauch entflog Ikarus der Asche des Labyrinths und schwebte am Ende des Stückes in einem höchst poetischen Moment durch den Erlanger Nachthimmel, gefährdet, aber frei.

Es bleibt zu hoffen, dass die Flucht dieses Mal ein glückliches Ende findet und Erlangen mit dem figuren.theater.festival noch lange der Ort sein wird, an den Akhe zurückkehrt, um dort die aberwitzigsten Ideen zu entwickeln.

Die Performancegruppe Akhe, die sich selbst als „Engineering Theatre“ beschreibt, wurde 1989 in St. Petersburg von den Bildenden Künstlern Maxim Isaev und Pavel Semchenko gegründet und gehört bis heute zu den wichtigsten Protagonisten der russischen Avantgardeszene. Zum festen Team gehören neben den beiden Gründungsmitgliedern und wechselnden Gästen auch der Manager und Lichtdesigner Vadim Gololobov sowie seit einigen Jahren der Performer Nick Khamov. Ihre Produktionen haben auf vielen Theaterfestivals weltweit Kultstatus und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Mit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat Akhe Russland verlassen, die Mitglieder leben derzeit in Frankreich und Finnland.

Christine Auernheimer studierte in Erlangen Germanistik und Theaterwissenschaft und war von 1996 bis 2002 Mitglied des künstlerischen Teams von Arena – Internationale Woche des Jungen Theaters. Von 2001 bis 2004 organisierte sie gemeinsam mit Vadim Gololobov die internationale Tournee von „Sine Loco“. Beim internationalen figuren.theater.­festival stieg sie 1997 ein, zunächst als Technikerin; seit 2002 gehört Auernheimer zum Programm- und Organisationsteam des Erlanger ­Kulturamts.

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Grenzgänge – Künstler*innenstatements

Auf dem internationalen figuren.theater.festival gastieren viele Künstler*innen, Ensembles und Compagnien, die sich ganz klar dem Genre des Puppen-, Objekt- und Materialtheaters zugehörig fühlen. Darüber hinaus finden sich auch immer wieder Produktionen, die quer zu den bestehenden Logiken dieser genrebezogenen Zuordnung stehen. Wir haben daher einige Künstler*innen aus den Bereichen Tanz/Performance/Medienkunst gefragt, was es für sie und ihre künstlerische Arbeit bedeutet, zu einem Festival eingeladen zu werden, in dem das Spiel mit Puppen und Objekten im Fokus steht – und wie sie sich in diesem Kontext konzeptionell verorten.

Kate McIntosh

Das Lebendige im Material

Tatsächlich habe ich null Ausbildung oder Sachkenntnis in der Praxis des Puppenspiels. Ich weiß daher nicht, ob meine Gedanken einen interessanten Aspekt in diesem Zusammenhang berühren, aber was ich sagen kann, ist Folgendes: In meiner Arbeit geht es sehr stark um Körperlichkeit. Ich komme vom Tanz, interessiere mich für den Körper, den Körper der Darstellenden und den des Publikums. Auch das, was wir leblose Materialien nennen, sind gewissermaßen Körper. So gibt es in vielen meiner Produktionen Steine, Schädel, Seile … – verschiedenste Arten von Objekten und Materialien, die für mich auf eine bestimmte Weise letztlich Körper sind.

Und ich denke, mein Interesse am Puppenspiel, wie ich es wahrnehme, gründet in meinem Interesse an der Lebendigkeit von Material. Selbst in Material, das von Menschen in der Regel als leblos angesehen wird, spüre ich etwas Lebendiges. Damit meine ich nicht die Art von Lebendigkeit, die von Menschen projiziert wird, indem sie Materialien vermenschlichen oder ihnen einen Charakter zuschreiben. Ich meine eher, dass es in den meisten Materialien Prozesse des Wachstums und des Verfalls gibt. Es gibt Wege, wie Materialien die Welt beeinflussen oder von der Welt beeinflusst werden. Materialien sind Teil viel größerer ökologischer und weltweiter Prozesse, die sich auf extrem unter76

schiedlichen Zeitachsen abspielen, die der Mensch nicht einmal wahrnehmen kann. Betrachtet man zum Beispiel einen Stein, der sich auf einer Art unendlich langen Zeitlinie befindet, entzieht sich das dem menschlichen Verständnis.

Ebenso wie anderes, das extrem schnell abläuft, oder in verschiedenen Maßstäben: groß und klein und so weiter.

Ich suche mit meiner Arbeit sehr oft nach einem Weg, wie Menschen sich besser verbinden können mit anderen Arten von lebendigen Schwingungen, die um uns herum in der Welt existieren. Diese sind manchmal lesbar und manchmal weniger lesbar für uns Menschen, aber nicht weniger real, unabhängig davon, ob die Menschen sich ihrer bewusst sind. Und ich habe das Gefühl, dass es in dem Strang meiner Arbeit, in dem es so sehr um Materialität und die Verbindung zur Materialität geht, auch eine Verbindung zu dem gibt, was ich unter Puppenspiel verstehe.

Audiobeitrag, verschriftlicht und übersetzt von Anke Meyer

Die in Belgien lebende Neuseeländerin Kate McIntosh ist ausgebildete Tänzerin, sie arbeitet in den Grenzbereichen von Performance, Theater, Video und Installation. Immer wieder bezieht sie das Publikum ins ­Geschehen ein, wie z. B. 2017 beim figuren.theater.festival, im Erlanger Experimentiertheater: Dort waren Zuschauer*innen bei „In Many Hands“, einem Setting zwischen Labor und interaktiver Ausstellung, dazu eingeladen, selbst mit unterschiedlichen Materialien zu experimentieren. Kate McIntosh hat mit Künstler*innen aus diversen Bereichen zusammengearbeitet – und nicht nur die Brüsseler Produktions- und Forschungsplattform SPIN mitgegründet, sondern auch Poni, ein belgisches Performancekollektiv und zugleich eine Punkrock-Band.

Einladung mit Überraschungseffekt

Re-Inszenieren von ­­Unbegreiflichem

Klaus Obermaier

Eva Meyer-Keller

Die erste Einladung zum Internationalen Figurentheater-Festival in Erlangen kam überraschend. Soweit ich mich erinnere, war es 2001 mit der intermedialen Tanzperformance „D.A.V.E. – digital amplified video engine“. Die Anfrage kam telefonisch und ich wollte sofort das Missverständnis ausräumen, dass „D.A.V.E.“ traditionelles Figurentheater sei. Die Antwort „unser Chef hat die Vorstellung beim Ars ­Electronica Festival in Linz gesehen“ zerstreute alle Zweifel.

Zu meiner neuerlichen Überraschung folgten weitere Einladungen zu internationalen Figurentheaterfestivals in Brasilien, Polen, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Diese Vorreiterrolle mit Grenzüberschreitungen zu neuen intermedialen Formen bis hin zu interaktiven Installationen unterstreicht die weltweite Bedeutung des Festivals und macht es nicht zuletzt aufgrund des großartigen Teams zu einem einzigartigen Ort für uns Künstler*innen.

2009 wurde ich zum ersten Mal zum Figurentheater-Festival in Erlangen eingeladen, was mich damals etwas überrascht hat, denn bis dahin war ich im Tanz-, Performance- und Kunstkontext unterwegs gewesen.

In meiner künstlerischen Arbeit beschäftige ich mich mit unbegreiflichen Dingen und Sachverhalten wie zum Beispiel Gewalt, Katastrophen oder Quantenphysik und Genetik, mit Vorgängen also, die für unser Auffassungsvermögen zu klein, zu groß oder zu komplex sind. Daher (re-)inszeniere ich sie mit alltäglichen Objekten, um sie im wörtlichen Sinne zu begreifen.

Diese Herangehensweise ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, aber genau das macht sie fruchtbar, denn in der Praxis, während der Proben und auch während der Vorstellungen, geht es im Prozess wiederholten Scheiterns letztlich um etwas anderes: In dieser (un-)sinnigen Beschäftigung entfaltet sich ein großes Potenzial an weiteren Narrativen, Assoziationen und unerwarteten Umgangsweisen mit dem, was uns umgibt.

Der Vorgang, Objekte durch die Vorstellungskraft der Zu­schauer*innen zu subjektivieren und sie zu beleben, hat das Figurentheater-Festival wohl angesprochen. Ich bin seitdem immer wieder mit Stücken zu Gast und fühle mich dem Figurentheater-Festival Erlangen inzwischen sehr verbunden. Die Perspektive des Figurentheaters auf meine Arbeit war für mich bereichernd und hat im Laufe der Jahre neue Kontakte mit Menschen eröffnet und meine künstlerische Arbeit geprägt. Den Projektantrag für „Pulling Strings“ habe ich sogar in der Sparte Figurentheater eingereicht. Ich freue mich über das langjährige Interesse des Festivals, das immer offen war für die Abzweigungen, die sich der künstlerische Lebensweg sucht.

Der österreichische Choreograf, Medienkünstler und Komponist Klaus Obermaier wird seit rund 30 Jahren für seine intermedialen Performances und Installationen international gefeiert. Nach „D.A.V.E“ in Erlangen, „­Vivisector“ 2003 in Erlangen und Nürnberg (beide in Zusammenarbeit mit Chris Haring entstanden) und weiteren Arbeiten Obermaiers in den folgenden Ausgaben wurde beim Festival 2015 ein Parcours verschiedener interaktiver Installationen präsentiert, darunter „Dancing House“ und mit „EGO“ eine Variante, in der die Betrachter*innen ihr Spiegelbild durch eigene Bewegungen bis hin zu einem Strichmännchen deformieren können.

„D.A.V.E. – digital amplified video engine“, Klaus Obermaier und Chris Haring (AUT). 2001, Foto: Werner Schwenke

Die Performerin und Choreografin Eva Meyer-Keller lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Fotografie und Bildende Kunst in Berlin und London und absolvierte anschließend ein Studium Tanz und Choreografie an der School für New Dance Development in Amsterdam. Grenzgänge zwischen Darstellender und Bildender Kunst sowie eine exzessive performative Befragung von Dingen kennzeichnen ihre künstlerische Arbeit.

Meyer-Keller war seit der ersten Einladung 2009 mit ihrem so kühl sezierenden wie witzigen Kirschen-Hinrichtungslabor „Death is Certain“ regelmäßig zu Gast beim figuren.theater.festival in Erlangen, zuletzt 2019 mit „Some Significance“, einem absurd ausufernden, mitreißenden Versuch über prägende Modelle der Naturwissenschaften. Auf die ebenfalls in Erlangen gezeigte Performance „Pulling Strings“ geht Meike Wagner in ihrem Beitrag näher ein (S. 65ff.).

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Dries Verhoeven

Verschwinden und Präsenz

„Happiness“, Dries Verhoeven (NLD). 2021, Foto: Georg Pöhlein

Die Frage, wie ich meine künstlerische Arbeit im Kontext des Puppen- oder Objekttheaters positionieren würde, hat bei mir einigen Widerstand hervorgerufen. Das Theater als Begegnung mit anderen lebendigen Wesen – Menschen oder Tieren – ist für mich von großem Wert. Dennoch hat mich diese Anfrage zum Nachdenken gebracht. Mehr als einmal haben mich Darsteller mit meiner Tendenz konfrontiert, sie als Roboter zu betrachten, als Vollstrecker von vorbestimmten Handlungen. Ich habe offenbar ein Interesse an Bereichen, wo das Lebendige und das (scheinbar) Unbelebte zusammenkommen. Während der Proben bringe ich die Darsteller in einen „ich-losen“ Zustand, der sich – wenn ich so darüber nachdenke – kaum von dem einer Puppe oder eines Objekts unterscheidet. Wenn es einem Darsteller gelingt, sein Verlangen nach Anerkennung zu Hause zu lassen, kann ich als Zuschauer frei schauen, so wie ich es in einem Museum tun kann, wenn ich ein Objekt betrachte.

Das Objekt existiert, ohne seine Existenz zu rechtfertigen.

Ich kann achtlos an ihm vorbeigehen oder es stundenlang anstarren: Meine Anwesenheit beeinflusst es nicht. Das Objekt fängt nicht an zu stottern, es scherzt nicht zu viel, es ist nicht dankbar für meinen Applaus. Das Objekt verhält sich wie ein stoisch ausgeführtes buddhistisches Ritual oder wie ein Schwarm Stare, die am Himmel Formationen bilden. Die Art und Weise, wie wir uns zu Objekten, zu fremden Ritualen oder Naturphänomenen verhalten, ist weniger stark von einem Kodex geprägt als die Art und Weise, wie wir in zwi78

schenmenschlichen Beziehungen agieren. Und gerade wegen dieses Mangels an Erwartung fühle ich mich vom Objekt aufgefordert, zum Beobachter meines eigenen Verhaltens zu werden. Manche Performer schaffen es auf geheimnisvolle Weise, ihr Ego verschwinden zu lassen, andere scheitern wunderschön bei ihren Versuchen. Diese Darsteller konfrontieren mich immer wieder mit meiner eigenen Menschlichkeit, mit meiner durch Wunsch und Willen nicht zu überwindenden Unfähigkeit, mich selbst in eine Theaterpuppe zu verwandeln.

In einer meiner Arbeiten habe ich den menschlichen Darsteller tatsächlich durch einen Roboter ersetzt. In „Happiness“ spricht ein weiblicher Humanoid über das künstliche Glück, das Menschen in Drogen, Antidepressiva oder starken Schmerzmitteln zu finden hoffen. Die mechanische Figur ist sich der soziopolitischen Aspekte des Drogenkonsums nicht bewusst; aufgrund der Distanz, die sie als Nicht-Mensch zu unserem menschlichen Verhalten hat, war sie für mich die perfekte Protagonistin. Es sieht so aus, als ob sie unvoreingenommen unseren psychoaktiven Konsum untersucht, ihr Ego ist kaum zu ahnen. Das Witzige war, dass ich während der Proben das Bedürfnis verspürte, sie zu vermenschlichen; durch ihren zitternden kleinen Finger, ein schlagendes Herz oder ein zartes Lächeln wurde der Roboter zu einem Wesen, mit dem sich die Zuschauer identifizieren konnten.

Sie wurde zu einem Spiegel für uns, Cyborgs, Menschen, die ihre Emotionen zunehmend mit synthetischen Mitteln steuern. Die Paradoxie ist mir nicht entgangen: Während ich normalerweise die Darsteller ermutige, zu „verschwinden“, versuchte ich dieses Mal, der Seele einer künstlichen Akteurin „Präsenz“ zu verleihen. Und auch jetzt wieder machten mich die Momente glücklich, in denen sie schwankte, in denen die Maschine unerwartet verrücktspielte oder in denen sie sich auf die Zunge biss. Offenbar habe ich ein großes Interesse an Objekten – aber nur, wenn sie unseren menschlichen Blick berücksichtigen.

Der niederländische Theatermacher und Bildende Künstler Dries ­Verhoeven entwickelt Installationen, Performances und Happenings in Museen, an Originalschauplätzen und im öffentlichen Raum. An der Grenze zwischen Performance und Installationskunst hinterfragt er die Beziehungen zwischen Zuschauer*innen, Performer*innen, Alltagswirklichkeit und Kunst. Damit gelingt es ihm, dominierende Ordnungen, Mechanismen und Vorannahmen, die unmerklich unser Leben und Denken bestimmen, erlebbar zu machen und zugleich in Zweifel zu ziehen. Wie mit den Inszenierungen „Guilty Landscapes“ 2019 und „Happiness“ 2021 beim figuren. theater.festival.

Kunst, Tabu und Verantwortung Über die Arbeit von Hotel Modern

Ein Gespräch mit Pauline Kalker und Herman Helle Die niederländische Gruppe Hotel Modern – 1997 in ­Rotterdam gegründet – ist seit 2005 Stammgast beim internationalen figuren.theater.festival. Mit der Produktion „The Great War“, die den Stellungskrieg in den Schützengräben und der Landschaft an der Westfront des Ersten Weltkriegs mittels live animierter und gefilmter Objekte in erschreckend überzeugende Bilder übersetzte, gastierten sie zum ersten Mal auf dem Festival. Es folgten „Kamp“ (2007), „Garnalen Verhalen“ (2009), „City Now“ (2011) und „Ons Wereldrijk“ (2023). André Studt sprach mit Pauline Kalker und Herman Helle über ihre Arbeit, die künstlerischen Ansätze und ihre Verbindung zum Genre im ­Allgemeinen und dem Festival im Besonderen.

Ihr erarbeitet oft ein Hybrid aus Musik/Sound, Film und Bildern. Eure Objekte oder Figuren bewohnen Modelle von Miniaturwelten, die als Live-Projektionen eure szenischen Handlungen intensiv nachvollziehbar machen.

Wie schätzt ihr eure Arbeit selbst mit Blick auf das Genre Figurentheater ein?

Pauline Kalker: Ich bin an der Toneelschool Arnhem als Schauspielerin ausgebildet worden, wobei ich mich seinerzeit auch auf der Kunstakademie und der Filmakademie beworben hatte, weil ich alles gleichermaßen spannend fand. Nach meinem Abschluss habe ich zusammen mit Arlène Hoornweg das Label Hotel Modern gegründet.

Unsere erste Produktion machten wir gemeinsam mit dem Komponisten Arthur Sauer als eine Art Band. Wir haben Texte in unterschiedlicher Weise vertont und musikalisiert.

Sehr experimentell mit viel Verstärkern, Verzerrern und Elektronik. Wir arbeiteten allerdings noch ohne Bilder. ­ ­Herman baute aber damals schon Modelle und wollte unbedingt zum Theater.

Herman Helle: Mein größtes Modell war mehr als 500 m2 groß und zeigt das Rheindelta-Gebiet um Rotterdam. Es waren Lautsprecher integriert, um die Betrachter*innen Informationen über die Stadt Rotterdam und den Hafen hören zu lassen.

PK: Ja, aber dabei ging es um sachliche Informationen – und ich dachte, es wäre doch viel schöner, wenn es stattdessen Geschichten gebe, die den Betrachtenden eine andere, emotionalere Bezugnahme zum Modell ermöglichen könnten. So kam es zum ersten Projekt, auch begünstigt durch die Option, Zuschüsse für multidisziplinäre Projekte zu bekommen. Allein so ein großes Modell von (städtischer) Lebenswelt und deren Wirklichkeiten ist ja schon multidisziplinär und wenn dann noch Theater dazukommt … Als wir um Finanzierung für „City Now“ anfragten, unsere erste Produktion, in der wir mit Modellen gearbeitet haben, hat uns der Fonds in die Nähe von Figuren- und Puppentheater gerückt.

Auch, weil es in dem Genre nicht so viele Projekte gab und damit die Wahrscheinlichkeit der Förderung größer wurde.

Also entstand dieses Label eher zufällig.

HH: Bei „The Great War“ setzen wir neben den Modellen zum ersten Mal Kameras ein, das war eine große Entdeckung für uns. Wir hatten zunächst die Idee, Arthur Sauer um eine Komposition für ein Orchesterstück zu bitten. Wir wollten eine sehr große, überwältigende Musik, aber er meinte, nee, das sei nicht interessant – stattdessen entwickelte er die Idee eines Live-Soundtracks, bei dem er alle Geräusche, Musiken und akustische Impulse herstellt.

PK: Wir sind multidisziplinäre Künstler*innen, die glücklicherweise ihre Interessen in einer ästhetischen Form verdichten konnten, einer Verbindung von Modellwelten, ­ Schauspiel und Animation, die bis dahin noch nicht ­existierte.

Aber wir hatten keine Idee von Puppenspiel, das war nicht Teil meiner Ausbildung.

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HH: Bei „The Great War“ haben wir erstmals probiert, mit Puppen zu arbeiten, aber das klappte nicht wirklich. So sind nur Fragmente wie die Füße im Schützengraben übrig geblieben.

PK: Und das funktionierte sehr gut.

Ist das erste Gastspiel in Erlangen 2005 dann die erste Einladung überhaupt zu einem Figurentheaterfestival gewesen?

PK: Ich denke, ja. Mit „The Great War“ hatten wir Premiere auf einem Filmfestival. Aber danach erhielten wir auch schnell Einladungen zu anderen Theaterfestivals. Wir sind mit dieser Produktion und auch den anderen Arbeiten viel in der Welt herumgekommen.

Und das kleine Erlangen gehört zu dieser Welt: Was denkt ihr über das Festival in Erlangen? Habt ihr besondere Erinnerungen daran?

PK: Unmittelbar nach Ende der Vorstellung ist man als Künstler*in in einem fragilen Zustand – „Kamp“ belastete mich emotional sehr; ich habe auch jüdische Wurzeln und meinen Großvater an Auschwitz verloren – und dann steht man da und muss sofort Partei für die eigene Inszenierung ergreifen. Es wird vielleicht allgemein unterschätzt, dass Künstler*innen auch Gefühle haben und zerbrechlich sind.

Zudem fanden wir es in diesem Fall bedauerlich, dass das Publikum, weil es sofort zur Diskussion angeregt wurde, nicht die Möglichkeit hatte, die durch die Aufführung hervorgerufenen Gefühle in Ruhe zu verarbeiten.

Gerade „Kamp“ ist auch ein Beispiel für die inhaltliche Dimension des Grenzen-Auslotens – würdet ihr sagen, dass damit ein Tabu gebrochen wurde?

PK: Ja, das kann sein, aber uns geht es nicht um den Tabubruch als solchen oder das Spektakel und den Schauwert allein. Wir stellen uns immer Fragen, die uns ganz persön-

PK: Zunächst denke ich an die Menschen, die es organisieren – sie sind enorm zugewandt, engagiert und interessiert.

Sie haben uns die Chance gegeben, eine besondere Verbindung zum Publikum aufzubauen; es ist eine ­Riesenehre, immer wiederkommen zu dürfen und sich damit eine Art von Stammpublikum zu erspielen, das bestimmte Erwartungen an uns hat und unsere Produktionen miteinander vergleichen kann. Was sehr gut für uns ist, weil wir so wichtiges Feedback zu unserer Arbeit bekommen.

HH: Das Festivalpublikum ist sehr interessiert und nimmt uns Künstler*innen ernst.

PK: … was sich auch in der Kultur von Nachgesprächen zeigt: Hier hat man wirklich Lust auf Diskussionen, Kunst im Allgemeinen und Theater im Besonderen ist relevant – ­Theatermachen hat noch wirklich Bedeutung. Das ist manchmal auch heftig: Als wir „Kamp“ in Nürnberg gespielt haben, wurde in einem unmittelbar nach der Vorstellung stattfindenden Publikumsgespräch die These aufgebracht, dass diese Inszenierung ein Skandal sei.

HH: Ja, das war ein intensiver Moment. Viele Menschen waren sofort im Streit involviert, die einen meinten, so ginge es nicht, das sei Banalisierung des Holocausts, andere waren ergriffen und erschüttert, und wir mittendrin …

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„Kamp“, Hotel Modern (NLD). 2007, Fotos: unten Georg Pöhlein, oben Erich Malter

lich betreffen und die dann den Ausgangspunkt für eine multi­disziplinäre Recherche markieren. Ich nehme mal ein anderes Beispiel: Während der Coronapandemie haben wir uns – wie viele Kolleg*innen auch – mit Online-Theater befasst. Gerade die Besonderheit dieser merkwürdig sozialen, weil irgendwie anonymen Verbindung zu den Zuschauenden hat mir den Mut gegeben, ein Stück über Schwangerschaftsabbrüche zu machen. Das hätte ich mich live nicht getraut. Die intime und positive Erfahrung dieser Laptop-zuLaptop-Kommunikation ließ in mir das Vertrauen entstehen, das ich brauchte, um dann später eine Live-Performance zu machen.

HH: Bei „Ons Wereldrijk“ war meine Familiengeschichte der Ausgangspunkt und ich empfinde diese Produktion als eine Selbstbefragung: Wie kann es sein, dass ich ganz lange der Haltung der Kolonialherren gefolgt bin, die sich bis heute in der offiziellen Geschichtsschreibung spiegelt? Derjenige, der für den Genozid auf Banda im Jahr 1621 verantwortlich ist, in dem fast die gesamte Bevölkerung einer Insel abgeschlachtet wurde, gilt in den Niederlanden immer noch als ein Held, es gibt Statuen von ihm und Tunnel sind nach ihm benannt. Sich daran abzuarbeiten und damit vielleicht auch ein Tabu zu thematisieren – nämlich die Defizite unserer eigenen Erinnerungskultur, die Kriegsverbrechen ausspart und sich vom Glanz des sogenannten Goldenen Zeitalters blenden lässt –, ist für uns ein wichtiger Ansatz.

Diese Inszenierung provozierte beim Festival 2023 zu sehr intensiven Debatten …

sehen bekommt, womit man nicht einverstanden sein kann – also nur noch das, was nicht verstört und aufregt. Aber dann entstehen keine Diskussionen mehr. Und damit findet letztlich auch ein Akt von Gewalt statt, der sich gegen künstlerische Arbeit richtet.

PK: Für Künstler*innen, die mit ihrer Arbeit etwas herausfinden wollen, kann dieser Umstand im Vorfeld einer Produktion blockierend wirken – je größer das Minenfeld, desto weniger frei kannst du herumlaufen und Wege ausprobieren.

Natürlich muss man vorsichtig und sorgfältig recherchieren, aber als Künstler*in muss man sich entscheiden dürfen, einen Ansatz zu wählen und damit selbstverantwortlich Risiken einzugehen. Unsere Produktionen sind in diesem Sinn immer ein Angebot zum Dialog.

Und was ist das nächste Projekt?

PK: Aktuell arbeiten wir von Hotel Modern mit Abdelkader Benali, einem in Marokko geborenen niederländischen Schriftsteller: In „De Val van Granada“ (die Premiere ist Anfang März 2025) geht es um das mittelalterliche islamische Reich in Südspanien, das dann der katholischen spanischen Inquisition zum Opfer gefallen ist. Hier wurde die Kultur der Muslime und Juden ausgelöscht – die Konsequenzen hiervon erzählen sich bis in unsere Gegenwart. Wir arbeiten dabei unter anderem mit Schattenspiel, einer für uns völlig neuen Theaterform, was eine ziemliche Herausforderung darstellt.

HH: Wir kommen damit gerne wieder!

PK: Das stimmt. Es gab in Erlangen eine sehr emotionale Diskussion über einzelne Aspekte der Produktion, die in eine Art Fundamentalkritik mündete. Natürlich kann man über den dramaturgischen Zugang streiten, Fragen der Adressierung und der Repräsentation diskutieren. Es ist wunderbar, dass die Menschen sehr sensibel auf Rassismus reagieren – das hat uns auch weitergebracht, zum Beispiel in der Frage der Reproduktion von rassistischen Mustern bei den chinesischen Figuren, die wir trotz sorgfältiger Vorbereitung aus den Augen verloren hatten und anschließend sofort geändert haben. Diejenigen, die Kritik geäußert haben, waren ja aufrichtig bemüht, Dinge zu verbessern und Veränderung anzuregen.

Die an der Toneelschool Arnhem ausgebildete Schauspielerin Pauline Kalker stand bei der ersten Vorstellung, die unter dem Namen Hotel Modern produziert wurde, mit dem Komponisten Arthur Sauer gemeinsam auf der Bühne; dort setzten sie unter der Regie von Arlène Hoornweg, ebenfalls in Arnhem ausgebildet, ein Stück über deren Erinnerung als Achtjährige an ihren plötzlich verstorbenen Vater in Form einer anarchisch-­ musikalischen Nummernrevue um.

Herman Helle, der die Akademie der Bildenden Künste in Rotterdam besucht hat, tourte in den späten 1970er Jahren als Geschichtenerzähler und Posaunist mit dem avantgardistischen Jozef Kip Quartett über die Bühnen des Jazz. Außerdem fertigte er Modelle für Stadtplaner und Architekten, darunter Rem Koolhaas.

HH: Die Maßstäbe politischer oder moralischer Korrektheit an Theaterstücke oder generell Kunstschöpfungen anzulegen, birgt allerdings die Gefahr, dass man nichts mehr zu 81

Rückkopplungen Nachträgliche Anmerkungen eines Kritikers

Dieter Stoll Vorab: Eigentlich wollte er nichts mehr schreiben; das, was aus der Notwendigkeit des journalistischen Alltags formuliert sein wollte, war geschehen, die Aufführungen längst vorbei.

Umso schöner, dass es dennoch gelungen ist, Dieter Stoll, der das figuren.theater.festival Dekaden lang als meinungsstarker Theaterkritiker der Nürnberger Abendzeitung, dem wohl nennenswertesten Kulturteil der Presse in der mittelfränkischen Metropolregion, bis zu deren Verschwinden im September 2012 begleitet und später in zahlreichen Artikeln in Die deutsche Bühne, Theater Heute und nachtkritik.de seine Gedanken artikuliert hat, für einen Beitrag zu gewinnen. Die Idee zu diesem Text, auf die sich Stoll interessiert einließ, war (s)eine Wiederbegegnung mit einst in der Nürnberger Abendzeitung (AZ) getätigten Aussagen, die bei einer Recherche im Pressearchiv der Veranstalter im Kulturamt Erlangen gefunden, nach Themen, Motiven und (unterstellten) Motivationen geordnet und ihm per E-Mail zugeschickt wurden.

Das Festival im Städteverbund

„Falls es, was ja in Puppenwelten vorkommt, dafür einen freien Wunsch gibt, träumen wir davon, etwas mehr von der beflügelnden Erlanger-Festival-Hochstimmung ab 1995 auch ins nüchterne Nürnberg zu holen.“ (24.5.1993) „Die zögerliche Kulturpolitik der beiden Städte (gemeint sind Nürnberg und Fürth, Anm. AS) hat dem Festival die oberste Priorität verweigert, die es längst verdient.

Dabei könnten die Stadträte, würden sie ihren Blick nur kurz ein wenig über den Gartenzaun in Richtung der nahen Nachbarstadt heben, an der dortigen Stimmung erkennen, wie bewegend die Umarmung von Kunst und Volksfest sein kann.“ (15.5.2003) 82

„Zumutung und Zutrauen – gar keine Frage, dieses Festival ist ein Segen für die Kultur-Szene der sonst eher neben- als miteinander aktiven ‚Metropolregion‘.

Es inspiriert, es provoziert, es amüsiert. Nicht immer, aber oft. Daran sollte nicht gerüttelt, das müsste gefestigt werden! Der Ruf der Politik nach Sponsoren sollte kein Rückzugs-Signal sein. Figurentheater ist Hochkultur! Da bleibe die öffentliche Hand gefälligst im Spiel! Nürnberg sollte seinem Publikum etwas mehr zutrauen, was die Erlanger ihren Zuschauern zumuten.

So könnte gar eine Vision für 2011 entstehen.“ (25.5.2009) Dieter Stoll dazu heute: Als das Figurentheater-Festival auf Initiative Erlangens gegründet wurde, herrschte weitreichende Aufbruchstimmung für die sogar halbwegs amtsinitiativ geregelte kulturelle Zusammenarbeit der Kommunen im Städte-Großraum. Damit waren Hoffnungen auf erweiterte Blickfelder verbunden. In Erlangen, befeuert durch Karl Manfred Fischers gerne mit den zögerlicheren Kollegen vom Städtischen Theater – zum Beispiel bei der Organisation von Tanztheater-Gastspielen – konkurrierendes Kulturamt, entstand daraus der große, überschwappende Festivalzauber mit deutlich eigendynamischer Garantie, begünstigt durch konzeptionelle Lücken rundum und die Unvergleichbarkeit so vieler verfügbarer zentraler Spielorte. In Nürnberg, wo die spartenreiche Theaterfabrik den Mittelpunkt der kulturellen Aufmerksamkeit beanspruchte, bildeten die Festivalveranstaltungen eher ein übersichtliches, freilich auf Niveau bedachtes, aber eben keineswegs berauschendes Spalier von Auftritten. An der Dominanz der residierenden Oper/Schauspiel/Ballettsparten im öffentlichen Bewusstsein änderte das nichts. Die Kommentare, die damals für Nürnberg mehr „Erlanger Atmosphäre“ wünschten, waren nicht unsinnig, aber naiv.

Denn Erlangen, das sich zudem durch willkürlich scheinende Einsparfantasien eine überflüssige und gefährliche Zündelei am Festival erlaubte, taugt als Blaupause nicht wirklich. Die Nürnberger Stadtteilkultur, modernisiert oder bloß geschrumpft, hatte und hat andere Ziele, die große Theaterszene andere Dimensionen. Was keineswegs bedeutet, dass man nicht stärker zusammenrücken könnte/ sollte. Was das Figurentheater betrifft, ist ja immerhin als entscheidende Frage weiterhin offen, was zwischen den Zwei-Jahres-Festivals passiert. Da hat Nürnberg in der Tafelhalle mit einer Werkschau von Thalias Kompagnons und der Produktion (unter anderem) von deren internationalem Großerfolg „Zauberflöte – Eine Prüfung“ mit dem ensemble KONTRASTE viel getan, das Theater Salz+Pfeffer mit Eigen­­ produktionen und Gastspieleinladungen ebenfalls überzeugende Ansätze gezeigt.

Wieso wird das zwischen den Höhepunkt-Festivals nicht mehr gepflegt? Bei Salz+Pfeffer gab es gute Versuche übers Kleinformat, die Tafelhalle könnte ehrgeizige Produktionsund Gastspielstätte sein. Wieso ausgerechnet das euphorische Festivalpublikum von Erlangen mit dem etablierten Zwangsfasten von jeweils zwei Jahren zufrieden ist, bleibt mir unerklärbar. Vielleicht muss ein Modell mit den Theatern in Erlangen und Fürth gefunden werden, das für latente Aktivität zwischen den „Höhepunkten“ sorgt, damit Erlangen/ Nürnberg/Fürth tatsächlich ein Zentrum des Figurentheaters werden kann. Im Hinblick auf Kulturpolitik und Förderung geht es schließlich auch darum, mit jedem dieser Festivals ihre Unverzichtbarkeit (auch ihre Unverwechselbarkeit innerhalb der Stadt, der Region und im internationalen Ruf) tiefer zu verwurzeln. „Local heroes“ „Karl Manfred Fischer hat so viele Gruppen engagiert, daß nun gar nicht alle auftreten dürfen. Jetzt gibt’s Ärger mit den Puppen. Ausgerechnet Tristans Kompagnons mit der vielgerühmten Aufführung ‚Wagners Ring‘ wurden erst eingeladen und dann ‚vergessen‘. Die Reaktion hat Logik: Tristan Vogt ärgert sich, daß Künstler mit Wohnsitz in Franken für manchen fränkischen Event-Manager von Natur aus nicht der Rede wert sind.“ (13./14.3.1999) Ja, ärgerlich war das wirklich, denn der Puppen-„Ring“ mit Sängerin durfte als Vorläufer des späteren „Zauberflöte“Erfolgs und Beweis dafür gelten, dass vor Ort außerordentliches Figurentheater entstehen kann. Genau das braucht das Festival, um das öffentliche Bewusstsein für seine Kunst

permanent auch dann zu erhalten, wenn gerade nicht der Ausnahmezustand ausgerufen ist.

Ich habe die frühe Produktion von „Gibt es ein Leben nach der Vorstellung?“ eher zufällig im Nürnberger Burg­ theater gesehen – ich glaube, da nannte Vogt sein Solo noch „Tristans Puppenbühne“ – und war wie vom Donner gerührt von dieser unerwarteten Nürnberger Inspiration. Das war mit einem Hymnus von Kritik der Beginn einer nie endenden kulturjournalistischen Neugier auf die vielen Formate, die da zwischen Kafka und Kusz folgen sollten. „Zwerge. Eine fränkische Passion“ sollte mal wieder auferstehen. Was für ein Jammer, dass der kongeniale Vogt-Partner Joachim Torbahn, der Puppen baute und mit seinem Maltheater eigene Wege fand, so jung verstorben ist.

Weit gefasster Theater- und Genrebegriff „Sie (die Organisatoren) müssen den dreisprüngigen Allerwelts-Begriff Figuren-Objekte-Bilder überprüfen, denn mit der Tendenz zum regelfreien Spektakel ist die Sparte auf die Spur des ,Tanztheaters‘ geraten – also nach allen Seiten beliebig offen. (…) Am wichtigsten war die Puppen-Polonaise aus der ehemaligen DDR: Eine Demonstration von Könnern, die es so geballt in der alten Bundesrepublik nie gab – und gegen deren Gefährdung im gleichgemachten Deutschland das Festival eigentlich offiziell protestiert haben sollte. Hoffentlich existieren sie 1993 alle noch!“ (17.6.1991) „Manches Highlight flackerte und kämpfte mit der Definitionsfrage, wieviel Figurentheater möglich, wieviel Handlung nötig ist. Den elastisch schnalzenden Begriff neu zu straffen, ist womöglich die eigentliche Herausforderung für diese konkurrenzlose Puppen-Parade (…).“ „… so schrammten die Erlanger Veranstalter an der Frage entlang, ob Begriffe noch irgendwas zu bedeuten haben.“ (9.5.2005) Die demonstrativ „offene Spielweise“ des Figurentheaters als proklamierte Basisfreiheit beim Zu- oder Übergriff auf benachbarte Sparten hatte sich dazumal sprunghaft und etwas willkürlich entwickelt. Das Staunen des ersten Jahrzehnts gehörte neben dem Bilderrausch französischsprachiger Compagnien noch vor allem dem aufs Angenehmste aufsässigen Puppenspiel. Dem Kasper als heimlichen Revoluzzer. Die Ausläufer der Fantasiewucht von mindestens 15 institutionalisierten DDR-Puppentheatern übertrafen die mühsamer arbeitenden, in vielen Kämpfen um Subvention ringenden privaten West-Initiativen deutlich. Da konnte man 83

Gisèle Vienne blieb ohnehin eher der Bildenden als der Darstellenden Kunst zugewandt. Sahnehäubchen-Avantgarde, die das Theater vom Rande her grüßte. Ich werde den glücklichen Gesichtsausdruck des Festivalveranstalters nie vergessen, als er beim Schlussbeifall die Botschaft der Logenschließerin weiterflüsterte: „Sind gar nicht so viele gegangen.“ Die zunehmende Biegsamkeit der Toleranzgrenze ist grundsätzlich zu begrüßen. Doch die eingefrorenen Gesichtsmasken mit der unterstellten Körpersprache der Familie Flöz haben letztlich größeren Eindruck hinterlassen, der allgegenwärtige Über-Pate Neville Tranter mit seiner umgestülpt rabenschwarzen Innerlichkeit sowieso. „F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig“, Schuberttheater Wien (AUT). 2017, Foto: Erich Malter

1991 beim ersten Festival nach der Wiedervereinigung eine stolze Bilanz der Protagonisten mit den besonderen gesellschaftlichen Bedingungen (Waidspeicher Erfurt, Hochschule Ernst Busch Berlin/Ost etc.) sehen und dabei ihre Gefährdung angesichts der neuen Rahmenbedingungen ahnen.

Sie haben in der Zwischenzeit an komödiantischer Schlagkraft verloren, aber immerhin, es gibt sie noch.

Die Frage der Sicherung des Begriffs „Theater“ stellte und stellt sich immer, wenn Produktionen auf der Suche nach Perspektiven offenkundig den magischen Sehnsuchtskontakt zu den „neuen Medien“, noch lieber zum grellen Spektakel ausleben, als hätten die Blue-Man-Group-Artisten die heimliche Patenschaft angeboten. Der Reiz der technischen Zauberei, wenn etwa die Programmierung eines Riesenroboters oder die Geisterfahrt einer aufwendig gebastelten Musikmaschine oder der Sturz einer Tänzerin durch 9000 Leuchtschnüre die Überwältigung des Publikums als oberstes dramaturgisches Gebot umsetzte, auch der zwischenmenschliche Sex- und Watschentest eines nackten Mannes an einer Silikonpuppe in Lebensgröße (Skandal?

Ach was!) – all das gehört zu den Erinnerungsfetzen unter Anführungszeichen. Nicht deren jeweils einzelnes Auftreten bis hin zur Zirkusattitüde und dem nachgefühlten Flächenglamour schien mir problematisch, wohl aber die Tendenz, das Theater als Kernkompetenz des Festivals damit fahrlässig zu überlagern.

Dass andere Teams bei ihrer Neuorientierung gewonnene Freiräume mit Inspiration von Tanztheater und Kunstperformance auffüllten, hat mir damals wohl zu viel Angst vor der Auflösung des ganzen Projekts im Allgemeinen gemacht.

Beispielsweise: Der gelegentliche Seitenblick zu Pina Bausch konnte der eigenständigen Entwicklung letztlich nicht schaden, die Bedeutungsschwere der Performerin 84

„Der erklärte Lieblingspuppenspieler aller Franken“ Die Begeisterungswelle für Tranter und sein Stuffed Puppet Theatre hatte das große Festivalpublikum schon erreicht, überspült, als meine erste von vielen folgenden Kritiken gedruckt wurde. Er hat mit seiner Lust am Abgründigen als Solist der tausend Schatten beim Festival die Welt- und Literaturgeschichte allmählich zu einer eigenen Bibliothek des juchzenden Grauens ausgebaut. Dass indes zwischen Shakespeares Wesen, dem zappelnden Kult-Elvis und dem Schicklgruber, gar dem Fusselbart-Gott, gelegentlich auch Fehldrucke entstanden, war wohl unvermeidlich. Was mich dabei etwas ärgerte: die Pauschalisierung der Zustimmung ab einem gewissen Grad der Popularität. Das Umschmeicheln wurde der großen Kunst von Tranter nicht immer gerecht. (…) Dass mit dem Wahlfranken Tristan Vogt und dem Österreicher Nikolaus Habjan zwei großartige Puppenspieler unterschiedlicher Generation die Begegnung mit Tranter als Auslöser der eigenen Karriere nennen, ist allerdings ähnlich viel wert wie das imposante Repertoire des Stuffed Puppet Theatre.

Tabus und Perspektiven

„Gibt es fürs Spiel mit Puppen und Modellbauteilen denn gar kein Tabu? (…) Ihre Produktion ist ein Schock.

Weil sie in scheinbarer Niedlichkeit das Entsetzen fixiert. (…) Was die hundertfach gesehenen Echt-Filme nicht mehr leisten, schafft (vielleicht) diese Art von pathosfreier Umweg-Emotion.“ (zu „Kamp“/Hotel Modern, 16.5.2007) Der Aufbau eines Konzentrationslagers im Spielzeugmaßstab war eine der größten Provokationen im Rückblick auf alle Festivalprogramme. Schon bei der Ankündigung, auch während der Aufführung und dann weit darüber hinaus. Darf man das? Soll man das? Man kann es jedenfalls, in der Hoff-

nung, dass das Ungeheuerliche in der Spiegelung der niedlichen Stilisierung eine neuerliche Wirkung entfaltet, die nur in diesem Rahmen der ausgereizten Zumutung denkbar ist.

Das hat als Herausforderung selbst dann funktioniert, wenn das Unbehagen über diese Idee auch nach Kenntnis der Präsentation bestehen blieb.

Und noch eine inhaltlich verwandte Produktion muss hier erwähnt werden: Auf besondere Art hat den Umgang mit dem kaum Erzählbaren der junge Nikolaus Habjan im Kleinformat geschafft – schon 2012 in Wien, 2015 und 2017 beim Festivalgastspiel in Erlangen und Fürth und gültig für alle Ewigkeit in diesem Genre. Ergreifendes Dokumentationsund Emotionstheater in gegenseitiger Umarmung. Das Recherche-Drama „F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig“ erzählt die wahre Geschichte eines Mannes vom gern so definierten Rand der Gesellschaft, der im NaziÖsterreich durch medizinische Experimente eines „sachverständigen“ Anstaltsarztes als Versuchsperson gequält wurde und im Nachkriegsland diesem furchtbaren Amtsmediziner erneut in dessen anmaßender Übergriffigkeit begegnet.

Habjan hatte intensive Gespräche mit dem trotz allem umwerfend lebensfroh gebliebenen Opfer geführt und für sein Stück mit großer Klappmaulpuppe eine tragikomische Umsetzung dieser beeindruckenden Begegnung gefunden, die den Zuschauer nicht mehr sortieren lässt, ob er Tränen weint oder lacht. Figurentheater, wie es – bei diesem Thema – weder durch Sachbücher noch durch Filme ersetzt werden kann. Hier ist nichts Requisite, nichts Pose – hier ist alles Körper und Seele.

Applaus und Kritik „Aufbruch an den Grenzen. (…) Da darf man aber durchaus bei jeder neuen Erfahrung fragen, ob es denn wirklich eine war. Ist ein Star wie Neville Tranter hier inzwischen so abgehoben, daß ihm Publikum und ­Kritiker nur verehrungsvoll zu Füßen liegen (statt sein Stück anzuschauen), so begleiten Extremkünstler wie Jo Fabian und Jaques Templeraud mit ihren Szenen-Erfindungen skeptische Kommentare.“ (18.5.1995)

Wichtig ist die Information über den Applaus nicht für die Kritik, aber sicher für die Kritisierten und das noch nicht entschlossene Publikum, das nach Orientierung sucht und diese nicht in jeder Kritik findet. Es ist aber erlaubt, ja geboten, den Jubel oder die Ablehnung einzuordnen: Wie viel Bonus bringt der „Superstar“-Status, wo setzt die Blockade gegen Neues ein? Und wann sind Künstler „feste Größen“, deren Wirkung so sicher ist, dass sie besonderer Hinterfragung bedürfen?

Was die Vermittlung oder Kontextualisierung sperriger Ästhetiken angeht, sollten sich die Kritiker bitte nicht verbiegen, als Kavallerie des ästhetischen Fortschritts sind sie überfordert und dauerhaft sowieso nicht glaubwürdig. Die Mühe, Zusammenhänge herzustellen und Hintergründe zu erläutern (sofern man sie denn selber verstanden hat), sollte von den Kritikern dagegen unnachsichtig verlangt werden. Auch wenn vielleicht fraglich ist, was man mit ­Kulturjournalismus überhaupt ausrichten kann: Jedenfalls sollte dieser mehr sein als eine Ankündigungspinnwand der Veranstalter.

Ich setzte sogar darauf, dass die Kritik wieder mehr Ambition entwickelt, also neben der selbstverständlichen Berichterstattung viel mehr in die Umlaufbahn der Kulturpolitik, wo das Figurentheater ja noch immer nur irrlichtert, eingreift.

Die Zitate aus Dieter Stolls Kritiken wurden zusammengestellt von André Studt, der auch die einleitenden Absätze verfasste.

Dieter Stoll kam 1944 in Halle an der Saale zur Welt und lebt seit 1950 in Nürnberg. Nach dem Gymnasium absolvierte er eine Ausbildung zum Schriftsetzer und anschließend ein Volontariat beim Sebaldus Verlag. 1969 kam er zur Kulturredaktion der Abendzeitung. Als freier Journalist war er zudem u. a. für den Bayerischen Rundfunk und verschiedene ­ Theater­ magazine tätig, bevor er 1974 die Leitung des Kulturressorts der Abendzeitung Nürnberg übernahm, die er bis zu seinem Eintritt in den Ruhe­stand im Jahr 2009 innehatte. Er ist weiterhin – immer sporadischer – als freier Autor und Kritiker für die Deutsche Bühne, das Online-Magazin Curt und das Portal nachtkritik.de tätig.

„Der Beifall, bei Fred Delfgaauw nur respektvoll, war bei Neville Tranter dennoch wieder der reine Jubel.“ (18.5.2001)

„Und, ehrlich gesagt, ein ordentliches Buh-Konzert im Einzelfall würde der Lebendigkeit des Festivals mehr bringen als die laue Toleranz als äußerstes Mittel ­kritischer Auseinandersetzung.“ (22.5.2009)

„Ristorante immortale“, Familie Flöz (DEU). 1999, Foto: Erich Malter

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„Shooting Star“, Théâtre de la Mezzanine (FRA). 2003, Foto: Erich Malter

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„Ne m’oublie pas“, Cie. Philippe Genty (FRA). 2013, Foto: Georg Pöhlein

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„Diktatur“, Akhe (RUS). 2019

„Demokratie“, Akhe (RUS). 2019

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„Ikarus“, Akhe (RUS). 2023, alle Fotos dieser Doppelseite: Erich Malter

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„Some Significance“, Eva Meyer-Keller (DEU/SWE). 2019, Foto: Erich Malter

„In Many Hands“, Kate McIntosh (NZL/BEL). 2017, Foto: © Dirk Rose

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„City Now“, Hotel Modern (NLD). 2011, Foto: Erich Malter

„Plexus“, Compagnie 111 – Aurèlien Bory (FRA). 2017, Foto: Georg Pöhlein

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„Kindertotenlieder“, Gisèle Vienne (FRA). 2011, Foto: Erich Malter

„Ein Sommernachtstraum“, Oskaras Koršunovas Teatras (LTU). 2005, Foto: Werner Schwenke

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Fördernd und kritisch begleiten

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„Die Zauberflöte – Eine Prüfung“, Thalias Komagnons & ensembleKONTRASTE (DEU).

2007, Foto: Erich Malter

„Sind wir Freunde?“, Thalias Kompanons/ Tristan Vogt (DEU). 2023, Foto: Georg Pöhlein

Ermutigen und herausfordern Vier Jahrzehnte Praxis als Akteur und Zuschauer

Tristan Vogt Inspiration Eigentlich wage ich mir gar nicht auszumalen, wie mein beruflicher Lebensweg verlaufen wäre, hätte ich nicht das unverhoffte Glück gehabt, während meiner Nürnberger Abiturzeit – vor über 40 Jahren – von einer der ersten Ausgaben des Internationalen Figurentheater-Festivals Erlangen/Nürnberg überrascht zu werden (Fürth und Schwabach waren damals noch nicht dabei). Gerade hatte ich die Zusage vom Hohnsteiner Puppentheater (dem Schallplatten-Idol meiner Kindheit) in der Tasche, in der nächsten Spielzeit als Eleve mit auf Tour zu gehen, da kaperten internationale Figurentheatertruppen die Nürnberger Bühnen des Schauspielhauses, der Kammerspiele, des Gostner Hoftheaters, des Burgtheaters und verzauberten mit Virtuosem, Abgründigem, Surrealem, Nie-Gesehenem. Erstaunt und beglückt stellte ich fest: Das ist das Theater der Zukunft, nicht nur der Nostalgie!

Lange blieb ich dann nicht bei den Hohnsteinern, studierte – eher aus dem Wunsch nach intellektueller Anregung denn mit ernsthaften akademischen Absichten – in Erlangen Literaturgeschichte und Soziologie und sah dann bei der nächsten Festivalausgabe 1985 im kleinen Nürnberger Burgtheater Neville Tranters markerschütterndes Comingout mit den „Sieben Todsünden“. Ein zutiefst berührender Höllenritt, getragen von persönlichem Mut und unbedingter Authentizität. Unerreichbar für mich Anfänger, aber doch die Initialzündung, meinen eigenen Weg in diesem Genre zu suchen und dabei auch persönliche Ängste, Schatten und Dämonen zu erforschen und zu nutzen.

Ermutigung Heute eher schwer vorstellbar, rief der damalige Nürnberger Festivalleiter Ernst Dietrich Hollmann (vom Amt für kulturelle Freizeitgestaltung) von sich aus bei mir an und schlug vor, zum nächsten Festival 1987 doch eine Erwachsenenproduk-

tion beizusteuern. Was für ein Vertrauensvorschuss, was für eine Ermutigung, was für eine Herausforderung! Ich holte mir die Unterstützung zweier Schulfreunde: Die eine wurde später Ärztin, der andere – Joachim Torbahn – studierte Malerei und blieb die nächsten 34 Jahre und bei sämtlichen Produktionen dabei, erst als Figurenbildner, Ausstatter, Regisseur und humorbegnadeter Co-Autor, später auch als Mitspieler, Solo-Maltheater-Erfinder, Kompagnon und Tournee-Weltreisender bis zu seinem viel zu frühen Tod im Dezember 2021.

Herausforderung Das Festival leistete unschätzbare Pionierarbeit: Aus einer andernorts allenfalls belächelten und von den Feuilletons wie selbstverständlich ignorierten Sparte wurde unter der Leitung von Initiator Karl Manfred Fischer ein Publikumsmagnet, ein echter Saisonhöhepunkt – über den auch die Presse staunte und von dem die (damals noch drei) Nürnberger Tagesszeitungen ausführlich und differenziert berichteten. Für uns wurde klar: Wir mussten und durften etwas wagen, um in diesem Umfeld zu bestehen. Während Kollegen von außerhalb kopfschüttelnd klagten: „Für so etwas hätten wir das Publikum nicht“, konnten wir auf die durch das Festival geweckte Offenheit und Neugier bauen, unserer Leidenschaft folgen und dabei ehrgeizig annehmen, das Publikum würde sich dafür schon finden. Insbesondere der Theaterkritiker Dieter Stoll wurde jahrzehntelang zum unermüdlichen Fürsprecher der „im Vergleich zu anderen Theatersparten ungeheuren Poesie“ des Figurentheaters. Indem er es (und auch unsere Produktionen) genauso ernst nahm wie Oper und Schauspiel, fühlten wir uns verstanden, motiviert und herausgefordert.

Lernen Truppen, die ich erstmals in Erlangen und Nürnberg zu sehen bekam und die mich faszinierten, haben mich später außerhalb des Festivals auf intensiven Workshops nachhal95

tig geprägt. Mit Philippe Genty und Mary Underwood erforschten wir Teilnehmenden vier Wochen lang die Welt des Absurden, der Traumlogik, der Metamorphosen; und die Objekttheater-Pioniere Jacques Templeraud und Gyula Molnár verhalfen uns durch hintersinnig-einfache Spielregeln zu magischen Momenten von unangestrengter Leichtigkeit.

Sehr viel „schulischer“, aber auch darin sehr lehrreich, ließ mich Prof. Hartmut Lorenz in unzähligen Kaffeehausgesprächen teilhaben an den didaktischen Grundlagen der von ihm gegründeten und lange Jahre geleiteten Puppenspielabteilung der Ostberliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Kennengerlernt hatte ich ihn zwar schon vor der „Wende“ auf einem Festival in damals noch „Jugoslawien“, doch schon bald nach dem Mauerfall lud das Erlanger Festival regelmäßig den Berliner und Stuttgarter Studiengang samt Dozenten ein, die Aufführungen zu besuchen und intern zu besprechen. Hartmut Lorenz’ messerscharfe (und nicht immer freundliche) Analysen der gerade besuchten Vorstellungen – auch unserer eigenen – gehörten für mich seitdem untrennbar zur speziellen Erlanger Festivalatmosphäre.

Zusammenarbeit Die besondere kollegiale Aufgeschlossenheit in unserer noch immer eher subversiven als staatstragenden Theatersparte wurde auch durch die Café- und Kneipenmeile in der Erlanger Theaterstraße glücklich gefördert. Was dort zum Beispiel erst mal nur eine Schnapsidee schien, wurde von Hartmut Lorenz ernsthaft eingefordert: Ich wurde Gastdozent an der Ostberliner Puppenspielabteilung und verdanke den Studierenden und Lehrenden unvergessliche technische und künstlerische Impulse. Auch die Wege von Gyula Molnár und unserem Theater kreuzten sich immer wieder auf dem Erlanger und vielen anderen Festivals. Seiner künstlerischen Großzügigkeit und entspannt subtilen Regie verdanke ich „Macbeth für Anfänger“1, eine schwindelerregende Shakespeare-Kasperliade. Sie zu spielen ist auch nach bald 20 Jahren für mich noch immer ein Geschenk.

Entgrenzungen Um einen Schatz zu suchen, kann man entweder immer tiefer graben oder immer wieder woanders. Das eine mag konsequent oder verbohrt, das andere offen oder oberflächlich erscheinen.

Bei aller faszinierenden Vielfalt traditionsverbundener und innovativer Formen und Symbiosen, Entgrenzungen und Vermischungen, Installationen, Performances und digitaler Experimente, die Bodo Birks Erlanger Festivalteam und seine Kolleg*innen entdeckt und zur Diskussion eingeladen 96

haben, ertappte ich mich gelegentlich doch dabei, manches davon ungeduldig und vorschnell als zu museal, anderes als zu unausgegoren, zu inkonsequent abzutun – und auch unsere eigene Formensuche von diesen recht blasierten Werturteilen beeinflussen zu lassen.

Als wichtige Ergänzung und Korrektur erlebten wir darum auch die Einladungen auf Internationale Kinder- und Jugendtheater-Festivals wie das vom Nürnberger Theater Mummpitz ebenfalls im Zwei-Jahres-Rhythmus ausgerichtete Panoptikum. Mit wohltuender Selbstverständlichkeit sind hier längst auch die „animierten Formen“ vertreten – nicht in einer unter besonderem Profilierungszwang stehenden Spezialnische, sondern weil das fantasieentfesselnde Spielen mit Puppen, Dingen, Materialien uns kleinen und großen Kindern ganz einfach naheliegt.

Etwas für Kinder zu erfinden kann sehr befreiend sein, und ich halte das inzwischen für die Königsdisziplin – zwingt und erlaubt sie uns doch, das Vieldeutige, Komplexe im ganz Einfachen zu finden und zu entwickeln. Oder, wie die große Objekttheater-Zauberin Agnès Limbos gerade auf einem Workshop am Theater Mummpitz lakonisch resümierte: „To find simplicity is not easy. – But it’s so nice, when it is simple.“ Überlege ich, was all den vielen Lieblingsschätzen ge­­­ meinsam ist, die mich in 40 Jahren Figurentheater-Festival nachhaltig beglückt und geprägt haben, sind es ein paar einfache Dinge, die gar nicht einfach zu finden sind: Als Zuschauer wie als Spieler ist es die Sehnsucht nach einem Theater, das uns emotional berührt, das einen neuen Blick auf die Welt schenkt, und das uns – gerade nach all den pandemisch digitalen Ersatzhandlungen – gemeinsam lebendig und verwandelt fühlen lässt.

Tristan Vogt wandte sich nach einem Studium der Germanistik und Soziologie dem Puppentheater zu, ist seit 1990 im Hauptberuf Puppenspieler und Autor bei Thalias Kompagnons (ursprünglich Tristans Kompagnons). Es entstanden zahlreiche, z. T. preisgekrönte Inszenierungen, mit denen er und Joachim Torbahn weltweit unterwegs waren, mitunter begleitet von kollaborierenden Künstler*innen. Allein beim figuren.theater.festival waren sie fast 30-mal vertreten – der Bogen spannt sich von „Me and my creator or: what’s the difference?“, einer vielfach gebrochenen Revue vom chronisch unglücklichen modernen Menschen (Festivalausgabe 1987) über den ­wahnwitzigen Opernabend „Wagners Ring“ (1999) und dessen hinreißend komisches ­Gegenstück „Die Zauberflöte. Eine Prüfung“ als Handpuppenspiel mit LiveVideo (2007, mit dem Ensemble Kontraste), legendäre Maltheatervorstellungen („Was macht das Rot am Donnerstag?“ 2005, „Rabenschwarz und Naseweiß“ 2017) bis hin zu Tristan Vogts poetischen Objekt-­Kontempla­ tionen für Kinder, deren letzte, „Sind wir Freunde?“, bei der Festivalausgabe 2023 auch Erwachsene bezauberte, im Wortsinne … um nur einige der Inszen­ierungen zu nennen, die in den vier Festivalstädten bisher zu sehen waren.

1 Nach „Macbeth all’improvviso“ von Gigio Brunello und Gyula Molnár, 2005 in Nürnberg und Erlangen, 2019 im Schwabacher ­Festivalprogramm.

Vor Ort und exklusiv Ein internationales Festival als Förderer der regionalen Szene

Michael Bader Es war im Jahr 2011. In der Tafelhalle Nürnberg war während des internationalen figuren.theater.festivals erneut ein regelmäßig wiederkehrendes Phänomen zu beobachten.

Zehn Tage Vorstellungen, zehn Tage ausverkaufte bis sehr gut besuchte Hütte und ein altersmäßig sehr gemischtes Publikum, das eines gemein hatte: Die wenigsten „­Gesichter“ gehörten zum Stammpublikum des 1987 eröffneten Veranstaltungshauses. Ein städtisches Haus, das im Untertitel „Musik-Tanz-Theater“ als unscharfes Charakteristikum trägt und möglichst kulturkampfrein der Freien Szene gewidmet sein soll. „Theater-Warenhaus mit Spezialabteilungen“ oder Gemischtwarenladen? Immer auf der Suche nach Profil.

Aufmerksamkeit und Wertschätzung Die Idee, ein offensichtlich im Großraum Nürnberg vorhandenes, ganz neues „Zielpublikum“ zu generieren, erschien naheliegend und Erfolg versprechend. Die Programmleitung der Tafelhalle, damals wie heute nicht identisch mit der Programmleitung des Festivals, richtete spontan für das Zwischenjahr bis zum nächsten Großraumspektakel 2013 eine Reihe „Figurentheater Extra“ ein. Um dem interessierten Publikum all jene aktuellen Inszenierungen der auf den Festivals erfolgreichen Künstler*innen und Ensembles anzubieten, die „zwischen den Jahren“, also zwischen den biennal stattfindenden Festivals, durchs Raster fallen könnten. Das Ergebnis war niederschmetternd. Nicht nur, dass die Kolleg*innen in Fürth und Erlangen sich alles andere als ­amused zeigten. Sondern auch das Publikum spielte nicht mit, hatte das Angebot nicht bemerkt oder nicht bemerken wollen. Es kam nicht. Die Tafelhalle blieb bei den Gastspielen dünn besucht, die Idee fiel durch.

Eine wichtige Erfahrung: Die Theaterbesuchenden in diesem Großraum, zu dem neben Fürth, Erlangen und Nürnberg auch Schwabach zählt, wollen das Besondere. ­

Und das ist zum einen diese älteste und gleichzeitig innovativste theatrale Kunstform und zum anderen wollen sie diese exklusiv. In einem konzentrierten Zeitraum, in einem ­Festivalrhythmus. Gleich einem ausgewogenen Balletttraining mit dosiertem Tension and Relax. Eine erwartbare ­Routine?

Dieses, nennen wir es Phänomen, wenngleich es gar nicht so außergewöhnlich ist, hat mehrere Auswirkungen auf die örtliche Figuren-, Puppen- und Objekttheaterszene. Der Drang und das Bedürfnis, auch als Gruppe, die hier im Fränkischen lebt und arbeitet, sich auf diesem Festival zu zeigen, ist enorm. Manche sagen sogar „über-lebenswichtig“. Alle zwei Jahre, während dieser zehn Tage, werden sie von einem größeren Publikumskreis gesehen, wahrgenommen, und erfahren die so wichtige Aufmerksamkeit und Wertschätzung vor Ort. Als mindestens ebenso bedeutend ist es einzuschätzen, dass sie von der nationalen und internationalen Szene wahrgenommen werden, dass sie im Pool der über 200 Vorstellungen von gut 60 Kompanien ein- und gemeinsam auftauchen und daraus Kraft schöpfen können.

Da macht es meist keinen Unterschied, ob Wally und Paul Schmidt, Stefan Kügel und seine Söhne Benjamin und Nando, Johannes Volkmann, Thalias Kompagnons oder Tristan Vogt zusammen mit Katinkaspringinsfeld gut abgehangene Produktionen aufführen oder sich dem Wagnis aussetzen, die noch dünnhäutige Premiere einer neuen Arbeit anzubieten. Den Programmleiter*innen des Festivals in den jeweiligen Städten kommt dabei die Verantwortung zu, sie im Blick zu haben und ihnen einen geschützten Rahmen zu bieten. „Dabei sein ist alles“ ist da nicht das entscheidende Motiv.

Gezielte Förderung Das figuren.theater.festival verstehen die Verantwortlichen somit auch als Instrument gezielter Förderung der örtlichen Szene. Was möglicherweise mit der eher unüblichen 97

„Das ist der Gipfel“, Papiertheater Nürnberg (DEU). 2019, Foto: Erich Malter

­ estival-Genese als städtische Gründung zusammenhängt.

F Keine Künstler*innen, keine Initiativen, keine Vereine und gemeinnützigen Organisationen stehen hinter dem „Figu“.

Heute sind es die Kulturämter der vier beteiligten Städte.

Diese haben feste Etatpositionen für das Festival in den ­Kulturbudgets. Erlangen, das mit großem Abstand größte, es folgen Fürth und Nürnberg in etwa gleichauf, Schwabach begibt sich gerne mit den wenigen Mitteln auf Perlensuche.

Der kleinste Partner spielt eine besondere, keine Außenseiterrolle.

Mit der Arbeitsgemeinschaft Kultur im Großraum Nürnberg – Fürth – Erlangen – Schwabach (ARGE), die sich innovativen Kulturprojekten im Großraum widmet und dafür kulturelle Arbeit in einem stadtraumübergreifenden Konzept plant und koordiniert, hat das Festival eine weitere finanzielle Unterstützerin gefunden. Die ARGE hat das Festival zu ihrem Schwerpunkt auserkoren und begleitet es finanziell erheblich. Mehrere Jahrzehnte hindurch haben sich die ARGE-Mitglieder für wechselnde Großprojekte entschieden und investieren heute eine mittlere fünfstellige Summe in ein Projekt: das figuren.theater.festival, das seit über 40 Jahren ebendiesen Großraumgedanken lebt. Für Sonderprojekte innerhalb der breiten Themenpalette (zuletzt z. B. „Globale Perspektiven“) darf das Festival inzwischen mitunter aus dem „Kulturfonds“, also aus Mitteln des Freistaats Bayern, schöpfen.

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Eine Art mittelbare Querfinanzierung fließt durch die festen, also kontinuierlich sprudelnden Haushaltsstellen des Nürnberger Kulturbudgets. In der größten Stadt des Großraums wird die gewachsene Figuren- und Objekttheaterszene finanziell, mit Auftrittsmöglichkeiten in den städtischen Kulturorten Künstlerhaus und Tafelhalle Nürnberg sowie mit Ko- und Auftragsproduktionen unterstützt. Davon haben das Theater Salz+Pfeffer genauso profitiert wie Johannes Volkmann und sein „Papiertheater“ oder Thalias Kompagnons.

Diese städtischen Zuschüsse – besser: Investitionen! – ermöglichen es zudem, dass die drei Theater weitere Mittel beim Bezirk Mittelfranken und beim Land Bayern akquirieren und somit ihre Jahresetats zu soliden Grundlagen matchen können.

Die kulturpolitische Förderung Nürnbergs hängt sich nicht an konkreten Erfolgszahlen, Zuschauer*innen, Anzahl der Gastspiele und ähnlich schrägen Kriterien auf. Sie begleitet die künstlerischen Gruppierungen der Stadt seit Jahren partnerschaftlich und lässt Veränderungen und Wandlungen zu. So fanden Wally und Paul Schmidt als Gruppe ohne Haus genauso Unterstützung wie als Betreiber einer eigenen Spielstätte für Puppentheater, des Theaters Salz+Pfeffer; und auch jetzt, da sie seit 2024 unter dem Namen Theater SalzstreuNer mit ihren Inszenierungen wieder auf Tour gehen, können sie auf Support der Stadt zählen.

Der Spielort Theater Salz+Pfeffer bleibt zudem weiterhin fester Bestandteil des Nürnberger Spielplans und Veranstaltungsort des figuren.theater.festivals. Anderes Beispiel für kontinuierliche Förderung: Johannes Volkmann, bei dem das Papier als Objekt derzeit nicht die Hauptrolle spielt, der stattdessen mit „Gesellschaftsinszenierungen“ eher als Joseph-Beuys’scher Vermächtnisnehmer die Lebenswelt gestaltet. Auch Thalias Kompagnons werden weiter vom Amt für Kultur und Freizeit der Stadt Nürnberg begleitet und der nach Joachim Torbahns frühem Tod „verwaiste“ Tristan Vogt in seiner neuen, stärker als zuvor solistisch geprägten Arbeitssituation unterstützt.

Dass die letzte gemeinsame Produktion der beiden langjährigen Kompagnons, die 2021 entstandene Bildergeschichte „Wenn Ferdinand nachts schlafen geht“, in neuer Besetzung bei der Festivalausgabe 2023 in allen vier Städten erfolgreich gastierte, zeigt doch eines: Dass die Förderung des internationalen figuren.theater.festivals immer auch Förderung der regionalen Figurentheaterszene bedeutet – und umgekehrt.

Michael Bader, siehe S. 53

Auf Augenhöhe Zum Verhältnis zwischen Festivalveranstalter*innen und Künstler*innen

Bodo Birk Dieser Text entsteht zum Jahreswechsel 2024/25. Mein Arbeitgeber, die Stadt Erlangen, befindet sich in einer schweren finanziellen Krise. Einige Erlanger Unternehmen müssen große Teile ihrer Gewerbesteuer-Zahlungen für 2023 und 2024 zurückerhalten. Wir sprechen über einen Betrag, der in etwa einem Viertel des gesamten Haushalts der Stadt Erlangen entspricht. Eine nicht leistbare Größenordnung. Im Januar wird der Erlanger Stadtrat einen Haushalt verabschieden, von dem wir jetzt schon wissen, dass er von der Regierung nicht genehmigt werden kann. Tatsächlich besteht die Sorge, dass die eben noch wohlhabende Stadt im bevorstehenden Jahr nicht einmal ihren gesetzlich vorgeschriebenen finanziellen Verpflichtungen nachkommen und die Gehälter ihrer Mitarbeiter*innen zahlen kann.

Krisen gemeinsam durchstehen In einer solchen Situation fällt es mir als langjährigem Mitarbeiter der Stadt Erlangen schwer, ununterbrochen die Wichtigkeit von Kulturveranstaltungen zu betonen. Obwohl uns natürlich allen bewusst ist, dass gerade in krisenhaften Situationen gesellschaftlicher Zusammenhalt und identitätsstiftende Ereignisse von besonderer Bedeutung sind. Eine Überzeugung, die – und das ist die positive Nachricht – offensichtlich auch die Stadtspitze und die Politik in Erlangen teilt. Wäre das Festival vor 14 Jahren in einer deutlich weniger dramatischen Haushaltssituation beinahe abgesagt worden, und konnte nur durch das großzügige Engagement eines Sponsors gerettet werden, gehen wir – Stand heute – davon aus, dass das Festival 2025 stattfinden kann, wenn auch in stark reduziertem Umfang.

Die Krise gemeinsam durchzustehen, den Haushalt der Stadt Erlangen zu konsolidieren, ohne zentrale Strukturen zu verlieren, das ist derzeit die kulturpolitische Linie. Dabei muss man sich aber im Klaren darüber sein, dass ein in seinem

Umfang deutlich „heruntergefahrenes“ Festival nicht nur für das Publikum weniger attraktiv ist, sondern vor allem bedeutet, dass zahlreiche Künstler*innen und freie Mitarbeiter*innen, die mit einem Engagement und Einkünften rechnen durften, leer ausgehen werden. Das Schizophrene daran ist, dass das Festival unter diesen Umständen genau das nicht oder zumindest nicht im notwendigen Maße wird leisten können, was in den vergangenen Jahren dazu geführt hatte, dass in ihm mehr gesehen wird als ein nettes Event, dessen Durchführung nach Haushaltslage entschieden werden kann: die Öffnung des Festivals in die Stadtgesellschaft, Aktivitäten im öffentlichen Raum, Zugehen auf neue Zielgruppen, Förderung des künstlerischen Nachwuchses und enge und nachhaltige Zusammenarbeit mit Künstler*innen und TheaterCompagnien zum Vorteil der Künstler*innen und der Stadt.

Vertrauen in künstlerische Entwicklungen Zum ersten Mal intensiver auseinandergesetzt mit dem Verhältnis zwischen Veranstalter*innen und Künstler*innen habe ich mich vor 20 Jahren, als ich als junger Festivalleiter unverhofft zu einer Podiumsdiskussion nach Paris eingeladen wurde. Eine Handvoll französische Künstler*innen waren aufgefordert worden, jeweils eine veranstaltende Person einzuladen, mit der sie sich verbunden fühlten. Renaud Herbin, damals gemeinsam mit Julika Mayer und Paolo Duarte als „Là Où – marionette contemporaine“ am Anfang seiner Karriere, später zehn Jahre lang Intendant des TJP – Centre dramatique national de Strasbourg, hatte mich ausgesucht. In der Vorbereitung auf diesen Text habe ich jetzt entdeckt, dass auf dem Podium damals auch ein gewisser Philippe Quesne saß, mit dem das Festival inzwischen auch eine langjährige Zusammenarbeit verbindet.

Im Zuge dieser Veranstaltung wurde mir deutlicher als bisher bewusst, dass es für den künstlerischen Prozess nicht nur notwendig ist, durch regelmäßige Engagements die materielle Basis für die Arbeit zu erhalten, sondern auch, 99

dass verlässliche Partnerschaften mit Orten und Veranstalter*innen wichtig sind – Veranstalter*innen, die Vertrauen in künstlerische Entwicklungen haben, bereit sind, Risiken mitzutragen und so gemeinsam mit dem Publikum den Weg von Künstler*innen zu begleiten. Nun können wir als Festival in Erlangen ohne eigene Infrastruktur, Technik, Probenräume, Künstler*innenwohnungen usw. als Kooperationspartner im Gegensatz zu festen Häusern, wie die Schaubude Berlin oder das FITZ Theater animierter Formen in Stuttgart, nur in eher geringem Umfang die Produktion von Inszenierungen unterstützen. Neben der festen Zusage eines Engagements – immerhin eine kalkulierbare Einnahme – zahlen wir bei Koproduktionen lediglich einen kleinen Produktionskostenzuschuss, nur in Ausnahmefällen kann eine Probenphase in Erlangen oder konzeptionelle Mitwirkung angeboten werden. Dennoch haben wir in den letzten Jahren erfahren, dass auch das schon kleine, aber wichtige Bausteine in einer künstlerischen Entwicklung sein können.

Machtverhältnisse, (un-)eigennützige Unterstützung Etwas anderes scheint mir jedoch mindestens genauso wichtig wie die organisatorische und finanzielle Förderung, und das ist die Tatsache, dass sich bei einer Koproduktion das Verhältnis zwischen Künstler*in und Veranstalter*in verschiebt. Koproduzierende fahren nicht durch die Lande, sitzen auf den besten Plätzen oder vor dem Monitor und shoppen die besten und gelungensten Inszenierungen, sondern sie setzen sich bewusst ins selbe Boot. Künstler*innen sind in einem Koproduktionsverhältnis nicht mehr länger allein vom Wohlwollen der Veranstalter*innen und Kurator*innen abhängig – ob der Daumen hoch geht oder runter –, sondern auch die Veranstalter*innen begeben sich in ein Abhängigkeitsverhältnis. Als Koproduzent*in macht man den eigenen Veranstaltungserfolg davon abhängig, dass der künstlerische Prozess, in den man investiert, entsprechend erfolgreich verläuft.

Denn auch eine weniger gelungene Inszenierung kann – so die Verabredung – nicht mehr ausgeladen werden. Wir empfinden diese Situation in einem grundsätzlich natürlich weiterhin ungleichen Machtverhältnis zwischen Veranstalter*in und Künstler*in als einen gewissen Ausgleich.

Selbstverständlich hat es nicht nur uneigennützige Gründe, wenn sich Veranstalter*innen für Koproduktionen entscheiden. Eine unserer ersten Koproduktionen vereinbarten wir mit Nico and the Navigators. Bei einem Gastspiel mit „Helden & KleinMUT“ im Rahmen des Festivals 2005 hatten wir uns mit Nicola Hümpel und Oliver Proske angefreundet – zum unprofessionell scheinenden Begriff „Freundschaft“ komme ich später noch – und durften dann 2007 einen 100

bescheidenen finanziellen Beitrag zum Erfolg der Produktion „Obwohl ich dich kenne“ leisten. Natürlich schmeichelte uns die Anfrage einer zu diesem Zeitpunkt schon renommierten Compagnie und schien es uns für ein Festival, das nach wie vor mit dem Begriff „Figurentheater“ im Namen in der deutschsprachigen Festivalszene unterschätzt wurde, hilfreich, als Koproduzent in einer Reihe mit Kampnagel Hamburg, dem Festival de Marseille und dem Grand Theatre Groningen zu stehen. Bedeutsamer war jedoch, dass uns die Arbeit von Nicola Hümpel und Oliver Proske – die Nähe zur Bildenden Kunst, der Umgang mit dem tänzerischen Körper und die skulpturalen, teilweise animierten Bühnenbilder – programmatisch für die Weiterentwicklung des Festivals schien. Aus ähnlichen Gründen und auf vergleichbarem Niveau folgten Koproduktionen mit der N ­ eedcompany, dem Medienkünstler Klaus Obermaier, den ­Superamas, dem TJP Straßburg oder Rimini Protokoll.

Inzwischen lässt sich in unserer Koproduktionsausrichtung eine Neuorientierung beobachten: Vielleicht, weil wir als Veranstalter selbstbewusster geworden sind, weil wir uns einbilden, dass es inzwischen ein breiteres Verständnis dafür gibt, was wir heute unter zeitgenössischem Figuren-, Bilder- und Objekttheater verstehen, vielleicht aber auch nur aufgrund der realistischen Erkenntnis, dass unsere vergleichsweise geringen finanziellen Zuschüsse eher geeignet sind, weniger bekannte Künstler*innen, die zum Teil aus unserem Jungen Forum hervorgegangen sind, oder kleinere Ensembles bei der Realisierung ihrer Produktionen in relevanter Weise zu unterstützen. So durften wir in den letzten Jahren einen – überschaubaren – Teil zum Entstehen von Inszenierungen unter anderem von Julika Mayer und Mylène Benoit, Ariel Doron, Eva Meyer-Keller, der Numen Company, Akhe, Rafi Martin, half past selber schuld und Laia RiCa und dem KMZ Kollektiv beitragen. Aktuell engagieren wir uns bei florschütz & döhnert, deren ästhetisch herausforderndes Kindertheater wir sehr mutig finden, Kate McIntosh und Robbert&Frank Frank&Robbert, die die Grenzen zwischen Objekttheater, Performance und Installation ausloten, sowie – endlich – Stefanie Oberhoff, deren wilde Entschlossenheit bei Interventionen im öffentlichen Raum wir bislang lediglich aus der Ferne bewundert haben.

Man kann natürlich die Auffassung vertreten, dass es nicht die Aufgabe eines Festivals ist, Künstler*innenförderung zu betreiben und sich mit Haushaltsmitteln einer Kommune an Produktionen von Compagnien zu beteiligen, die ihren Sitz an anderen Orten haben. Dafür gibt es andere Institutionen, deren explizite Aufgabe dies ist. Festivalbudgets sind primär nun einmal dazu da, den Bürger*innen der Stadt und der

Region möglichst attraktive Programme zu bieten. Doch das eine hängt mit dem anderen zusammen. Wir können nur interessante Gastspiele einladen, wenn es sie gibt; und nur gepflegte Beziehungen und eine gewisse Anerkennung in der Szene garantieren, dass auch sehr erfolgreiche Künstler*innen für Auftritte gewonnen werden können, selbst wenn die Bedingungen beim Festival nicht optimal oder die Gagen nicht überdurchschnittlich hoch sind. Mit Koproduktionsbeteiligungen können wir dazu beitragen, dass innovative Projekte realisiert werden, dass Künstler*innen das Risiko eingehen, künstlerisch zu experimentieren, ohne jederzeit die Verkäuflichkeit einer Inszenierung im Hinterkopf zu haben. Dadurch tragen Koproduktionen zur kontinuierlichen Weiterentwicklung und Diversität der freien Theaterszene bei und somit indirekt und direkt auch zur Attraktivität des eigenen Festivalprogramms. Zusätzlich sorgen Koproduktionsbeteiligungen für überregionale Sichtbarkeit, tragen zum Ansehen einer Stadt und ihres Festivals bei und stärken das Profil der Koproduzierenden auf nationaler und internationaler Ebene.

Treue, Freundschaft und „kuratorisches Klüngeln“ Mindestens ebenso viel wie das finanzielle Engagement in einem Koproduktionsverhältnis bedeutet uns die langfristige Partnerschaft mit Künstler*innen, die regelmäßig damit rechnen können, zum Festival eingeladen zu werden, unabhängig davon, ob jede Inszenierung gleichermaßen erfolgreich ist. Auch das ist eine Solidaritätsbekundung und beweist Vertrauen in die grundsätzliche Qualität der szenischen Arbeit. In diesem Artikel können nur einige stellvertretend genannt werden: Neville Tranter und sein Stuffed Puppet Theatre, die Compagnie Mossoux-Bonté, die Compagnie 111, Philippe Quesne, Berlin, Wilde & Vogel, Florian Feisel, das Ensemble Materialtheater, natürlich die regionale Szene mit dem Theater Kuckucksheim, Tristan Vogt und dem Theater Salz+Pfeffer und – um auch Partner*innen von Fürth und Nürnberg zu nennen – die Bühne Cipolla zum Beispiel oder Meinhard & Krauss. Die Resonanz beim Publikum zeigt, dass es kein Selbstzweck ist, Künstler*innen die Treue zu halten, sondern dass sich die Zuschauer*innen für die Entwicklung der Künstler*innen interessieren, ihren Weg begleiten wollen und sich in einer ähnlichen Weise mit ihnen identifizieren wie mit lokalen Gruppen oder städtischen Theatern.

Als Programmmacher*in wird man immer wieder in die Situation kommen, wichtige künstlerische Positionen in ein Festivalprogramm aufzunehmen, selbst wenn einem die Künstler*innen nicht wahnsinnig sympathisch sind. Solche Partnerschaften, wie ich sie hier versucht habe zu skizzieren, setzen aber ein enges Vertrauensverhältnis und Augen-

höhe voraus. Felizitas Stilleke hat 2020 zur Eröffnung des Hamburger Festivals „Hauptsache frei“ einen Vortrag über Freundschaft als kuratorisches Prinzip gehalten mit dem schönen Titel „Klüngeln für eine bessere Welt!“, der noch immer auf nachtkritik.de nachzulesen ist: „(…) was ich jetzt sage, könnte meine Zukunft als Kuratorin im Feld der Freien Darstellenden Künste sofort beenden. Noch schlimmer, was ich jetzt sage, kann und wird gegen mich verwendet werden. (…) Ich kuratiere einzig und allein meine Freunde! (…) Alle von mir eingeladenen Künstler*innen, sind meine Freunde. Alle meine kuratorischen Entscheidungen basieren auf Freundschaft. Alle und ausschließlich. Immer. Ausnahmslos. (…) Nicht weil ich sie schätze oder die Arbeiten einem Zeitgeist entsprechen. Nicht weil ich häufig ihre Namen höre oder sie auf jeder Gästeliste stehen. Nicht weil ich sie verehre und ein Selfie mit ihnen machen möchte. Nein, ich lade sie ein, weil sie meine Freunde sind. Ich arbeite mit ihnen, weil sie meine Freunde sind. (…) In meinen Augen können wir das Schreckensbild eines ,monopolistischen Machtkurators als Gatekeeper‘ nur überwinden, wenn wir das System der Freundschaft allumfassend einführen. Sie garantiert die Augenhöhe und das Vertrauen, was die Kuration stark macht in dem, wofür wir sie eigentlich mal hinzugefügt haben: Sich Kümmern, füreinander da sein, Verbindungen schaffen. Freundschaften, wie ich sie meine, haben kein Machtgefälle, und wenn es mal asymmetrisch wird, dann gibt es ein gemeinsames Sprechen darüber und eine zeitliche Beschränkung oder ein Aushelfen.

Freundschaft ist freiwillig.“1 So romantisch das klingen mag, so wahr ist es auch. Festivals leben von der Gemeinschaft, von temporärer Wahlverwandtschaft, von der freundschaftlichen Zusammenarbeit aller Beteiligten. Und das Publikum kommt gerne und lässt sich auf Wagnisse ein, weil es diese Freundschaft spürt, weil sie sich überträgt, weil es Teil der Festivalgemeinschaft wird.

Das ist einer der Gründe, weshalb wir so sehr an die Wichtigkeit von Festivals, an den Ausnahmezustand glauben. In diesem Sinne danken wir allen Freund*innen und – mit den Worten Stillekes: „Let us believe in Freundschaft – ganz einfach!“ Bodo Birk, siehe S. 24.

1 https://nachtkritik.de/recherche-debatte/freundschaft-als-kuratorisches-prinzip-hoffnung-felizitas-stillekes-eroeffnungsimpuls-auf-dem-hamburger-freie-szene-festival-hauptsache-online. Letzter Zu­ griff 13. Jan­­­­­­­­uar 2025.

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Erlangen? Was’n Erlangen?

Sechs Thesen

Christoph Bochdansky Erlangen? Eine Stadt in Franken oder der Zauberberg eines jeden Puppenspielers.

Es kann auch sein, dass ich alles verpennt habe und die Welt schaut mittlerweile ganz anders aus, ich reibe mir den Sand aus den Augen und sehe, die Zeit ist schon abgefahren, ich steh am Bahnsteig und winke ihr nach.

Sei’s drum, ich hab sowieso mein eigenes Erlangen.

Also erst mal meine Thesen im Überblick.

1. Der Diskurs über meine Arbeit anhand eines großen Festivals ist nicht zulässig.

2. Erwartungen an ein Festival sind Glücksache und Diener des Egos.

3. Dankbarkeit ist eine Verbindung von Personen und dem Obstkorb in der Garderobe.

4. Abfahrt vom Festival: Vollgas oder untertourig?

5. Phylogenetischer Leitfaden durch das Internationale ­Figurentheater-Festival Erlangen.

6. Erlangen ist zu wichtig.

Zu 1. Der Diskurs über meine Arbeit anhand eines g ­ roßen Festivals ist nicht zulässig.

Meine Gedanken schwiffen, schwoffen, schwofteten – wie sagt man – schweifteten durch alle Diskussionen, die ich mit Kollegen und Veranstaltern auf dem Festival hatte. Zum einen über Produktionen, die am Festival gezeigt wurden und über die gesagt wurde, sie hätten auf dem Festival nichts verloren, würden gar nicht hierher passen. Zum anderen über Produktionen, die auf dem Festival abgefeiert ­wurden und von denen auch nicht ganz klar war, wie sortenrein sie waren.

Könnte man eine höhere Existenz mit Namen Erlangen anerkennen, so wäre man geneigt zu sagen: „Die Wege des Erlangen sind unergründlich.“ 102

Mein Zusatz dazu wäre: „Und dennoch zielführend.“ Jedenfalls war und ist das Festival immer auch ein Ort des Diskurses oder mehr noch der Suche nach einem Standpunkt. Ich hatte immer das Gefühl, mich daran beteiligen zu müssen, mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich meine, das Puppenspiel, das ich mache, ist und war immer ein Ergebnis von all dem, was ich als Zuschauer sammeln und den Fähigkeiten, die ich durch die Zusammenarbeit mit vielen tollen Kollegen erwerben konnte, und noch einiges mehr, aber nie hat mich ein allgemeiner Diskurs über das Medium beeinflusst, vielmehr liegt dem, was ich mache, eine Motivation zugrunde, die, wie nach all den Jahren festzustellen ist, genauso schon ganz am Anfang da war.

Zu 2. Erwartungen an ein Festival sind Glücksache und Diener des Egos.

Den Punkt muss ich gar nicht ausführen, ist eh schon alles in der Überschrift gesagt.

Zu 3. Dankbarkeit ist eine Verbindung von Personen und dem Obstkorb in der Garderobe.

Die Erfahrung der vielen Spiele, die ich so hatte, an unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlichen Bedingungen und Begegnungen mit unterschiedlichsten Leuten, die einem mal hier und dann dort Hallo sagen und zeigen, wo die Steckdosen sind. Fühlt man sich da immer willkommen, ja sogar herzlichst empfangen, oder wird mit so viel Hochachtung überhäuft, dass man meinen könnte, man würde auf Wolken schweben?

Es ist so wichtig, eine Wertschätzung zu erfahren, ohne sie hätte man doch gar nicht die Kraft weiterzumachen, und Festivals haben immer das Potenzial, genau diese zu geben.

Zu 4. Abfahrt vom Festival: Vollgas oder untertourig?

Ach ja, dieses Gefühl, nach einem Festival, am nächsten Tag nach der Aufführung, der Moment der Abfahrt.

Hat man’s geschafft, alles ist so richtig toll gelaufen, kurble ich bei der Abfahrt das Fenster runter, um nochmals die Luft von diesem Ort zu atmen, wie ein Mantafahrer lehn ich meinen Ellbogen aufs Fenster und ganz langsam fahr ich davon. Oder andersherum, verdammt, nichts wie weg – ­Vollgas!

Zu 5. Phylogenetischer Leitfaden durch das Internationale Figurentheater-Festival Erlangen.

Viele Jahre durfte ich schon nach Erlangen kommen und viele Aufführungen hab ich hier gesehen. Wenn ich nun einen Faden knüpfen würde, durch all die Aufführungen, von all den Kollegen, die ich hier gesehen und getroffen habe, mit denen ich hier gespielt habe, und könnte ich diesen Faden, so wie er da geknüpft wäre, nehmen und ihn auf ein Packpapier legen, er würde den Stammbaum meiner künstlerischen Arbeit zeigen.

Aufführungen, die ich gesehen habe und die mich tief beeindruckt haben, die dann Einfluss hatten auf meine weitere Arbeit, oder Kontakte mit vielen tollen Kollegen, wie zum Beispiel Charlotte Wilde und Michael Vogel, unsere langjährige Zusammenarbeit hat auf dem Festival in Erlangen begonnen.

So was meine ich damit.

Mehr Namen nennen, nein, das will ich nicht, weil zu all den Einflüssen gehören nicht nur die Aufführungen, die ich

bewundert habe, sondern auch die, die ich in Grund und Boden verdammt habe.

Zu 6. Erlangen ist zu wichtig.

Komisch – an dem Punkt sitz ich nun am längsten dran, und er sollte auch ganz anders heißen. Hier sollte nun eine superkritische Auseinandersetzung mit dem Festival in Erlangen, Nürnberg, Fürth und Schwabach kommen, ich wollte sagen, was ich immer schon sagen wollte, und das nicht zu knapp. Aber, wenn ich überlege, dass Erlangen schon mal verschwinden sollte, dann bleibt nur zu sagen, Erlangen ist zu wichtig.

Das Festival ist doch wie ein Sonntag, an dem man sich sein schönstes Gwand anzieht und sich herzeigt.

Christoph Bochdansky, österreichischer Puppenspieler und Erzähler, Objektkünstler, Ausstatter, Regisseur und Autor, studierte zunächst am Salzburger Mozarteum Bühnenbild, führte seine Ausbildung dann am ­Figurentheater-Kolleg in Bochum fort. Er hat mit seinen grotesken Innen-, Welt- und Jenseitsschauen, schwarzhumorig- bis philosophisch-musikalischen Koproduktionen und nicht zuletzt mit seinen textilen Figurengebilden, denen er sich oft selbst einverleibt oder auch entwindet, ganz eigene Akzente im Genre gesetzt. Zwischen 1989 und 2023 wurden beim figuren. theater.festival, teils in allen beteiligten Städten, allein neun seiner Soloinszenierungen gezeigt, vom poetisch entrückten „Shipper Vavasseur ­Colombo“ (1991 in Erlangen, Nürnberg, Fürth, Schwabach) über die pseudo-psychoanalytische Demontage „Kasperl – dieser Mann ist eine Fälschung“ (2003 in Erlangen) bis hin zum coronatauglichen, fröhlich geisterhaften Szenenprogramm „Das Leben misst dir deinen Teufel an“ (2021 in Erlangen). Bochdansky, der in Wien lebt, ist neben seiner eigenen künstlerischen Arbeit und der Kollaboration mit u. a. Figurentheater Wilde & Vogel oder den Strottern auch als Gastdozent in Stuttgart und Berlin tätig.

„Kasperl – dieser Mann ist eine Fälschung“, Christoph Bochdansky (AUT). 2003, Foto: Erich Malter

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Erlanger Garagen-Schnaps-Idee führt zu langjähriger Kooperation Ein Rückblick

„Sibirien“, Figurentheater Wilde & Vogel (DEU). 2017, Foto: Erich Malter

Charlotte Wilde und Michael Vogel Christoph gerät in Not Aber Michael lässt ihn nicht verkommen Oder Michael könnte auch in Not geraten und Christoph würde ihn auch nicht verkommen lassen Bilder einer verkommenen Freundschaft Musik Begegnung Material (Ein gezeichnetes Viereck mit Kreisen) Viele Jahre ist’s her, ein ungerades Jahr war’s, mit Figurentheater-Festival also. Da saßen wir nachts vor der Garage mit Christoph Bochdansky, den wir schon ein bisschen kannten und mit dem wir uns verwandt fühlten – nicht zuletzt, weil wir beide ein Stück mit Musik von Robert Schumann gespielt hatten (wir „Toccata“ und er „Zwielicht“, beide in der Regie von Frank Soehnle). Es wurden Fragen entwickelt und 104

Gedanken gesponnen: Spielen Figurenspieler und -bauer nicht zusammen? Warum immer diese Solisten? Oder sind sie in großen Kompanien unsichtbar geworden? Und wo ist der bildnerische Dialog? (Immer noch Fragen, die uns umtreiben – „und es ist nichts geleistet …“? Goethe kam dann in der gemeinsamen Produktion „Faust spielen“ etliche Jahre später …) Aus Spaß und Wut und Frust mit Kugelschreiber in das Programmblatt mit der Erlanger Puppenspielerhand geritzt, was oben steht. Nach zwei Jahren und Input von Astrid Griesbach, Shakespeare und Mendelssohn entstand als erste gemeinsame Produktion der „Sommernachtstraum – reorganisiert“. (Auch gezeigt in Erlangen, diesmal nicht in der uns immer zu kleinen Garage, sondern in der wunderbaren Glocke und in Fürth.) Dann eine Installation mit Christoph zusammen ins Markgrafentheater entwickelt, „Faust spielen“, „Giganten“ und schließlich 2020 der gemeinsame „Reigen“ … Aus der Erlanger GaragenSchnaps-Idee ist schließlich ganz schön viel entstanden, nur (noch) nicht das Stück mit obigem Titel.

„Sommernachtstraum – reorganisiert“, Figurentheater Wilde & Vogel/ Christoph Bochdansky (DEU/AUT). 2005, Foto: Erich Malter

Am Nebentisch saß in der besagten Nacht der andere Michael Vogel, der Namensdoppelgänger, der mit der Familie Flöz gastierte. Erste Begegnung, Foto gemacht an der Michael-Vogel-Straße (ja, die gibt’s in Erlangen wirklich!) und nach dem Festival die Gage der Kollegen aufs Konto bekommen ...

Natürlich sind die Begegnungen auf dem Festival wichtig, wie wichtig, ist ja oft erst Jahre später klar. Inbal Yomtovian und Ari Teperberg von Golden Delicious aus Israel sahen wir mit „Jonathan and The Blue Table“ dort, ein kurzes Treffen nur nach der Aufführung in einem Erlanger Wohnzimmer, eine Einladung nach Leipzig und bald danach die gemeinsame Produktion „Dust“. Und unsere erste Gastspielreise nach Israel und eine Koproduktion des Westflügels mit Ari Teperberg („And my heart almost stood still“) und und und …

Aber ist das nicht auf jedem Festival so? Man sieht neue Stücke, lernt Kolleg*innen kennen ...

Kommen wir also auf das, was für uns das Internationale Figurentheater-Festival Erlangen, Fürth, Nürnberg so einzigartig macht: Kein anderes Festival hat uns konstant über so eine lange Zeit zu jeder Festivalausgabe eingeladen. Das ist besonders, zeichnen sich doch Festivals im Allgemeinen vor allem durch den sogenannten Durchlauferhitzer-Charakter, man könnte auch sagen die Rosinenpicker-Qualität aus. Die besten aktuellen Inszenierungen werden gezeigt und oft sind das eben genau die, die auch auf den anderen Figurentheaterfestivals laufen. Eine Produktion wird dann herumgereicht, die Gruppe kann aber nicht davon ausgehen, dass das auch mit der nächsten Produktion passiert. Das Festival in Erlangen (und Fürth und Nürnberg und Schwabach) hat jedoch – so scheint es uns – durch seine Größe, aber auch durch die feste Verankerung in der Stadt und beim Publikum, eine andere Selbstverständlichkeit, ein großes Zutrauen in das, was vorzeigbar ist, nämlich nicht nur Highlights (die natürlich programmiert sind), sondern vor allem auch Entwicklungen, Unterschiedlichkeiten, Vielfalt. Dass all dies dem Erlanger Publikum zugemutet wird, scheint es zu ­goutieren.

Das ist bemerkenswert. Und mindestens so bemerkenswert, nein, sensationell eigentlich: All das wird programmiert vom Kulturamt Erlangen, natürlich im Verbund mit Nürnberg, Fürth und Schwabach. Wir haben als Kulturschaffende ja viel mit Kulturämtern zu tun, viele Kolleg*innen werden bestätigen können, dass diese Expertise – vor allem das Figurentheater betreffend – einzigartig ist. Und nicht nur das: Künstler*innenwege werden begleitet, es gibt tatsächlich einen intensiven Austausch über künstlerische Arbeit und einen freundschaftlich-respektvollen Umgang miteinander.

Wir sagen DANKE dafür!

Das Figurentheater Wilde & Vogel war bereits 1999 mit der Diplominszenierung „Exit“ in Erlangen zu Gast, einer solistischen „Hamlet-Phantasie“, entwickelt von Michael Vogel an der HMDK Stuttgart in der Regie von Frank Soehnle, musikalisch begleitet von Charlotte Wilde. Die Konstellation Figurenspiel/Schauspiel und Livemusik bleibt von da an eine ­Konstante im Werk von Wilde & Vogel – sei es in Solo-Inszenierungen wie „Toccata“ (gezeigt in Erlangen/Nürnberg 2001) „Spleen“ (in Erlangen/ Nürnberg 2007) oder „Songs for Alice“ (in Nürnberg 2019), sei es im ­Ensemble mit Künstlerkolleg*innen wie bei „Der Hobbit“ (in Fürth 2005), „Krabat“ (in Erlangen/Fürth 2011) oder „Faza REM Phase“ (in Erlangen/ Nürnberg 2015), die beiden letztgenannten in Koproduktion mit der polnischen Grupa Coincidentia. Insgesamt 14 Inszenierungen von Wilde & Vogel mit verschiedenen Kooperationspartner*innen waren seit 1999 in Erlangen, Nürnberg und Fürth zu sehen. Oft experimentelle, poetisch verwickelte, spielfreudige Ausdeutungen bekannter Stücke oder Geschichten, der dramaturgischen und darstellerischen Fährnis nie abgeneigt – immer wieder mit Spannung erwartet von einem für das Ungewohnte, das Irritierende offenen Publikum.

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Das inspirierende Festival Gedanken zur Theaterpuppe und zum figuren.theater.festival

Renaud Herbin Die Theaterpuppe als Spiegel, Versprechen, Ahnung …

Die Puppe auf der Bühne, das bedeutet, dem Spiegel unserer körperlichen Existenz beim Aufglänzen zuzusehen. Sich zu bewegen zwischen dem, was lebendig ist, und dem, was es nicht, nicht mehr oder noch nicht ist. Es bedeutet, sich überraschen, sich entzücken und sich vom entstehenden Pulsschlag verwirren zu lassen.

Die Puppe ist das Versprechen eines Werdens. Die Möglichkeit, sich den Körper eines anderen zu leihen, an den Rändern des Menschlichen. Oder sich in einen Baum, einen Felsen, einen Wind, einen Blitz zu verwandeln. Uns mit der eigenen Vorstellungskraft, dem Glauben an uns selbst und an den anderen zu verbinden, Empathie und unsere Fähigkeit zur Verwandlung aufzurufen.

Die Puppe, das ist eine Reise in den Augenblick davor, in den Ursprung und das Loch. Durch das Schwindelerregende ihrer Vergänglichkeit. Ihre Bereitschaft, immer wieder neu geboren zu werden. Die Unbeschwertheit, aus dem Körper zu treten und wieder in ihn zurückzukehren.

Die Puppe, das ist die Offenheit der Materie, des Lichts, des Wassers, des Wachses oder der Erde, ist die Nähe zum Universum. Ein schwebender Schlafwandler, der in Tausenden von Meteoritentröpfchen verdampft.

Die Puppe bedeutet, in Landschaften zu leben – verbindendes Element zwischen der figürlichen Darstellung von etwas Wiedererkennbarem und dem Taumel der Abstraktion, dem Unbestimmten.

Die Puppe, das ist die Artikulation, die Verbindung, der Abstand zwischen den Formen. Ist die Beziehung, die sich verkörpert und vereinfachte Schemata der Manipulation, Macht- und Herrschaftsverhältnisse infrage stellt.

Die Puppe ist die Ahnung eines Anderen, eines Jenseits oder eines Innen. Ist das Gedicht, das gerade geschrieben wird. Frei. Intensiv. Nah und politisch.

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Das Festival als Wegbegleiter Es gibt nur wenige Menschen, die einen in diesem Sinne langfristig begleiten. Als Bodo Birk bei seinem Amtsantritt als Leiter des figuren.theater.festivals in Erlangen zu uns (Julika Mayer und mir von Là Où – marionnette contemporaine) sagte, dass wir den Zeitraum des Festivals prinzipiell reservieren sollten, um dort präsent zu sein, konnte ich mir nicht vorstellen, dass er sein Versprechen halten würde – und das mit einem unbeirrbaren Engagement, das seit 20 Jahren andauert. Von Projekt zu Projekt konnte man in Erlangen sehen, wie sich unser gesamtes Künstlerleben entwickelt und erweitert hat. Wir sind im Herzen des Festivals gewachsen, im Kontakt mit einem anspruchsvollen und stets wohlwollenden Publikum. Die Formen und Formate waren so zahlreich und diversifiziert, über einen so großen Zeitraum, dass mir schwindelig wird bei der Erinnerung an all die Momente des Glücks, der Risikobereitschaft, manchmal der Zweifel und immer der großen Freude, die Kraft eines Teams zu spüren, das unermüdlich am Ball war und uns unterstützte.

Aus meiner Sicht gibt es in der internationalen Welt des Puppenspiels wenig Vergleichbares hinsichtlich Größe und Kühnheit des Programms beim figuren.theater.festival Erlangen, in dem immer wieder die Trennung zwischen den künstlerischen Genres aufgehoben wird. Für mich ist es ein Synonym für Qualität und Inspiration – das sage ich als Puppentheaterkünstler und als Programmverantwortlicher des TJP – Centre dramatique national de Strasbourg, der ich von 2012 bis 2022 war.

Tausend Erinnerungen an den Frühling in Erlangen gehen mir durch den Kopf: die Straßen der Innenstadt durchstreifen und den Lauf der Dinge einem Nahkampf mit einer alten Dame aussetzen („Reprendre son souffle“, 2009); sich mit „Détails“ (2003) und „Mitoyen“ (2007) zum ersten Mal auf eine große Bühne begeben; die Miniatur in der Intimität des Teilhabens auf der Bühne des Theaters in der Garage erkun-

den („Un Rêve“, 2003, und „Pygmalion“, 2011), sich in der fragilen Phase eines unfertigen Stückes („Profils“, 2015) mit der Möglichkeit unterstützt fühlen, den experimentellen Ansatz in Form eines Workshops zu teilen; Vorstellungen von „Milieu“ (2017), „Actéon“ (2013), „Wax“ (2017), „At the still point of the turning world“ (2019), „Quelque chose s’attendrit“ (beim Poet*innenfest, 2021) …; und schließlich 2023 das Abenteuer mit meinen beiden neuesten Kreationen fortsetzen, mit „Par les bords“ und „À qui mieux mieux“.

Diese Treue ist nicht nur selten. Sie ist einzigartig. Sie ist unbezahlbar auf dem Lebensweg eines Künstlers. Ich habe mich auch durch diese Beziehung entwickelt, von der Bodo und ich schon eine Ahnung hatten, als wir uns 2003 auf der Bühne des Théâtre de la Colline über die komplexe und produktive Beziehung zwischen Programmgestaltern und Künstlern austauschten.

Viele Jahre später wurde ich unter neuen Voraussetzungen an den Kern dieser Diskussion erinnert. Als ich 2012 die Leitung des TJP – Centre dramatique national de Strasbourg und des internationalen Festivals Giboulées übernahm, musste ich meinerseits auf die immer wiederkehrende Frage nach den Erwartungen des Publikums und der Fachleute an die Theaterpuppe, das Theater der Dinge antworten.

Welche Definitionen sind zu aktualisieren? Wie kann man die zeitgenössischen Praktiken der Puppe kennzeichnen, die natürlich nicht bei den historischen Darstellungsformen stehen bleiben, auch wenn jene durchaus noch Bestand haben. Ich erinnere mich sehr genau an meine Verlegenheit angesichts dieser Frage, als mir deren Bedeutung für den gesamten Berufsstand klar wurde. Es ging darum, die Besonderheiten einer vielfältigen und vielgestaltigen Kunst zu beglaubigen und sie gleichzeitig in einer Kunstgeschichte zu verorten, die über die Grenzen des Theaters hinausgeht, also eine Verbindung mit der Choreografie und den visuellen Künsten herstellt. Ich war immer etwas neidisch auf den deutschen Begriff „Figurentheater“, den es im Französischen nicht gibt. Seine Offenheit, der Raum, den er lässt, indem er der Begrenzung der Disziplinen entkommt, ließen mich träumen, und ich suchte nach einem Äquivalent, um die künstlerische Linie zu definieren, die ich am TJP einfließen lassen wollte. So versuchte ich, analog zu den Worten, die sich als Untertitel auf den Plakaten des Figurentheater-Festivals aneinanderreihten, mit der Triade Körper-Objekt-Bild (­Corps-Objet-Image) zu benennen, was all meine Projekte und meine Herangehensweise an die Puppenspielkunst ausmachte.

Konfrontiert mit den Herausforderungen der Produktion und Verbreitung von Werken einer ganzen Künstlerland-

schaft sowie mit der Notwendigkeit von Begegnungs-, ­Transformations- und Reflexionsräumen, habe ich mich bei der Leitung des Theaters wie des Festivals immer an dem orientiert, was sich das figuren.theater.festival Erlangen künstlerisch erlaubte, wie es sich für die Künstler und das Publikum einsetzte und wie es im Verlauf seiner Ausgaben für alle und jeden eine Anregung bot. Die Künstler in den Mittelpunkt eines gemeinsamen Projekts zu stellen, ihnen ebenso zu vertrauen wie dem Publikum, das Gefallen daran findet, die Fortschritte der Forschung und des Experimentierens zu verfolgen, ist eine Bereitschaft, die sich in jedem Moment der Planung und Durchführung eines Festivals bewährt. Dazu kommt die beeindruckende Virtuosität des gesamten Erlanger Festivalteams – all dies steigert von Jahr zu Jahr den Bekanntheitsgrad der Veranstaltung. Der Besuch des Festivals sollte in der Ausbildung von Kunstschaffenden ebenso wie in den Seminaren für Fachleute und Programmgestalter zur Pflicht werden, denn das figuren. theater.festival in Erlangen ist zu einer festen Größe geworden. Zu einer Inspiration.

Aus dem Französischen von Anke Meyer (mit Unterstützung von ­Wolfgang Löffler und Silvia Brendenal)

Renaud Herbin, Absolvent der École Nationale Supérieure des Arts de la Marionnette (ESNAM) in Charleville-Mézières, Preisträger der Villa Medici 1999, gründete 2002 mit Julika Mayer La Où – marionnette contemporaine, um die Räume zwischen Körper, Objekt/Figur, Bild und Text performativ zu erkunden. Diese künstlerische Recherche setze er dann auch solistisch, als Regisseur und zehn Jahre lang als Theater- und Festivalleiter am TJP/CDN Strasbourg fort. Während seiner Intendanz fanden dort u. a. die Rencontres Internationales Corps-Objet-Image statt, die Studierenden und Lehrenden diverser Kunst- und Theaterhochschulen einen privilegierten Ort der Forschung, des Experimentierens und der Begegnung boten. Fragestellungen, Prozesse und Ergebnisse dieser und weiterer künstlerischer Forschungen zum Genre wurden in der von Herbin 2012–22 herausgegebenen Publikation „La Revue Corps Objet Image“ dokumentiert und reflektiert. Nach Ende der Intendanz gründete er die Compagnie L’étendue, mit der er europaweit tourt und auch beim internationalen figuren.theater.festival 2023 zu Gast war.

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„Milieu“, Renaud Herbin – TJP Strasbourg (FRA). 2017, Foto: Erich Malter

„At the Still Point of the Turning World“, Renaud Herbin – TJP Strasbourg (FRA). 2019, Foto: Erich Malter

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„Macbeth für Anfänger“, Thalias Kompagnons (DEU). 2005, Foto: Georg Pöhlein

„Was macht das Rot am Donnerstag?“, Thalias Kompagnons (DEU). 2007, Foto © Jutta Missbach

„Der Zapperdockel und der Wock“, Theater Salz+Pfeffer (DEU). 2007, Foto: Georg Pöhlein

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„BIG BOX & kleines Orchester“ (Tryout), florschütz & döhnert (DEU). 2021, Foto: Georg Pöhlein

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„Woyzeck – Der Fall von Franz und Marie“, Theater Kuckucksheim (DEU). 2007, Foto: Georg Pöhlein

„Traumkreuzung“, Ensemble Materialtheater & Théâtre Octobre Brüssel (DEU/BEL). 2017, Foto: Erich Malter

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„Obwohl ich Dich kenne“, Nico and the Navigators (DEU). 2009, Foto: Werner Schwenke

„The Porcelain Project“, Grace Ellen Barkey & Needcompany (BEL). 2009, Foto: Werner Schwenke

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„Farm Fatale“, Philippe Quesne/Vivarium Studio (FRA). 2023, Foto: Erich Malter

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Das Festival als Akademie

„Kaffee mit Zucker?“, Laia RiCa (SLV/DEU). Tryout und hybrides Gespräch, Live-Stream aus dem Experimentiertheater der FAU Erlangen-Nürnberg. 2021, Fotos: Erich Malter

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Produktive Irritationen Das Figurentheater-Festival und die Erlanger Theaterwissenschaft

Matthias Warstat Im Jahr 2010 geriet die Philosophische Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg in die Verlegenheit, höchst offiziell erklären zu müssen, warum das Internationale Figurentheater-Festival (auch) für das universitäre Leben in Erlangen von größter Bedeutung ist. Das eigentlich Selbstverständliche musste in Worte gefasst werden: Ein Festival der Künste ist fruchtbarer Boden für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Künsten – auch und gerade an der Universität.

Hintergrund war eine Entscheidung des Kulturausschusses der Stadt Erlangen, dem Stadtrat die Einstellung der Förderung des Figurentheater-Festivals zu empfehlen. Die von der Ausschussmehrheit von CDU und FDP befürwortete Empfehlung sah in der Streichung der Fördermittel eine sinnvolle Sparmaßnahme in einer – für Erlanger Verhältnisse – einigermaßen angespannten Haushaltslage. Die damalige Dekanin der Philosophischen Fakultät, die Kunsthistorikerin Heidrun Stein-Kecks, begründete den Protest der Universität in einem Schreiben vom 3. Februar 2020 an Oberbürgermeister und Stadtrat wie folgt: „Die Wissenschaftler und Studierenden der Philosophischen Fakultät sind auf einen engen Kontakt zu innovativer Kunst dringend angewiesen, wenn ihre Studien- und Forschungsanstrengungen mit der ästhetischen, künstlerischen und technischen Entwicklung Schritt halten sollen.“ Der Brief wurde von den damaligen Lehrstuhlinhabern der Fächer Pädagogik und Theaterwissenschaft mitunterzeichnet. Freilich hätten diese aus ihrer jeweiligen Fachperspektive die Bedeutung des Festivals noch spezifischer begründen können: Wie hätte eine solche spezifisch theaterwissenschaftliche Begründung für das Festival gestaltet werden können?

Eine Möglichkeit hätte darin bestanden, den Begriff „Figurentheater“ genauer zu beleuchten. Für die Theaterwissenschaft ist dieser unscheinbare Begriff von einiger Bedeutung. Denn in der Einführungsphase eines theaterwissen-

schaftlichen Studiums, in den Grundkursen des ersten und zweiten Semesters, müssen sich die Studierenden mit der Frage beschäftigen, was man sich unter „Figuration“ eigentlich vorzustellen hat. Abstrakt lässt sich das scheinbar leicht und eingängig erklären: Figuren sind das, was Schauspieler:innen auf der Bühne hervorbringen und was von Zuschauer:innen in dessen Rezeption wahrgenommen wird. Für die auf der Probe erarbeitete Figur muss allerdings vieles hinzuerfunden werden, was im Stück beziehungsweise im Rollentext nirgends steht. Diesen komplexen Vorgang der Erschaffung einer Figur (auf den Proben, in der Aufführung) nennen wir in der Theaterwissenschaft „Figuration“.

Um den Studierenden die Probleme und Herausforderung von Figuration nahezubringen, bieten sich zunächst die vielfältigen Inszenierungen eines Stadttheaters an. Dementsprechend war 2010 das Theater Erlangen1 ein zentraler Kooperationspartner der Erlanger Theaterwissenschaft – und ist es noch heute. Mit relativ geringen Ressourcen und einem der zahlenmäßig kleinsten Ensembles in der deutschen Stadttheaterlandschaft wurde und wird hier von Spielzeit zu Spielzeit ein vielfältiges Programm gestaltet, das auf die verschiedenen Bedürfnisse der Erlanger Stadtgesellschaft einzugehen versucht. Auf engem Raum gibt es am Theater Erlangen sämtliche Gewerke, die an der Erschaffung dramatischer Figuren beteiligt sind: Denn den Prozess der Figuration haben nicht allein die Schauspieler:innen in der Hand, sondern auch Kostümbild, Schneiderei, Requisite, Beleuchtung und natürlich die Maskenbildnerei wirken daran entscheidend mit.

Wird unter einer Figur dasjenige verstanden, was Schauspieler:innen auf der Bühne aus einem Rollentext entwickeln, dann kann man sich irritiert fragen, warum das ­Figurentheater-Festival die „Figur“ in seinem Namen trägt: Denn auf dem Figurentheater-Festival werden Inszenierungen gezeigt, in deren Mittelpunkt in der Regel gerade keine Schauspieler:innen stehen, die eine Figur hervorbringen.

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Gerade diese Irritation ist für die Theaterwissenschaft das besonders Wertvolle des Figurentheater-Festivals. Dies soll im Folgenden erläutert werden: 1.) Welche besondere Art von Figuration ist auf dem Figurentheater-Festival zu erleben? 2.) Welches Verständnis von „Figur“ kommt darin zum Ausdruck?

Vielfalt der Figurationen Vielleicht wären die Kurator:innen des Figurentheater-Festivals einverstanden mit der Feststellung, dass dieses Festival programmatisch eine große Bandbreite von Prozessen der Figuration zeigt, die ihren gemeinsamen Nenner darin haben, dass sie nicht von Schauspieler:innen ausgehen. Die Vorstellung, dass in erster Linie oder gar ausschließlich Schauspieler:innen diejenigen sind, die im Theater Figuren entstehen lassen, zeugt von einem kulturell wie historisch zu eng gefassten Verständnis von Theater. Denn die Produktionsformel „Schauspieler spielt eine Rolle und erzeugt dabei eine Figur“ ist uneingeschränkt gültig nur für eine bestimmte Phase der europäischen Theatergeschichte. Für viele andere Theaterkulturen gilt sie nicht, denn dort entstehen entweder keine Figuren – oder die Figurenbildung hängt wesentlich an Puppen, Objekten, Dingen etc., die nicht als Schauspieler:innen bezeichnet werden können. Dies ist das Besondere am Figurentheater-Festival: Speziell ist keineswegs, dass in den Inszenierungen Figuren entstehen, sondern das Spezifische liegt in der Art der Entstehung dieser Figuren mithilfe von Puppen, Objekten, Dingen, Medien und Maschinen. Das „Figu“ ist mitnichten ein Puppentheaterfestival, vielmehr ließe sich an der Geschichte dieses Festivals zeigen, wie sich die Figuration über die Jahre mehr und mehr von Puppen zu weniger anthropomorphen Objekten verschoben hat. Heute sind es gerade audiovisuelle Medien und maschinelle Objekte, deren vielfältige Aktivitäten in den Inszenierungen des Figurentheater-Festivals zu bewundern sind.

Dies erklärt auch das Interesse der Erlanger Theaterwissenschaft an diesem Festival. Die Erlanger Theaterwissenschaft ist eine Theater- und Medienwissenschaft. Als im Jahr 2010 das Protestschreiben gegen die drohende Einsparung des Erlanger Beitrags zum Figurentheater-Festival formuliert wurde, basierte das Lehr- und Forschungskonzept der Erlanger Theaterwissenschaft maßgeblich auf einer Konzeption des früheren Lehrstuhlinhabers Henri Schoenmakers, der eine enge Verflechtung von Theater- und Medienwissenschaft angestrebt hatte. An den Inszenierungen des Figurentheater-Festivals konnte man exemplarisch erkennen, wie im beginnenden 21. Jahrhundert audiovisuelle 118

Medien nicht nur längst Einzug ins Theater gehalten hatten, sondern die Darstellungsweisen und Figurationsprinzipien in bestimmten Theaterformen sogar dominierten. Ebensolche multimedialen Formen standen im Zentrum des Festivals: Man sah Produktionen, in denen audiovisuelle Medien oder maschinelle Objekte über weite Strecken die Figuration übernommen hatten. Diese Inszenierungen waren für die Theater- und die Medienwissenschaftler des ITM ein wunderbarer Anlass, über konkrete Gegenstände produktiv miteinander ins Gespräch zu kommen. Nach den Aufführungen saß man oft noch lange zusammen im Foyer des Theaters, in der Garage oder im institutseigenen Experimentiertheater, um in kleinen Zirkeln wie auch in größeren Publikumsgesprächen mit Erlanger Bürger:innen Eindrücke auszutauschen. Bodo Birk, Festivalleiter und selbst Absolvent der Erlanger Theater- und Medienwissenschaft, schaffte es mit seiner ansteckenden, für alle Richtungen des Performativen aufgeschlossenen Liebe zum Theater immer wieder, alle Mitglieder dieses Instituts für das Programm zu begeistern und für Moderationsaufgaben etc. einzuspannen.

Form und Beschreibung Und die Studierenden? Für sie war und ist das Figurentheater-Festival immer wieder eine Quelle produktiver Irritationen. Schon deshalb hatte die Dekanin Heidrun Stein-Kecks in ihrem Brief an Oberbürgermeister und Stadtrat vom 3. Februar 2010 vollkommen recht: Für Erlangen hätte ein Ausstieg aus dem Figurentheater-Festival einen „enormen Verlust“ bedeutet. Denn in einer Stadt, in der das Theaterleben wesentlich von einem Stadttheater geprägt wird, ist ein Festival dann von unschätzbarem Wert, wenn es Ausblicke auf ganz andere, weniger anthropomorphe, weniger schauspielzentrierte Formen der Figuration bietet. Ebendiese Vielfalt von anderen, medialen, maschinellen, objekthaften Formen bot und bietet das Figurentheater-Festival. Einerseits sind solche an Puppen, Marionetten, Masken und andere Objekte gebundenen Theaterformen uralt – in Europa ­können sie mindestens bis in die Antike zurückverfolgt werden. Andererseits ist es gerade ein Postulat jüngerer Theaterdiskurse der letzten Jahre, dass das Theater weniger anthropozentrische, das heißt objekthafte, dingliche Darstellungsweisen integrieren müsse. In dieser Hinsicht hat das Figurentheater-Festival, als es im Jahr 1979 gegründet wurde, zweifellos eine Vorreiterrolle gespielt. Wie erklärt man die Erfahrung, dass eine Puppe plötzlich lebendiger wirkt als der Darsteller, der sie führt? Wie lässt sich der Moment genauer fassen, in dem ein Klumpen Ton einfach aufgrund einer sich verändernden Beleuchtung zum Hauptakteur einer Szene

wird? Wie beschreibt man die intensiven Gefühle, die man als Zuschauer:in zu einem Kleiderständer oder einem Marmeladenglas entwickeln kann, wenn sie sich zeigen und uns auf der Bühne begegnen? Ist die Konfrontation mit einem Schauspieler, dessen Gesicht auf einem Monitor erscheint, der auf der Bühne steht, wirklich etwas völlig anderes als die Begegnung mit einem Schauspieler, der selbst auf der Bühne steht? Mit solchen Fragen mussten sich die Studierenden herumschlagen, die Erinnerungsprotokolle zu Aufführungen des Figurentheater-Festivals schrieben – und das sind nicht selten Fragen, die an einer noch so guten Stadttheaterinszenierung nicht gleichermaßen herausfordernd erörtert werden können.

Es entstanden also vielfältige Aufführungsanalysen und Inszenierungsbeschreibungen, in denen Figuration in ihrer ganzen Breite greifbar wurde. Hält man solche Beschreibungen nebeneinander, dann verändert sich auch die Lesart des nur scheinbar auf menschenähnliche Objekte beschränkten Begriffs „Figur“. Ein Blick auf die Etymologie liefert ebenfalls Hinweise, die einen weit gefassten Figurenbegriff stützen.

Denn das lateinische figura eröffnet ein breites Bedeutungsspektrum: Gestalt, Aussehen, Gebilde, Bild, Schatten, Erscheinung, Redefigur, Wendung, Idee – um nur die wichtigsten Varianten zu nennen. Der Gestaltbegriff ist wohl geeignet, annähernd die gesamte Bandbreite der Bedeutungen zu umfassen. Figuration ist, so multimedial wie der Begriff auf dem Festival verstanden wird, vielleicht am treffendsten mit „Gestaltung“ zu übersetzen. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Theaters werden in vielfältigen Variationen vorgeführt, ohne dabei einseitig auf Traditionen des Schauspieltheaters zu setzen: Etwas nimmt Form an, erhält Kontur. In der Aufführungsanalyse geht es darum, diese Formwerdung, die sich im Hier und Jetzt zwischen Akteur:innen und Zuschauer:innen ereignet, zu beschreiben. Für ­Studierende, die ein Studium der Theaterwissenschaft aufgenommen haben, ist das anfangs eine enorme Herausforderung (die leider auch später nicht wesentlich einfacher wird).

Dass der zu Beginn erwähnte Protest – unter maßgeblicher Beteiligung von Studierenden – gegen die Abschaffung des Erlanger Festivals positive Wirkung gezeigt hat, ist ein Glück. Denn eine inspirierende Umgebung wie das Figurentheater-Festival schafft erst die Voraussetzung dafür, den Wert solcher Beschreibungsübungen zu erkennen. In einer solchen Umgebung kann man das Zusammenwirken von Praxis und Theorie, wie es für eine Kunstwissenschaft charakteristisch ist, buchstäblich im eigenen Beschreiben erfassen: Indem man beschreibt, wie Figuren aus Objekten,

­ ingen oder Bildern entstehen, wie sie auf neue Weise D generiert werden, kann man dem Begriff „Figuration“ neue Bedeutungsdimensionen zuschreiben. Dies ist eine wissenschaftliche Form der Begriffsarbeit, die so nur in den Kunstwissenschaften möglich ist: Der Bedeutungshorizont erweitert sich, weil die künstlerische Praxis, die beschrieben wird, experimentell ausgerichtet ist – wenn es gelingt, das Neue dieses Experiments im Schreiben genauer zu erkunden.

Protestaktion im Erlanger Rathaus gegen die geplante Streichung des Festivals. 2010, Foto: Volker Holzmann Matthias Warstat ist seit 2012 Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den ­Bereichen Theater und Gesellschaft, Theater- und Kulturgeschichte der ­ Moderne, ­Theater und Migration, Gegenwartstheater/politisches Theater. Von 2008–10 war er Inhaber des Lehrstuhls für Theaterwissenschaft am Institut für Theater- und Medienwissenschaft (ITM) der Friedrich-­ Alexander-­ Universität Erlangen-Nürnberg und damit unmittelbar von der damals ­ ­ drohenden ­Suspendierung des Festivals betroffen. Sein Engagement (und das seiner Studierenden) für den Erhalt dieses Formats dokumentiert sich u. a. im Pressearchiv des städtischen Kulturamts, wo Proteststatements ganzer Seminargruppen einen Ordner füllen.

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er Artikel wurde 2023 verfasst, noch vor der Umbennennung des D Theaters, das seit der Spielzeit 2024/25 schauspiel erlangen heißt.

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An(ge)kommen im Kosmos Das Junge Forum als Erprobungsraum in Theorie und Praxis

Franziska Burger/Mareike Gaubitz/Christina Röfer

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nicht nur tagsüber als Aufenthaltsort und Treffpunkt dient, sondern dessen Programm von den Studierenden mit kleinen Ausstellungen, Gesprächen, Interventionen und Präsentationsformaten wie den „Mondlichtexperimenten“ oft bis tief in die Nacht selbst gestaltet wird. Von 2009 bis 2019 gehörten außerdem die Schattentheaterinszenierungen von Schüler*innen der Levana-Schule in Schweich, einer Förderschule mit dem Schwerpunkt ganzheitliche Entwicklung, zum festen Programmbestandteil des Jungen Forums.

Die Theaterwissenschaftlerinnen Franziska Burger, Mareike Gaubitz und Christina Röfer schauen als ehemalige Teilnehmerinnen auf das Junge Forum zurück und schildern im folgenden Gespräch, welchen Einfluss das dort Erlebte auf die jeweiligen persönlichen Laufbahnen hatte, die, auch wenn sie sehr unterschiedlich sind, doch eines gemeinsam haben: einen wissenschaftlich-theoretischen Bezug zum Figurentheater.

Seit 1995 ist das Junge Forum als Kooperationsprojekt mit dem Institut für Theater- und Medienwissenschaft der ­Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ein fester Bestandteil des figuren.theater.festivals Erlangen. Mit Nachgesprächen zu ausgewählten Inszenierungen, thematisch oft an inhaltliche oder ästhetische Schwerpunkte der jeweiligen Festivalausgabe angegliederten Symposien, praktischen Workshops unter der professionellen Leitung von Figurentheaterkünstler*innen sowie Präsentationen eigener szenischer Arbeiten von Studierenden bot und bietet es Interessierten stets vielfältige Einblicke und Austauschbeziehungsweise Erprobungsmöglichkeiten. Dabei wurde das Junge Forum in Ausrichtung und Umfang kontinuierlich ausgeweitet und zugleich geschärft.

So wurde der Name der Veranstaltungsreihe immer wieder angepasst, etwa wenn das Junge Forum in den Jahren 2007, 2009 und 2011 den Zusatz „Intermedial“ führte, weil es den Fokus klar erkennbar auf neue Medien oder auch ­Technologien und deren Potenzial für das Figurentheater legte. Oder wenn in den Jahren, in denen auch Ausbildungsstätten aus anderen Ländern beteiligt waren – zum Beispiel die Theaterakademie Warschau mit ihrer Abteilung für Puppenspielkunst in Białystok, die School of Visual Theatre in Jerusalem oder die Prager Akademie der Darstellenden Künste DAMU –, dieser Tatsache mit dem Titel Junges Forum International Rechnung getragen wurde. Die zuletzt entstandene Edition Junges Forum digital verwies auf den Umstand, dass sich der Austausch im Jahr 2021 pandemiebedingt auf Plattformen wie Zoom oder Twitch vor dem heimischen Rechner abspielte, und rückte so die digitale Kommunikation als intermediales Prinzip ins Zentrum.

Dreimal: Ankommen Mareike Gaubitz: 2013 habe ich das erste Mal am Jungen Forum teilgenommen und zwar an den Inszenierungsanalyse-­ Gesprächen mit dem Titel „Tiefenbohrungen“, einem gemeinsamen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Studiengang Figurentheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Ich habe noch deutlich in Erinnerung, wie spannend es für mich als Studentin der Theaterwissenschaft war, mit angehenden Künstler*innen über die Produktionen zu sprechen, die man gemeinsam gesehen hat. Dieses Zusammenbringen der wissenschaftlichen und praktischen Perspektiven empfand ich als inspirierend, zumal ich meinen ersten Kontakt mit dem Figurentheater im wissenschaftlichen Bereich erst ein Jahr vorher auf dem FIDENA Festival hatte.

Mit dem „Base Camp“ erhält das Junge Forum 2017 schließlich einen festen Ort in der Erlanger Innenstadt, der fortan

Franziska Burger: Auch ich war das erste Mal im Rahmen eines Seminars, das von der LMU München durchgeführt

wurde, in Erlangen – im Jahr 2011 konnten auch wir als ­Studierende des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Bern daran anschließen. Ich hatte mir immer schon gewünscht, dass an der Uni eine Lehrveranstaltung zum Figuren- und Objekttheater angeboten wird, und war deshalb überglücklich! Ich weiß noch, wie ich nach einem langen Festivaltag in einer Spätvorstellung der Numen ­Company saß, tief beeindruckt von der nachtwandlerischen Atmosphäre ihres Stückes „Anubis“. Nie zuvor war ich mit so einer Fülle an Theateraufführungen konfrontiert gewesen, die oft bis spät in die Nacht dauerten. Im ewigen Halbdunkel gerät man nahezu in eine Trance … Wie sollte man dies vor Publikum noch anhand von Theorien zu fassen versuchen?

Aber gemeinsam ließen sich am nächsten Tag die Gedanken zu den Inszenierungen gut strukturieren und theatertheoretisch ergründen. Und das Publikum war sehr diskussionsfreudig und störte sich nicht groß an unserer Unbeholfenheit.

Christina Röfer: 2009 war ich das erste Mal da. Als Erlanger Studentin der Theater- und Medienwissenschaft, die im Jahr zuvor ein Festival-Praktikum bei der FIDENA absolviert und dort ihre Faszination für das Figurentheater entdeckt hatte, war ich begeistert, mit dem figuren.theater.festival ein Format ähnlicher Dimension quasi vor der Haustür zu haben. Es war toll, sich über das Junge Forum einen Großteil des Festivalprogramms anschauen zu können. Zum Beispiel habe ich da die Inszenierung „Showroomdummies“ der französischen Puppenspielerin und Choreografin Gisèle Vienne gesehen, die mich nachhaltig begeistert und geprägt hat. Mit ihren Stücken habe ich mich danach immer wieder im theaterwissenschaftlichen Kontext beschäftigt, etwa in meinen Abschlussarbeiten.

FB: Etwas, was ich mich immer wieder frage: wieso Erlangen? Also, diese Stadt mitten in Franken würde ich wohl ohne das Festival eher nicht kennen.

MG: Wichtig ist, glaube ich, dass sich dort ein kleiner Kosmos bildet. Ein Figurentheater-Kosmos, der international ausstrahlt, sich gleichzeitig aber auch in der Stadt selbst entfaltet, jedenfalls in den Stadtteilen, die vom Festivalgeschehen tangiert werden.

FB: Und der Spurt zu den verschiedenen Aufführungsorten verbindet auch die Zuschauer*innen ein bisschen.

CR: Ja, man hat gar nicht die Möglichkeit, sich dem zu entziehen, ist permanent im Austausch …

MG: … von der ersten Diskussionsrunde morgens um zehn Uhr bis nachts um ein oder zwei Uhr. FB: Ich verbinde das Erlanger Festival tatsächlich insgesamt sehr stark mit Diskussionen und Debatten. Auch, weil das double-Magazin mit seinen Fachdiskursen häufig präsent ist und die enge Zusammenarbeit mit der FAU Erlangen-­ Nürnberg besteht.

CR: Auf der Festivalhomepage gibt es ein Archiv, das bis ins Jahr 2001 zurückreicht, und ich habe mir dort die Beiträge zum Jungen Forum im Laufe der Jahre angesehen. Allein anhand der Art und Weise, wie das Junge Forum angekündigt wurde, welche Veranstaltungen jeweils angeboten ­wurden, lässt sich ablesen, dass es über die Jahre immer stärker ausgebaut und akzentuiert wurde: von Publikumsgesprächen, einzelnen Diskussionsveranstaltungen oder ­kleineren Workshops – immer ausgehend vom Festivalprogramm – hin zu einer fest etablierten, eigenen Programmschiene. Spannend fand ich auch, dass es anfangs eher als Austauschprogramm für Studierende angekündigt war und dann immer stärker betont wurde, dass es zum großen Teil für alle anderen Besucher*innen des Festivals ebenfalls offen ist. Man kann also das Bestreben erkennen, das Junge Forum noch mal zu erweitern und zu sagen: Es ist kein reines, vom restlichen Programm abgetrenntes Uni-Format, sondern es ist wirklich ein Bestandteil des Festivals. Und da sind grundsätzlich erst mal alle eingeladen, die interessiert sind.

MG: Wobei ich den Aspekt ganz wichtig finde, dass es eben ein JUNGES Forum ist, in studentischem Rahmen. Mir persönlich hat das Format mehr Courage gegeben – ich war in öffentlichen Diskussionen früher eher schüchtern. Und: Man lernt in den Gesprächen zwischen den Veranstaltungen viele Leute kennen, die sich schon länger in den Fachdiskursen bewegen oder auch gerade ankommen.

FB: Welche Bedeutung hatte das Junge Forum für eure eigene professionelle Entwicklung?

CR: Es hat zunächst mal meine Begeisterung für das ­Figurentheater gestärkt, weil ich durch das Festival insgesamt, aber auch speziell über den Austausch im Jungen Forum einen umfassenden Einblick in die Vielfalt dieser Szene erhalten habe. Ich habe Kontakte geknüpft und bin beispielsweise der double-Redaktion beigetreten. Auch meine jetzige Arbeit in der Kulturförderung startete mit der 121

Projektleitung eines Sonderförderprogramms für das Figurentheater. Nicht, dass das alles direkt mit dem Jungen Forum zu tun hat, aber es hat mich in meiner Entscheidung bestärkt, der Szene verbunden zu bleiben.

MG: Für mich hat das Junge Forum einen Teil des Netzwerks gegründet, auf das ich in meiner Arbeit jetzt zurückgreifen kann. Zudem hat es mir die Seherfahrung gebracht, die es braucht, um ad hoc wissenschaftlich argumentieren oder auch in der Lehre Beispiele anführen zu können. Wenn man sich dem Festival mit allem, also insbesondere auch den Diskursen, aussetzt, bekommt man einen evidenten Eindruck von künstlerischen Tendenzen und aktuellen Forschungsfragen der Kunstform.

FB: Ich finde es spannend, wie Zuschauerinnenbiografie mit professioneller Biografie zusammenhängt, und wie durch – oftmals zufälligen – Austausch Netzwerke gewachsen sind … Auch ich habe in Erlangen sehr viele wichtige Seherlebnisse gesammelt sowie nachhaltige Inspirationen für eigene Seminare zum Figurentheater erhalten. Wohl nicht von ungefähr habe ich später meine Master- wie auch Doktorarbeit diesem Thema gewidmet.

MG: Apropos Seminare: Theaterwissenschaftliche Inhalte und Herangehensweisen sind zwar in den Seminaren des Forums präsent, aber ich würde mir wünschen, dass die Theaterwissenschaft durch Einbindung anderer Institute noch stärker vertreten oder sichtbarer sein könnte. Gerade deshalb, weil Besuch und Diskussion von Produktionen aus dem Figurentheaterkosmos generell in den Lehrplänen der theaterwissenschaftlichen Institute des deutschsprachigen Raumes selten vorkommen.

CR: Ich hatte allerdings oft das Gefühl, dass die jeweiligen Studiengänge doch eher unter sich bleiben. Der Dialog hat über die Praxis in den Workshops noch mal anders funktioniert, weil es da um ein Ausprobieren ging und man mit Leuten außerhalb der eigenen Studienclique in einer Gruppe gearbeitet hat und so in Kontakt kam.

MG: Diese Erfahrung habe ich 2022 auch erstmals am FIDENA-Forschungszentrum, einem studentisch-wissenschaftlichen Austauschprogramm im Bochumer Festival, gemacht: Man muss gezielt planen, die Gruppen zu durchmischen und miteinander ins Gespräch zu bringen – so wie es auch in Erlangen im Seminar „Tiefenbohrungen“ praktiziert wird.

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FB: Dass Mareike schon ein ähnliches Format in die Welt getragen hat, leitet uns zur Zukunftsfrage weiter. Wie ­können wir eine stärkere wissenschaftliche Vernetzung schaffen?

MG: Es wäre wirklich schön, wenn es mehr Foren gäbe. Das würde der Orientierung und Vernetzung junger Forschender nach dem Studium sehr helfen. Aus einem Gespräch, das Franziska und ich bei einem Festival geführt haben und das sich mit anderen Kolleg*innen wiederholt hat, ist die Idee entstanden, eine Art Promotions- und Postdoc-Kolloquium einzurichten. Beim Netzwerk Junger Forschender, das daraufhin Ende 2021 entstanden ist und das sich gerade zu etablieren versucht, treffen sich in regelmäßigen Abständen Forschende und Theaterschaffende, um gemeinsam über figurentheatrale Phänomene zu diskutieren.

CR: Halten wir also fest, dass Plattformen wie das Junge Forum oder die Vernetzungstreffen extrem wichtig sind, um Kontakte auszubauen, in die Szene einzutauchen, um die eigene Position im Berufsleben oder der wissenschaftlichen Praxis zu finden …

FB: … um eben im Kosmos anzukommen und ihn mitzugestalten!

Die Schweizer Theaterwissenschaftlerin Franziska Burger promovierte an der Universität Bern und der Stockholm University zum Thema: „Ausser-sich-Sein – Verhältnisse zwischen Spieler*in und Spielfigur im gegenwärtigen Figurentheater“. Bereits in ihrer Masterarbeit befasste sie sich mit dem Genre: „Auf den Spuren des zeitgenössischen Figurentheaters.

Eine Analyse anhand ausgewählter Inszenierungen von Gisèle Vienne“.

Mareike Gaubitz studierte Musiktheaterwissenschaft (B. A.) an der Universität Bayreuth und Theaterwissenschaft (M. A.) an der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Dokumentationszentrums am Deutschen Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst, Bochum, daneben unterrichtet sie als Lehrbeauftragte am Institut für Theaterwissenschaft der RUB. Christina Röfer ist Projektleiterin beim Fonds Darstellende Künste, ­Berlin. Sie studierte Germanistik, Theater- und Medienwissenschaft (B. A.) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Inszenierung der Künste und der Medien (M. A.) an der Universität Hildesheim. Ihr Forschungsinteresse gilt dem Figuren- und Objekttheater, zeitgenössischen Körperinszenierungen sowie Körper- und Wahrnehmungstheorien.

Lehrende, Alumni und Studierende: O-Töne zum Jungen Forum in Erlangen

Im Folgenden sind einige Stimmen zu den Anfängen und zum neueren Stand des Jungen Forums beim internationalen figuren.theater.festival in Erlangen versammelt. Der Fokus liegt dabei auf Teilnehmer*innen aus den beiden Hochschulstudiengängen in Berlin und Stuttgart, für deren Austausch das Format Junges Forum von Beginn an Raum gab.

Hans Jochen Menzel zu den Anfängen des Jungen Forums Als ich 1991 mit dem Solostück „Seltsame Schleifen“ beim internationalen Figurentheater-Festival in Erlangen, Nürnberg und Fürth auftrat, hatte ich anschließend ein längeres Gespräch mit Karl Manfred Fischer, dem damaligen Erlanger Festivalleiter, über das Puppentheater in der DDR, dessen thematische und ästhetische Ausrichtung sowie über das Studium, die Ausbildung an der HfS Ernst Busch in Berlin, wo ich gerade als externer Dozent unterrichtete. In diesem Gespräch kamen wir unter anderem auf die Idee, dass es für Menschen, die gerade anfangen, sich mit dieser sehr speziellen Kunstform professionell zu beschäftigen, eine Lust sein müsste, die Formen- und Themenvielfalt dieses Festivals erleben zu können. Auch der Aspekt, dass Studierende der beiden damals noch an sehr unterschiedlichen Kunstauffassungen orientierten Hochschulstudiengänge für Puppenspielkunst in Berlin respektive für Figurentheater in Stuttgart sich näher kennenlernen sollten, spielte eine Rolle.

Fischer schlug vor, das Festival könnte doch den Aufenthalt und Vorstellungsbesuch von acht bis zehn Studierenden ermöglichen. So könnten die Studierenden über die gemeinsam gesehenen Inszenierungen ins Gespräch kommen, sich begegnen, diskutieren, austauschen und vielleicht sogar für Projekte zusammenfinden. Ich war begeistert von

dem Vorschlag und stellte sogleich die Verbindung zu Hartmut Lorenz, dem damaligen Leiter der Fachrichtung Puppenspielkunst an der HfS, her.

Als ich 1995 mit der Inszenierung „Die wunderbare Welt der Simulanten“ wieder in Erlangen gastierte, waren auch Studierende der Fachrichtung Puppenspielkunst dort vertreten und zeigten sich von der thematischen und formalen Fülle der Inszenierungen dieses Festivals, von der Ausdehnung der Formen über scheinbar gesetzte Grenzen hinaus, überrascht und sehr eingenommen. Die Unbekümmertheit und Offenheit, mit der die Studierenden von Inszenierung zu Inszenierung zogen, dabei dennoch einen deutlich kritischen Blick bewahrten, hat mich damals sehr gefreut. Im Rückblick war dies ein außerordentlich wichtiger Schritt, mit dem sich die Hochschule für Schauspielkunst Berlin neue, andere Sichtweisen öffnete.

Hans Jochen Menzel, bis zu seiner Emeritierung 2022 Professor an der Abteilung Zeitgenössische Puppenspielkunst der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin und von 2003 bis 2013 deren Leiter. Als Puppenspieler bzw. Regisseur war er seit 1989 in Erlangen, Nürnberg und Fürth bei diversen Festivalausgaben zu Gast, z. B. mit den Inszenierungen „Die wunderbare Welt der Simulanten“ oder in der Theater o. N./ Handgemenge-Produktion „Dietrich von Bern“. Seine virtuose Puppenspielkunst und sein unvergleichlich lässiges Komödiantentum waren zuletzt im Erlanger Festivalprogramm 2023 in Suse Wächters Inszenierung „Brechts Gespenster“, einer Produktion des Berliner Ensembles, zu bewundern.

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Jan Jedenak über das Privileg eines Formats Das Junge Forum beim figuren.theater.festival Erlangen hat mir als Studierendem der HMDK Stuttgart die Möglichkeit gegeben, mit anderen Studierenden, Künstler*innen und Veranstalter*innen in den Austausch zu gehen. Über Stücke zu reflektieren und zu diskutieren, aber auch, mich mit der eigenen Arbeit zeigen zu können. Zugleich vermittelte das Forum einen Überblick über die Akteur*innen der weit gefächerten Figurentheater-Szene und deren unterschiedliche künstlerische Vorgehensweisen, was sicherlich für die Verortung der eigenen zukünftigen Arbeit eine befruchtende Erfahrung war. Nach Abschluss meines Studiums (2016) musste ich allerdings lernen, dass dieser Zugang zu Formen des Austauschs und des Kontakteknüpfens nicht selbstverständlich ist.

Die Aufmerksamkeit für ihre vorgestellten Arbeiten, die Studierende vielleicht durch ein Format wie das Junge Forum bekommen, suggeriert einen niederschwelligen Zugang zur Berufspraxis. Die Erkenntnis, dass man sich diesen mit jedem neuen Stück wieder neu erarbeiten und seine künstlerische Qualität unter Beweis stellen muss, kommt erst später. Ist man mit der eigenen Arbeit nicht regelmäßig auf Festivals vertreten, ist man gefühlt schnell nicht mehr existent als Künstler*in. Festivals sind Orte des Austauschs, der Begegnung, des Kontakteknüpfens, doch sie sind gleichermaßen Orte des Werbens und Verkaufens von Kunstprodukten. Eine Programmauswahl bedeutet immer auch Selektion, die festlegt, welche Geschichten erzählt werden und welche nicht, welche künstlerische Behauptung „Wert“ hat und welche nicht, letztlich sogar, wer sichtbar sein darf und wer eben auch nicht. Ich wünsche mir, gerade mit Blick auf Kürzungen in der Kulturpolitik, dass mehr Festivals im Bereich Puppen-, Figuren- und Objekttheater die Relevanz der Pflege und Unterstützung des künstlerischen Nachwuchses betonen.

Jan Jedenak präsentierte bereits als Student beim figuren.theater.festival die kurze Soloarbeit „Scéance – Sequenzen zur Deutung des Unsichtbaren“ 2015 im Rahmen des Jungen Forums. 2017 wurde „Trickster – Fang mich wenn du kannst“, seine weiterentwickelte Abschlussarbeit am Studiengang Figurentheater der HMDK Stuttgart, im regulären Erlanger Programm gezeigt, 2023 war er mit der so berührenden wie verstörenden Performance „Untiefe“ beim Festival vertreten. Jan Jedenaks Arbeiten reizen immer wieder mit eindringlichen szenischen Bildern und drängendem Sound den Spielraum des nicht Sagbaren, Widersprüchlichen und Obskuren aus.

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Rafi Martin über die Nachhaltigkeit des Anschauens Ich hatte das Glück, während meiner Ausbildung an der HMDK Stuttgart/Studiengang Figurentheater mehrere Jahre hintereinander am Jungen Forum beim figuren.theater.festival Erlangen teilnehmen zu können. Dieser Wahrnehmungs-, Diskussions- und Präsentationsraum erwies sich in dem Moment, aber auch im Nachhinein als äußerst wichtig. Ich hatte damals zum Beispiel keine Ahnung, wie sehr mir der Aufbau eines Korpus von Referenzinszenierungen erhalten bleiben würde. Einige Stücke, wie Antonia Baehrs „­ Abecedarium Bestiarium“ oder Dries Verhoevens „Guilty Landscapes“, inspirieren mich nach wie vor. Darüber mit Gruppen verschiedener künstlerischer und theaterwissenschaftlicher Studiengänge zu diskutieren, war begeisternd: Wir verließen unsere Komfortzone, lernten die Wahrnehmungen von Personen kennen, mit denen wir nicht schon eine gemeinsame (Ausbildungs-)Geschichte hatten, konnten uns auch selbst darüber äußern, was dieses oder jenes Projekt mit uns macht, wie wir es verstehen.

So viele Inszenierungen an einem Tag ansehen zu müssen, dass man fast nicht mehr gucken kann, ist ein Privileg.

Die an der HMDK eingeführte Regelmäßigkeit, mit der dieses internationale Festival besucht wird, um dort neben Vorstellungbesuchen und Seminaren auch eigene Etüden oder Studieninszenierungen zu zeigen, hat uns ermöglicht, ­Kontakte zu knüpfen und das Festival als möglichen Koproduzenten und Veranstalter unserer Projekte zu denken – was (nicht nur) bei mir tatsächlich eingetreten ist.

Der französische Performer* Rafi Martin schloss das Studium des Figurentheaters mit der 2019 in Erlangen gezeigten Ensembleproduktion des Tangram Kollektivs „Ein Fisch im Weltraum“ ab. Beim figuren.theater.­ festival 2021 – der coronabedingen Online-Ausgabe – konnte er die Performance „The ceremony of weight“, ein riskantes und bewegendes Ritual der Gewichtsverlagerungen und Transformationen, eine Choreografie zwischen Körpern und Material, in einem Tryout vorstellen, das live aus dem Experimentiertheater der Erlanger Universität gestreamt wurde. 2023 war er mit der fertigen Produktion dann beim Festival zu Gast.

Sven Tillmanns kurzer Erinnerungsparcours Ich wandere bei Sonnenschein durch die beschauliche Stadt. Ein riesiges Huhn legt vor mir ein Ei. Ein Mensch wird beinahe von seiner eigenen Hand massakriert und alle, die das sehen, lachen. Ein anderer Mensch liegt leblos wie ein Stock auf einer Bühne herum. Ich sitze an dem Tisch eines längst geschlossenen Lokals und sinniere mit enthusiastischen Puppenbaukolleginnen über den Unterkiefer eines Eisbären.

Da noch das Bild von riesigen Stahlkonstruktionen bei Nacht, beleuchtet von lodernden Feuern, denen einer fliegend entkommen will.

Und das einer wuselnden Gruppe von engagiert über gerade Gesehenes Diskutierenden, die sich Nudeln kochen und in Sandsäcken chillen – sehr schön, die Stuttgarter jetzt auch endlich mal getroffen zu haben.

Ich erschaffe im Dialog mit einem lächelnden Gegenüber einvernehmlich ein Universum. Ein weiteres entsteht in einer übergroßen Eiswaffel.

Eine Gruppe Handpuppen-Ratten zerstört die Mittagsruhe eines sonnenheißen Marktplatzes.

In undurchdringlicher Dunkelheit wird mir dröhnend das Herz herausgerissen, ich bleibe mit einer Flasche Bier zurück. Gesprächsbedarf! Mal gucken, ob da noch wer in den Sandsäcken sitzt ...

Sven Tillmann hat als Studierender der Abteilung Zeitgenössische Puppenspielkunst der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin an den Veranstaltungen des Jungen Forums 2023 teilgenommen und seine Vordiplomarbeit „Sand fressen“ gezeigt.

Marta Pelamatti zu Austausch und Entdeckungen Mit großem Erstaunen entdeckte ich die zahlreichen Facetten unserer Kunst, die beim figuren.theater.festival 2019 geboten wurden. Ich ging von einer Aufführung zur nächsten, von einer Performance zur nächsten, ich kam verwirrt, begeistert oder weinend heraus. In jedem Fall wurde mir warm im Kopf und im Herzen. Als Teilnehmer*innen des Jungen Forums International hatten wir Zugang zu den unterschiedlichsten Theaterformen. So konnte es zum Beispiel nach einer beeindruckend genau choreografierten Aufführung mit gefühlt 30 Puppen-Schauspieler*innen auf großer Bühne direkt in eine Aufführung im Studentenquartier gehen; in einem winzigen Raum saßen wir dann dicht gedrängt und schauten uns die Arbeit eines Teams von tschechischen Studierenden an, die ein Schachspiel mit als Krokodile verkleideten Puppen aufführten, am Ende grün phosphorisierenden Wodka aus den Händen schlürfend ...

Es war äußerst bereichernd und anregend, im Jungen Forum mit anderen Studierenden und Lehrenden über das Gesehene und die Bilder, die einem im Kopf herumschwirrten, diskutieren zu können. Das ermöglichte, Wesentliches herausfiltern und manchmal andere Schichten zu erkennen, hinter dem Offensichtlichen der Bilder philosophische, politische oder poetische Inhalte zu entdecken. Was ich davon trotz meiner damals mangelhaften Deutschkenntnisse verstehen konnte, bestätigte das Gefühl in mir, dass das Theater eine fantastisch stimulierende Ausdrucksform ist, die uns nicht dümmer macht, und dass es von KAPITALER Bedeutung ist, diese weiterhin zu schützen, zu emanzipieren und auf Reisen zu schicken.

Marta Pelamatti entdeckte das Puppenspiel bereits im Alter von zwölf Jahren für sich. 2017 ging sie an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, wo sie 2022 ihren Abschluss als Figurenspielerin mit dem Schwerpunkt Figurenbau machte. Pelamatti und ihr Studienkollege Mehdi Pinget gründeten gemeinsam das Théâtre Gudule. Sie zogen mit der Inszenierung „Frittata“, einem lebenswichtig-lustigen Walk-Act von Huhn und Ei, beim figuren.theater.festival 2023 Scharen von Kindern und Erwachsenen in ihren Bann.

„Sand fressen“, Sven Tillmann/HfS Berlin (DEU). Junges Forum 2023, Foto: Erich Malter

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Spannend bis zu spannend Festivalexkursionen als Teil der Ausbildung

Li Kemme im Gespräch mit Stephanie Rinke, Julika Mayer und Florian Feisel Die biennale Exkursion zum internationalen figuren.theater. festival ist seit Jahren fest verankert in der Ausbildung des Stuttgarter Studiengangs Figurentheater. Das heißt: Die Studierenden aller Jahrgänge bekommen die Möglichkeit, als Teil des Jungen Forum die gesamte Festivalzeit über in Erlangen anwesend zu sein, Tag und Nacht zuschauend, in Seminaren diskutierend, in Workshops von erfahrenen Künstler:innen lernend, selbst kleine Arbeiten präsentierend ... Die Plattform Junges Forum wird aktuell in ­Kooperation des Festivals mit dem Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-­Nürnberg sowie mit der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart1 durchgeführt.

HMDK-Absolvent:in Li Kemme hat mit den Stuttgarter Professor:innen Stephanie Rinke, Julika Mayer und Florian Feisel über das besondere Exkursionsformat gesprochen.

Li Kemme: Welche Rolle spielt das internationale figuren.theater.festival in Erlangen heute für die Ausbildung im Bachelor-Studiengang Figurentheater an der HMDK ­Stuttgart?

Stephanie Rinke: Dass Studierende und junge Absolvent:innen der Figurentheaterstudiengänge sich mit eigenen Arbeiten auf dem Festival zeigen und mit erfahrenen Profis ins Gespräch kommen konnten, das gab es schon früher. Was wir dann als Studiengang in enger Zusammenarbeit mit dem Festival Erlangen neu angegangen sind, war, das Junge Forum noch größer auszubauen und diese Festivalexkursion ausdrücklich in unser Curriculum einzubinden. In der Form, dass unter anderem jeweils zwei Jahrgänge des Stuttgarter Studiengangs Figurentheater gemeinsam mit dem Erlanger Studiengang Theaterwissenschaft Inszenierungen 126

anschauen und analysieren, in einem Seminar, dessen von Studierenden geleitete öffentliche Gespräche auch für das Publikum zugänglich sind.

Dabei war uns von Beginn an wichtig, dass unsere ­Studierenden in Zusammenarbeit mit den Erlanger Theaterwissenschaftsstudierenden für ihre Rezeption von Inszenierungen Kriterien entwickeln, die wegführen von Ge­schmacks­ urteilen und ästhetischen oder inhaltlichen Vorlieben und sich zunächst auf die Betrachtung der theatralen Mittel konzentrieren. Wichtig erscheint mir zudem, dass die angehenden Figurentheaterprofis sich im Rahmen des Festivals vernetzen können mit angehenden Theoretiker:innen des Faches. Das war die Grundidee, die das ergänzt, was schon da war und natürlich auch geblieben ist: dass unsere Studierenden sich bei diesem Festival mit eigenen Arbeiten zeigen können und das gesamte Festivalprogramm erleben.

Dieses erweiterte Junge Forum wurde super gestemmt und etabliert durch das Erlanger Team. Die Studierenden – vorwiegend von den Studiengängen des Genres in Berlin, Prag und Stuttgart – bekamen sogar einen eigenen Ort, ein „Base Camp“, innerhalb des Festivals, wo sie sich treffen können, wo unsere Seminare und die vom Festival angebotenen Workshops stattfinden, wo auch kleinere Projekte gezeigt werden können – intern oder öffentlich.

Julika Mayer: Den Besuch des Festivals ins Curriculum einzupflegen, bedeutet auch eine Integration professioneller Strukturen in die Ausbildung – so wie bei der französischen insertion professionnelle, zum Beispiel an der ESNAM2 in Charleville-Mézières: entwickelte professionelle Strukturen in die Ausbildung integrieren, nicht die Absolvent:innen nach dem Bachelor da hineinstolpern lassen.

Warum ist es das Festival in Erlangen, mit dem für diesen Teil der Ausbildung von Figurenspieler:innen so eng kooperiert wird?

Florian Feisel: Das Festival in Erlangen ist für einen großen, intensiven Besuch schon allein deswegen geeignet, weil es eine hervorragend überschaubare und kommunikationsfördernde Infrastruktur hat. Alle Veranstaltungsorte sind fußläufig zu erreichen, einige sind verbunden durch eine Art Gastronomiestraße, auf der man sich fast zwangsläufig begegnet.

Aber entscheidender Grund ist natürlich das Programm: Fast alle wichtigen Akteur:innen des „klassischen“ Puppenund Figurentheaters sind auf diesem Festival zu sehen, doch zugleich wird der Begriff des Figurentheaters hier sehr weit gestreckt, gedehnt oder je nach Perspektive sogar gezerrt, so dass man auch, was zum Beispiel Performance oder Tanz angeht, wahnsinnig spannenden Input bekommt, ohne dass das Zentrum des Figurentheaters verloren geht.

Das ist bemerkenswert und für uns ein Gewinn, so ein vielschichtiges, facettenreiches Festival besuchen zu können.

Ist es nicht ungewöhnlich, dass ein ganzer Studiengang auf Exkursion geht?

FF: Wir waren 2013 in der günstigen Situation, dass wir als sehr kleiner Studiengang mit nur drei Professor:innen und damals etwa 20 Studierenden die Möglichkeit hatten, diese Exkursion für den gesamten Studiengang zu planen und gesammelt hinzufahren. Unsere Strukturen erlaubten es uns, zu entscheiden, regelmäßig stattfindenden Unterricht für die Zeit des Festivals ausfallen zu lassen, da wir die künstlerischen Impulse, die im Rahmen des Jungen Forums erwartet wurden, als wichtiges Element der Ausbildung betrachteten. Ein Privileg! Weil es sich bewährt hat, fahren wir seitdem alle zwei Jahre mit dem kompletten Studiengang Figurentheater nach Erlangen.

JM: Der Kooperation mit Erlangen kam vielleicht auch das bereits bestehende Vertrauensverhältnis zwischen dem Festivalleiter Bodo Birk und mir zugute – wir kennen uns ja bereits aus dem Studium.

FF: Dieses besondere Vertrauensverhältnis übertrug sich auch rasch auf das Festivalteam: Sie wollen zwar im Voraus wissen, was wir an Szenischem mitbringen, doch wir haben viel Freiraum und können im Late-Night-Programm auch kleine Sachen zeigen, Unfertiges, Work in Progress. So ist das für die Studis immer spannend bis zu spannend, weil sie sich im Lauf der Zeit zu viel vorgenommen haben, zu viel zeigen wollten, so dass wir irgendwann gesagt haben: Stopp – es geht hier eher darum, etwas mitzukriegen, als pausenlos etwas zu zeigen.

Ich fand und finde es immer besonders gut, dass ich beim Festival sozusagen die ästhetische Vorratskammer auffüllen kann – ich bekomme in zehn Tagen auf dem Silbertablett serviert, wofür ich sonst weite Reisen machen müsste! Das ist ein riesiges Geschenk. Ich frage mich aber: Was hat auf der anderen Seite eigentlich das Festival vom Aufenthalt des Studiengangs?

SR: Das Festival hat ganz bestimmt etwas von dieser Zusammenarbeit. Das sieht man zum Beispiel an den Reaktionen der professionellen Künstler:innen, die an den öffentlichen Gesprächen der Studis teilnehmen: Sie zeigen ein großes Interesse daran, welche neuen Impulse, Gedanken und Reflexionen die Studierenden einbringen. Wir haben ja in Deutschland nur zwei Hochschulstudiengänge für das Genre – und wenn du nicht in Berlin oder Stuttgart wohnst, dann bekommst du davon nicht viel mit. So ist das Festival auch eine Plattform für die aktuellen Entwicklungen in den Hochschulen, für neue Strömungen und Ideen, die von dort kommen. Deshalb ist nicht zu unterschätzen, was die Studis mitbringen.

JM: Und ich glaube, die dauerhafte Präsenz der Studierenden während des Festivals, als eine Art Forschungscrew, die unermüdlich guckt und über die Inszenierungen, auch öffentlich, diskutiert – das tut der Festivalatmosphäre sehr gut. Trotzdem müsste man die Frage eigentlich dem Festivalteam stellen: Verursachen die Studierenden vor allem einen Haufen Ärger und logistische Probleme oder eher befruchtendes Chaos?

FF: Aus Sicht der Studierenden war es bisher eindeutig ein Gewinn: Das Festival, darauf kann man sich verlassen, kuratiert ein interessantes Programm und unsere Studis profitieren von der großen Diversität an Ausdrucksformen. Das seine künstlerischen Grenzen sehr weit steckende Festival hat ja so etwas wie eine praktische Deutungshoheit über das, was im Moment unter Figurentheater verstanden wird – jedenfalls eher als wir drei Dozent:innen oder gar ein einzelnes Theorieseminar mit einer mehr oder weniger subjektiven Auswahl von besprochenen theatralen Formen. Hinzu kommt: Durch die Vielzahl und große Spannweite der live erlebten Vorstellungen erfahren sich die Studierenden zugleich als ­Bestandteil einer lebendigen Szene, die selbst bestimmt, was Figurentheater ist, das spürt man in Erlangen deutlich.

Als mit dem Festival aufgewachsene:r Erlanger:in bin ich ja ohnehin versucht zu sagen: Wenn du wissen willst, was Figurentheater ist, und niemand kann es 127

genau beschreiben, geh einfach aufs figuren.theater. festival! Doch wie kann man konkret erfassen, was dabei eigentlich wichtig ist für die Ausbildung? Dich in deinen künstlerischen needs selber kennenlernen, aber auch erkennen, was sind die Regeln, was weitet man aus, womit verbindet man sich und wo sagt man: „Ach, dann suche ich mir eine andere Szene“? Hilft das ­figuren.theater.festival zu entdecken, wo du stehst, wer du werden kannst, was dir offensteht und was nicht?

JM: Im Prinzip fungiert das Festival bereits unabhängig von den Studiengängen als Nachwuchsgenerator, denn ohne die auf dem Festival gezeigten Inszenierungen wüssten viele in der Stadt nicht, dass es so eine Art von Kunst wie das Figurentheater gibt. Ich habe hier vor meiner Berufsentscheidung Werke gesehen, die in mir den Impuls auslösten: Das will ich auch machen! Wenn man sich schon entschieden hat oder bereits in der Ausbildung ist, kann das Festival helfen bei der Frage: Was für eine Art von Kunst will ich machen? Das funktioniert durchaus über Inszenierungen, die einen sehr berühren, oder eine Arbeitsweise, bei der man denkt: Das hat mit mir zu tun. Und dadurch, dass das Festival so breit aufgefächert ist, bietet es sehr unterschiedliche Inspirationsquellen. Ändert sich der Blick auf die eigene Arbeit durch den kuratierten Kontext, die Slots, in denen die Studierenden spielen? Lernen sie auch etwas über das Kuratieren selbst?

FF: Unsere Aufgabe als Ausbildungsstätte ist es, technische Fertigkeiten, künstlerische Maßstäbe zu vermitteln, über verschiedene Theatertraditionen zu informieren, die Auseinandersetzung darüber anzustoßen, ebenso grundlegende Fragen zu stellen, die helfen, eine eigenständige künstlerische Sprache zu entwickeln – das ist das eine und uns sehr wichtig. Das andere: Es gibt eine Figurentheater-Szene und für Studierende und Absolvent:innen stellt sich die Frage: Wie kann ich Teil dieser Szene sein? Auf dem Erlanger Festival hast du die Chance, zu sehen, es ist möglich: Ich kann ein Mensch sein, der irgendeine Verrücktheit macht, diese in ihrer ganzen Pluralität präsentierte Szene hat auch dafür Raum … Das ist etwas anderes, als wenn wir den Studis sagen: Probier doch einfach mal! Sich als Künstler:in selbst erfinden in einem Zusammenhang – das lernt man beziehungsweise das passiert in dem lebendigen Austausch der Szene, nicht unbedingt an der Hochschule.

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Ist das Festival die Realität?

SR: Was heißt Realität? Natürlich ist es eine Realität, es existiert ja! (lacht) Es wäre aber tatsächlich spannend, bei bestimmten Produktionen, die sich in künstlerischen Grenzbereichen bewegen, zu recherchieren, wo sie eventuell sonst noch gezeigt werden, außerhalb des „Festivalzirkus“.

Denn es ist wichtig zu überlegen: Wo will ich meine Kunst ausüben? Da spielt natürlich der wirtschaftliche Faktor mit: Wie fördert welches Land welche Kunst? Welche Möglichkeiten habe ich, meine Produktionen zu zeigen und innerhalb welcher Strukturen? Das zu hinterfragen wäre vielleicht auch etwas, was Studierende an das Festival herantragen könnten. Das figuren.theater.festival selbst bewegt sich ja schon immer geschickt zwischen manchmal provokativen performativen Formaten an den Schnittstellen verschiedener Künste und auf der anderen Seite Inszenierungen, die eher solide einer klassischen Dramaturgie folgen. Und das Erlanger Publikum hat in der Folge ein großes Vertrauen in das Programm entwickelt, es nimmt die Herausforderungen an und geht neue Wege erwartungsvoll mit. Ein Riesenpfund für beteiligte Künstler:innen!

FF: Das alles ist Teil der Realität des Festivals – die hat aber auch ganz fragile Seiten. So sind wir hingefahren und haben protestiert, als 2010/11 existenziell gekürzt werden sollte. In solchen Situationen wird klar: Wir alle müssen was dafür tun, dass es weiterhin diese Inseln für unsere Kunst gibt. In der Hochschule oder mit dem Abschluss in der Tasche denkt man vielleicht (wie ich damals): Ach, solche Veranstaltungsorte wie die Schaubude Berlin und das FITZ! Stuttgart sind ja schon immer da, und das figuren.theater.festival ebenso, doch all diese Orte haben ihre Geschichte und ihre Probleme … Sie sind Realität, doch wir sollten uns immer dessen bewusst sein, dass es eine fragile Realität ist.

Und wenn man da mal jobbt, bekommt man auch noch mit, dass zu dieser Realität schweißtreibende Nachtschichten gehören und dass viel von Leuten abhängt, die richtig Bock drauf haben. Es ist sehr wertvoll, das früh mitzubekommen. Was mir dabei als Frage kommt: Welche Möglichkeiten, Impulse zu setzen, mitzugestalten, haben Studierende, hat die Hochschule eigentlich?

FF: Es ist den Studis oft nicht klar, wie privilegiert sie tatsächlich sind, dass sie hier unendlich viel sehen, öffentlich diskutieren und sich international austauschen können. Es wird manchmal ein Problem, wenn das alles zu selbstverständlich

scheint. Dann denke ich auch schon mal: Geht in die Vorstellungen und haltet die Klappe, es ist nicht so wichtig, dass ihr viel zeigt; ihr bewegt im Festival allein schon etwas durch den Wind von jungen Menschen, der mit euch reinweht.

Spannend, man will bei der Exkursion zu diesem Festival erst einmal so viel Output generieren wie möglich – um dann zu merken, dass es viel besser ist, sich die Zeit zu nehmen, um den Künstler:innen nach den Vorstellungen aufzulauern, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und vielleicht sogar eine Zusammenarbeit anzubahnen … so habe ich Tim Spooner aufgelauert. (lacht) Meine Quintessenz für die Studierenden ist: ­Output musst du dein ganzes Leben lang machen, geh da hin, guck viel an und lerne Leute kennen.

SR: Dafür könnte man vielleicht über neue Formate nachdenken, mit denen der Kontakt zwischen Studierenden und Künstler:innen einfacher hergestellt werden kann. Natürlich passiert da informell einiges, und es gibt ja auch immer die Workshops – aber vielleicht könnte man noch andere Begegnungsräume schaffen.

JM: Das wäre auch im Hinblick auf die künstlerische Betreuung von Bachelorarbeiten, die man hier anbahnen könnte, interessant.

FF: Was aber eine Entscheidung vonseiten des Festivals sein müsste. Wir können Vorschläge machen, Ideen einbringen und öffentliche Lehrveranstaltungen durchführen, aber die verantwortliche Programmgestaltung des Jungen Forums liegt in Erlangen, beim Festivalteam und bei der Uni. Das heißt, sie übernehmen sozusagen einen Teil der ­Ausbildung?

FF: Ja. Wir sind alle verantwortlich dafür, was Figurentheater ausmacht, wir sind ja ein Teil dieser Szene; der eigene Erfolg ist was Tolles, aber es geht auch um den Erfolg des ganzen Genres … so gesehen ist es aber auch was Tolles, wenn du merkst, jemand stellt auf der Bühne etwas völlig anders dar als du, und es kann dich begeistern oder auch ärgern – und die Studis haben beim Festival die Gelegenheit, den ganzen Abend darüber zu streiten. Dafür braucht es allerdings so ein „streitbares“ Programm wie in Erlangen.

JM: Wo man zum Beispiel eine große Produktion von Gisèle Vienne sieht und an ihrem Workshop teilnehmen kann, und

gleichzeitig auch das Theater Zitadelle mit einem seiner kleinen, saftigen Stücke gastiert …

SR: … und wo zum Beispiel mit Akhe oder Philippe Genty eindrückliche Impulse gesetzt werden, groß, sehr groß zu träumen.

Florian Feisel studierte, nach drei Jahren Schauspielschule Mainz, ­Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin. Er ist ein Grenzgänger zwischen den Künsten, untersucht den menschlichen Körper als Objekt und Spielmaterial, legt als Darsteller und Regisseur den Schwerpunkt auf performatives Experiment und Installation. Seit 2012 lehrt Florian Feisel als Professor im Studiengang für Figurentheater an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Neben der Begleitung der Studierenden auf ihren Festivalexkursionen nach Erlangen war er mehrfach mit eigenen künstlerischen Arbeiten im Programm vertreten – u. a. mit der Lecture Performance „Puppen sterben besser!“ und der so poetischen wie beunruhigenden Installation „­SchmetterDINGE“.

Li Kemme kollaboriert seit Abschluss des Figurentheaterstudiums an der HMDK Stuttgart mit verschiedenen Kompanien und Kollektiven. Wichtige Arbeiten sind u. a. installative Performances wie „Echo of an End“ (2019 auch in Erlangen im Rahmen des Jungen Forums gezeigt) oder die mit dem Bochumer Fritz-Wortelmann-Preis für professionellen Nachwuchs im Figurentheater ausgezeichnete Soloperformance „ich bin gut isoliert“. Ein ästhetischer Schwerpunkt liegt auf dem Erkunden des Zusammenspiels von menschlichem Körper und Technik, häufig über den Bau und das ­experimentelle Arrangieren von Figurenspielelementen und Maschinen.

Julika Mayer erhielt ihre Ausbildung an der École Nationale Supérieure des Arts de la Marionnette in Charleville-Mézières, Frankreich, sie gründete zusammen mit Renaud Herbin die Compagnie‚ Là Où – marionnette contemporaine. Seit 2011 ist sie Professorin für Figurentheater an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. In ihrer eigenen künstlerischen Arbeit erforscht Julika Mayer visuelle Theaterformen und performative Spielweisen, die aus dem konkreten Bezug von Körper zu Objekt, Puppe und Raum entstehen – beim figuren.theater.festival eindrucksvoll zu erleben z. B. 2005 in ihrer Soloproduktion „Heimat, où habitons-nous? [habitable]“ oder zuletzt 2023 in „DING.“, ihrer Regiearbeit mit Karoline Hoffmann für sehr junges Publikum.

Stephanie Rinke absolvierte das Figurentheaterstudium an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Danach gründete sie das Figurentheater Paradox, das, mehrfach ausgezeichnet, auf zahlreichen Festivals im In- und Ausland gastiert – auch beim figuren.theater.festival, wo sie u. a. bereits 1999 ihre Diplomarbeit „Bossa Nova – totentanz im petticoat“ zeigte. Hinzu kommen Gastengagements bei Theatern und Fernsehen, Regiearbeiten und Lehrtätigkeit. 2011 wurde Stephanie Rinke als Professorin und Leiterin des Studiengangs ­Figurentheater an die HMDK Stuttgart berufen.

1 Über die Entwicklung dieser ausbildungsbezogenen Plattform des Festivals seit 1995, über weitere künstlerische beziehungsweise wissenschaftliche Studiengänge, die sich, auch international, bereits daran beteiligt haben oder beteiligen werden, informieren auch andere Beiträge dieses Kapitels.

2 ESNAM: École Nationale Supérieure des Arts de la Marionnette.

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Globale Perspektiven?

Studierende zu einer Sonderreihe des Festivals 2023

Das internationale figuren.theater.festival 2023 als Ort aktueller Positionen, diverser Möglichkeiten für Fachaustausch, Inspirationen, Fragen und Diskurse war für uns Figurentheaterstudierende der HMDK eine bereichernde und anregende Erfahrung. Wir haben uns als Nachwuchs gut versorgt und ernst genommen gefühlt. Während des Festivals und danach haben wir viel über den Schwerpunkt beziehungsweise die Sonderreihe #GlobalePerspektiven gesprochen und nachgedacht.

Wir haben uns gefragt, wie #GlobalePerspektiven gemeint sein könnte. Unsere ersten Assoziationen dazu sind widersprüchlich. Etwas Globales betrachtet das große Ganze oder, noch wörtlicher, die Welt selbst. Eine Perspektive ist eine Betrachtung aus einem einzelnen Blickwinkel.

Im Plural könnten es verschiedene Betrachtungen aus einzelnen, über den Globus verteilten Blickwinkeln sein. Auch eine Aussicht für die Zukunft kann als Perspektive bezeichnet werden, also könnte es in #GlobalePerspektiven um Aussichten für die Zukunft des Planeten gehen?

Geografischer vs. inhaltlicher Schwerpunkt Auf der Festivalwebsite heißt es dazu, der Schwerpunkt des Festivals habe bisher primär auf Europa gelegen. „Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten über Postkolonialismus und Dekolonisierung in Kunst und Kultur sind wir jedoch der Auffassung, dass sich das Festival anderen Theaterkulturen öffnen muss. Wir sehen darin die große Chance, unseren Horizont zu erweitern und ein neues, gerechteres Weltbild entstehen zu lassen.“ Es folgt eine Aufzählung verschiedener nicht-europäischer Länder, aus denen Künstler*innen „gewonnen“ werden konnten, „ihre Perspektiven auf die Welt darzustellen“. „Nicht alle werden aus ihrer Heimat anreisen, manche leben freiwillig oder unfreiwillig in Europa. Auch europäische und deutsche Theatermacher*innen nehmen neue Blickwinkel in ihrer Arbeit ein und sind deshalb in der Reihe #GlobalePerspektiven vertreten.“ 130

Diese Beschreibung wirft bei uns neue Fragen auf. Der Text deutet zunächst an, dass der Schwerpunkt geografisch definiert ist; das Festival möchte sein Einzugsgebiet erweitern. Offenbar werden hier insbesondere Künstler*innen, deren Herkunft (aber nicht unbedingt Lebensmittelpunkt) außerhalb von Europa liegt, globale Perspektiven zugeschrieben. Im weiteren Verlauf heißt es dann aber, dass auch europäische und deutsche Theatermacher*innen „neue Blickwinkel in ihrer Arbeit“ einnähmen und deshalb in dem Schwerpunkt vertreten seien. Was für neue Blickwinkel sind gemeint? Neu für wen? Blickwinkel auf was?

Wir suchen im Programm nach mehr Klarheit. Die unter #GlobalePerspektiven eingeladenen Arbeiten haben gemein, dass sie sich inhaltlich mit Fragen nach Herkunft, Identität, Kolonialismus, kultureller Aneignung oder Fluchterfahrung beschäftigen. Auch ein niederländisches Stück über die Kolonialisierung Indonesiens läuft unter dem ­Hashtag, während z. B. eine australisch-niederländische Adaption des „Ubu“, eine russische „Ikarus“-Inszenierung und eine israelisch-französische Arbeit über einen Kuss nicht mit dem Hashtag markiert sind. „Globale Perspektiven“ äußern sich in der Programmierung also weniger als geografischer, sondern eher als inhaltlicher Schwerpunkt. Für einen inhaltlichen Schwerpunkt erscheint der Begriff „Globale Perspektiven“ aber auch unklar. Der „neue Blickwinkel“ beziehungsweise die „globale Perspektive“, die zum Beispiel die niederländische Produktion einnimmt, erweist sich als Erzählung von Kolonialgeschichte durch Nachkommen der niederländischen Unterdrücker, die sich – verstörend direkt als Stimme eines geköpften aufständischen Archipel-Einwohners – die Perspektive der Unterdrückten aneignen. Dabei werden verschiedene Menschengruppen als verschiedene Tierarten dargestellt. Die Tatsache, dass die indigenen Protagonisten als Menschen porträtiert werden, die niederländischen Kolonialisatoren dagegen als Schafe, hilft wenig darüber hinweg, dass das

Double-Diskurs „Puppets of Colour“, moderierte Diskussion des Magazins für Puppen-, Figuren- und Objekttheater double. 2023, Foto: Georg Pöhlein

ganze Konzept der Einteilung von Menschen in Tierarten höchst fragwürdige Assoziationen aufwirft. Spätestens als kurz vor dem Ende des Stückes eine Gruppe chinesischer Händler als gelbe Katzen mit langen Zöpfen erscheint, muss man sich fragen: Ist dieser Blickwinkel tatsächlich neu? Und ist es einer, der wiederholt beziehungsweise reproduziert werden sollte?

Postkolonialismus-Debatten Wir gehen weiter im Programmtext. „Vor diesem Hintergrund muss sich das Festival anderen Theaterkulturen öffnen“ – was oder wer sind diese „anderen“ Theaterkulturen und im Gegensatz zu welcher Norm werden sie hier konstituiert1?

Warum sind Künstler*innen, die hier als „Andere“ markiert werden, bisher offenbar so unterrepräsentiert gewesen, dass nun das Festival für sie geöffnet werden muss? „Wir sehen die Chance, unseren Horizont zu erweitern und ein gerechteres Weltbild entstehen zu lassen.“ Wer ist dieses „wir“, für dessen Horizonterweiterung der Schwerpunkt gedacht ist?

In der Festival-Edition23 werden die „aktuellen Debatten über Postkolonialismus und Dekolonisierung in Kunst und Kultur“ als Hintergrund genannt. Diese Debatten setzen sich unter anderem damit auseinander, wer wie worüber (und für wen) spricht. Sie setzen sich aber auch damit auseinander, wer die Gelegenheit bekommt, Kunst zu machen, zu welchen Themen und in welchem Rahmen. Diese beiden Aspekte klingen vielleicht ähnlich, sind jedoch grundverschieden. Der eine Aspekt (der viel Öffentlichkeit findet) ist der der Repräsentation und Identität. Der andere Aspekt setzt früher an. Er fragt danach, unter welchen Bedingungen

gearbeitet wird. Wer wählt aus, welche Stücke überhaupt produziert oder eingeladen werden? Wer entscheidet über ihren Inhalt? Welchen Rahmen finden Künstler*innen am Anfang einer Arbeit vor? Wie viel Bildungsarbeit müssen sie vielleicht erst noch leisten, bevor sie sich auf ihre tatsächliche künstlerische Arbeit konzentrieren können? Derartige Fragen sind aus unserer Sicht in diesem Festivalschwerpunkt zu kurz gekommen.

Das Sonderprogramm soll keines bleiben, heißt es abschließend auf der Festivalwebsite. Die damit eröffnete Aussicht auf eine längerfristige Beschäftigung mit den beim 23. internationalen figuren.theater.festival aufgeworfenen Fragestellungen freut uns sehr. Denn für unsere Szene steht in der Tat an, sich mit ebendiesen Fragestellungen und den damit verbundenen Herausforderungen intensiv und ausdauernd zu befassen. Wie zum Beispiel können wir als Figurentheaterszene stetig abklopfen, ob die Räume, die ­ Leitideen, die Regeln, die Routinen, die Entscheidungsprozesse, die Ressourcenverteilung und die Kommunikationsformen im Hinblick auf gesellschaftliche Vielfalt angemessen, einladend und zielführend sind?

Bei uns Studierenden hat ein großer Teil des Reflexionsprozesses bei der Vorbereitung dieses Textes stattgefunden, im Rückblick auf den Festivalbesuch und die Gespräche im Jungen Forum. Wir freuen uns auf zukünftige Diskurse, auf lebendigen Austausch, einen andauernden Lernprozess und kommende figuren.theater.festivals.

Dieser Text wurde von Eva Mario Hasler und Jo Posenenske geschrieben, zwei weißen Figurentheaterstudierenden und Teilnehmer*innen des Jungen Forums beim figuren.theater.festival 2023. Er ist das Resultat intensiver Gespräche mit weiteren Studierenden des Studiengangs­Figurentheater der HMDK Stuttgart (M. Garcia, Z. Broneer, L. Epp, E. ­Fischer, V. Kasprik, C. Krause, S. Lee, A. Lehotská, J. F. Lenk, A. ­Meritan, A.-M. Shawky, N. Vermes) sowie mit inhaltlicher Unterstützung von Alex Glanc.

1 „Othering“: Der Begriff (aus dem engl. other = andersartig,

„­Andersmachung“) beschreibt die Distanzierung und Differenzierung zu anderen Gruppen, um seine eigene „Normalität“ zu bestätigen. Das Konzept des Othering stammt aus dem Kontext der postkolonialen Theorie.

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Warum wir Festivals brauchen Plädoyer für einen verdichteten Erfahrungsraum

Markus Joss Ich schreibe aus der Perspektive des Leiters der Abteilung Zeitgenössische Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch und werde also weiter unten darüber schreiben, wie wichtig Festivals für Studierende sind, werde das Festival in Erlangen als Schule der ästhetischen Wahrnehmung loben, werde das gemeinsame Durchhecheln der besuchten Inszenierungen am Biertisch als Lehrinhalt curricular zu verankern versuchen und das Rumstehen im Foyer kurz nach dem Vorstellungsbesuch als methodisches Element in Bezug auf Liminalität und im Kontext sozialer Aushandlungsprozesse beschreiben. Kurz – es soll in diesem kleinen Beitrag denn doch auch recht akademisch werden. Für Generationen von Studierenden war der Festivalbesuch ein prägendes Erlebnis. Die Tatsache, dass die Institutionen Festival und Hochschule alle zwei Jahre eine Verbindung eingehen, schafft den Rahmen für einen verdichteten Erfahrungsraum. Inspiration, Vorbild und Epigonentum, Abgrenzung, hymnische Verehrung und apodiktische Ablehnung gehen einen Dialog ein und sind Referenzangebot für das eigene künstlerische Tun. Aber wie läuft das eigentlich genau ab?

Die Beute des Tages sezieren Schauen wir auf ein Bett oder genauer auf mehrere Doppelstockbetten. Auf dem einen davon zwei junge Männer, sitzend beide und ihre Blickrichtung geht auf einen Tisch, eine Armlänge entfernt, auf einen sehr kleinen Tisch. Darauf ein Bühnenbildmodell. Noch ist es eine Art Metzgerei oder Labor vielleicht. Wir befinden uns im Jahr 2003. Etwas eingezwängt zwischen oberer und unterer Liege halten die beiden Textbuch, Leim, Pappe und Cutter in Händen. Ab und zu wird etwas verschoben, geschnitten, geleimt, gelesen.

Es entsteht das Bühnenbild für „Adam Geist“ von Dea Loher in einer Inszenierung mit Puppen und als DiplomAbschlussprojekt an der HfS Ernst Busch. In dem Raum mit 132

den Doppelstockbetten in der Jugendherberge der Stadt Erlangen sitzen der Autor und ein Kommilitone, der eine heute Professor an einer Schauspielschule und der andere seit der Spielzeit 2024/25 Intendant des schauspiel erlangen – so schließen sich Kreise. Im Jahr 2003 haben die beiden noch keine Ahnung davon. Gleich wollen sie aufbrechen, um den ganzen Tag „Stücke“ anzusehen. Weil sie unter Zeitdruck stehen, werden sie am kommenden Tag weiter am Bühnenmodell werkeln. Und natürlich werden sie bewusst und unbewusst alles, was sie sehen, mit in ihre Arbeit einfließen lassen. Aber, was viel wichtiger ist: Sie werden sich dabei immer auf etwas Gemeinsames beziehen können. Sie haben dieselben Stücke gesehen, davon können sie ableiten. Was sie gesehen haben, werden sie versprachlichen, um einander begreiflich zu machen, warum sie dieses und jenes für die eigene Arbeit ablehnen oder im Gegenteil, auch so machen wollen. Der Prozess der ästhetischen Wahrnehmung, dann der Versprachlichung und damit Abstraktion wird am Abend in der Kneipe befördert werden durch das Element der Selbstdarstellung.

Man wird wieder viel trinken und jeder wird bemüht sein, die Beute des Tages lustvoll und eloquent vor allen anderen zu sezieren.

Die Szene hat übrigens tatsächlich so oder so ähnlich stattgefunden. Sie vereint in fast idealtypischer Weise all die Elemente, warum das Festival Erlangen so wichtig für Studierende ist.

Differenzerfahrungen Da ist zum einen die Möglichkeit, studentische Arbeiten vor einem Publikum zu zeigen. Festivalbesucher*innen sind zwar alle auch irgendwie Fachpublikum, aber die Differenzerfahrung zum Publikum in der Hochschule ist frappierend, die Hochschule ist die Blase, das Festival so etwas wie die richtige Welt. Was „funktioniert“ und was nicht? Wie sind die Reaktionen?

Und dann gibt es diesen nicht zu unterschätzenden ­Motivations- und Lerneffekt für die weitere Arbeit im Studium.

Wer seine Arbeit zeigen darf, hat schon einen kleinen Schritt hinaus in die Praxis geschafft. Aber dass genau dieses und nicht ein anderes Stück gezeigt wird, hat neben der Qualität auch damit zu tun, „ob es passt“. Die Dauer der Inszenierung und der Aufbauzeit, die Gastspieltauglichkeit insgesamt, wie sich eine Arbeit in ein Programm einbetten lässt, all das bestimmt mit, was auf einem Festival gezeigt wird. Zusammen mit den Aufgaben im Vorfeld, der Kommunikation über technische Bedingungen, Bühnenmaße und Stellplätze für den Transporter ist es die Summe der gelingenden Teilaufgaben, die „unterm Strich“ über Erfolg und Misserfolg Auskunft geben. Zu einem gelungenen Festivalauftritt gehört eben nicht nur das, was auf der Bühne gezeigt wird. Hier wird ein Praxisbezug hergestellt, der so im Hochschulkontext nicht simuliert werden kann.

Nicht jeder Studierende, der das Festival besucht, kann auch etwas zeigen. Und es geht auf einem Festival natürlich ums Sehen. Viel sehen ist die Devise! Am besten alles. Denn das Festival ist die Gelegenheit, sich einen Überblick zu verschaffen, was es alles so gibt. Aber der eigentliche Nutzen liegt nicht darin, viel zu sehen. Die nächsten Schritte sind, zu sagen, dass ich es gesehen habe, und die eigentliche Kunst liegt darin zu beschreiben, was ich gesehen habe, was die anderen gesehen haben, und warum die einen das so und die anderen so gesehen haben.

Und hier beginnt der curriculare Teil, der eingangs versprochen wurde. Teil eines Studiums muss es sein, ästhetische Strategien zu erkennen und zu beschreiben. Dies zu befördern, bietet das Festival mit unterschiedlichen Formaten ein ideales Umfeld. Einmal durch die schiere Menge der Inszenierungen, aber auch durch die Begegnung mit Studierenden anderer Hochschulen, mit Theatermacher*innen und Publikum. Die institutionalisierten Formen dieses Austauschs, die offiziellen Runden, verlangen ein anderes Sprechen als der abendliche Kneipentisch. Auch diese Differenzierung will gelernt sein. Bei beiden ist das Sprechen über eine Inszenierung mit der Herausbildung von Begriffen, Kriterien und der eigenen Positionierung verbunden. Und immer liegt darin auch ein Stück Selbstdarstellung, je schärfer die Analyse, je böser die Pointe, desto größer die Aufmerksamkeit. Auch das ist ein wichtiger Teil der Festivalkultur, das geschliffene Reden über alles und nichts. Hier kann man lernen: In der Analyse, die leidlich präzise sein sollte, liegt immer auch der Funke der Kreativität und aus den Fetzen nach dem eloquent vorgetragenen Verriss sollte sich immer etwas Neues bauen lassen. Das zu beherrschen ist

auch eine Frage der Kondition. Gelernt werden soll: Nicht beim Besserwissen haltzumachen, sondern das Gesehene einzuordnen und die Brücke zu den eigenen Ideen und Projekten zu bauen. Hier wird das Festival zum Trainingslager.

Aushandlungstänze Das Gegenmodell ist das Noch-nicht-so-recht-Wissen. Es ist eher im direkten zeitlichen Umfeld einer besuchten Inszenierung zu beobachten. Es ist ein Zwischenraum. Während in der vorgenannten Eloquenz die Performance der Einzelnen zählt und der Spaß bei den Zuhörer*innen auch dann entsteht, wenn sie die Vorstellung selber nicht besucht haben, geht es hier um einen sozialen Prozess. „Mal sehen, was die anderen so denken!“ Die Gruppe kommt geschlossen aus einem gemeinsamen Erlebnisraum und muss erst aushandeln, wie die Einschätzung des Gesehenen ausfällt.

Divergierende Meinungen eingeschlossen befinden sich hier alle in einem Übergangsbereich. Rollende Augen oder offene Gesichter, der Atem und seine unbewusste oder bewusst gesetzte Wahrnehmbarkeit werden zu einer Körperchoreografie. Die Sippe führt im Foyer einen Aushandlungstanz auf. An der Grenze zum ästhetischen Ereignis, jetzt im vorsprachlichen Raum, findet eine Selbstvergewisserung über die eigene Positionierung statt, die doch erst in der Interaktion entsteht. Auch ob die Sippe wirklich eine Sippe ist oder ob sich fremde Sippenmitglieder, und wenn ja in welchem hierarchischen Verhältnis, mit im Tanzrund befinden, bestimmt über den Ausgang.

Nirgends sonst als auf einem Festival lassen sich diese Aushandlungsprozesse in solch dichter Folge beobachten.

Es sind wunderbare Momente, in denen noch nicht richtig klar ist, was da eigentlich gerade gesehen wurde. Orientierungslosigkeit als Programm. Die Taktung, in der die Vorstellungen aufeinander folgen, begünstigt eine mangelhafte Vorbereitung der Zuschauenden. Das ist ganz großartig, denn nicht selten ist die Frage, um was für eine Compagnie es sich denn hier gerade gehandelt hat, der erste Versuch einer Einordnung.

Diese Sippentänze haben dort die größte Kraft, wo sich die Teilnehmer*innen möglichst lange dem konkreten Sprechen verweigern.

Wer etwas mit Theater zu tun hat, sollte Situationen und Körper lesen können. Von den professionellen Festivalteilnehmer*innen darf man dies also erwarten. Und während alle Teil des Tanzes sind, sind sie gleichzeitig auch Beobachter*innen. Performance und Analyse fallen in eins. Auch theatrale Ausbrüche oder das abrupte, stumme Verlassen des Foyers sind dazu angetan, die Spannung zu erhöhen und 133

die „Auswertung“ des gemeinsam Erlebten selber zu einem ästhetischen Ereignis zu machen.

Die Dichte der Spielorte, die das Festival Erlangen bietet, die Tatsache, dass man sich als Festivalteilnehmende immer wieder über den Weg läuft, befördern den Austausch.

Natürlich sieht man auf dem Festival wunderbare künstlerische Arbeiten, anderes bleibt vielleicht hermetisch, sperrig – den größten Gewinn aber ziehen diejenigen Studierenden aus dem Festival, die sich selber in einen Bezug dazu setzen. Ein Festivalbesucher zu sein ist ganz gut, besser ist es ein Festivalbeobachter zu sein, noch besser ein Beobachter der Beobachter und seiner selbst zu sein.

Markus Joss, geboren 1967 in Fribourg/Schweiz, studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch (HfS) Berlin. Als Regisseur, Objektbauer, Autor und Dramaturg wirkte er überwiegend im Bereich des Theaters mit Puppen und Objekten, arbeitete in der Schweiz, Deutschland und Frankreich. Von 2005 bis 2008 war er Künstlerischer Leiter des Puppentheaters Dresden. Seit 2007 hat er eine Professur an der Abteilung Zeitgenössische Puppenspielkunst der HfS Berlin inne, seit 2013 leitet er die Abteilung.

„NOR. Vom Kirchturm kann man die Zugspitze sehen“, Josephine Hock/Diplominszenierung am Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst der HfS Berlin (DEU), Nachgespräch. Junges Forum 2023, Foto: Georg Pöhlein

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„Szenenstudien“, School of Visual Theatre Jerusalem (ISR). Junges Forum 2009, Foto: Georg Pöhlein

„The Smallest of the Sami“, DAMU Prag (CZE). Junges Forum 2019, Foto: Erich Malter

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„Manifeste“ beim Jungen Forum, HMDK Stuttgart (DEU). 2015, Foto: Erich Malter; oben: 2019, Foto: Georg Pöhlein

„Bräute“, HMDK Stuttgart (DEU). Junges Forum 2005, Foto: Georg Pöhlein

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„Labyrinth“, HfS Berlin (DEU). Junges Forum 2007, Foto: Erich Malter.

„Moby Dick“, HfS Berlin (DEU). Junges Forum 2015, Foto: Erich Malter

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„BB Végétaux/Grasbabies“, HMDK Stuttgart & Le Méta-Carpe (DEU/FRA). Junges Forum 2015, Foto: Erich Malter

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Workshop von Renaud Herbin. Junges Forum 2015, Foto: Georg Pöhlein

„Blocken und Schlagen“ A.T./Tryout, Rafi Martin (DEU/FRA). 2021, Foto: Erich Malter

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„Untiefe“, Jan Jedenak (DEU). 2023, Foto: Georg Pöhlein

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„Brechts Gespenster“, Berliner Ensemble/Suse Wächter und Hans Jochen Menzel (DEU). 2023, Foto: Erich Malter

„Pandora-Frequenz“, Antje Töpfer & Florian Feisel (DEU). 2007, Foto: Erich Malter

„La Frittata“, Théâtre Gudule (DEU/FRA). 2023, Foto: Georg Pöhlein

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e m u ä R

„Marionetten-Zirkus“, Städtisches Puppentheater Chemnitz (DEU). 1993, Foto: Erich Malter

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Festival-Topografie(n) Annäherungen an (Erlanger) Theaterräume

André Studt

Geschehnissen am gewählten Ort zukommen lassen zu können …

Was meint Topografie? Nachfolgender Text versucht, das Festival als Landschaft zu begreifen, und nimmt einen mehrfachen Anlauf auf deren Eigenschaften und Orte, die skizzenhaft beschrieben (= tópos gráphein) werden sollen.

Machen wir uns also auf den Weg.

Verweilen – Orte ineinander übergehen lassen Bleiben also auch wir in einer Stadt und widmen uns dem Wechsel von Schauplatz zu Schauplatz, der mit dem Besuch unterschiedlicher Aufführungen im Verlauf eines Tages verbunden ist. Dies geschieht am signifikantesten in Erlangen, weil dort das Angebot für „Tagestouren“ am dichtesten ist – Bewegen – Orte verbinden und die dortigen Spielstätten eine breite Varianz in FasDen Besucher*innen des internationalen figuren.theater.­ sungsvermögen, (technischer) Ausstattung, Theatralik und festivals wird ein auf vier Städte verteiltes Programm geboPatina des (Theater-)Raumes aufweisen. ten. So könnte man einen Festivaltag morgens um elf Uhr An unserem Startpunkt im Westen der Stadt, jenseits mit einer frühen Performance in Schwabach beginnen lasvon Bahn- und Autobahntrassen, liegt die Kulturinsel Wöhrsen, dortiges Verweilen wäre allerdings keine Option, man mühle mit ihrer großen Wiese. Hier, sowie einige Zeit in der müsste nach der Vorstellung weiterziehen; ein Spaziergang, nahegelegenen Thalermühle, wurde in jüngerer Festivalvereffizient, aber unschön, viel Landschaft aussparend, an Bungangenheit vor allem den material- und bildintensiven, desstraßen entlang, zum nördlichsten Spielort in Erlangen zuweilen lärmenden und feuerspeienden Produktionen der dauerte in etwa sieben Stunden. Theoretisch wäre also vor russischen Gruppe Akhe künstlerisches Obdach geboten einer 20-Uhr-Vorstellung noch ein kleiner Imbiss möglich. und dieser mit Erlangen besonders verbundenen Compagnie Auch die Entfernungen in der Festivalstadt Nürnberg, wo die eine atelierhafte Dauerpräsenz verschafft. Nach Unter­ Spielstätten nicht fußläufig miteinander verbunden sind querung der angesprochenen Trassen nähert man sich (man ginge vom verkehrsumtosten Plärrer, wo das Theater zunächst dem Kulturzentrum E-Werk, in dessen Räumlich­ Salz+Pfeffer einen charmanten Spielort bietet, ungefähr eine keiten gewöhnlich Konzerte und Clubabende stattfinden und Stunde zur Tafelhalle), taugen nicht wirklich für ein ­Flanieren die sich insbesondere für szenische Rauminstallationen zwischen den Aufführungen. Dieses scheint allein in Fürth eignen; erinnert sei beispielsweise an Arbeiten der (zwischen dem Stadttheater und dem Kulturforum lässt sich belgischen Gruppe Berlin („Perhaps all the ­ Dragons“, trefflich schlendern) und – natürlich – in Erlangen möglich. „­ Zvizdal“) oder die choreografierte Langzeitperformance Selbstverständlich muss man sich die Aufführungen „Alone Together“, in der die Schweizerin Anna ­ Anderegg nicht erwandern, die Festivalstädte sind schließlich auch auf soziales Verhalten in digitalen Räumen untersucht. anderen Verkehrswegen gut miteinander verbunden. DenWeiter gen Osten sich wendend, erreicht man die Spielnoch – und das formuliere ich aus eigener Anschauung – ist stätten des städtischen Theaters. Zunächst liegt die Glocke ein tageweises Städte-Hopping oder ein Wechsel der Stadt auf dem Weg, ein ehemaliges Kino, das dem Stadttheater innerhalb eines Tages während des Festivals nicht ganz als Probebühne dient; diese wird während des Festivals in mühelos zu bewerkstelligen; die damit verbundenen eine intime Late-Night-Spielstätte verwandelt, in der Anstrengungen ersparen sich etliche Festivalbesucher*in­Inszenierungen wie zum Beispiel Gisèle Viennes grausam nen lieber, um die Aufmerksamkeit vollends den szenischen 145

wehrgarage, wurde von institutionskritischen Nachläufern lakonisches Solo „Jerk“ oder Jan Jedenaks „Untiefe“-­ der Studentenbewegung in den 1970er Jahren als TheaterForschungen dem Publikum beklemmend nahe rückten. raum erschlossen. Mittlerweile ist die Garage, deren winzige Der Theaterstraße folgend geht man nun auf das baroBühne und enge Bestuhlung eine produktive Nähe von Spiel cke Ensemble von Markgrafentheater und Redoutensaal zu. und Zuschauen erzeugen und die sich damit ebenso perfekt Ersteres gilt als ältestes bespieltes Barocktheater Südfür Kasperliaden mit oder ohne Krokodil eignet wie für deutschlands und fasst knapp 600 Personen; neben der ­Lecture Performances mit oder ohne Laptop, noch kleiner repräsentativen Fürstenloge prunkt der Innenraum des (in geworden, da die Bestimmungen zu Brandschutz und den 1950er Jahren mit einer Stahlbeton-Außenhülle verseFluchtwegen eine Reduzierung des Zuschauerraumes erforhenen) altehrwürdigen Parkett- und Logentheaters mit seiderlich machten. ner dekorativen Bemalung und dem reliefgeschmückten Am östlichen Ende der Theaterachse liegt das universiBühnenportal. Die auf den ersten Blick zu vermutende täre Experimentiertheater, ebenfalls ein Kind der gesellUnvereinbarkeit von szenischen Arrangements und der plüschaftlichen Aufbruchstimmung der frühen 1970er Jahre, in schig samtenen Anmutung des Theaters macht sich die denen sich die Vorstellung von Zukunft in betonlastigen Erlanger Programmleitung manchmal zunutze, indem die Architekturen manifestierte. Zunächst nur für Workshops Reibung zwischen Inszenierungsästhetik und Theaterraum, und kleine studentische Produktionen des Jungen Forums der Widerspruch zwischen dem bis ins Detail durchgeformgenutzt, wurde diese Spielstätte im Verlauf der letzten Dekaten Barockambiente und den offenen Weiten von imaginären den voll in das Hauptprogramm integriert. Geradezu ideal theatralen Räumen produktiv gedacht wird. Das funktioniert eignete sich die große, schlichte Blackbox mit extremer Breinicht immer, aber erstaunlich oft. Unvergessen die bildnetenbetonung zum Beispiel für das irrwitzige theatrale Wettrisch provokanten Gastspiele der Societas Raffaello Sanzio/ rennen von Ampe&Ampe („Jake & Pete’s Big Reconciliation Romeo Castellucci, die zum Beispiel mit dem albtraumhaft Attempt for the Disputes from the Past“), die ausufernden hyperrealistischen „On the Concept of the Face, Regarding Materialschlachten Miet Warlops („Springville“ und „Fruits of the Son of God“ oder „The Cryonic Chants“ für heftige DisLabor“) – oder die raumgreifenden und den Theaterapparat kussionen sorgten; aber auch die Laubbläserattacken Mette herausfordernden Arbeiten aus der Stuttgarter Schule (insIngvartsens in „The Artificial Nature Project“, den Raum virbesondere „zerSTÖRung“, „Ein Fisch im Weltraum“ vom tuell doppelnde Aktionen der Superamas in „Theatre“ oder Tangram Kollektiv oder Rafi Martins „The ceremony of die den Bühnenraum sprengenden Maulwürfe und Vogelweight“). scheuchen aus dem Universum der Produktionen Philippe Quesnes/Vivarium Studio ... ­ chaffen Der Redoutensaal ist ein barocker Festsaal aus dem Ablenken und verknüpfen – (temporär) neue Orte s Zu diesem Ensemble von stationären Spielstätten gesellen Jahr 1750, der für das Erlanger Festivalprogramm mit hohem sich während des Festivals performative Aktivitäten unter Aufwand zu einer Spielstätte verwandelt wird, die etwa die freiem Himmel auf dem Schlossplatz, im Schlossgarten und Hälfte der Besucher*innen des Markgrafentheaters zu fasauf den Wegen zwischen den Veranstaltungsorten. So ist sen erlaubt. Die unmittelbare Nachbarschaft der beiden man hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, eben Spielorte lädt zu dem ein oder anderen Doppelfeature ein, Gesehenes zu verarbeiten, und der durch das Festival kultibei dem inhaltliche beziehungsweise ästhetische Spannunvierten Schaulust, auch auf unerwartete Attacken – von gen durchaus intendiert sein können. Ein Beispiel dafür wäre Menschen in Tierkostümen, auf Stelzen oder mit Bauchlader Wechsel von Philippe Quesnes „Welcome to Caveland“ den – affektiv zu reagieren. zu „The voice of nature“ von Tim Spooner: Mit den grellen Darüber hinaus nehmen die Festivalmacher*innen in Gitarrensoli der bereits erwähnten, tapsigen und mitunter letzter Zeit immer öfter den Stadtraum kultur- beziehungsgrob agierenden Maulwürfe im Ohr landete man nach nur weise sozialpolitisch ins Visier, indem einzelne Formate mit wenigen Schritten bei der leisen, sehr fragilen szenischen hohem Schauwert auch in Wohngebiete programmiert werInstallation im Redoutensaal, mit der Spooner uns in seine den, deren Bewohner*innen sonst eher nicht auf die Idee mystischen Automatenwelten entführte. kämen, sich in Besucher*innen des Festivals zu verwandeln.

Man hätte auf der Theaterstraße auch abzweigen könExemplarisch dafür sollen hier die atemberaubende Akrobanen in die Studiobühne des Erlanger Stadttheaters, seine tik von Chloé Moglia/Rhizome („La Spire“) auf einem unwirteigentliche Keimzelle: die Garage. Dieser Raum, ehemalige lichen Erlanger Großparkplatz und der Spaziergang „Remote Kutschenremise des markgräflichen Schlosses und Feuer146

Eingang des Festivalspielorts Glocken-Lichtspiele. 2015, Foto: Erich Malter

Erlangen“, mit dem Rimini Protokoll neue Blicke auf alltägliche Orte ermöglichte, genannt sein.

Es kann auch passieren, dass bestimmten Produktionen eigens ein Ort jenseits der Theaterachse zugewiesen wird: So wurde ein Bierkeller am Erlanger „Berch“ Schauplatz einer Lichtinstallation von Kurt Hentschläger („SOL“), eine Hinterhofwerkstatt mutierte zu einem Begegnungsort mit einer Arbeiterin in einer chinesischen Tuchfabrik („Guilty Landscapes“ von Dries Verhoeven) oder der Keller eines Clubs zur Bühne der letzten Begegnung mit sich selbst („Lacrimosa“ von Bruno Pilz).

Angesichts der Vielschichtigkeit der verhandelten Themen, der Verschiedenheit medialer und performativer Ausdrucksweisen und der Bandbreite von damit verbundenen Erzählweisen kann es mitunter zu krassen Sprüngen kommen, die man in seine Gänge durch das Festivalgelände einplanen sollte. Die aus den Fugen geratene Welt und ihre Wirklichkeiten verlangen – gerade ob ihrer pointierten szenischen Verarbeitung – einiges an Trittsicherheit.

(Kein) Ausruhen – Orte transformieren Der eingenommene Platz in einer der genannten Spielstätten ist kein Hocker am Tisch einer Schutzhütte im Hochgebirge, wo nach einem beschwerlichen Aufstieg freundlich eine Brotzeit serviert wird. Im Betrachten des szenischen Geschehens, in der Sinneszeugenschaft der eigenen Wahr-

nehmung beginnen oftmals weitere Wanderungen durch eine Landschaft, die sich assoziativ per subjektiver Resonanz auf das Aufführungsgeschehen entfalten: In dieser Landschaft ist man zunächst allein mit dem szenischen Gegenüber; die Bühnenhandlungen machen Angebote zur dialogischen Verbindung von individuellen Erinnerungen, Seherfahrungen und (fantastischen) Zuschreibungen. Wenn dies funktioniert, transformiert beziehungsweise transportiert eine szenische Darbietung die Zuschauenden in eine Umgebung, die nur wenig mit der gegebenen Realität des Theaterraums zu tun haben muss. Im Staunen verlieren sich die konkreten Koordinaten von Raum und Zeit, in der Empathie öffnen sich Türen zu einem gemeinsamen Topos, im Affekt verbinden sich die Emotionen von Figur, szenischer Erzählung und Zuschauer*in.

Selbstverständlich spielt auch die zunehmende Erschöpfung, die man nach einem langen Festivaltag (oder noch grundlegender als überbordenden Effekt einer gesamten Festivalspanne) empfindet, eine wichtige Rolle bei diesen Wanderungen: Bezüge, die die unterschiedlichen Eindrücke suggerieren, wachsen zu einer programmatischen Topografie, die man vielleicht erst mit Abstand (von einem abstrakten Aussichtspunkt aus) erkennt. Die dabei entstehenden Landschaften sind immer wieder anders – und warten darauf, immer wieder neu entdeckt zu werden.

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Spielräume schaffen Notizen aus dem Blickwinkel der Technik

Achim Niekel Eigentlich kann das Festival den gastierenden Gruppen in Erlangen keine adäquaten Spielstätten anbieten, einige sind zu klein, andere technisch unzureichend ausgestattet.

Exemplarisch wäre das Markgrafentheater zu nennen: Das barocke ­Theater ist zwar schön, verfügt aber nur über eine relativ kleine Szenenfläche ohne Seiten- und Hinterbühnen – im Unterschied zu anderen Stadttheatern in Deutschland, die in den 1950er/60er Jahren wieder aufgebaut wurden und meist eine Portalbreite von zehn bis zwölf Metern aufweisen.

Zudem sind die Sichtverhältnisse von den Oberrängen ­problematisch, was gerade bei stark visuell orientierten Produktionen eine Herausforderung darstellt. Demgegenüber hat der Redoutensaal, als speziell für das Festival einzurichtende Spielstätte, zwar eine größere Bühne, dafür aber keine Obermaschinerie. Andere, kleinere Spielstätten haben weiße Wände und Decken, was wiederum den Umgang mit Licht schwierig macht, weil man dort kaum einen Blackout hinbekommt. Etliche Produktionen passen aus diesen und anderen Gründen eigentlich nicht in die Spielstätten; vieles funktioniert nur, weil die Gruppen kompromissbereit sind und der Wunsch, in Erlangen zu spielen, offenbar groß genug ist – was sicher viel mit dem Renommee des Festivals zu tun hat.

Verlagerung des technischen Fokus und S­pezialisierung Es ist ja so, dass sich die Programmplanung des Festivals zunächst an dem orientiert, was man künstlerisch präsentieren möchte – und weniger daran, was man dann auch technisch realisieren kann. Nach meiner Erinnerung bedeutete „Theatertechnik“ in den ersten Festivaldekaden primär eine Konzentration auf den Zuschauerraum, also auf Bedingungen für die maximale Auslastung der Vorstellungen. Es sollten so viele Menschen wie möglich in den Aufführungen Platz finden. Nach und nach jedoch wurden die Produktio148

nen aufwendiger und es verlagerte sich der technische Fokus vom Zuschauerraum hin zur Bühne. Diese erforderte immer mehr Raum – nicht nur für das Spiel, sondern auch für die in die Darstellung involvierte Technik.

Die Festivalgeschichte ließe sich auch als Technikgeschichte schreiben, die von deutlichen Professionalisierungsschüben gekennzeichnet ist: Ganz zu Beginn hat man sich mit dem begnügen müssen, was in den städtischen Lagerräumen vorhanden war oder über persönliche Kontakte mit der Technik in Theaterhäusern der Region schnell besorgt werden konnte. Ein lokal ansässiger Verleiher, die Firma Kultur&Technik, bot in den Anfangsjahren einen „ground support“ für das Einrichten von temporären Spielorten. Das war insofern ein Glücksfall, als es damals noch wenig Infrastruktur von spezialisierten Verleihfirmen gab, die heute einen planbaren Zugriff auf notwendiges Equipment für die Gastspiele bieten.

Die Spielstätten des Festivals profitieren merklich von der technologischen Entwicklung, vor allem im Bereich der Licht- und Tontechnik. Nebenbei ist der Energieverbrauch der eingesetzten Geräte niedriger; die Scheinwerfer neuesten Typus strahlen weniger Wärme ab, was mit Blick auf die kleinen, schlecht zu lüftenden Spielstätten von Bedeutung ist, und sind effektiver im Handling, was angesichts immer knapper werdender Einrichtungszeiten zunehmend relevant wird (zu viele Aufbautage beeinträchtigen die Dynamik des Festivals und haben einen negativen ökonomischen Effekt). Allerdings bringen die technologischen Entwicklungen mit sich, dass sich die Anforderungen an den Umgang und die Bedienung der Technik enorm ausdifferenziert haben; einen Allrounder nach dem Motto „Du bist doch Techniker, dann kannst du sicher …“ gibt es nicht mehr.

Kontinuität Es ist nicht nur bemerkenswert, dass die für die Dauer des Festivals engagierten Kollegen, angezogen von der beson-

deren Atmosphäre und dem Festivalflair vor Ort, für eine Kompromissgage arbeiten (das Budget der Technik ist im Vergleich zu anderen Festivals dieser Größenordnung eher gering), bezeichnend ist vor allem, dass das technische Team am Festivalstandort Erlangen über die Jahre relativ konstant geblieben ist. Wir kennen uns, man kann sich schnell zusammentun, schnell von Spielort zu Spielort wechseln, um sich gegenseitig zu helfen. Zudem ist die Kontinuität des Teams gut für die Spielstätten, die wir bei jedem Festival wieder neu entstehen lassen müssen; man ist immer herausgefordert, sich gemeinsam zu erinnern, wie das wohl beim letzten Festival vonstattenging.

Aktuell verfügt die Stadt Erlangen (als Ausrichterin des Festivals) über einen veritablen Grundstock an Technik, zudem sind die Kosten für Leihgeräte gesunken, so dass es kein Problem ist, einen Spielort mit einer soliden Grundausstattung von Ton und Licht einzurichten. Allerdings reicht dieses Angebot für viele Produktionen nicht: Die Art des Produzierens ist immer spezifischer geworden, so dass immer mehr an besonderem Equipment (wie Beamer, Zuspieltechnik, Licht, Mikrofonie etc.) geordert werden muss. Zudem sind die Ansprüche der Gruppen gestiegen beziehungsweise weisen die Gestaltungsabsichten der Freien Szene immer größere Ähnlichkeiten mit den Konzepten Bildender Kunst auf, wo es

im Gegensatz zum Theater ja ein klares Werkverständnis gibt. Das zeigt sich unter anderem in den Vorbesprechungen für die Gastspiele, wo immer schneller der Punkt erreicht wird, an dem gesagt wird, man könne unter den gegebenen Bedingungen nicht spielen. Oder – und vielleicht krasser – an den Bühnenplänen, die man vorher schickt: Ich sende den Gruppen die Bühnenpläne und Fotos von Aufführungsorten und bitte um eine Adaption, und bekomme immer öfter einfach reinkopierte Pläne, die nichts mit dem Raum zu tun haben.

Letztlich wollen Techniker natürlich, dass die Vorstellungen unter den bestmöglichen Umständen stattfinden können, und dieses „Wir bekommen das zusammen hin!“ sollte man auch immer ausstrahlen. Meine Aufgabe besteht darin, in Vorgesprächen, die in die Programmplanung eingebettet sind, eventuelle Probleme im Vorfeld zu erkennen und Lösungen anzubieten – denn ein echtes Problem kannst du während eines laufenden Festivals oft nicht mehr lösen.

Die technische Expertise von Achim Niekel, der in Erlangen u. a. ein Theaterwissenschaftsstudium absolviert hat, begleitet das internationale figuren.theater.festival schon seit mehr als 30 Jahren. Er ist maßgeblich an der Planung der eigens für das Festival in Erlangen entstehenden Spielstätten, v. a. des Redoutensaals, beteiligt und weiß um viele Besonderheiten der gastierenden Gruppen. In einer Pause zwischen zwei Vorstellungen des Festivals 2023 hat sich André Studt mit Achim Niekel zu einem Gespräch getroffen, das die Grundlage für diesen Beitrag bietet.

Einrichtung Redoutensaal. 2009, Foto: Werner Schwenke

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„Bei uns ist es Leidenschaft“ Das Hotelchen am Theater

Ein Gespräch mit Nora Dörr Auch wichtige Räume während eines Festivals: die Unterkünfte für Künstler*innen und anreisendes Publikum. Ein kleines Erlanger Hotel garni hat eine besondere Beziehung zum figuren.theater.festival. Im Mai 2022, während des Internationalen Comic-Salons in Erlangen, fand die junge Chefin des Hotelchens am Theater trotz ausgebuchten Hauses und Mehrbelastung durch Pandemiebedingungen noch Zeit, einige Fragen zu beantworten. Das Gespräch mit Nora Dörr führte ihr Stammgast Anke Meyer, man traf sich im Frühstücksraum des Hotels.

Die Geschichte des Hotelchens beginnt fast zeitgleich mit jener des figuren.theater.festivals: 1979 fand das erste Festival statt und 1982 hat deine Mutter Tini ­Herrmann-Dörr das Hotelchen eröffnet. Weißt du, wann der erste Festivalgast in diesem Haus übernachtet hat?

Das war der Neville. Und der war auch einer unserer ersten Hotelgäste überhaupt. Das Hotel wird 40 dieses Jahr – und seit 40 Jahren kommt Neville Tranter … Das Jubiläum werden wir allerdings nicht groß feiern, denn als kleines Team können wir es uns nicht leisten, dass sich jemand von uns mit Corona ansteckt – in dem Fall müssten wir alle Buchungen stornieren, weil es niemanden gibt, der unsere Aufgaben übernehmen kann.

Du bist gelernte Hotelfachfrau?

Ja, ich habe die Lehre gemacht und war danach in der Schweiz zum Arbeiten. Bin aber recht schnell wieder zurückgekommen, weil meine Mama kürzertreten wollte. 2005 habe ich dann das Hotel übernommen.

Du bist sozusagen mit dem Hotelchen und den Künstler*innen und Fachbesucher*innen des figuren.theater. festivals – von den vielen anderen Veranstaltungen in Erlangen, die euch Gäste beschert haben, einmal abgesehen – aufgewachsen. Gibt es da besondere Erinnerungen oder Verbindungen?

Es war eine superbesondere Kindheit. Das Hotel war ja unser Zuhause und die Gäste haben mit uns am Frühstückstisch gesessen, als würden sie zur Familie gehören. Wenn die wieder abgereist sind, hab ich immer geheult wie ein Schlosshund, und meine Mutter dann immer: Die kommen wieder, die kommen wieder! Sehr toll war es für mich als Kind, wenn der Sprecher vom Pumuckl hier übernachtet hat. Der hat gern mit mir gespielt. Ich hatte zu der Zeit einen Igel und eine Schildkröte, mit denen haben wir gespielt und er hat mich durchs Haus gejagt. Oder Neville, wir haben dann mal zusammen ein Nickerchen gemacht – alle Gäste wurden eigentlich immer sofort in unsere Familie integriert und das war offenbar auch das, was sie schätzten: nicht in einem anonymen Hotel, sondern in einem Zuhause zu sein. Mit Neville sind wir inzwischen richtig befreundet, er war auch auf meiner Hochzeit. Sogar unsere Hunde haben sich angefreundet.

Wer auch oft hier war, ist das Theater Zitadelle, die Wagners. Und die Katja Spiess aus Stuttgart – und Silvia Brendenal von der Schaubude Berlin, aber die ist ja jetzt in Rente, glaub ich.

Ja, und ich soll herzlich von ihr grüßen! Der Puppenspieler und Regisseur Ariel Doron, der auch schon öfter hier übernachtet hat, musste letztens mit einem anderen Hotel vorliebnehmen – bei euch war bereits ausgebucht.

Ja, das ist manchmal ein Problem, dass wir auch für Stammgäste kein Zimmer mehr haben. Wir sind zwar im Lauf der

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Festivalbesucher*innen flanieren auf der Erlanger Theaterstraße vor dem Hotelchen. 2007, Foto: Georg Pöhlein

Jahre langsam größer geworden – die Kinderzimmer von meiner Schwester und mir wurden zu Hotelzimmern umgebaut, das Studio oben auch –, aber irgendwann ist Schluss, mehr Platz ist nicht. Das ist eben so – wenn wir das ändern wollten, müssten wir anbauen oder ein zweites Haus dazukaufen. Dann bräuchte man auch mehr Personal, es wäre alles anders – und nicht mehr das Hotelchen. Mir gefällt es so und ich will es nicht größer.

Das finde ich sehr sympathisch. Vielleicht müssen auch die Festivals nicht zwangsläufig immer größer ­werden …

Das Hotelchen jedenfalls hat auch mit seinen inzwischen zwölf Zimmern weiterhin eine sehr familiäre Atmosphäre – der Frühstücksraum gleicht einem privaten Esszimmer. Ich war beim ersten Besuch überrascht und gleich fasziniert von dem großen ovalen, wunderschön eingedeckten Tisch, an dem alle Gäste beim Frühstück zusammensaßen. Und habe hier viele angeregte Unterhaltungen bis dato fremder Menschen mit-

erlebt beziehungsweise war daran beteiligt. Wie erlebst du das selbst, auch im Vergleich mit anderen Hotels, in denen du gearbeitet oder übernachtet hast?

Also ich würde sagen, der Unterschied liegt darin, dass die Hotelbewirtung meist eine Dienstleistung ist, und bei uns ist es Leidenschaft. Wir lieben es, unsere Gäste zu verwöhnen, und möchten alles tun, um sie glücklich zu machen.

Dabei lässt man die Leute vielleicht auch näher an sich heran als in einem „Dienstleistungsverhältnis“. Gibt es Situationen, in denen du dir mehr Distanz wünschst?

Seit Beginn der Coronapandemie kommen etwas häufiger Gäste, die nicht so gut mit dieser familiären Situation umgehen können, und manchmal nimmt man es dann schon persönlich, wenn die Gäste nicht zufriedenzustellen sind. Aber ich glaube, das ist eine Phase, das wird sich wieder ändern.

Und überhaupt: 98 Prozent unserer Gäste sind klasse. Und die anderen zwei Prozent, die kompensieren wir.

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Gibt es Rückmeldungen von Gästen, die sich an diesem Tisch kennengelernt haben?

Ja! Die krasseste Geschichte war: Zwei Leute sitzen am Tisch, beide aus New York, beide aus derselben Straße und haben sich vorher noch nie gesehen! Sind hier am Frühstückstisch ins Gespräch gekommen und waren dann total überrascht, als sich rausstellte, dass sie quasi Nachbarn waren.

Oder die Jazzsängerin Sandy Lomax, auch aus New York, die hat dann in New Yorker Bars von den „­scrambled eggs von Tini“ gesungen.

Wenn das Festival läuft, seid ihr ja immer ausgebucht – wie ist da die Arbeitsbelastung?

Das ist super – wir rennen wie die Ameisen und es macht Riesenspaß. Es ist eine ganz tolle Atmosphäre und wenn wir es schaffen, schauen wir uns was im Festivalprogramm an.

Den Neville schauen wir uns immer an. Sonst das, was eben zeitlich möglich ist.

Das ist wahrscheinlich nicht sehr viel?

Genau. Aber es findet ja auch viel auf der Straße oder im Schlossgarten statt. Wenn man also zwischendurch schnell einkaufen geht, kriegt man schon was mit. Da können wir die eine oder andere Performance anschauen. Oder wenn wir abends mal essen gehen, zum Beispiel in der Kulisse, ist das ja auch wie Festival – da trifft man dann Festivalleute und Künstler, darunter auch die eigenen Gäste.

In dem Jahr, als das internationale figuren.theater.festival wegen Streichungen öffentlicher Mittel in eine existenzielle Krise geriet, haben die Erlanger Gastro­ nomien einen ungewöhnlichen Solidarbeitrag geleistet …

Ja, wir haben ein Kontingent Übernachtungen gespendet – also alle Erlanger Hotels zusammen etwa 100 Übernachtungen. Es war uns wichtig, dass das Festival weiter stattfindet. Auch wenn für unser kleines Hotel diese großen Veranstaltungen finanziell nicht ausschlaggebend sind, weil für uns ja eher zählt, dass konstant was los ist.

Warum beteiligt man sich dann an so einer Aktion?

Es macht einfach viel Spaß, mit dem Kulturamt zusammenzuarbeiten. Wir haben eine langjährige, gute Verbindung, die 152

auch zur Folge hatte, dass sie uns bei Corona unterstützt haben, dass sie uns immer wieder nette Gäste schicken. Es ist ganz toll, dass wir so ein supercooles Kulturamt haben, so ein engagiertes Team. Die machen ihre Arbeit auch mit Leidenschaft!

Kürzlich habt ihr Auszeichnungen bekommen für nachhaltiges Wirtschaften … … ja, wir haben den Umwelt- und Klima-Pakt erhalten und dann noch den Dehoga-Umweltcheck mit „Gold“ abgeschlossen. Man kann sogar sagen, das war sehr gutes Gold!

Bei Wasser-, Gas- und Stromverbrauch sind wir deutlich besser als vorgeschrieben ist für Gold. Dazu gehört aber auch, dass man Bio-Fairtrade-Produkte einkauft, Abfall reduziert usw.

Hat sich dadurch euer Arbeitsaufwand erhöht?

Vielleicht. Wichtiger ist, dass alle bewusster handeln und auch die Gäste mit am selben Strang ziehen.

Nora Dörr ist Hotelfachfrau und Chefin des Hotelchens am Theater, das neben diversen weiteren Hotels in Erlangen und den anderen drei beteiligten Städten anreisende Festivalgäste und -künstler*innen beherbergt.

After-Show-Party ohne Gästeliste Essen, Trinken, Reden als essenzieller Teil des Festivals

Eva Koch-Schulte Die frühe Abendsonne glüht in meinem Glas Wein, ich lehne mich zurück, beobachte das Treiben vom Straßencafé aus und verwandle mich – morgens aus London angereist – nun vollends in eine Festivalbesucherin. Hier vor dem Theater in der Garage sammelt sich gerade das Publikum für die nächste Vorstellung, geduldig anstehend, bis die Tür geöffnet wird. Ich entdecke unter den Wartenden mehrere Personen, die vorher mit mir aus den ­Glocken-Lichtspielen gekommen sind. Im Markgrafentheater muss auch gerade eine Vorstellung zu Ende gegangen sein, denn ein langsamer Strom von Menschen fließt aus der Passage in die Theaterstraße und teilt sich auf: in die umliegenden Gaststätten und Restaurants oder andere Spielstätten, die allesamt fußläufig erreichbar sind. Ich warte auf eine Freundin. Die Tische um mich herum füllen sich, die Luft vibriert vom Summen angeregter Stimmen.

Auch ich möchte meine Erfahrungen schildern und von anderen hören, was sie erlebt haben, bevor wir in die nächste Veranstaltung gehen. Wir haben noch 25 Minuten, reicht das für einen kleinen Snack – und bitte noch was zu trinken? Die Kellnerin nickt freundlich. Ich sehe meine Freundin kommen – sie winkt jemandem zu, bleibt dann stehen und ist sofort in ein Gespräch vertieft. Links von mir laufen zwei der Festivalmacher die Theaterstraße entlang, ziemlich zielstrebig, da muss wohl noch was erledigt ­werden, bevor der nächste Vorhang hochgeht. Ich kenne sie aus Studientagen, winke kurz – nein, ihr braucht nicht anzuhalten …! Ich bin nicht die Einzige, die winkt. Man kennt und erkennt hier die Gastgeber, die Macher, das Festivalteam, auch als Fremder, denn man begegnet ihnen an den Spielstätten, im Festivalbüro, auf den kurzen Wegen dazwischen und (wenn alles gut läuft) spätabends in den Kneipen und Restaurants rund um die Theaterstraße.

Festivals und Festgelage Gemeinsam essen und trinken – als Festgelage – gehört zu jedem guten Festival. Das kann alle möglichen Formen annehmen. Bei mir zu Hause in England wächst der Markt der familienfreundlichen Musik- und Kunstfestivals, die draußen auf Feldern, im Wald oder auf Landsitzen stattfinden und ihren Besuchern neben Kultur auch eine bunte Palette an „food trucks“, Kaffeeständen, Bars und Shops anbieten.

Ob Pizza, Fish and Chips, asiatische Nudeln, indische Currys, mexikanische Wraps, vegane Küche oder Kaffee ­ und Kuchen – Mensch kann essen, was er/sie will. So wird die Zeit zwischen den kulturellen Darbietungen zum eigenständigen Erlebnis, man spürt sich als Festivalpublikum in besonderer Weise.

Eine außergewöhnliche Form des „Festgelages“ habe ich auf dem berühmten Glyndebourne Festival erlebt. Das an sich teure, elitäre Opernfestival auf einem Landsitz südöstlich von London bietet eine überraschende Kombination aus Oper, Picknick und Gartenspaziergang. Man kann zwar sein eigenes Picknick mitbringen, aber viele Besucher bestellen ein typisches Glyndebourne Picknick: Dies kommt natürlich nicht ohne Champagner, Pasteten und exotische Früchte aus; der buchbare Picknickservice bietet eine Option mit „porter and furniture“ (einem freundlichen Träger, der Stühle, Gläser, Tisch, Tischdecke und die Weinliste mitbringt). Die Verbindung von erstklassiger Opernmusik in einem fürstlichen Opernhaus mit lässig-delikatem Al-Fresco-Schlemmen und einem herrlichen Spaziergang in den Gärten spricht alle Sinne an. Die Pause ist deshalb 90 Minuten lang. Nicht zu vergleichen mit den üblichen Toiletten- und Barpausen, in denen man sich beeilen muss und schnell einen Drink und ein paar Nüsse vertilgt. In Glyndebourne zelebriert man das Dazwischen, das Drumherum des kulturellen und intellektuellen Erlebnisses. Ich habe es erlebt und war verblüfft, wie stark sich das auf die eigene Wahrnehmung auswirkt. Es ist nicht das „Rein-Raus“ 153

einer Samstagabend-Show in der Innenstadt. Man nimmt sich Zeit für ein Davor, Dazwischen und Danach. Tatsächlich war ich anders präsent, habe nach der genussvollen Pause anders zugehört. Es war eine sinnliche Gesamterfahrung.

Einladung zum Flanieren und Verweilen Erlangen bietet da etwas Ähnliches, erfreulicherweise deutlich weniger elitär. Der schöne, übersichtliche Stadtkern mit dem barocken Schloss und Schlosspark, den pastellfarbigen Gebäuden, vielfältigen Cafés, Biergärten und Restaurants, verkehrsberuhigten Straßen rund um die Spielstätten – all das lädt zum Flanieren, Verweilen, Speisen und Geselligsein ein.

Für uns wird es jetzt Zeit, in die Abendvorstellung zu gehen. Es ist die dritte Inszenierung, die ich heute sehe. Wir sind kurz durch den Park geschlendert und kommen nach wenigen Minuten Fußweg ganz ohne Stress im Redoutensaal an. So überwinden wir die Schwelle zwischen Arbeit/ Alltag/Prosa und Freizeit/Abenteuer/Poesie ganz locker. Wir sind hier, mittendrin, angeregt und neugierig. Und wir bringen das mit, was wir schon alles gesehen, gehört, geschmeckt, gefühlt und miteinander geteilt haben. Unser Herz ist offen, wir sind bereit. Unser Verweilen in der ­Festivalatmosphäre macht es den Geschichtenerzählern auf der Bühne leichter. Der Vorhang hebt sich und wir lassen uns sofort in die wundersamen Welten der Figuren und Objekte entführen.

Temporäre Community Nach den Abendvorstellungen wird es in den Kneipen richtig interessant. Ein Stuhl oder Tresenplatz in diesen Gaststätten ist wie ein „Access All Areas“-Pass. Schon tagsüber mischen sich hier die Künstler, Festivalmacher, Fachleute, Studenten und Zuschauer, aber jetzt sammeln sie sich in größerer Dichte, denn der Arbeitstag ist für die Theaterleute endlich vorbei. Wer für ein Live-Publikum arbeitet, weiß, wie wohltuend ein guter geselliger Moment nach der Vorstellung ist.

Nach dem emotionalen Seiltanz muss Adrenalin abgebaut werden, und eine gelungene Show ist immer etwas, das man feiern möchte. Unter Theaterleuten hat die After-Show-Party eine lange Tradition. In England ist sie in den professionellen Show-Ritualen der First-Night-, Press-Night- und Last-NightFeiern institutionalisiert, mit kontrollierter Gästeliste. Hier in Erlangen ist prinzipiell jeder auf der After-Show-Party willkommen. Sie breitet sich ganz selbstverständlich über die theaternahen Kneipen, Straßencafés und Restaurants aus und führt zu vielfältigen Begegnungen, Gesprächen und Bekanntschaften, auch über Sprachgrenzen hinweg. Der 154

Anlass „Festival“ verbindet uns, wir haben geteilte Erfahrungen, sind inspiriert von Theatererlebnissen, stellen uns einander vor und jeder Gesprächsauftakt ist leicht. Fast zwangsläufig wird bis spätnachts nachbereitet, gewitzelt, reflektiert, debattiert, gelacht und getrunken. Da bildet sich, für kurze Zeit, eine Community, eine fröhliche Gemeinschaft – ein Aspekt des Kulturgenusses, der für Kulturschaffende und Kulturförderer immer bedeutsamer wird.

Unter den Künstlern und Fachleuten entstehen aus solchen beiläufigen Momenten oft neue Netzwerke, manchmal sogar Projektideen. Das Dazwischen und Drumherum in der zentralen Gastronomiemeile produziert eine Art informelles Symposium des Austauschs über Ästhetiken, Inhalte und Eindrücke. Ein Nährboden für kreative Zusammenarbeit (oder Texte, wie diesen). Kein Wunder also, dass so viele Künstler, Ensembles und (Fach-)Besucher seit vielen Jahren immer wieder nach Erlangen zurückkehren wollen. Ich habe mir das Datum für die nächste Ausgabe des figuren. theater.festivals auch schon notiert …

Eva Koch-Schulte ist Produzentin (Creative Programming and Interpretation/Creative Producer) bei der Organisation Historic Royal Palaces in London. Sie studierte Theaterwissenschaft in Erlangen und war Mitglied des studentischen Arena-Festivalteams. Heute leitet sie das Studio für Kunst- und Kulturprojekte am Tower of London sowie an zwei weiteren Schlössern und experimentiert dort auch mit Figurentheater als Ausdrucksform.

Vor dem Spielort Theater in der Garage und dem Theatercafé. 2007, Foto: Erich Malter

Ephemer, einladend und wirkmächtig Das Festival im Freien

Anke Meyer So kann es gehen: Da gibt es ein exzeptionelles Spektakel im öffentlichen Raum, das ich unbedingt sehen muss, ich finde mit Mühe einen Zeitrahmen in meinem überbordenden Festivalplan, schaffe es mit ein paar Minuten Verspätung zum Veranstaltungsort – und alles ist schon vorbei! Mist! Zu meinem Frust werden nur noch die Reste weggeräumt, denn die Aktion ist deutlich eher zu Ende gewesen als geplant. So geschehen beim 23. internationalen figuren.theater.festival 2023 auf dem Erlanger Schlossplatz, wo am Nachmittag des 21. Mai ein riesiges Papp-Gebäude von hochmotivierten, begeisterten Erlanger Bürger*innen und zugereisten Festivalgästen in Nullkommanichts eingerissen und zerstört wurde.

Zufall und Veränderung Unter der Leitung des französischen Künstlers Olivier ­Grossetête hatten Interessierte in mehreren Workshops die Elemente für das kolossale Karton-Monument zusammengebaut und dieses – nämlich das Eingangssegment der Fassade des Erlanger Schlosses in voller Pracht und Höhe – am 20. Mai auf dem Schlossplatz, direkt vor dem Original, in einer großen gemeinsamen Aktion errichtet.

Keine 24 Stunden später dann der Höhepunkt der Aktion, der Abriss. Dass ich den verpasst habe und damit, wie mir von Kollegen glaubhaft versichert wurde, ein ganz einzigartiges gemeinschaftliches Kunsterlebnis von geradezu dramatischer Dimension, lässt über zweierlei nachdenken: zum einen darüber, ob performative Aktionen im öffentlichen Raum durch die unausweichliche Mitwirkung von Zufällen einen noch stärker ausgeprägten ephemeren Charakter haben als die Darstellenden Künste ohnehin; zum anderen über die (vielleicht sogar nachhaltige) Auswirkung von Inszenierungen im öffentlichen Raum auf ebendiesen Raum.

Zum letzten Punkt sei eine Dame aus dem Gedächtnis zitiert, mit der ich in einem Hofdurchgang, beim Warten auf Inbal Yomtovians „Low-Tech-Virtual-Reality-Erfahrung – The Kiss“, ins Gespräch kam: „Sehr gut gefällt mir, dass es beim ­Figurentheater-Festival immer wieder Open-Air-Vorstellungen auch in abgelegeneren Vierteln gibt. Ich habe erlebt, dass in einem Hochhausgebiet, wo das Interesse an Theater wahrscheinlich nicht sehr groß ist, unglaublich viele Menschen an ihren offenen Fenstern standen, um eine Show zu beobachten. Dabei entwickelte sich so etwas wie eine gespannte Gemeinsamkeit, die den eher öden Platz ­veränderte.“ So, wie im sehr belebten Schlossgarten, wo eben noch Kinder herumtollten, Hunde bellten, eine Blaskapelle spielte, laute Unterhaltungen stattfanden, im Nu konzentrierte Stille herrscht, als sich die französische Akrobatin und Choreografin Chloé Moglia an einer sechs Meter hohen Stahlrute in gleichsam schwebende, dabei immer der Schwerkraft bewusst ausgelieferte Positionen begibt. Gebannte Atemlosigkeit, als sich ein Schmetterling auf den Zeigefinger der an einer Hand in luftiger Höhe hängenden Künstlerin setzt und dort sitzen bleibt. Erst als sie unendlich langsam den Finger ganz wenig anhebt und der orange-blaue Schmetterling – ja, wir sehen die Farbe der Unterseite seiner Flügel aus der Entfernung, so geschärft sind die Sinne durch die prekäre Balance hoch über uns – davonflattert, geht ein Aufatmen durch den Park. Eine Weile wird das Stück Schlossgarten aufgeladen sein von der gemeinsamen Konzentration und überdeutlichen Wahrnehmung aller Anwesenden. Vielleicht erinnert man sich Jahre später an dieser Stelle unversehens daran und hält kurz den Atem an.

Außergewöhnlicher Moment am gewöhnlichen Ort „Reprende son souffle“ meint zwar „Atempause“ oder „­Verschnaufen“ – aber die so betitelte Inszenierung von Julika Mayer/Là Où auf dem Festival 2009 ließ durchaus auch den 155

Atem der mehr oder weniger zufällig Beteiligten und der Zuschauer*innen stocken: Mitten auf einer die Innenstadt querenden Hauptstraße liegt die täuschend naturalistische Figur einer alten Frau, reglos hingestreckt. Der heranfahrende Bus bremst, hält in respektvollem Abstand und wartet, bis die Puppenspielerin sorgsam, bedächtig, ihre Figur hochgehoben und sie vorsichtig auf den Fußweg getragen hat. Dann fährt er langsam wieder an. Zeitgleich laufen in der nahen Selbstbedienungsfiliale der örtlichen Sparkasse Tonaufnahmen von älteren Frauen, die von ihren Lebensumständen berichten.

Eine berührende Aktion, die (außer vereinzelt konsterniertem Kopfschütteln) viele Gespräche über das Altwerden, das vom Verkehr geprägte Alltagsleben usw. initiierte.

Das nicht zuletzt unterscheidet ja den „offenen“ öffentlichen Stadtraum vom ebenfalls öffentlichen, aber geschlossenen Theaterraum: Hauptzweck des Ersteren ist nicht das Erleben von Darstellender Kunst. Das Publikum, also „die Öffentlichkeit“ ist im Park, auf Plätzen und Straßen, zum Teil einfach zufällig anwesend, flanierend, zielstrebig vorbeilaufend oder neugierig hinzukommend, wenn etwas Außergewöhnliches geschieht. Es gibt keine Hürden wie Eintrittskosten, angemessene Kleidung, pünktliches Erscheinen, eine definierte Zeit stillsitzen etc., die im Theaterhaus (das zwar auch öffentlicher Raum im Sinne des nicht-privaten Raumes ist, jedoch dezidierte Zugangsregularien hat) überwunden werden müssen, um eine Vorstellung zu besuchen. Der offene Zugang gibt dem Publikum die Freiheit, zu kommen und zu gehen nach eigenem Gusto, den Standort zu wechseln, sich auszutauschen … dieser Austausch, auch unter Fremden, wird angeregt, wenn etwa jemand mitten in der Vorstellung absichtslos vorbeikommt, gebannt hängen bleibt und sich informieren will, was bis jetzt passiert ist. Oder auch, wenn man sich mit anderen schimpfend entfernt, weil man das gerade Gesehene für dummes Zeug hält … Im Rahmen eines Festivals erhalten die theatralen Aktionen im frei zugänglichen, ohnehin bevölkerten Stadtraum besondere Bedeutung: Sie setzen ein Zeichen, dass die Stadtgesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt adressiert und eingeladen ist. Eingeladen hier in der doppelten Bedeutung: „Kommt!“ und: „Es ist ein Geschenk.“

der in einer Verknüpfung von Puppentheater und Pantomime – und auch dieser Genremix verweist schon auf ein weiteres Charakteristikum des Erlanger Festivals, das sich bis heute enorm weiterentwickelt hat; nicht zuletzt manifestiert sich das im Open-Air-Programm, die oben beschriebene Inszenierung „Horizon“ von Chloé Moglia, angesiedelt zwischen Cirque Nouveau, Physical Theater und einer „Verpuppung“ des Artistinnenkörpers ist ebenso ein Beispiel dafür wie die performative Kunstaktion der „Ephemeren Bauten“ von Olivier Grossetête.

Scheinbar traditioneller und en miniature kamen manch andere Straßeninszenierungen der ersten Festivaldekade daher: Günter Gerlach, Multitalent, international gastierend und nicht nur in der DDR ein namhaftes Puppenspieler-­ Original, bezauberte 1989 mit Märchen und Mozart in einer kleinen, kunstvoll bespielten Bauchladendrehbühne (zwei Jahre später bewies er erneut, unter anderem in der Inszenierung „Wölfe – ein Stück mit Jazz“, die mögliche theatrale Bandbreite seiner Miniaturbühne). Im selben Jahr war Irmel Droese mit ihrem von chinesischen Ein-Personen-Bühnen inspirierten Rucksacktheater in Fürth und Erlangen zu Gast, und nicht zuletzt das auch mehrmals mit Bühneninszenierungen zum Festival eingeladene französische Vélo-­Théâtre, diesmal mit einem auf den Lenker des Theater-Fahrrads montierten Bühnchen, in dem ein winziger Angler sein Glück versucht – „Le Pêcheur“ ist mir als eine schlichte, fast meditative kleine Szene, die auch auf belebten Plätzen einen Raum poetischer Stille zu erschaffen vermochte, in Erinnerung. Im Kontrast dazu: das Straßen- und Stelzentheater Zebra, das mit seinen Riesendrachen und Derwischen sowie schlagfertigem Improvisationsgeschick bei einigen Festivalausgaben die Erlanger Innenstadt aufmischte.

Maßgeschneidert Die kleinste Großstadt Bayerns mit ihrer ausgedehnten Fußgängerzone, verschiedenen Kirchplätzen, kleinen Parks und dem zentralen Marktplatz, mit dem Schlossgarten und dem angrenzendem Botanischen Garten bietet sich geradezu an auch für maßgeschneiderte Open-Air-Inszenierungen. Wie für den 2015 von Studierenden der HMDK Stuttgart mit La Méta Carpe aus Frankreich vor Ort entwickelten, installativen Parcours „BB Vegetaux“, bei dem mit Erde gefüllte, Genremix und Tradition grasbewachsene Stoffpuppen, sogenannte „Gras-Babys“ Bereits seit der ersten Ausgabe des Figurentheater-­ einen rätselhaften Sog entwickelten und die Zuschauer*inFestivals – damals noch „Puppentheaterfestival. Erlanger nen immer tiefer in den Botanischen Garten lockten. Nicht ­Puppen- und Figurentheaterfestival für Kinder und Erwachweit davon wurde bei einbrechender Dunkelheit das Palais sene“ betitelt – gibt es Programm im offenen Stadtraum.

Stutterheim, prominent am Marktplatz gelegene Städtische Wolfgang Tietz und Hartmut von Matuschka zeigten 1979 Galerie, auf außergewöhnliche Weise zum Leben erweckt: auf Erlangens Straßen und Plätzen Märchenhaftes für Kin156

„Ephemeral Buildings“, Olivier Grossetête (FRA), Abriss. 2023, Foto: Erich Malter

Der bereits mehrfach in Erlangen präsentierte österreichische Choreograf, Medienkünstler und Komponist Klaus Obermaier brachte – im Rahmen einer Werkschau interaktiver Installationen – das Gebäude zum Tanzen. Genauer gesagt, in „Dancing House“, einer Kombination von interaktivem Projection Mapping und Klanginstallation, wurden ­Passant*innen aufgerufen, sich zu bewegen, zu springen, sich zu drehen, um dadurch eine die Fassade überlagernde Projektion in flirrende Bewegung zu versetzen, das Haus auf diese Weise zum Tanzen zu bringen – wie auch sich selbst. Ähnlich der eingangs zitierten Papp-Aktion von Grossetête ist auch Obermaiers mediale Installation eine künstlerische Arbeit, die Menschen, ob zielgerichtet oder zufällig vor Ort, miteinander und mit dem Stadtraum, der Architektur in Beziehung bringt, indem sie sie einlädt, spontan und kreativ zu agieren.

Das verweist auf einen weiteren zu bedenkenden Aspekt des Theaters im öffentlichen Stadtraum: Alle Anwesenden

sind zugleich Akteur*innen dieses Stadtraums, das heißt: Zuschauende können sich, anders als im Theaterraum, ohne den geringsten Aufwand von einem Augenblick zum anderen in Akteur*innen (rück-)verwandeln. Sei es, dass sie sich in das theatrale Geschehen einbringen, sei es, dass sie quer über die Spielfläche schlendern, sei es, dass sie den Ort des Geschehens verlassen, um stante pede wieder Spaziergängerin, Marktverkäufer, Tourist oder eilig ihrem Arbeitsplatz zustrebende Hotelbesitzerin zu sein. So wie das Schlossportal bei meiner verspäteten Ankunft längst wieder das angestammte Schlossportal war. Oder?

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ORT_ZEIT_RAUM Innen, außen und dazwischen – gibt es nicht?

Kurt Hentschläger Vor langer Zeit begann ich mein beinahe erwachsenes Leben mit einem Studium der Architektur. Zwei Jahre hielt ich durch, um dann auf die Kunstakademie und zur freien Kunst zu wechseln. Das Interesse an Architektur und Raum an sich ließ mich aber nie los. Im Gegenteil, die transdisziplinäre Kunst, die Installationen und Aufführungen, die ich über die letzten 30+ Jahre geschaffen habe, spiegeln meine Ideen und Vorstellungen von Raum und Umraum zwischen innen und außen, endlichen und unendlichen Räumen, emotional aufgeladenen bis „toten“ Umgebungen, und schließlich physischer und virtueller Realität. Menschliches Sein und Raumerleben sind untrennbar verbunden. Wir denken jedoch wenig nach über unser Befinden in Räumen, wir werden uns dieses Umstands nur in besonderen, dramatischen, einprägsamen Momenten bewusst; jenen, die uns aus dem Alltag heraustreten lassen, wie etwa Naturerlebnisse, emotional und kulturell aufgeladene, sinnstiftende Ereignisse, die uns zutiefst einnehmen. Dann werden wir hellwach und nehmen unsere Umgebung akut wahr.

In meiner Installation „SOL“ etwa, die ich 2019 beim figuren.theater.festival Erlangen gezeigt habe, steht eingangs eine visuelle Sensation von Leere – durch die Absenz von Licht, durch das Eintauchen in absolut komplette ­Dunkelheit.

Diese Leere wird in unterschiedlichen Abständen jeweils für nur Bruchteile von Sekunden durch ­Lichtereignisse unterbrochen. In den Augen von Besuchern erzeugt dies phantomhafte Netzhautnachbilder; eingefrorene Momente aus der, gerade eben noch, Vergangenheit, die sich sofort ins Amorphe aufzulösen zu beginnen. Diese Nachbilder entstehen aus einer kurzfristigen Retina-Lichtüberlastung und enthüllen einen „system glitch“, einen im Alltag verborgenen Wahrnehmungsgrenzbereich von sublimer, exotisch feinstofflicher Natur. Gehör- und Tastsinn funktionieren unverändert und ermöglichen Raumorientierung und (verlangsamte) Fortbe158

wegung in der Dunkelheit. Zeit- wie Raumempfinden verändern sich dynamisch. Nicht zu vergessen, Dunkelheit erweckt in Menschen im Normalfall Angst; ein Verweis auf eine psychologische Altlast aus Zeiten vor elektrischem Licht. „SOL“ ist in dieser Hinsicht ein inszeniertes „Sicherheits­risiko“ – sowohl schwarzes Loch wie flüchtige Wunderkammer. Ein poetisch immaterieller Raum durchdringt und überlagert hier die Wahrnehmung des physischen Raumes.

Der spezifische Ausstellungsraum spielt eine visuell prominente Rolle, die Lichtmomente schälen ihn jeweils kurz aus der Dunkelheit heraus und betonen und überzeichnen die architektonische Gestalt des Raumes. Merkwürdige, ungewöhnliche Orte verstärken diesen Umstand, im Sinne einer dramatischen, wenn nicht romantischen Setzung. Der „SOL“-Raum im Burgbergkeller in Erlangen ist dafür ein ­perfektes Beispiel. Besucher wurden an einem Tunneleingang empfangen und gebeten, ihre Telefone bis zu ihrer Rückkehr dort zurückzulassen. Einmal in den Tunnel eingetreten, galt es, für geraume Zeit in einem langsam ansteigenden Erschließungsgang eines ausgedehnten Bierlagers aus dem 19. Jahrhundert ins Innere vorzudringen.

Schließlich gelangte man an einen Seitengang und die Lichteingangsschleuse zu „SOL“. Die Passage aus warmer, sonniger Helligkeit am Kellereingang immer tiefer in das feuchtkalte Kellersystem hinein wurde zu einem wichtigen Teil eines Rituals der Annäherung an das leuchtend dunkle, phänomenologisch sinnliche Schauspiel.

Der konkrete Installationsraum war ebenfalls ein Tunnel, wenngleich höher und weiter als der Erschließungstunnel.

Der Raum war eigentlich zu kompakt und schmal und ich hatte schwere Bedenken während der Vorbereitung. Tatsächlich aber stellte sich dieser unterirdische, kühle und absolut nicht neutrale Ort als aufregend und fast hypnotisch ideal heraus. Die Raumform zentrierte den Blick der Besuchenden auf das in völliger Dunkelheit unsichtbare Display und die davon ausgehenden Lichtanimationen. Die Tunnel-

„SOL“ in Erlangen, Kurt Hentschläger (AUT/USA). 2019, Foto: © Kurt Hentschläger

architektur konzentrierte sowohl Licht als auch Tonausbreitung entlang einer Achse, in Richtung des Publikums. So wie auch „FEED“, eine Performance in stroboskopisch gesättigtem Nebel, die 2009 im Experimentiertheater der Uni ­Erlangen gezeigt wurde, verweist „SOL“ auf die menschliche Wahrnehmung und die darauf basierende Synthese von „Realität“. Unsere Sicht ist generell „eingefärbt“ – durch unsere Gefühle, bestehenden Erfahrungen, Gewohnheiten, spezifische Kulturräume und Erziehungsmodelle, Alter, Körper- und Seelenzustände. Es ist erstaunlich, wie selbst kleinste Veränderungen in diesem komplexen Gefüge unsere Weltsicht drastisch zu verändern in der Lage sind.

Kurt Hentschläger ist ein österreichischer, in New York lebender Künstler. Er schafft immersive audiovisuelle Installationen und Performances.

Wiederkehrendes Thema in seinem Werk ist der menschliche Körper und dessen sinnliche Wahrnehmungsprozesse, so finden sich in seinen Installationen etwa Projektionen humanoider Wesen, verzerrte, vernebelte ­Bilder und optische Störungseffekte. Kurt Hentschläger beschäftigt sich intensiv mit neuronalen Wahrnehmungsprozessen des menschlichen Gehirns. Seine aktuellen Installationen konzentrieren sich häufig auf Spannungen zwischen Natur und Künstlichkeit in einer dystopischen bis artifiziellen Realität. Hentschlägers Arbeiten werden weltweit gezeigt, zu den Ausstellungsorten gehören z. B. Art Basel; Stedelijk Museum, ­Amsterdam; Borusan Müzik Evi, Istanbul; MoMA PS1, New York; Biennale Arte, Venedig; MAK – Museum für angewandte Kunst, Wien.

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„Die Choreografie des Texts“ Zur Online-Produktion „Lob des Vergessens, Teil 2“

Fragen an Oliver Zahn Bei der Online-Ausgabe des figuren.theater.festivals 2021 wurde Oliver Zahns Produktion „Lob des Vergessens, Teil 2“ gezeigt – eine fast puristisch wirkende, komplett ins Digitale verlegte szenische Forschung (Dramaturgie ­ ­Felizitas Stilleke). Im Mittelpunkt dieser durch live geschriebene, gelöschte, kopierte, korrigierte Texte in kleinen ­Edit-Fenstern, durch Sound und eingespielte Archivvideos sich manifestierenden Recherche steht ein Lied. Dessen Melodie ist ursprünglich die eines russischen Volkslieds, nach Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus von deutschen Geflüchteten und Vertriebenen überschrieben. Aus diesen Überschreibungen und seinen Fragen daran sowie an seine eigenen biografischen Leerstellen entwickelt Zahn seine Thesen von kollektiven Techniken des „Vergessens“ und berührt in der Realisierung als Online-Inszenierung zugleich die Problematik des Vergessens im digitalen Raum.

Oliver Zahn ist Regisseur (Absolvent der Bayerischen Theaterakademie), Autor und Performer. Seine choreografisch-diskursiven Essay-Performances sind oft im Spannungsfeld von Geschichte – Nationalismus – Körper – Erinnerung angesiedelt und entstehen auf Basis ausführlicher Recherchen. Zahns Arbeiten wurden auf diversen Festivals im deutschsprachigen Raum sowie an Häusern wie z. B. PACT, Hellerau, Kaserne Basel oder Münchner Kammerspiele präsentiert und touren weltweit.

Per E-Mail hat Oliver Zahn drei Fragen beantwortet: War die Konzeption des zweiten Teils von „Lob des Vergessens“ als Online-Performance hauptsächlich dem Umgang mit der Coronakrise geschuldet oder war das ohnehin so geplant?

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Die Arbeit zu „Lob des Vergessens, Teil 2“ war nicht im klassischen Sinne durch die Pandemie bedingt, aber ermöglicht.

Es gab bei mir schon seit mehreren Jahren den Wunsch, eine desktopbasierte Arbeit zu entwickeln, sowie ein generelles Interesse an der Idee der Fortsetzung. Im Arbeiten am 1. Teil von „Lob des Vergessens“ (des Bühnenstücks, das im Dezember 2019 an den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung kam) kristallisierten sich dann zwei Dinge heraus: Einerseits gab es Material und inhaltliche Fragestellungen, für die im Bühnenstück kein Platz war. Auf der anderen Seite hatte meine Recherche aus Interaktion mit jahrzehntealten Magnettapes sowie mit kürzlich digitalisierten Versionen der Tonbänder bestanden. Das Bühnenstück befasst sich mit dem verkörperten Archiv in Form von über 1 200 Bändern. Die Frage, wie Digitalität, Archiv und Vergessen zusammenhängen, steht dabei etwas mehr im Hintergrund. Und wird nun in Teil 2 aufgegriffen. Die Ideen dazu gab es also schon, als Anfang 2020 dann die Theater schlossen und es plötzlich ein weit größeres Interesse an digitalen Theaterformen gab sowie neue, provisorische Fördermöglichkeiten dafür.

Wie würden Sie, aufgrund Ihrer Erfahrungen mit ­Vorstellungen in physischer Präsenz und im digitalen Raum, den gravierendsten Unterschied zwischen ­beiden aus der Perspektive des Performers beschreiben?

Der Moment der Aufführung selbst erzeugt bei „Lob des Vergessens, Teil 2“ interessanterweise ganz ähnliche Gefühle wie ein Bühnenauftritt. Ich weiß, dass jemand zusieht, dass Augen auf „mir“ ruhen, dass Fehler passieren können.

Der große Unterschied liegt für mich am Ende. Während eine Bühnenaufführung mit einer großen Reaktion des Publikums in Form von Applaus endet und oftmals in eine informelle Sozialität in der Theaterbar, der Kantine, dem Festival-

zentrum übergeht, endet eine Online-Aufführung abrupt. Wo eben noch eine Art von Gemeinschaft erlebt wurde, ist ­plötzlich nichts mehr, ich sitze allein in meinem Arbeitszimmer, und anstatt eines gemeinsamen Anstoßens nach der Show gibt es höchstens ein Getränk aus dem heimischen Kühlschrank.

Wie würden Sie diese Arbeit im Kontext von „Theater animierter Formen“ – eine der diversen alternativen Benennungsversuche von „Figurentheater“ – positionieren?

Vielleicht könnte man „Lob des Vergessens, Teil 2“ sogar als besonders unmittelbare Form eines „Theaters animierter Formen“ denken, denn abgesehen von einigen Toneinspielungen sind die Texttafeln auf schwarzem Hintergrund sowie das lautlose Erscheinen getippter Buchstaben das einzige Element der Arbeit: die Choreografie des Texts auf dem geteilten Bildschirm, der der eigene sein könnte, die verschiedenen Bilder, die sich aus den bewegten Tafeln und sich formenden Wörtern ergeben.

Fragen und Einleitung von Anke Meyer

„Lob des Vergessens, Teil 2“, Oliver Zahn (DEU). 2021, Bildschirmfoto: © Oliver Zahn

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Hybridgemeinschaften?

Fünf Thesen zum digitalen Theater

Nina Tecklenburg Die Ausgabe des internationalen figuren.theater.festivals 2021 fiel auf das Ende des zweiten Lockdowns, also mitten in einen Krisenzustand, in dem das Theater nicht mehr das sein durfte, für was es bis dato gehalten wurde: eine LiveVeranstaltung mit physisch anwesenden Menschen. Das Theater war gewissermaßen gestorben und damit auch der Großteil von Theaterfestivals, die den zwangsverordneten Wechsel der Theaterpraxis in einen digitalen Raum nicht mitgehen wollten. Anders das figuren.theater.festival, das in einer digitalen Sonderausgabe gezielt Stücke einlud, die Theater für den virtuellen Raum entwickelt hatten.

Dass man sich ausgerechnet im Kontext eines Figurentheaterfestivals weniger unbefangen mit digitalem Theater auseinandersetzen konnte, ist bezeichnend: Die lockdown­ bedingte Wende ins Digitale bewirkte einen Bruch mit einem vorherrschenden Theaterparadigma, den das Figuren- und Objekttheater bereits lange vor der Pandemie vollzogen hatte – ein Bruch nämlich mit der Annahme, dass Theater stets in und durch zeitgleich körperlich anwesende Darsteller*innen und Zuschauer*innen stattfinden müsse ­ und dass Theater sich als „unmittelbares Erlebnis“ von einem technisch vermittelten, „mediatisierten Ereignis“ unter­­­­ scheide. Das Figurentheater entzieht sich diesem Paradigma durch die Verwendung „medialisierter Körper“1 und erweist sich damit als prädestiniertes Spielfeld für digitale Theaterformen.

Vor diesem Hintergrund veranstaltete der Erlanger ­Theaterwissenschaftler Clemens Risi im Rahmen des 2021erFestivals eine Diskussionsrunde zu der provokativen Frage: „Theater im digitalen Raum: Wo ist die Aufführung?“. Auf dem Podium saßen Künstler*innen des Festivals: Ariel Doron, Mario Hohmann und ich selbst als Teil der Performancegruppe Interrobang, die mit der Produktion „­Familiodrom“ auf dem Festival vertreten war. Meine folgenden Thesen zum 162

digitalen Theater waren ursprünglich als Diskussionsauftakt formuliert. Für diesen Beitrag habe ich sie Ende 2022 um Aspekte erweitert, die ich für das digitale Theater als zentral erachte.

These 1: Digitales Theater ist (auch) Krisentheater: Nicht nur wird es mit der Coronakrise assoziiert, sondern es fungiert als Katalysator eines krisenhaften Zustands des Theaters, der eine grundlegende Reflexion über die eigene Form, institutionelle Struktur und gesellschaftliche Funktion einfordert.

Mit dem Ausdruck „Digitales Theater“ wird seit der Covid19-Pandemie vor allem „Lockdown-Theater“ assoziiert: Ins-Theater-Gehen hieß in der Zeit sozialer Isolation, vom Wohnzimmersofa aus gestreamte Aufführungen und Zoomtheater auf dem Laptop zu schauen. Es bedeutete, vom Schreibtisch aus Telechatbot-Performances auf dem Handy mitzumachen, mittels postalisch zugesandter VR-Brillen die eigene Küche in einen virtuellen Theatersaal zu verwandeln, Social-Media-Stücke auf Telegram, Twitch oder Instagram vom Kinderzimmerteppichrand aus zu verfolgen oder Audioperformances von der Badewanne aus zu erleben. Die Zuschauer*innen waren dazu eingeladen, sich im technischen Dispositiv zu vergemeinschaften, wie zum Beispiel in virtuellen Foyers, Breakout-Räumen oder Chatforen.

Die weltweite Schließung von Theaterhäusern bewirkte eine Explosion innovativer Theaterpraktiken im digitalen Raum. Dabei bauten besonders die experimentierfreudigen digitalen Theaterformen der Lockdownzeit auf Formaten auf, die bereits vor der Pandemie verstärkt zu beobachten waren, wie GPS-geleitete Video- und Audiowalks, KI-basierte ­Performances sowie großformatige immersive Rollenspiele oder Theater-Games. Auch wenn in vielen dieser präpandemischen und immer noch aktuellen theaterästhetischen Tendenzen keine digitalen Medien explizit zum Einsatz ­ kamen beziehungsweise kommen, sind Mechanismen digi-

taler ­Kultur und Kommunikation in die ästhetische Textur dieser Arbeiten eingeschrieben, etwa in Form multioptionaler Erzählweisen, verstärkter sozialer Interaktion oder in Form eines Spielens mit räumlicher Trennung von Gemeinschaft, mit Aufmerksamkeitsökonomie, algorithmusbasiertem Handeln, Bewertungskultur oder Gamifizierung.

Digitales Theater ist also nicht neu. Neu hingegen ist beziehungsweise war der Moment der fast ausschließlichen Fokussierung auf digitale Theaterformen während der Lockdownperiode, wie es sich auch im Programm des figuren. theater.festivals 2021 zeigte. Digitales Theater wird deshalb häufig als Krisentheater wahrgenommen: als eine kurze Periode, die (hoffentlich) bald wieder vorbei sein würde, um dann wieder „richtiges“ Theater erleben zu können. Dass dem nicht so ist, zeigen sowohl niedrige Besucher*innenzahlen als auch fortlebende digitale Theaterformen. Letztere bringen das verstärkte Bedürfnis zum Ausdruck, digitale ­Kultur nicht einfach nur mit den herkömmlichen Mitteln des Theaters zu spiegeln, sondern unser Eingebundensein in einen digitalisierten Alltag inhaltlich, ästhetisch und theaterstrukturell zu thematisieren.

Aber digitales Theater lässt sich als Krisentheater vor allem deshalb beschreiben, weil es einen Krisenzustand des Theaters, wie er bereits vor der Pandemie zu spüren war, mit aller Deutlichkeit zutage befördert: Digitales Theater zwingt uns zu überdenken, was heute überhaupt als Theater zu bezeichnen ist, welche ästhetischen Formen in der Lage sind, dringliche Krisenthemen des 21. Jahrhunderts adäquat zu reflektieren. Digitales Theater deckt darüber hinaus die ausschlusspolitischen blinden Flecken eines hegemonialen Theaterbetriebs auf (weiß, cis, bildungsbürgerlich, abledbodied), dessen strukturell-diskriminierende (Un-)Zugänglichkeit von digitalen Theaterformen zumindest stellenweise unterminiert wird.2 Es lässt außerdem marode technologische Infrastrukturen, unzureichende und ungleich verteilte Fördertöpfe und die chronische finanzielle Unterversorgung Theaterschaffender sichtbar werden. Kurzum: Digitales Theater stellt uns vor die Aufgabe, unser grundlegendes ­ Verständnis von Theater sowie dessen gesellschaftliche Stellung und kulturelle Funktion zu überdenken.

These 2: Auch digitale Theaterformen sind ritualisierte soziale Zusammenkünfte.

Was genau ist eigentlich digitales Theater? Digitale Theaterformen, wie sie vor allem während der Pandemie entwickelt wurden, zeichnen sich nicht nur durch den Gebrauch digitaler Medien oder den inhaltlichen/formalen Verweis auf ­Digitalität aus, sondern sie konstituieren sich als digitales Theater

durch die Etablierung einer eigenen Ritualität. ­Digitales Theater ist eine spezifische Form gerahmter sozialer Zusammenkunft, die als solche sichtbar und erfahrbar gemacht werden muss, um wirksam zu sein. Drei Formen der ­Sichtbarmachung dieser neuen Theaterrituale erscheinen mir besonders prominent: Erstens die Inszenierung des Publikums etwa durch die Ermöglichung eines direkten ­ Austauschs (in Chaträumen, durch angeschaltete Webcams, Breakout-Room-Begegnungen etc.); zweitens die Überführung des analogen Theaterrituals in den digitalen Raum, wie etwa durch inszenierte Foyersituationen (samt technischer Instruktionen) oder das Zitieren rahmender ­Theatralitätsmerkmale wie Vorhänge, Applaus, Prologe/Epiloge; und drittens technische Pannen und Glitches, die die Ereignishaftigkeit der räumlich-distanzierten sozialen Zusammenkunft hervorheben. Zusammenfassend: Auch digitales Theater ist von Liveness gekennzeichnet – teils als inszenierter Effekt –, welche die Teilnehmer*innen in eine erhöhte Aufmerksamkeitsspannung versetzt und ihnen das soziale Eingebundensein in ein Theaterritual bewusst ­werden lässt.3 These 3: (A)Synchrone Liveness, phygitale Materialität, Hybridgemeinschaften, Fernintimität: Digitale Theaterformen provozieren ein neues Konzept von Aufführung.

Das Ritual der Theateraufführung ist dabei, sich zu verändern. Digitale Theaterformen brauchen keine Versammlung real Anwesender, um Gemeinschaften zu etablieren. Die sozialen Möglichkeiten digitaler Umgebungen, Zusammenkünfte jenseits physischer Grenzen zu ermöglichen, sind grundlegend für die neuen Theaterrituale. Die Idee von Aufführung als „gemeinsam verbrauchte Lebenszeit“ und „gemeinsam geatmet[e] Luft“4 wird ersetzt durch Liveness als Simultanität: „Performer and spectator may no longer share physical space, but they share virtual space and actual time.“5 Doch selbst das Moment der Simultanität wird von einigen neuen Theaterformen herausgefordert und in asynchrone Aktivitäten einzelner Akteur*innen überführt, etwa dann, wenn digitale Speichermedien zum Einsatz kommen und Live-Archivierungsvorgänge auf digitalen Plattformen vollzogen werden, die sich an ein zukünftiges Publikum wenden. Es ist auffällig, dass gerade während der Lockdowns vielzählige Online-Archive entstanden sind, die sich selbst als künstlerische/kuratierte (Performance-)Projekte verstehen und die potenzielle Speicherbarkeit digitaler Theaterformen betonen.6 Noch eine weitere aufführungstheoretische Grundannahme wird durch digitales Theater unterwandert. In digita163

len Theaterformen schieben sich KIs, Maschinen, Bots und Algorithmen als aufführungskonstitutive Ko-Akteur*innen in den Vordergrund – eine Konstellation, die digitales Theater in die Nähe einer Figurentheatertradition rückt, in der nichtleibliche Ko-Akteur*innen im Zentrum stehen. Es wird deutlich, welches immense Potenzial dem zukünftigen Figurentheater im Kontext digitaler Theaterkunst zugetraut werden darf. Das internationale figuren.theater.festival ist hierfür ein paradigmatisches Beispiel.

Zu betonen ist außerdem, dass digitales Theater keinesfalls ärmer an affektiver Wirkung ist als analoges, scheinbar unmittelbares Theater.7 Die Überlagerung von physischer und virtueller Welt, beispielsweise in immersiven Umgebungen, kann intensive Gefühle hervorrufen; aufführungsbegleitende Chatforen bergen ein hohes emotionales Erregungspotenzial und so manche One-on-One-Online-Performance spielt mit technologisch vermittelten, intensivierten Nähe­ effekten.

Um die Eigenarten digitaler Theaterformen beschreiben zu können, bedarf es neuer Begriffe jenseits der Dichotomie „analog“ versus „digital“. Digitale Theatererlebnisse sind „hybrid“, insofern Materielles und Immaterielles, Verkörpertes und Programmiertes ineinandergreifen. Wie wäre es zum Beispiel mit Begriffen wie (a)synchrone Liveness, phygitale Materialität, (im-)materielle Ko-Aktant*innen, Hybridgemeinschaften oder Fernintimität?

These 4: Eine zentrale Funktion des digitalen Theaters besteht darin, die Ausschluss­dynamiken und Zugangspolitiken des Theaters wie des digitalen Raumes sichtbar zu machen.

Was passiert mit dem Theater, wenn Internetkultur und Digitalisierung des Alltags völlig neue Formen des Sozialen hervorbringen? Ist das Theater immer noch ein prädestinierter Ort, um Fragen von Partizipation zu verhandeln? Die vor­ läufige Antwort lautet: ja. Eine Vielzahl der während der ­Pandemie entstandenen digitalen Theaterformen betonten Momente sozialer Begegnung. Es war ein Theater weniger für ein Publikum, sondern mit einem Publikum8, das sich die kommunikativen Technologien der Netzkultur künstlerischverfremdend zu eigen machte. Damit bot pandemisches Theater nicht nur Trost in Zeiten von „social distancing“ oder überraschte mit beeindruckenden Überführungen dramatischer Stoffe in digitale multioptional-partizipative Erzählformen, sondern es erkundete den digitalen Raum als sozialen Raum: als Ort des Aushandelns und der Begegnung – und nicht zuletzt als einen Raum des sozialen Ausschlusses und der algorithmischen Präfigurierung digitaler Kommunikation.

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Damit wird das Thema Zugänglichkeit sowohl bezüglich des Theaterbetriebs wie des Internets zentral. Digitales Theater ermöglicht einerseits neue Zugangsmöglichkeiten für marginalisierte Gruppen und erhöhte damit das Bewusstsein für bisherige Ausschlusskriterien eines weiß-bildungsbürgerlich-­ abled-bodied Theaters. Andererseits geraten die Zugangspolitiken und Profitlogiken einer stark kommerzialisierten digitalen Internetkultur ins Blickfeld. Eine zentrale Funktion des digitalen Theaters besteht darin, die Dynamiken digitalsozialer (Theater-)Räume auszuloten und ihre Machtstrukturen mittels künstlerischer Zugriffe sichtbar zu machen.

These 5: Digitales Theater bedeutet keinen Verlust des „alten Theaters“, sondern einen Gewinn: Die Zukunft des Theaters ist hybrid.

Die pandemiebedingten Theaterschließungen und existenziellen Bedrohungen vieler Theaterschaffender hat das ­Theater in eine schwere Krise gestürzt. Auch nach Beendigung des Lockdowns bleiben Zuschauer*innenzahlen niedrig; drohende Kürzungen von staatlichen Subventionen bestätigen diesen Trend. Der vorausgesagte Hunger nach dem physischen Live-Event bleibt (bislang) aus. Etwas hat sich verändert in unserer Bereitschaft, sich physisch an einen anderen Ort zu begeben, wenn man es auch virtuell tun kann. Digitales Theater hat eine andere – erst mal nicht per se schlechtere oder bessere – Qualität als das „alte“ Theater. Digitales Theater zeugt von einer fundamentalen Verschiebung unserer Lebensformen, sozialer Riten und infolgedessen auch künstlerischer Praktiken. Die Frage „Ist das noch Theater?“ ist dabei weniger interessant als die Frage nach der Funktion digitaler/hybrider Theaterformen, die nicht nur eine breitere Zugänglichkeit und globale Vernetzung begünstigen (im Bewusstsein des Ausschlusses derer, die über keinen Internetzugang verfügen), sondern die unter Umständen eine adäquatere künstlerische Form zur Reflexion eines digitalisierten Alltags samt neuer Kommunikationsformen, sozialer Gemeinschaften, Gefühlspolitiken, ethischer und ökologischer Dimensionen darstellen.

Das „analoge“ Theater wird weiterhin existieren – auch und eventuell sogar besonders dann, wenn Theaterinstitutionen bereit sind, digitale Theaterformen nicht als Bedrohung, ­sondern als Bereicherung anzuerkennen, sie aktiv in ihr Programm zu integrieren und sich damit die eigene Eingebundenheit in eine hybride Lebenswelt einzugestehen. Dass das figuren.theater.festival auch in Zukunft digitales Theater zeigen möchte, ist daher nicht nur Ausdruck einer bemerkenswerten kreativen Offenheit und Freude an experimentellen ­Theaterformen. Es zeigt vor allem, dass die Festival-

macher*innen sich immer wieder erneut der Aufgabe stellen, nicht nur ihr eigenes Genre, sondern auch das Theater allgemein in Bezug auf eine sich verändernde Welt neu zu erfinden.

Nina Tecklenburg ist Theatermacherin und Wissenschaftlerin. Sie ist Teil der künstlerischen Leitung der Performancegruppe Interrobang und hat mit u. a. mit Gob Squad, She She Pop, Lone Twin Theatre und Rabih Mroué zusammengearbeitet. Aktuell hat sie eine Professur am BardCollege in Berlin, zuvor war sie Gastprofessorin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin und lehrte an verschiedenen Institutionen wie der Hochschule der Künste Bern, der Freien Universität Berlin, der Universität Hildesheim und der Universität der Künste Berlin. Zu ihren aktuellen künstlerischen und akademischen Forschungsinteressen gehören Theater und digitale Kultur, neue Erzählpraktiken in der zeitgenössischen Performance, Politik der Partizipation und Performance-Aktivismus.

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„Familiodrom“, Interrobang (DEU). 2021, Bildschirmfoto: © Interrobang

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„Be Arielle“, Simon Senn (CHE). 2021, Bildschirmfoto: © Simon Senn

Meike Wagner: „Nähte am Puppenkörper – der mediale Blick und die Körperentwürfe des Theaters“, Bielefeld 2003.

Vgl. Jared Mezzochi: „All the Screen’s a Stage: A Transmedia Manifesto“, https://www.americantheatre.org/2021/09/22/all-the-screensa-stage-a-transmedia-manifesto/, letzter Zugriff am 17. September 2021.

Vgl. Philip Auslander: „Liveness – Performance in a Mediatized Culture“, London und New York 1999.

Hans-Thies Lehmann: „Postdramatisches Theater“, Frankfurt am Main 1999, S. 12, vgl. auch Erika Fischer-Lichte: „Ästhetik der Performativen“, Frankfurt am Main 2004.

Henry Bial: „Performance Studies 3.0“, in: Henry Bial/Sara Brady (Hg.): The Performance Studies Reader, 3. Auflage, London 2016, S. 409. „Decameron Row“ (2020) von Itamar Kubovy, Stefanie Sobelle, Juan Diaz Bohorquez, Sherry Huss und Josef Szuecs; „Infinitos“ (2020) von La Quinta de Lobos/Carmen Gil Vrolijk; „Theater in Quarantine“ (2020) von Joshua Gelb; „ENTER“ (2020), kuratiert von Onassis Center Athen; „1000 Scores“ (2021) von Rimini Protokoll; „Impulse-Fon“ (2021) von Interrobang; „DIE BALKONE“ (2021, 2022) kuratiert von Övül Ö. Durmusoglu und Joanna Warsza.

Vgl. Fintan Walsh: „Digital Feelings“, unveröffentlichte Video-Lecture, 2021.

Ramona Mosse/Janina Janke/Judith König/Christian Stein/Nina Tecklenburg: „Viral Theatres’ Pandemic Playbook – Documenting German theatre during COVID-19“, in: International Journal of Performance Arts and Digital Media, Vol. 18, Issue 1, 2022, S. 105–127.

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„Still Life“, Puppentheater Ljubljana (SVN). 2023, Foto: Georg Pöhlein

„Perhaps all the Dragons“, Berlin (BEL). 2015, Foto: Erich Malter

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„Die Nacht der Maulwürfe/Welcome to Caveland!“, Philippe Quesne/Vivarium Studio (FRA). 2017, Foto: Erich Malter

„The Voice of Nature“, Tim Spooner (GBR). 2017, Foto: Georg Pöhlein

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„one man zoo“, Ariel Doron (ISR/DEU). 2021, Foto: Erich Malter

„Man muss den Atem anhalten“, Là Où (FRA). 2009, Foto: Erich Malter

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„Horizon“, Chloé Moglia/Rhizome (FRA). 2023, Foto: Georg Pöhlein

„Intimitäten“, Meinhardt & Krauss cinematic theatre (DEU). 2007, Foto: Georg Pöhlein

„Lichtung“, O-Team (DEU). 2015, Foto: Erich Malter

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„Das Bauchrednertreffen“, Gisèle Vienne/Puppentheater Halle (FRA/DEU). 2017, Foto: Erich Malter

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„Maniacs“, Ulrike Quade Company (DEU/NLD). 2017, Foto: Georg Pöhlein

„My Home at the Intersection“, Abhishek Thapar (IND/NLD). 2023, Foto: Georg Pöhlein

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„Forecasting“, Barbara Matijević & Giuseppe Chico (HRV/ITA/FRA). 2019, Foto: Georg Pöhlein

Übermorgen Eine kurze Spekulation

André Studt Ein Übermorgen, ein von uns redaktionell bewusst gesetzter Begriff, der das Morgen ausblendet (oder dieses als überwunden impliziert), lässt sich nur spekulierend erschließen, zumal man selbst (als in der Gegenwart Schreibender oder Lesende) im Übermorgen sehr wahrscheinlich nicht mehr sein wird. Dass ein Übermorgen uns gerade sehr unzugänglich scheint, muss nicht unbedingt mit den vielfältigen Krisenherden der Gegenwart zu tun haben, die uns allenthalben zusetzen – und deren Genese wissenschaftlich erkundet und mehr eskortiert als intervenierend verändert wird. Stanislaw Lem hat in seinem 1992 erschienenen (und heute immer noch anregend zu lesenden) Essayband „Die Vergangenheit der Zukunft“ darauf hingewiesen, dass sich die Zukunft methodisch nicht per überraschungsfreier Prognose wird modellieren lassen, da immer wieder der Zufall (und dessen bisweilen disruptive Dramaturgie) dazwischenfunkt.

Das im Prinzip (konstruktiv) Machbare ist permanent in der Defensive; man wisse zwar, was man für die Zukunft tun müsse, aber es lohne sich halt nicht. So leben wir, als vermeintlich erwachsene und in dieses materiell, technologisch, bürokratische Setting eingesponnene Wesen, unserem Tod als Bestandteil einer breiten Gegenwart entgegen und hoffen, dieser sei ein natürlicher. Warum überhaupt an ein Übermorgen denken?

Demgegenüber und vielleicht als Trost beziehungsweise Versprechen auf eine Zeit nach dem Morgen gilt: „Puppen sterben besser!“ So hieß eine 2013 in Erlangen gezeigte, dem „Jenseitigen des Figurentheaters“ gewidmete Lecture Performance des damals frisch an die Hochschule in Stuttgart berufenen Florian Feisel. Dort galt: Wenn ein Tod nicht gut genug war, dann sterbe man halt noch einmal … Der Titel dieser Produktion liefert zudem eine profunde Zusammenfassung philosophischer Überlegungen zur besonderen Fähigkeit der Puppe – oder lebloser Materie generell, die in 174

das Feld der Animation gerät –, zwischen den Zuständen von Leben und Tod mäandern zu können und damit das Konzept einer kohärenten Zeitvorstellung, in der stoisch das eine auf das andere folgt, zu suspendieren. Bei der kalkulierten Ununterscheidbarkeit der Sphären des Lebendigen und der Toten (z. B. 2009 im Gastspiel von Gisèle Viennes „Showroomdummies“ eindringlich zu sehen), wie sie in vielen Produktionen dieses vitalen Theatergenres auffindbar sind, muss es natürlich nicht immer um den Tod als Fanal (und Ärgernis) menschlichen Handelns gehen. Das Festivalprogramm bot schon vor Jahren eine Befragung von Formen zukünftiger Geselligkeit, dem Zusammenleben und/oder Verschmelzen von Mensch und Puppe – beispielsweise in „Maniacs“ der Ulrike Quade Compagnie oder „Singularity“ vom O-Team (beide mit der Thematik Sexpuppe und beide als Gastspiel 2017 in Erlangen) oder im szenischen Versuch mit animatronischen Körperteilen und KI „Robot Dreams“ von Meinhardt&Krauss (zwei Jahre später in Fürth und Nürnberg zu sehen) – und warf damit tastende Blicke ins Übermorgen. Wobei die Interaktionen von Schauspieler*innen und Puppen jedoch noch eher den Logiken des CyborgManifests folgten, als dass sie konsequent posthumane Züge aufwiesen.

Diese finden sich – ohne dass szenische Science-Fiction betrieben werden muss – eigentlich immer in Arbeiten, die von der Unsterblichkeit der Puppe, ihren Bezeichnungen und Anrufungen ausgegangen sind. Beispielhaft ließen sich hier so unterschiedliche Produktionen wie „Prolixe“ der Compagnie Les Ateliers du Spectacle um Jean-Pierre Larroche (2005 auf dem Festival zu sehen), in der die letzten Worte im Kopf einer im 12. Jahrhundert durchs Fallbeil hingerichteten Frau und Heiligen ihren stetigen Widerhall bekamen (dies wird auch in einem Übermorgen der Fall sein!), oder „Freeze!“ von Nick Steur nennen, der bei seinem Gastspiel 2013 in Konzentration und Ruhe Natursteine zu erstaunlichen Gebilden aufeinandergestapelt hat. Ein Stein – ähnlich

„Freeze“, Nick Steur (NLD). 2013, Foto: Erich Malter

hat es Kate McIntosh in ihrem Statement in diesem Buch gesagt – befindet sich mit uns Menschen gemeinsam in der Welt und doch in einer für uns nicht zugänglichen (weil schwer oder nicht denkbaren) Zeit. Ihn wird es im Übermorgen mit höherer Wahrscheinlichkeit geben als uns, die mit ihm heute spielen.

Dagegen ist es einerseits unsicher, ob es das Festival im Übermorgen noch geben wird: Es hat zwar schon öfter seine Widerständigkeit gezeigt, diese ist jedoch stärker an die Aufopferungsbereitschaft der beteiligten Programmmacher*innen und Umsetzer*innen gekoppelt denn an die der Kulturpolitiker*innen. Die Finanznot der Jahre 2010/11 (auf die Matthias Warstat in seinem Beitrag Bezug nimmt) hat aktuell einen monströsen Wiedergänger; schon heute ist klar, dass die Ausgabe 2025, zu der dieses Buch dann doch erscheinen wird, in arg abgespeckter Version durchgeführt wird.

Und dabei hat das „Figu“ (wie wir alle) eben noch einem globalen Gesundheitsnotstand getrotzt, warum sollte – ­ andererseits – dieses Festival totzukriegen sein?

Corona hat uns gezeigt, dass sich die Zukunft nie vollumfänglich planen lässt (genauso wie man den Ablauf einer Theateraufführung und ihre Wirkungen nicht vorhersagen

kann); viele Versuche, nach vorne zu denken, enden im Morgen, welches so zur Gegenwart gemacht wird. Was aber ganz ohne spekulativen Anteil gesagt werden kann: Jedes Umorganisieren und Sammeln von Drittmitteln und Sponsorengeldern allein wird nicht hinreichen, dem figuren.theater. festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach ein Übermorgen zu ermöglichen. Weder zweckrationale Argumente der Umwegrentabiltät noch potenziell neu zu definierende Affekte wie eine „Fernintimität“ (von der im Beitrag von Nina Tecklenburg die Rede war) werden dieses Kulturformat am Leben halten. Es sind vielmehr die Ideen, Erzählungen und Fantasien der eingeladenen Künstler*innen und das, was sie uns an Wärme, Reizen und Reibungen, Anrufungen und Aufregungen mitgeben. Um sie geht es – und damit auch um uns. Uns alle. Dass dies nicht vergessen wird: Man kann jedes Mal darauf hoffen.

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Impressum Anke Meyer/André Studt (Hg.) Offen!

Das internationale figuren.theater.festival Erlangen Nürnberg Fürth ­Schwabach © 2025 by Theater der Zeit Eine Publikation von Theater der Zeit in Zusammenarbeit mit dem ­Kulturamt der Stadt Erlangen.

Die Herausgeber*innen Anke Meyer studierte Sprach- und Literaturwissenschaft, arbeitete als freie Theaterschaffende, war 1995–2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst und bis 2022 Leitende Redakteurin des Magazins für Puppen-, Figuren- und ­Objekttheater double. Lehraufträge führten sie u. a. an die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, die Universität Hildesheim und die ­Ruhruniversität Bochum; seit 2011 unterrichtet sie am Studiengang ­Figurentheater der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Gemeinsam mit André Studt leitet sie seit 2015 das ­festivalbegleitende Seminar „Tiefenbohrungen“.

André Studt studierte Theaterwissenschaft, Politologie und Geschichte, arbeitete nach dem Studium im Bereich der Kulturadministration, ­führte Regie und entwickelte Theaterprojekte für Kinder und Jugendliche.

Seit 2003 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterund ­Medienwissenschaft der FAU Erlangen-Nürnberg. Dort betreut er studentische Produktionen und Projekte im Experimentiertheater; seine wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen (Schul-)Theater-Pädagogik, Theatertheorie und Aufführungsanalyse.

Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Schultheater.

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Mit Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft Kultur im Großraum Nürnberg, Fürth, Erlangen, Schwabach.

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de | info@tdz.de

Redaktionelle Beratung: Silvia Brendenal Gestaltung: Tabea Feuerstein Korrektorat: Iris Weißenböck Betreuung Kulturamt Erlangen: Annika Gloystein, Bodo Birk Printed in Germany ISBN 978-3-95749-468-9

Das internationale figuren.theater.festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach gehört zu den renommiertesten Festivals des Genres und ist bekannt für das große ästhetische Spektrum seines Programms. Gegründet 1979, entwickelte es sich rasch zu einer erstklassigen Adresse für Künstler*innen und Veranstalter*innen, ebenso zu einem internationalen wie regionalen Publikumsmagneten. Es spiegelt mit seinen Stammcompagnien, seinen performativen Experimenten, gewagten Präsentationsformaten und oft folgenreichen Begegnungen nicht nur die jeweils aktuellen Bewegungen der Szene, sondern schrieb sich auch selbst in deren Geschichte ein.

Was es bedeuten kann, wenn ein Festival bereit ist, ein Genre immer wieder neu zu (er-)finden, wenn Kuratieren auch als kritische Förderung verstanden, Studierenden regelmäßig eine Plattform geboten und eine Region vom Festivalfieber erfasst wird, das beleuchten Beiträge von Beteiligten vor, auf und hinter den Festivalbühnen.