Klaus Zehelein: Unerhörte Augenblicke. Autobiographie

KLAUS ZEHELEIN

UNERHÖRTE AUGENBLICKE AUTOBIOGRAPHIE herausgegeben von Günther Heeg

Theater der Zeit

Foto: privat

Prof. Klaus Zehelein ist Dramaturg, Intendant und akademischer Lehrer und Vermittler. Er war Chefdramaturg und stellvertretender Opern­direktor in Frankfurt und Intendant an der Staatsoper Stuttgart, Präsident der Bayerischen Theaterakademie und Präsident des Deutschen Bühnenvereins. 2023 wurde ihm der ­deutsche Theaterpreis DER FAUST für sein ­Lebenswerk verliehen.

KLAUS ZEHELEIN UNERHÖRTE AUGENBLICKE

KLAUS ZEHELEIN UNERHÖRTE AUGENBLICKE AUTOBIOGRAPHIE herausgegeben von Günther Heeg

Theater der Zeit

Klaus Zehelein Unerhörte Augenblicke Herausgegeben von Günther Heeg © 2025 by Theater der Zeit Gedruckt mit Unterstützung der Staatsoper Stuttgart und des Fördervereins der Staatstheater Stuttgart, der Oper Frankfurt und dem Patronatsverein der Städtischen Bühnen Frankfurt, der Richard Stury Stiftung und der Lo-Eitle-Stiftung.

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Verlag Theater der Zeit Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de | info@tdz.de Gestaltung: Gudrun Hommers Lektorat: Sophie-Margarete Schuster Umschlagfoto: © A.T. Schaefer Printed in Germany ISBN 978-3-95749-561-7 (Paperback) ISBN 978-3-95749-562-4 (ePDF)

INHALT VORWORT DES HERAUSGEBERS 7 KLAUS ZEHELEIN 11 ANFÄNGE 15 KIEL 27 OLDENBURG 45 FREIER ENTWURF DES MODERNEN MUSIKTHEATERS: FRANKFURT 67 INTERMEZZO UNGEBUNDENHEIT UND EINGEBUNDENSEIN 1987–1991 147 MODELL OPER STUTTGART FÜNFZEHN SPIELZEITEN ALS INTENDANT 1991–2006 155 LABORATORIEN DER VERMITTLUNG 265 LEHRSTÜCK OHNE LEHRE VERSTUMMTE STIMMEN UNERHÖRTE AUGENBLICKE 289 LITERATURVERZEICHNIS 299

VORWORT DES HERAUSGEBERS

ALS KLAUS ZEHELEIN 2006 seine Intendanz an der Staatsoper Stuttgart nach fünfzehn Jahren niederlegte, wurde das in der Öffentlichkeit als Ereignis wahrgenommen. Davon sprechen ­ Schlagzeilen wie „Abschied vom Herkules des Musiktheaters“, „Das Operngenie tritt ab“, „So viele Sternstunden wie nirgendwo“, „Triumph im Rückblick“, „Die streitbare Stimme der Kultur“, „Tradition, Innovation, Perfektion“, „Dramaturgie-Superhirn geht“ oder „Finale für das Superhirn“. Die zwischen antikem Heroentum und mythischer Science-Fiction changierenden Titulierungen des Dramaturgen und Intendanten sind aus zwei Gründen von Interesse: Die Schlagzeilen kamen als Nachrichten aus der Provinz daher – Schwäbische Zeitung, Vlothoer Anzeiger, Grafschafter Nachrichten, Badisches Tagblatt, der Reutlinger ­Generalanzeiger und die Heilbronner Stimme waren die Orte ihres Erscheinens. Das zeigt zum einen, wie der Name und das Wirken von Klaus Zehelein bis in die hintersten Winkel des Landes wahrgenommen wurden, sicher auch von Menschen, die nie einen Fuß in die Stuttgarter Staatsoper gesetzt hatten. Zum anderen zeugen die Heroisierung und Mythisierung auch von der Schwierigkeit, die Einzigartigkeit der Tätigkeit des Dramaturgen, Intendanten, akademischen Lehrers und Theaterpolitikers Klaus Zehelein, sein vorbildhaftes Wirken und seine modellhafte Theaterarbeit, angemessen zu beschreiben. Dieses Buch will dazu beitragen, die Tätigkeit von Klaus Zehelein, auch und gerade in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, besser zu verstehen.

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Klaus Zehelein ist jeder Heroisierung seines Tuns abhold. Wer tagtäglich die „Mühen der Ebenen“ eines großen Opernhauses auf sich nimmt und dabei keinen Gedanken an die nächste Auszeichnung zum „Opernhaus des Jahres“ verschwendet, weil jede Inszenierung ihre eigenen Tücken und Herausforderungen hat und, öfter als dem Intendanten lieb ist, Troubleshooting angesagt ist, der ist gegen jede Vorstellung von heldischem Einzelgängertum gefeit. Klaus Zehelein spricht stattdessen von einer Ethik der Arbeit, die unerlässlich sei, um Theater und besonders die Oper zu einem Ort zu machen, an dem die unterschiedlichsten Menschen, Tätigkeiten und Interessen so zusammenwirken können, dass ein Kunst-Werk entsteht. Ein Kunst-Werk, das nicht abgehoben in höheren Sphären schwebt, sondern zurückstrahlt – sowohl in das Leben der Produzent:innen als auch in das des Publikums.

Hannah Arendt hat die Haltung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, als die einer vita activa, eines tätigen Lebens, bezeichnet. Arbeit, Herstellen und Handeln sind dessen Elemente: Die Unermüdlichkeit des Forschens und sich Vergrabens in der Arbeit am Text eines Stücks oder einer Oper, das Glück des inszenatorischen Gestaltens und das Handeln im Zusammenspiel mit dem Handeln der anderen. Alle drei zusammen machen die vita activa aus.

Blickt man auf die Autobiographie von Klaus Zehelein, so lässt sich mit Hannah Arendt von einem tätigen Leben sprechen.

Auch die Arbeit an der vorliegenden Autobiographie war ein Stück des tätigen Lebens. Über zwei Jahre hindurch haben wir viele Gespräche geführt und aufgenommen. Die Aufzeichnungen transkribiert und daraus Texte angefertigt. Wir haben in Quellen geforscht und nach Bildern gesucht. Und wir haben die Texte immer wieder überarbeitet und redigiert. Nun liegt das Buch vor und wir sind gespannt auf den Widerhall, den es finden wird.

Unser erster herzlicher Dank gilt dem Verlag Theater der Zeit: Harald Müller und Paul Tischler haben das Buch hilfreich unterstützend begleitet. Sophie-Margarete Schuster hat es präzise und empathisch lektoriert, Gudrun Hommers das Layout gestaltet.

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VORWORT DES HERAUSGEBERS

Großen Anteil am Zustandekommen des Buchs haben die För­ derer, die das Projekt nachhaltig unterstützt haben. An die Staatsoper Stuttgart und den Förderverein der Staatstheater Stuttgart, an die Oper Frankfurt und den Patronatsverein der Städtischen Bühnen Frankfurt, an die Richard Stury Stiftung und an die Lo-EitleStiftung geht unser großer und herzlicher Dank.

Die Bilder von Mara Eggert und A.T. Schaefer, den Koryphäen der Theaterfotographie, erinnern die Zeiten der Opernarbeit in Frankfurt und Stuttgart in plastischer Weise. Beiden sei sehr herzlich gedankt.

Jil Kohlschein und Anna Ivanova haben das Chaos der Transkriptionen geordnet und erste Redaktionsarbeiten vorgenommen. Auch ihnen sei herzlich gedankt.

Dass Jossi Wieler, seinerseits Intendant der Staatsoper Stuttgart von 2012 bis 2018, ein Vorwort zu dieser Autobiographie beigetragen hat, ist uns eine besondere Freude.

Leipzig, im Juni 2025 Günther Heeg

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KLAUS ZEHELEIN

KLAUS ZEHELEIN war für mich eine Ikone des Musiktheaters, lange bevor ich ihn persönlich kennenlernen durfte. Es war in den frühen 1980er Jahren, als mir Anna Viebrock im Zusammenhang mit unserer ersten gemeinsamen Schauspielarbeit nicht nur von der legendären Frankfurter „Aida“, sondern auch von Zeheleins Programmheft dazu, vor allem aber von seinem darin enthaltenen Beitrag „Archäologie als Metapher“ vorschwärmte.

Schließlich brachte sie mir ein Exemplar mit. Ich fing zu lesen an – und verstand nur wenig. Dialektik, Mystifikation, Hypostasierung: Fremd-Wörter. Deren Aneignung war eine Erfahrung für sich – um nur zwei weitere Begriffsgestirne aus dem Zeheleinschen Denkkosmos aufleuchten zu lassen.

Zehn Jahre später besuchte uns der leibhaftige Klaus Zehelein in Basel mit dem Angebot, an der Staatsoper Stuttgart eine Oper zu inszenieren. Meinen vorsichtigen Hinweis, dass ich nur Schauspielregie gelernt hätte, ließ er nicht gelten und meinte, dass mir dann ein junger Musiktheaterdramaturg zur Seite stehen würde. Ja, es war Zehelein, der damals die fruchtbare Zusammenarbeit von Sergio Morabito und mir initiiert hat.

Bei den Bühnenorchesterproben zu unserer ersten Produktion, Mozarts „La Clemenza di Tito“, – wir saßen am Regietisch im verdunkelten Zuschauerraum – tauchte eine Gestalt auf, die sich in der ersten Reihe gleich hinterm Dirigenten platzierte. Sie schaute besonders aufmerksam in den Orchestergraben und auf die Bühne. Wer ist dieser Fremde, der sich anmaßt, unsere Probe aus der ersten Reihe zu verfolgen, fragte ich mich, der ich bislang nur die Intimität einer Schauspielprobe kannte, zu der normalerweise niemand von außen Zutritt hat.

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UNERHÖRTE AUGENBLICKE

Nichts im Theater entging den Augen und Ohren des Intendanten Zehelein. Klaus hat ein Ethos gelebt, von dem sich alle Mitarbeitenden beseelt und auch gefordert fühlten. Das war, wie ich später im Vergleich mit anderen Häusern erfuhr, einzigartig in Stuttgart: Die Ensemblepflege, der Spirit am Haus, die Nachwuchsförderung, überhaupt die Neugier auf ein Musiktheater, das diesen Namen verdient. Dazu gehören: der unbedingte Wille, die Werke zu durchdringen, die Überzeugung, dass es um Inhalte geht und nicht um äußeren Schein, und die Freude an der Auseinandersetzung, gerade und besonders mit allem, was in der Aneignung erst einmal fremd wirkt. Das war in Stuttgart Konsens ebenso wie das Wissen um szenische Versinnlichung, die in der Zusammenarbeit mit den Sängerinnen und Sängern, dem Chor und dem Orchester entsteht.

Eine Zusammenarbeit, die sich von Moment zu Moment, von Satz zu Satz fortschreibt, auch Subtexte genau auslotet und Figuren in ihrer ganzen Körperlichkeit erfindet – sind es doch auch die Körper, die Entscheidendes szenisch miterzählen.

Klaus Zehelein hat besonders fordernde, diskursfreudige, oft auch widersprechende Arbeitspartnerinnen und -partner um sich geschart. Er hat auch nicht einfach Aufträge vergeben, sondern die Produktionen von ihrer konzeptuellen Entstehungsphase bis zur Premiere leidenschaftlich begleitet. Und er hat optimale künstlerische Arbeitsbedingungen geschaffen: sieben Wochen Proben für eine Neuproduktion – das war das Alleinstellungsmerkmal von Stuttgart.

Opernarbeit als Prozess: Sie soll relevante Fragen stellen und keine repräsentativen Antworten geben. Nicht zuletzt müssen, um ein solches Musiktheater zu ermöglichen, Strukturen verändert werden. Und das hat Klaus gemacht. Er hat neue Strukturen geschaffen für ein zeitgenössisches Musiktheater.

Auch darin ist und bleibt er revolutionär. Die Staatsoper Stuttgart unter Klaus Zehelein wurde zum künstlerischen Leuchtturm gesellschaftspolitischer Aufklärung. Während meiner Zeit als Intendant in Stuttgart haben wir stets versucht, uns daran zu orientieren.

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VORWORT

Musik entsteht aus gegenseitigem Zuhören. Dieser Gedanke scheint mir der Kern von Klaus‘ Schaffen überhaupt: die Intensität der Auseinandersetzung in der gemeinsamen Arbeit einerseits und eine ernsthafte Haltung, die bloßer Verpackung und dem ­Modischen abhold ist, andererseits. Ich wünsche mir, dass dieses Denken von Klaus Zehelein bei Künstlerinnen und Künstlern ebenso wie bei der Kritik und beim Publikum zurückkehrt – ins Zentrum des Opernschaffens.

Berlin, im Sommer 2025 Jossi Wieler

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ANFÄNGE

IM NOVEMBER 2023 wurde mir im Thalia Theater in Hamburg der deutsche Theaterpreis DER FAUST verliehen. Die Auszeichnung galt, wie es in der Verleihungsurkunde hieß, meinem „Lebenswerk“. Über diese Bezeichnung musste ich nachdenken. Und kam in meiner Dankesrede zu dem Schluss, dass man von einem solchen „Lebenswerk“ bei mir nicht sprechen kann. Mein Leben rundet sich nicht zu einem Ganzen, zu einem „Werk“. Weit mehr ist mein Leben Stückwerk. Es fügt sich nicht zu einer Erzählung: wie alles begann und sich entwickelte bis hin zu den verdienten Erfolgen und gereiften Erfahrungen, auf die eine:r am Ende zurückblicken kann. Was ich stattdessen in diesem Buch anbieten kann, sind Erinnerungsstücke und Gedächtnissplitter. Sie kristallisieren sich in einzelnen Episoden, die nebeneinanderstehen und oft durch harte Schnitte getrennt sind. Aber das Getrennte bildet, so hoffe ich, Konstellationen in den Köpfen der Leserinnen und Leser.

Welche das sein werden, kann ich nicht vorhersagen. Aber ich bin zuversichtlich, dass sie daraus Einblicke in das gewinnen, was mich über die Jahre bewegt und in Bewegung gehalten hat. Und welche Schlüsse sich daraus für die Gegenwart, besonders für die Gegenwart des Musiktheaters ziehen lassen.

Ob mein Leben geglückt ist, kann ich nicht sagen. Es ist wohl auch die falsche Frage. Mit Sicherheit kann ich sagen, dass ich immer Glück gehabt habe. Mit meinen Entscheidungen, etwas zu tun – aber oft auch mit den Entscheidungen, etwas nicht 15

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zu tun. Glück hatte ich nicht zuletzt mit den Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet und gelebt habe und lebe. * Anfang der 1960er Jahre, ich war 20, fuhr ich von Frankfurt nach Nürnberg, um am Germanischen Nationalmuseum zu recherchieren. Ich war Student an der Goethe-Universität in Frankfurt und dort für Musikwissenschaft, Geschichte und Germanistik eingeschrieben. Im Fach Geschichte hatte es mir die Mediävistik angetan. Ich forschte zu Reichsinsignien, Reichsreliquien und deren politischer Bedeutung im späten Mittelalter. Dazu wollte ich im Museum in Nürnberg weitere Quellen finden. Für meine Recherchen hatte ich eine Woche eingeplant. Beim Fremdenverkehrsamt in Nürnberg hatte ich angerufen und nach einem Zimmer für eine Woche gefragt. Ich bekam die Auskunft, sie hätten ein Zimmer für mich. Sogar in der Nähe des Archivs und wunderbar gelegen – schräg gegenüber dem Dürerhaus. Ich bin hingefahren und eine ältere Dame macht mir auf: „Ja, bitte?“ Ich sagte: „Ich komme vom Verkehrsamt, das mir Ihre Adresse wegen eines Zimmers für eine Woche gegeben hat.“ „Das ist leider ein Missverständnis. Wir wollen das Zimmer für länger vermieten. Nicht für eine Woche.“ Die Dame hat wohl meine Enttäuschung gespürt und, um die Situation irgendwie zu überbrücken, gefragt: „Wie ist denn eigentlich Ihr Name?“ „Klaus Zehelein“, hab‘ ich gesagt.

Und sie sofort: „Klaus Zehelein?! Ja, kennen Sie denn einen Konrad Zehelein?“ Ich war erstaunt und überrascht. „Ja“, habe ich gesagt, „das war mein Vater.“ Auf meine Antwort folgte große Aufregung und Freude. „Du, Marie, komm mal, sofort!“, ruft die ältere Dame nach ihrer Schwester, „hier ist der Sohn vom Konrad.“ Keine Frage, dass ich dort wohnen durfte, auch länger.

Mein Vater Konrad hatte dort bei den Schwestern gewohnt, nachdem er mit 15 Jahren sein Zuhause verlassen hatte. Er kam von einem großen Gut mit Mühle und Sägewerk in Mittelfranken.

Es gab in der Familie eine Erbfolge: Der Erstgeborene übernahm das Gut, der Letztgeborene, das war mein Vater, sollte ihm als Verwalter zur Hand gehen. Mein Vater hat das nicht gewollt.

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Er hat das Gut hinter sich gelassen, ist nach Nürnberg gegangen und hat dort Abitur gemacht. Mein Großvater hat ihn daraufhin enterbt. Das war eine harte Geschichte. Dennoch ist die Verbindung zu seinem Elternhaus nicht ganz abgerissen. Die Familie hat – soviel ich weiß – den Aufenthalt in Nürnberg bezahlt. Auch die Miete für das Zimmer, in dem ich jetzt sein konnte. * Dass ich auf die Frage, ob ich Konrad Zehelein kannte, mit „Ja“ geantwortet habe, stimmte allenfalls insoweit, dass ich den Namen kannte. Tatsächlich und leibhaftig habe ich meinen Vater nicht kennengelernt. Ich bin 1940 geboren. Mein Vater ist 1941 im Krieg umgekommen. Dass er in Nürnberg gelebt hatte, habe ich wie so vieles andere nicht gewusst. Vom Wenigen, das ich aus Erzählungen meiner Mutter erfuhr, nur so viel: Mein Vater hat Kirchenmusik studiert und die Familie über einen Brotberuf bei der Allianz-Versicherung über Wasser gehalten. Aber seine Liebe galt der Musik. Er war mit Helmut Walcha befreundet, dem berühmten, früh erblindeten Organisten und Cembalisten, der später als erster das gesamte Orgelwerk von Bach bei der Deutschen Grammophon Gesellschaft eingespielt hatte. Von 1929 bis 1944 war Walcha Organist an der Friedenskirche in Frankfurt am Main.

Von daher muss ihn mein Vater gekannt haben. Vermutlich war es die Passion für Musik, die ihm später als Soldat der Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion indirekt zum Verhängnis wurde.

Auf einer Feldpostkarte – so erzählte uns unsere Mutter – beschwor er sie, die Noten, die Bibliothek und die Instrumente in Sicherheit zu bringen. Er habe von den zunehmenden Bombenangriffen gehört und es sei dringend, alles zu evakuieren und in den abgelegenen Westerwald zu bringen. Mein Vater hatte wohl die Möglichkeit, an Nachrichten zu kommen, die ohne propagandistische Schönrednerei offen und ungeschminkt über die tatsächliche Wirkung des Luftkriegs der Alliierten berichteten. Die Luftangriffe der englischen Royal Air Force auf Frankfurt begannen im Juni 1940. Mit dem Kriegseintritt der USA Ende 1941 kamen die amerikanischen Bomber dazu. Bis zum Kriegsende sollten es 17

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75 Luftangriffe werden, die auf Frankfurt niedergingen. Ausgerechnet auf einer Feldpostkarte, die bestimmt andernorts gelesen wurde, warnte mein Vater vor den Bombardierungen des Feindes und wollte sein geistig-musikalisches Hab und Gut davor in Sicherheit gebracht sehen. Unklar ist, was auf diese in den Augen der Nationalsozialisten „defätistische“ Feldpostkarte hin geschah. Es wird kolportiert, dass er, auch als ein Mitglied der Bekennenden Kirche, mit etlichen Freunden in eine Strafkompanie kam.

Danach verliert sich seine Spur. * Wir wohnten in Frankfurt-Niederrad, in der Nähe des Flughafens.

Meine Mutter hat es tatsächlich geschafft, mitten im Krieg einen Wagen zu besorgen und alle Bücher, Noten und Instrumente, wie mein Vater es gewünscht hatte, nach Eibelshausen im Westerwald – wir waren dort evakuiert – zu transportieren.

Eibelshausen hat im Krieg nur eine verirrte Brandbombe abbekommen. Und die ist in der Scheune auf dem Feld eingeschlagen, in der die Habe meines Vaters untergebracht war. Ab und an brachten uns die Bauern angekokelte Bücher und Noten, angesengte Teile der Bach-Ausgabe. Das ist, was meinem Bruder und mir vom musikalischen Erbe meines Vaters an materiellen Gütern geblieben ist. * Meine Mutter aber wollte das musikalische Vermächtnis meines Vaters unbedingt an uns, meinen älteren Bruder Hans-Dieter und mich, weitergeben. Also sollten die Söhne so früh wie möglich Klavierspielen lernen. Das war mein Einstieg in die Musik. Ich war sechs, als ich zu Frau Hensel kam. Frau Hensel hatte die Angewohnheit, bei einem falschen Fingersatz mit einem Lineal auf die Finger zu klopfen. Ich habe das drei Jahre durchgemacht, dann bin ich nicht mehr hingegangen. Das Dumme war, dass ich dem Unterricht heimlich ferngeblieben bin und als Beleg meiner weiteren Teilnahme am Klavierunterricht das Heftchen mit ihrer Unterschrift gefälscht habe. So hat meine Mutter im guten Glauben, dass ich weiterhin bei Frau Hensel Klavierspielen lernte, 18

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Else Stock, Theodor W. Adorno, anlässlich der internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt 1955. Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

ein paar Monate weiterbezahlt. Die Sache flog auf. Es gab einen Riesenkrach. Meine Mutter hatte viel Geld ausgegeben, von dem sie als Witwe nicht so viel hatte. Aber, und das zeigt ihre ganze Größe, sie hat am Ende eingesehen, dass es mit dieser Klavierlehrerin nicht weiterging, und gesagt: „Ich bin einverstanden, dass ihr da nicht mehr hingeht.“ Auch mein Bruder nicht, der hatte, fünf Jahre älter als ich, schon früher rebelliert. * Zugleich aber fühlte sich meine Mutter nach wie vor verpflichtet, dass wir weiterhin Klavier spielen. Es muss Ende 1949 oder ­Anfang 1950 gewesen sein, als sie in einem Konzert eine junge Pianistin aus Frankfurt hörte. Das war Else Stock. Sie war zu dieser Zeit Ende 20 oder Anfang 30, eine bedeutende Protagonistin der Neuen Musik. Ur- und Erstaufführungen von Klavierwerken des 20. Jahrhunderts machten einen wichtigen Teil ihres künstle­ rischen Schaffens aus. Sie war Dozentin an den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, mit Picasso soll sie befreundet gewesen sein.

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Meine Mutter ist nach dem Konzert schnurstracks in ihre Garderobe gegangen, um tollkühn zu fragen: „Ach, Fräulein Stock, ich habe zwei Söhne. Würden Sie die unterrichten?“ Frau Stock war total platt. „Unterrichten? Eigentlich nicht. Und schon gar nicht Kinder.“ Darauf meine Mutter – Else Stock hat mir das später in München erzählt – „Aber Fräulein Stock, wo Sie wohnen, das liegt doch auf dem Weg zu der Schule meiner Jungs.“ Else Stock war so perplex, dass sie sagte: „Naja, dann schicken Sie sie mal vorbei.“ Ich bin Else Stock zu großem Dank verpflichtet. Sie hat mir die Kunst der Musik offenbart – damit auch die Neue Musik. Sie war nicht nur eine ausgezeichnete Pianistin, sondern auch eine aufgeklärte Frau mit internationalen Verbindungen. Sie fuhr oft nach Paris.

Mein Bruder, schon in der Pubertät, hat sich sofort in sie verknallt. Else Stock war eine emanzipierte Frau inmitten des kleinbürgerlichen Muffs und Miefs der Nachkriegsjahre. Ich bin sehr froh, dass ich sie, Jahrzehnte später, wiedergesehen habe. Klaus Schultz, damals Intendant des Theaters am Gärtnerplatz, hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass Else Stock in München lebte. Ich habe mich mehrmals mit ihr getroffen. Sie war eine wunderbare, weltoffene Frau. * Mit 12 Jahren hatte ich einen schweren Unfall. Auf dem Gut meines Großvaters bin ich mit einem Zipfel meines Hemds in einen Treibriemen der Mühle geraten. Mehrere Monate lag ich im Krankenhaus in der kleinen Stadt Windsheim. Es stand Spitz auf Knopf. Als ich rauskam, war mein Pianisten-Traum zu Ende. Aber ich hatte überlebt. Meine Mutter, die mich fast jeden Tag besuchte, ist kurz danach mit 42 Jahren gestorben. Ich war dreizehn Jahre alt. Meine Mutter war eine offene, eine bewundernswerte Frau. Ein Teil der Verwandtschaft war pietistisch eingefärbt. Die Herrnhuter wurden hochgehalten. Billy Graham, der erzkonservative amerikanische Prediger, der auf seinen Tourneen Massenerweckungen ausgelöst hat, ist auch in der Familie auf positive Resonanz gestoßen. Ich 20

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musste weg. Hinzu kam, wie mein Klassenlehrer den Tod meiner Mutter kommentierte, als ich ihm den Brief meines späteren Vormunds gab. Er holte seinen Füllfederhalter aus dem Mäppchen: „Na, da wollen wir Sie im Klassenbuch ausstreichen, damit alles wieder seine Ordnung hat.“ Ich war ein guter Schüler. Ich wurde ein schlechter Schüler. Ich hatte die Schule gefressen. Ich wollte weg.

Mein Bruder und eine ältere Cousine bestärkten mich darin.

Wir fanden ein evangelisches Gymnasium mit Internat in Michelbach an der Bilz, ein musisches Gymnasium in der Nähe von Schwäbisch Hall. Dort habe ich die Aufnahmeprüfung gemacht und später auch das Abitur abgelegt. Das Gymnasium und das Internat haben mir gut gefallen. Es war eine Zeit neuer Erfahrungen und der Eröffnung neuer Perspektiven. Und bei Lieselotte Gierth und Gerd Lohmeyer, einem bekannten Klavierduo, konnte ich weiterentwickeln, was ich bei Else Stock erfahren und gelernt hatte.

Mein gesetzlicher Vormund war nach dem Tod meiner Mutter der Onkel Otto aus unserer Familie. Der besaß eine Lebensmittelfabrik. Als ich 16 Jahre alt wurde, hat er mich beiseite genommen: „Du machst deine Sachen ja jetzt schon ganz allein. Du brauchst mich eigentlich gar nicht mehr. Also wenn du es möchtest, mache ich weiterhin den Vormund für dich. Aber ich bin dafür, dass du selbstständig wirst.“ Dafür war ich auch. Selbstständig sein, das hieß, für volljährig erklärt zu werden. Onkel Otto hatte sich erkundigt, dass das auch mit 16 Jahren ging. Dafür musste man aufs Amtsgericht und eine Prüfung durchlaufen, ob man die erforderliche Reife hat. Die hatte ich und so wurde ich mit 16 Jahren für volljährig erklärt. Das war ein großer Schritt. Denn das „normale“ Alter für Volljährigkeit lag damals noch bei 21 Jahren. Mit 16 Jahren durfte ich nun alle meine Angelegenheiten selbst regeln. Ich war geschäftsfähig. Nur wählen durfte ich nicht.

Die Bestätigung der Eigenverantwortlichkeit, die ich in jungen Jahren erlangt hatte und die mir amtlich beglaubigt wurde, war ein ganz wichtiges, entscheidendes Ereignis in meinem Leben. Ich hatte früh gelernt, Verantwortung für mich zu übernehmen. Und so konnte und wollte ich das später auch für andere tun.

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* Nach dem Abitur in Michelbach kam ich zum Studium nach Frankfurt. Ich hatte eine andere Cousine namens Roswitha. Sie studierte bereits bei Adorno und beschwor mich: „Du musst sofort zum Teddy kommen. Der macht gerade Hegel.“ Teddy war der Spitz- und Kosename von Theodor W. Adorno: Komponist im Horizont der zweiten Wiener Schule, Professor für Philosophie und Soziologie, Musikwissenschaftler und Musikkritiker mit drei luziden Monographien zu Richard Wagner, Gustav Mahler und Alban Berg. Er war zusammen mit Max Horkheimer aus dem Exil in den USA in seine Heimatstadt Frankfurt zurückgekehrt. Seine Vorlesungen und Seminare am Frankfurter Institut für Sozialforschung, dessen Direktor er seit 1958 war, fanden regen Zulauf unter den Studierenden im nach-nationalsozialistischen Deutschland. Adorno machte also, wie meine Cousine mir mitteilte, zu der Zeit „gerade Hegel“. Die politische Brisanz dieses Unternehmens war mir nicht sofort bewusst. Die Auseinandersetzung mit dem Werk von Georg Friedrich Hegel bildete für Adorno die Basis seiner Idee einer negativen Dialektik. In seinem gleichnamigen philosophischen Hauptwerk, das 1966 erschien, entfaltet Adorno die Bewegung eines Denkens, das sich dem Bestehenden gegenüber kritisch entgegen- und aussetzt, ohne von dort aus über­ zulaufen in den vermeintlichen Schutz einer neuen, als positiv behaupteten Ordnung. Mit dem Konzept der negativen Dialektik begründete Adorno das Denken der „Kritischen Theorie“. Unter den Studierenden hatte Adorno damit eine intellektuelle Bewegung ins Leben gerufen und die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule, wie der Kreis um Adorno und Max Horkheimer genannt wurde, als geistige Lebensform etabliert.

Ich hatte nichts von Hegel gelesen und kannte von Adorno nur die „Philosophie der neuen Musik“. Nach dem ersten Semester gestand ich meiner Cousine: „Du, ich komme da nicht ganz mit.“ Sie schlug vor, ich solle doch zu Teddy gehen und ihn direkt fragen, was ich lesen soll. Einfach so zu Adorno gehen? „Nein“, sagte ich, „das kann ich nicht machen.“ „Natürlich machst du 22

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das. Du meldest dich bei seiner Sekretärin Frau Olbrich an, dann kriegst du vier Wochen später einen Termin bei ihm.“ Nun war ich aber, wie es sich herausstellte, Adorno bereits vom Testieren, dem üblichen Einholen der Unterschrift des ­Dozierenden als Bestätigung der Teilnahme an ihren Veranstaltungen, bekannt. Dabei war Adorno aufgefallen, dass ich Musikwissenschaft studierte. Er hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass er ein Seminar über Musiksoziologie plane und ihm dabei musikalischer Sachverstand durchaus willkommen wäre.

Denn die Soziologen, so sagte er, hätten ja wenig Ahnung von Musik. Kurz: Adorno wusste, als ich zu ihm in die Sprechstunde kam, ungefähr, mit wem er es zu tun hatte.

Adorno fragte nach meinen Studien und ich erwähnte, dass ich seine „Philosophie der neuen Musik“ gelesen hätte. Daraufhin er: „Was hat Sie nach der Lektüre besonders beschäftigt?“ Ich erinnere mich an das nachfolgende kurze Gespräch nur ungenau, da ich sehr aufgeregt war. Ich antwortete, dass ich mit dem Begriff des „musikalischen Materials“ und dem damit zusammenhängenden Begriff des Fortschritts meine Schwierigkeiten hätte und ich die Dichotomie – Schönberg, der Fortschritt, und Strawinsky, die Reaktion – nicht nachvollziehen könne. Beide seien doch wunderbare Komponisten. Ich glaube, er sprach dann von deskriptiver und struktureller Unterscheidung. Zum ersten Mal vernahm ich in einem philosophischen Diskurs den Begriff des Pluralismus. Ich denke, mein Übervater war mir sehr zugewandt und ging nachsichtig mit mir um.

Nun aber war ich wegen Hegel hier. Adorno arbeitete zu der Zeit an den drei „Studien zu Hegel“ (1963), einer wichtigen Vorarbeit zur „Negativen Dialektik“. Auf meine Frage, was ich denn von Hegel am besten lesen solle, gab er mir den entschiedenen Rat: „Fangen Sie bloß nicht mit der ‚Wissenschaft der Logik‘ an!

Ich muss Ihnen sagen, das ist auch für mich immer noch schwer zu begreifen, was er eigentlich damit wollte. Lesen Sie ‚Die Phänomenologie des Geistes‘. Wer Hegel ist und was Dialektik wirklich heißt, erfahren Sie dort.“ Daran habe ich mich gehalten. Und war 23

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damit im Seminar von Adorno aufgenommen. * In den deutschen Universitäten der 1950er und 1960er Jahre gab es eine Mischung aus wenigen Remigrant:innen und einer Menge von Wissenschaftler:innen, die durch ihre Tätigkeit im Nationalsozialismus hoch belastet waren. Das erfuhr ich selbst in meinen Studienfächern Musikwissenschaft und Geschichte. Neben dem jüdischen, ins Exil getriebenen Gelehrten Theodor W. Adorno stand der Ordinarius für die Landes- und Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Walter Schlesinger. Schlesinger war seit 1929 Mitglied der NSDAP und arbeitete im Zweiten Weltkrieg an dem Projekt „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ mit. Wegen seiner Parteimitgliedschaft wurde er zwar 1945 zunächst aus dem Hochschuldienst entlassen, machte aber im Kalten Krieg in der jungen Bundesrepublik Karriere. Von 1959 bis 1964 hatte er in Frankfurt einen Lehrstuhl inne. Schlesinger war der Ordinarius, auf dessen Anregung hin ich nach Nürnberg kam, um über die Politik der Reichsinsignien und Reichsreliquien zu forschen. Ich weiß nicht, ob mir die braune Vergangenheit meines Geschichtsprofessors damals schon bekannt war. Entscheidend war für mich zu der Zeit etwas anderes: dass er nämlich ganz nach dem Gusto alter Ordinarien-Herrlichkeit die Studierenden und Mitarbeitenden gründlich ausnutzte und die Ergebnisse ihrer Arbeit unter seinem Namen veröffentlichte. Ich habe das Studium im Fach Geschichte abgebrochen. * Ungebrochen bedeutsam blieb für mich meine Liebe zur Musik.

Von Frankfurt aus besuchte ich die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Auch Klavierunterricht hatte ich wieder. Bei Frau Lu Kahn. Die war unglaublich. Ich habe ihr Brahms und Schönberg vorgespielt, Opus 19 von Schönberg und die große g­ -Moll-Ballade von Brahms. Sie hat sich das aufmerksam angehört und dann gesagt: „Ja, Klaus, das ist ja alles ganz schön, aber ich schlage jetzt mal etwas vor. Versuchen Sie doch, Brahms wie Schönberg und Schönberg wie Brahms zu spielen.“ Das war eine Erfahrung fürs 24

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Leben: Die Klavierballade des 19. Jahrhunderts durch die Avantgarde des 20. Jahrhunderts, durch Schönberg, hindurch zu hören, zu verstehen und zu gestalten und in Schönberg die Erinnerung an Brahms freizusetzen, die Tradition nicht historistisch zu ­konservieren, sondern sie aus der Perspektive der Moderne zu verstehen und von der Moderne aus auf die ­Tradition zu blicken – diese Überblendung von Geschichte und Gegenwart, Tradition und Moderne, sollte wegweisend werden für meine spätere dramaturgische Arbeit.

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KIEL

1967 ERHIELT ICH einen Anruf aus Kiel von einem Freund, mit dem ich zusammen studiert hatte. Jetzt war er Regieassistent am dortigen Theater. Sie suchten, so der Freund, dringend einen ­Dramaturgen, er habe mit dem Intendanten Herrn Dr. Joachim Klaiber bereits kurz gesprochen und vielleicht wäre es gut, wenn ich da mal anriefe. Ich bin dem Rat gefolgt und habe den Intendanten auch erreicht. Der musste sowieso nach Wiesbaden und so haben wir ein Treffen im Frankfurter Bahnhofsrestaurant verabredet. Weil die Züge auch damals schon mit Verspätung kamen und die Zeit für ein Gespräch knapp wurde, bin ich einfach mit nach Wiesbaden gefahren. Im Zug sagte mir Klaiber nur, dass er sich über mich erkundigt habe und wolle, dass ich nach Kiel komme. Nicht mehr. Erst später sollte ich erfahren, wer da vermittelnd die Hände im Spiel gehabt hatte. Freilich wollte Klaiber mich nicht ohne Rücksprache mit Mario Krüger engagieren. Der war zu der Zeit Chefdramaturg in Kiel. Später Intendant, u. a. in Braunschweig, ein Mann, der sich sehr für den Aufbau des Kinder- und Jugendtheaters an den Häusern einsetzte. Der war gleichfalls einverstanden damit, dass ich ans Haus komme und so bin ich kurzerhand und umstandslos am Theater Kiel als Dramaturg gelandet. * Zu Hause in der Frankfurter philosophisch-musikalischen Szene um Adorno samt der Nähe zu den Darmstädter Internationale[n] Ferienkurse[n] für Neue Musik war ich doch sehr gespannt, was mich in der Provinz im hohen Norden erwartet. Als ich dann dort in die Straßenbahn steige, ist das erste, was ich sehe, eine Reklame 27

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des Theaters: „Spar‘ am Kotelett, geh‘ in Hamlet!“ Ich dachte, ich kehr‘ sofort um. Hier in der Tram sprang mir der affirmative Charakter der Kultur, den Herbert Marcuse kritisiert hatte, direkt in die Augen: die Behauptung eines besseren und höheren Reichs der Kunst, der alltäglichen Wirklichkeit entrückt und dadurch alles, was es dort an Unrecht, Gewalt und Leid gibt, stillschweigend hinzunehmen. Ich hatte im Schauspiel Frankfurt unter der Generalintendanz von Harry Buckwitz aufregende Inszenierungen gesehen. Das bleibende Verdienst dieses großen Theatermannes ist sein Engagement für das Theater von Brecht mitten im Kalten Krieg – zu einer Zeit, als die CDU Brecht noch auf eine Stufe mit Horst Wessel stellte. Mit dem Erfahrungshorizont der Theaterarbeit von Schauspiel und Oper Frankfurt kam ich nach Kiel. Und fand dort in der Straßenbahn, dass Kiel allenfalls als Sprungbrett in die Ostsee taugte. Ich war geschockt. * Glücklicherweise hat sich der Schock rasch verflüchtigt, als ich die Straßenbahn verließ und ins Theater kam. Ich hatte ein gutes ­Gespräch mit Joachim Klaiber und Mario Krüger. Die peinliche Reklame in der Straßenbahn, so wurde mir von beiden glaubhaft versichert, war noch eine Altlast des vorigen Dramaturgen, dessen Vertrag nicht verlängert worden war und an dessen Stelle ich treten sollte. Sie würde gleichsam über Nacht verschwinden. Und dann erfuhr ich, was ein Theater in der Provinz zu leisten vermag. * Ja, die Bühnen der Landeshauptstadt Kiel, wie die Stadt ihr Theater damals etwas geschwollen nannte, lagen weitab vom Schuss.

Aber es war ein Theater in der Provinz mit einem eigenen, ­unbeirrbaren Anspruch: ein Theater auf der Höhe der Zeit zu sein. Auch heute noch finde ich den Spielplan dieser Zeit – es waren die 1968er Jahre, die Zeit der Studentenbewegung – ganz erstaunlich. Kiel spielte eben nicht das sattsam bekannte Repertoire rauf und runter. Da war viel Neues, die Stücke von Kroetz zum Beispiel. Ein besonderer Fokus lag auf der zeitgenössischen englischen Theaterliteratur, also auf den Dramen von John Osborne, 28

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Joe Orton, Arnold Wesker, Edward Bond u. a. Auf Stücken also, die den Protest der angry young men mit einem unverstellten Blick auf das soziale Elend der britischen Gesellschaft verbanden.

Helmut Geng, dem Oberspielleiter in Kiel, war sehr daran gelegen, dass diese Stücke in Kiel ins Repertoire kamen. Das fand ansonsten nur an einem Haus wie Stuttgart statt, wo der Brechtschüler Peter Palitzsch seit 1966 Schauspieldirektor war. * Unter Palitzschs Regie wurde in Stuttgart am 9. November 1968, zum 50. Jahrestag der Revolution von 1918, Tankred Dorsts szenische Revue „Toller“ uraufgeführt. Das Stück über die Münchner Räterepublik war vielleicht das wichtigste Theaterereignis der 1968er Zeit. Denn es brachte dem Publikum der Nachwirtschaftswunderzeit ein verschüttetes, verdrängtes Ereignis der deutschen Geschichte zurück: eine Revolution in Deutschland mitten im reaktionären München, die Auseinandersetzungen und Konflikte unter der heterogen zusammengesetzten Gruppe der Revolutionäre und die blutige Niederschlagung der Räterepublik. Ich war begeistert von dem Stück und habe auch einen entsprechenden Text für den Hausgebrauch des Theaters verfasst und für das Stück votiert. So fand dieses brisante Stück kurz nach der Stuttgarter Uraufführung seinen Weg nach Kiel. Das Theater Kiel war, wenn ich mich recht erinnere, das erste Theater, das „Toller“ nachgespielt hat. Es nachzuspielen hieß für mich nun allerdings nicht, der Dramaturgie des Stücks blind zu folgen. Im Zentrum steht bei Dorst der (historische) Dichter Ernst Toller, der 1919 nach der Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner zusammen mit Gustav Landauer, Erich Mühsam und anderen die Münchner Räterepublik gründete. Dorsts Thema ist der Künstler und Intellektuelle im Widerstreit mit der Politik.

Tollers Gegenspieler im Stück ist der von der KPD nach München entsandte Kommunist Eugen Leviné, den Dorst als skrupellosen Apparatschik zeichnet. Nach historischen Quellenstudien, die ich vorgenommen hatte, fand ich das eine doch recht holzschnittartige Gegenüberstellung eines gedankenschweren Idealisten mit dem 29

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eiskalten Kommunisten. Die wollte ich angesichts der Verdienste des Stücks nicht unkommentiert lassen. Daher kam mir der Plan einer Ausstellung im Theater und um das Stück herum, die die dramaturgische Konstruktion des platten Gegensatzes unterlaufen und die historischen Ereignisse um die Münchner Räterepublik differenziert darstellen sollte. * Das Stück zusammen mit der Ausstellung könnte eine Debatte über die deutsche Geschichte im Publikum anstoßen, die vom Theater ausgehend über das Theater hinausging – so mein Gedanke damals. Nur dass so etwas nicht vorgesehen war im deutschen Stadttheater. Bislang. Ich ging zum Intendanten. Joachim Klaiber war ein Schwabe, der mich stark geprägt hat. Durch seine schwäbische Sparsamkeit, aber mehr noch durch seine Redlichkeit, mit der er mit mir und dem Theater umgegangen ist. Das war ungewöhnlich in der Zeit der Patriarchen am Theater. * Ich gehe also zu Klaiber und sage, ich möchte eine Ausstellung machen über die ganze Problematik des Soldatenrates und zentral über die bayerische Geschichte. Wir sind ja hier in Kiel, wo die Revolution mit dem Streik der Matrosen angefangen hat. Darauf er: „Ja, das kostet doch Geld.“ Das war seine schwäbische Seite. Darauf ich: „Ja, natürlich kostet es Geld. Ich kann euch nicht sagen, wie viel.“ Und er: „Irgendeine Summe musst du doch nennen, wenn ich mit dem Verwaltungsdirektor reden soll.“ „Na ja“, sagte ich, „ich nehme mal an, so 1.000 bis 2.000 DM.“ Klaiber darauf: „Das geht gar nicht, das ist ja so viel wie eine Ausstattung im Studio, dann kann ich ja gleich eine neue Produktion machen.“ * 2.000 DM – das war viel Geld am Theater in dieser Zeit. Aber, da kommt die Redlichkeit von Klaiber ins Spiel, er wollte sich doch einigen mit mir. So kam die Ausstellung schließlich im Foyer des Schauspielhauses zustande. Und die Frankfurter Rundschau schrieb: „Der Atem der Revolution weht im Foyer.“ Da hatte ich meine Abstemplung weg. Zehelein, der linke Revolutionär.

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Carla Henius, Joachim Klaiber, der mit dem Großen Verdienstkreuz ausgezeichnet wird. Foto: Friedrich Magnussen

Joachim Klaiber und Klaus Zehelein. Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein 31

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„Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ – das hat die CDU schon 1953 plakatiert. Und auch in den 1960er Jahren stand „der Iwan“ praktisch vor der Tür. Deshalb war es für mich wichtig, die Figur des Eugen Leviné im „Toller“ von Tankred Dorst historisch zurechtzurücken und vom antikommunistischen Stereotyp zu befreien. Als ich Ende der 1960er Jahre nach Kiel kam, wurde viel von der „Politisierung“ des Theaters gesprochen.

In Kiel äußerte sich das zum einen durch die Aufführung von zeitgenössischen Stücken wie „Toller“, aber auch sehr praktisch durch die Einführung einer Produktionsdramaturgie. Da waren Diskurse möglich, die auch nachmittags stattfanden oder abends oder nachts. Es war so etwas wie ein kleiner Aufbruch, den wir gemeinsam wagten. Das Kieler Theater war einfach wacher als andere. Und ich glaube, das kam von Klaiber. * Die Gespräche in der Dramaturgie räumten uns Zeit ein, auch über die älteren Stücke neu nachzudenken und nach zeitgenös­ sischen Aufführungsmöglichkeiten zu suchen. Ein Beispiel: ­Gerhart Hauptmanns Drama über den Aufstand der schlesischen Weber 1844 am Beginn der Industrialisierung in Deutschland.

Hauptmanns „Die Weber“ gilt als Paradebeispiel des Naturalismus auf dem Theater. Präzise Milieubeschreibung und eine von Dialekt und Soziolekt geprägte Sprache zeichnen es aus. Uns war rasch klar, dass wir nicht erst versuchen sollten, die Elendsgestalten und Hungerleidenden des 19. Jahrhunderts durch die zwar nicht auf Rosen gebetteten, aber doch sozial gesicherten Schauspieler:innen des Kieler Theaters mehr schlecht als recht kopieren zu lassen. Das würde in Kitsch und Unwahrheit enden. Stattdessen haben Andreas Weißert, der Regisseur der Aufführung, und ich als Dramaturg beschlossen, das Stück zu episieren und zu historisieren. Wir suchten authentisches Material, historische Quellen aus der Zeit des Weberaufstands wie Friedrich Wilhelm Wolffs „Das Elend und der Aufruhr in Schlesien“ und Alexander Schneers Bericht „Über die Not der Leinen-Arbeiter in Schlesien und die Mittel ihr abzuhelfen“, dazu Texte von Heinrich Heine, 32

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Szenenbild Gerhart Hauptmann „Die Weber“. Klaus Zehelein als Hauslehrer der Familie Dreissiger (ganz rechts). Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

Karl Marx u. a. Schließlich haben wir zwei Pulte rechts und links auf die Bühne gestellt und Andreas Weißert und ich haben Auszüge aus diesen Texten sozusagen als Zwischenakte vorgelesen.

Auf diese Weise entstand eine Spannung zwischen den gespielten Szenen und den nicht nachgespielten, sondern vorgetragenen Aussagen. Und aus der Reibung zwischen der vergegenwärtigenden Darstellung der Schauspieler:innen, die das Publikum ‚mitnehmen‘ sollte, und den distanzierenden Kommentierungen von den Lesepulten aus entzündeten sich Funken, die die ursprünglich naturalistisch angelegte Szenerie immer wieder in einem ­neuen Licht erscheinen ließen. * Dass diese Aufführung eines Klassikers des sozialen Dramas im ­Kieler Theater Aufsehen erregte, hatte sich bis ins entfernte Berlin herumgesprochen. An der Freien Universität hatten linke Studierende der Germanistik sich zu der „Rote[n] Zelle Germanistik“, abgekürzt „Rotzeg“, zusammengeschlossen. Als die Kunde zu ihnen 33

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Produktion eines der ersten Programmhefte, Kiel 1967.

Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

drang, dass sich in Kiel – nach dem Matrosenaufstand 1918 – wieder etwas tat, diesmal im Theater, hatten sie spontan beschlossen, einen revolutionären Besichtigungsbesuch zu unternehmen. Sie wollten wohl sehen, ob wir das „richtig“ machen im Sinne der Lehre. Und waren von der Aufführung durchaus angetan. Weniger angetan war man von diesem Besuch in Kiel. Außerhalb des Theaters wurde das von einigen so gedeutet, als wenn wir – also das Kieler Theater – Parteigänger dieser Gruppierung wären. * „Sympathisant der Roten Zelle“ – das war ein überraschend neues Etikett, das ich damit angehängt bekommen hatte. Denn weil ich auch Operndramaturgie machte und mich für ein zeitgenössisches Musiktheater einsetzte, war ich kurz zuvor aus dem linken Lager noch als „Bourgeois“ tituliert worden. Nun konnte ich es mir aussuchen, was ich sein wollte: Revoluzzer oder, als ein Mann der Oper, Verteidiger des bürgerlichen juste milieu. Mir hat das gezeigt, wie schnell das Bild, das sich andere von einem machen, in der öffentlichen Wahrnehmung wechseln kann. * 34

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Wir waren keine Parteigänger der Roten Zellen. Aber wir waren nicht blind gegenüber den sozialen Problemen und politischen Konflikten der Zeit. Mich hat besonders die Arbeitswelt interessiert. Und das Schauspiel der 1950er und 1960er Jahre mit den englischen Stücken des kitchen sink realism und der angries wie Arnold Wesker, John Arden, John Osborne und anderen war nicht so weit weg von dieser Welt. Mir schwebte ein Arbeitertheater vor, aber diese Idee hat sich zerschlagen. Dafür gab es einen mächtigen Einbruch der Realität ins Theater: der Septemberstreik der Stahlarbeiter von 1969. Das waren sogenannte ­ „wilde Streiks“, weil sie ohne die Gewerkschaften von der Basis der Arbeitenden selbst kamen. * Die Gewerkschaften waren in der ersten Rezession der Bundesrepublik durch die Konzertierte Aktion von 1967 in einen „Stabilitätspakt“ mit den Unternehmern eingebunden und konnten Reallohnverluste nicht verhindern. Die wiedereinsetzende Konjunktur brachte vor allem der Stahlindustrie hohe Gewinne. Die Stahlindustrie war in einem totalen Boom und die Arbeiter haben sich mit Recht übervorteilt gefühlt. In dieser Situation hat die ­Gewerkschaft einem Abschluss zugestimmt, der untragbar war.

Die Tarifverträge hatten eine lange Laufzeit, die Lohnerhöhungen waren extrem niedrig angesichts der guten Konjunktur und der hohen Dividenden. Daraufhin begannen die „wilden Streiks“, ­zunächst im Ruhrgebiet, von dort aus griffen sie wie eine Lawine auf andere Städte über. Auch auf Kiel. In der Kieler HowaldtswerkeDeutsche Werft AG traten über Tausende Arbeiter in den Streik und wurden daraufhin ausgesperrt. * Die hatten nicht mal die Möglichkeit, Flugblätter zu drucken.

Also kamen sie zu mir. Wir kannten uns gut. „Mensch, habt ihr nicht Vervielfältiger für Matrizen?“ Matrizendrucker waren damals die einzige Möglichkeit, Flugblätter ohne offiziellen Druckauftrag herzustellen. Wir hatten die. Und klar haben wir das gemacht. Fünf Leute kamen am späten Abend und nachts haben wir Flugblätter 35

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abgezogen. Aber die Sache flog auf. Es kam raus: Städtisches Eigentum für einen „wilden Streik“ zweckentfremdet! Das ging natürlich gar nicht. Das hat einen Aufruhr gegeben ohnegleichen. Klaiber, der Intendant – wir waren inzwischen befreundet – rief mich zu sich und sagte: „Du weißt, dass ich dich kündigen muss. Fristlos.

Aber ich will das nicht. Also warten wir mal ab.“ Zwei Tage später war wieder eine Riesendemonstration. Und an der Spitze des Zugs durch ganz Kiel vorneweg der Oberbürgermeister und die Gewerkschaft mit wehenden Fahnen. Die wussten, dass sie die Streiks nicht mehr einfangen konnten, und haben sich buchstäblich an die Spitze der Bewegung gesetzt. Mein Problem hatte sich erledigt. Das war eine wichtige soziale Erfahrung, die ich in Kiel, der Stadt des Matrosenaufstands von 1918, gemacht habe. * Auch im Künstlerischen hat mich eine Erfahrung stark geprägt und ist wegweisend für meine spätere Arbeit geworden: Im ­Rahmen der Kieler Woche 1968 fand die Uraufführung von Dieter Schönbachs Multimedia-Musik-Theaterstück „Die Geschichte vom Feuer“ statt. Vier zeitgenössische bildende Künstler haben daran mitgewirkt: Otto Piene, Bernd Völkle, Edmund Kieselbach und Günter Weseler. Sie haben den Text von Elisabeth Borchers und die Musik von Schönbach nicht einfach illustriert, sondern einzelne Abschnitte des Werks übersetzt in die Eigendynamik ihrer Kunst. Das Ergebnis war ein kinetisch-optisches Gesamtkunstwerk, das mich stark beeindruckt hat. * Das Kieler Publikum war gegenüber dieser Form eines zeitgenössischen Musiktheaters gespalten. In einem Beitrag zu Theater in Kiel, der Theaterzeitung der Bühnen der Landeshauptstadt Kiel, wie der vollständige Untertitel gewichtig lautete, sah ich mich im Juli 1968 genötigt, auf Zuschriften wie diese einzugehen: „Leute, die so etwas machen, sollte man erschießen und die, die das auch noch aufführen, sollte man ins Irrenhaus einsperren.“ Ich versuchte zu erklären, dass die Arbeit an einem zeitgenössischen Musiktheater nicht, wie vielfach unterstellt, der Egozentrik und 36

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„Die Geschichte von einem Feuer“, Musikalisches Theater von Dieter Schönbach, UA Kiel 1968, oben: Szene aus dem dritten Bild „Zeit des Herodes“ (Edmund Kiesel­bach), Mitte: Szene aus dem fünften Bild „Zeit der Inquisition“ (Otto Piene), unten: Szene aus dem siebten Bild „Zeit der Massengräber“ (Günter Weseler).

Fotos: Theaterarchiv Kiel e.V. 37

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dem Narzissmus der Künster:innen entspringt, denen die Werke der Vergangenheit nicht mehr genügen, sondern gerade der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Tradition, die auch in der Avantgarde wiederkehrt. Ob das auf offene Ohren gestoßen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Immerhin vermerkte ich am Ende: „Erfreulich ist, dass uns auch sehr viele Zuschriften erreichten, die das Maß an Offenheit gegenüber diesen Werken (es ging neben Schönbach auch um Mauricio Kagel) zeigten, das notwendig zu deren Erfahrung ist.“ * Die Idee eines eigenständigen, nicht dienenden Zusammenwirkens der Künste, wie sie die Aufführung von Schönbachs multi- und transmedialem Musiktheater artikulierte, hat mich auch später begleitet. Für die „Parsifal“-Inszenierung von Ruth Berghaus wollte ich ursprünglich Anselm Kiefer gewinnen. Berghaus und ich haben ihn in seinem Atelier in einer Kleinstadt im Odenwald besucht. Das Atelier war eine aufgelassene Renault-Werkstatt. Der Witz war, ­Kiefers Vater war der Kunstlehrer meiner Frau Marianne gewesen.

Es gab sozusagen einen Vorkontakt. Aber dann bekam Kiefer die erste große Ausstellung in Berlin. Und dann ist es so gekommen wie Jahre später mit Gerhard Richter. Es gibt einen Brief, in dem ich ihn anfrage, ob er einen Teil des „Ring“ machen will. Aber er war da schon auf dem Weg zum ganz großen Star und hatte wie Kiefer eine Menge zu malen. Beide sind durchgestartet, als ich angefragt habe. So hat sich das zerschlagen. Aber mein Eintreten für starke, eigenständige bildende Künstlerinnen und Künstler hat damit nicht aufgehört. Und Namen wie u. a. Axel Manthey, Anna Viebrock, Jens Kilian, Alfred Hrdlicka, Karl Kneidl und Bert Neumann, die unsere Arbeiten in Frankfurt und Stuttgart nachhaltig geprägt haben, zeugen davon. * Prägend war auch die Begegnung mit Hans Zender und Lothar Zagrosek. Als ich in Kiel ankam, war die musikalische Leitung am Theater nicht so aufregend. Das änderte sich, als 1969 der Komponist und Dirigent Hans Zender Generalmusikdirektor in Kiel 38

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wurde. Chordirektor war damals Lothar Zagrosek. Hinzu kam Carla Henius. Sie war nicht nur die Frau des Intendanten, sondern mehr noch und vor allem eine berühmte Sängerin, Mezzosopranistin. Sie hatte sich ganz der Verbreitung der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts von Schönberg bis Stockhausen und Nono verschrieben. Dieter Schnebel hatte für sie komponiert. In Kiel hatte sie einen Abend mit Liedern von Adorno gegeben. Mit Carla Henius, mit Hans Zender, Lothar Zagrosek und mir gab es also am Kieler Theater plötzlich eine Art pressure group, die sich entschieden für die Neue Musik und ein zeitgenössisches Musiktheater einsetzte. Rasch kam die Idee eines Opernstudios unter uns auf und Henius sowie Zender waren die treibenden Kräfte bei seiner Einrichtung. Das Opernstudio sollte keine Spielwiese für die Sängerinnen und Sänger des Ensembles werden, sondern sich dezidiert der Neuen Musik und den Möglichkeiten ihrer theatralen Performance widmen. Das war zu der Zeit unerhört (und ist es heute leider wieder), zumal an einem Haus in der (zu Unrecht) geschmähten Provinz. Dazu später mehr. Raum für ein Opernstudio gab es im Dreispartentheater Kiel keinen mehr. Also haben wir uns auf die Suche gemacht. Und wurden fündig in der Universität. Auf deren Campus fand sich ein kleines Theater, das als Hörsaal diente. Mario Krüger führte als Chefdramaturg die Verhandlungen mit der Universität und Dr. Klaiber stand als Intendant voll hinter dem Projekt und gab Geld dafür. So konnten wir dort unser Opernstudio einrichten. Für uns war es ein Feld zum Ausprobieren, ein Experimentierraum. Vier Aufführungen haben wir gemacht – mit Werken von Mauricio Kagel, Rolf Riehm und Wolfgang Rihm. Ohne das Engagement von Henius, Klaiber, Zender und Zagrosek wäre dieses frühe exemplarische Opernstudio nicht zustande gekommen.

Mit Carla Henius und Joachim Klaiber sollte es später in Stuttgart zu einem in jeder Hinsicht überraschenden Wiedersehen kommen. Hans Zender und Lothar Zagrosek haben mich auf meinen weiteren Stationen begleitet. Hans Zenders Oper „Stephen Climax“ 39

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haben wir 1986 an der Oper Frankfurt uraufgeführt (Regie Alfred Kirchner, Dirigat Peter Hirsch), „Don Qijote de la Mancha“, seine zweite Oper, kam 1993 in Stuttgart zur Uraufführung (Bild und Regie Axel Manthey, Dirigat Bernhard Kontarsky). Lothar Zagrosek, um auf den zweiten Bekannten und Freund aus Kieler Tagen zu kommen, war von 1997 bis 2006, während meiner Intendanz, Generalmusikdirektor an der Oper Stuttgart. In dieser Zeit wurde er von der Zeitschrift „Opernwelt“ zweimal zum „Diri­genten des Jahres“ gewählt. Großen Anteil hatte er am Zustandekommen der Aufführung von Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Die Verbindung mit Zender und Zagrosek hat sich über die Jahre gehalten. Nicht wegen der „guten alten Zeiten“ in Kiel, sondern weil beide herausragende Künstler und Menschen waren, die meine Vorstellung von einem zeitgenössischen Musiktheater teilten und meine Arbeit durch die Jahre hindurch bereicherten. * In Kiel zeichnete sich allerdings schon ab, dass meine Idee von Dramaturgie bei vielen auf entschiedene Ablehnung stoßen sollte.

Präzise Lektüre und nochmalige Lektüre, bis – mit einem Wort von Jean Starobinski – „der Text die Augen aufschlägt“, stießen über die Jahre hinweg auf den Widerstand derer, die genau zu wissen glaubten, wie ein Text, eine Partitur traditionell-konventionell zu interpretieren sei. Als in Kiel Goethes „Iphigenie auf Tauris“ gespielt werden sollte, gab ich dem dafür vorgesehenen Regisseur – der Name tut nichts zur Sache – zur Vorbereitung der Inszenierung den damals gerade erschienenen Vortrag von Adorno: „Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie“. Adorno hatte ihn im Sommer 1967, auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung, auf Einladung von Peter Szondi in Berlin gehalten. Der Text widerlegt die gängige Vorstellung des Klassischen als Feier eines ahistorischen Allgemeinmenschlichen und folgt den Abgründen unversöhnter mythischer Gewalt unter der Oberfläche des vermeintlich „verteufelt humanen“ Stücks. Adornos Aufsatz hat sich in den späteren Inszenierungen von Hans Neuenfels in Frankfurt 1979 40

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und von Claus Peymann in Bochum 1984 niedergeschlagen. Sein Text gehört zum Kern eines Denkens, das sich in der Ausein­ andersetzung mit dem Mythos immer wieder neu und anders entfalten kann. Nicht so in Kiel. Von dem Regisseur, dem ich Adornos Text gegeben hatte, hörte ich erst einmal nichts. Später, als ich aus Versehen die Bühnen-Mithöranlage nicht ausgeschaltet hatte, hörte ich besagten Regisseur der „Iphigenie“ sagen: „Der Zehelein, der ist der intellektuelle Totengräber des Theaters. Der hat mir einen Text gegeben, so etwas Furchtbares habe ich noch nicht gesehen.“ Da war ich also der intellektuelle Totengräber des Theaters. Das habe ich mir gerne angezogen. Es gab seinerzeit noch die Tendenz in vielen Theatern, Intellektualität für etwas furchtbar Anstößiges zu halten – gegenüber der vermeintlich „unmittelbaren Sinnlichkeit des Bauches“ und wie die Phrasen alle hießen. Dieser Tendenz wollte ich gerne entgegenarbeiten. * Die Feindschaft gegenüber Intellektualität im Theater hat etwas abgenommen, hält sich aber hartnäckig. Ihr Kern ist die Verweigerung, einen Text genau zu lesen und so dem Stück, ob Sprechtheater oder Oper, neue, überraschende Erfahrungen abzuge­ winnen. Es ist die Anmaßung des angeblichen ­Bescheid-Wissens, ohne tatsächlich die Mühe der intellektuellen Arbeit auf sich genommen zu haben, die mir in meiner Tätigkeit an unterschiedlichen Orten und Einrichtungen wieder und wieder begegnet ist.

Gustav Mahler wird, als er Direktor der Wiener Hofoper war, der Satz zugeschrieben: „Tradition ist Schlamperei.“ Ich fühle mich ihm sehr nahe. * Zu guter Letzt holte mich Adorno auch in Kiel wieder ein. Allerdings wurde mir das erst Jahrzehnte später bewusst. Ich sitze zur Zeit meiner Intendanz an der Oper Stuttgart auf der Premierenfeier zu „Così fan tutte“. Mit am Tisch sitzen Dr. Joachim Klaiber und Carla Henius, die ich eingeladen hatte. An dem großen Tisch sitzen Mitglieder der Produktion, an die 20 Leute. Da sagt der Klaiber plötzlich: „Ach Klaus, weißt du eigentlich, warum du letztlich nach 41

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Kiel gekommen bist?“ Und ich: „Ja, klar. Wir beide haben doch ausführlich geredet und sind dann übereingekommen.“ „Ja, schon“, antwortet Klaiber, „ich meine aber etwas anderes. Ein Freund von mir, der Teddy, hat damals zu mir gesagt: ‚Wenn ihr einen Dramaturgen sucht, denk‘ doch mal an den Zehelein‘.“ Der Teddy war Adorno. Ich hatte bei ihm studiert und war jetzt total platt. Bass erstaunt und auch ein bisschen sauer, weil ich dachte: Brauche ich das, Protegé von Adorno zu sein? Und es kam noch besser, oder schlimmer. Als ich danach in Kiel zu Besuch war, um einen Vortrag zu halten, fragt mich ein befreundeter Buchhändler dort: „Sag mal, du hast das wirklich nicht gewusst? Der Klaiber hat mir das erzählt, das wusste doch ganz Kiel.“ Ich fand das damals unmöglich. Nicht nur, weil das alles an mir vorbeigegangen war. Ich wollte meine Stelle und mein Ansehen nicht dem Protektorat von Adorno verdanken. Sondern meiner eigenen Leistung. Heute denke ich, dass einem weitaus schlimmere Dinge widerfahren können, als von Adorno empfohlen zu werden. * Ganz mein eigener Mut und Übermut waren am Werk, als das Theater Kafkas Roman „Das Schloss“ in der Bühnenfassung von Max Brod aufführen sollte. Max Brod war einerseits ein Glück für das Nachleben von Kafka, weil er dessen Texte vor der von Kafka angeordneten Vernichtung bewahrt hat. Andererseits war er ein Verhängnis für Kafka, weil er mit seiner nebulös raunenden Interpretation den Blick auf die Werke jahrzehntelang versperrt hatte. Aus dem Roman „Das Schloss“ hatte er ein zweiaktiges Theaterstück gemacht, das jetzt aufgeführt werden sollte. Ich kannte es nicht, aber selbstverständlich den Roman von Kafka. Die Auseinandersetzung mit Literatur war ein wesentlicher Schwerpunkt meiner Arbeit in Kiel. Ich habe auch selbst geschrieben. Also habe ich mir die Theaterfassung von Brod angeschaut. Und fand sie eine absolut verfälschende Interpretation Kafkas. So ein verklärendes Ding, so ein metaphysisches, auch religiös raunendes Gebrabbel. * 42

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Ich habe mit Helmut Geng, dem Oberspielleiter, gesprochen: ­„Sagen Sie, wenn ich den Roman betrachte und dann diese Verfälschung, dann kann man das Stück eigentlich nicht spielen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich versuche mich an einer Neufassung auf der Basis von Brod. Ich fang mal mit einem Probestück an.“ Der Oberspielleiter und auch mein unmittelbarer Vorgesetzter Mario Krüger waren einverstanden. Die hätten es besser wissen müssen als ich. Nach meinem Probelauf kam die Aufforderung: „Machen Sie das ganze Stück!“ Das habe ich getan, nach bestem Wissen. Ich glaube, es war nicht so gut, wie ich dachte, dass es sei. Aber es wurde gespielt. Nach der Premiere stand prompt in der Zeitung: „Kafka endlich von Brod befreit.“ Das hat der Max Brod in Tel Aviv gelesen. Am 23. November 68.

Der S. Fischer Verlag hat das auch gelesen und sofort bei uns angerufen: „Das kann ja wohl nicht wahr sein! Kennt sich denn niemand bei euch mit Rechten von Autoren, Bearbeitern etc. aus?“ Ich wusste damals nicht darüber Bescheid, ein großer Fehler, wie ich meinen Studierenden immer sage.

Max Brod war zwar noch als Autor auf dem Titel angegeben, aber es war nicht mehr allzu viel Max Brod im Text. Ich hatte die ­damalige Chefin der Theaterabteilung bei Fischer am Telefon, die stolz berichtet hat, dass Max Brod höchstpersönlich sie gerade aus Tel Aviv angerufen hatte. Er wollte dringend wissen, was es mit diesem „Kafka von Brod befreit“ auf sich habe. Die Chefin des Theaterverlags S. Fischer hat sich daraufhin für die kommende Vorstellung angekündigt. Danach stand eine Konventionalstrafe in Höhe von 15.000 DM im Raum – sehr viel Geld für die damalige Zeit. Die Frau war fassungslos, weil wir keine Rechtsabteilung ­hatten, die mich gewarnt hatte, und fassungslos wegen meiner ­Naivität. Ich habe mich geschämt, auch vor dieser großartigen Verlegerin. Es war klar, wir konnten das Stück nicht weiterhin spielen. Aber einen letzten kleinen Rettungsversuch habe ich noch unternommen und ihr den Vorschlag gemacht: „Wir haben noch zwei Abo-Vorstellungen in der nächsten Woche. Kommen Sie doch offiziell erst zu der letzten Vorstellung, danach setzen 43

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wir das Stück ab.“ Sie war einverstanden. Aber zur Absetzung ist es nicht mehr gekommen. Am 20. Dezember 1968, dreieinhalb Wochen nach der Premiere des Stücks, ist Max Brod in Tel Aviv gestorben.

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HARRY NIEMANN, der das Oldenburgische Staatstheater 17 Jahre lang, von 1968 bis 1985, als Generalintendant leitete, inszenierte in Kiel. Dort trafen wir uns zum ersten Mal. Er fand gut, was ich in Kiel gemacht habe. Mich haben seine Vorstellungen von Theater überzeugt. Wir haben Gefallen aneinander gefunden und er hat mir die Stelle des Chefdramaturgen angeboten. Seinen Kollegen am Haus in Oldenburg hat er mitgeteilt, dass er „den Klaus“ gerne nach Oldenburg mitbringen würde, und als die einverstanden waren, haben wir verhandelt. Die Verhandlungen waren sehr gut. Auch in vielen inhaltlichen Fragen, die das Ästhetische, ­Soziale und Politische betrafen, waren wir uns einig. So kam ich 1970 als Chefdramaturg nach Oldenburg und blieb dort sieben Jahre lang. * Das Oldenburgische Staatstheater war 1842 als Großherzogliches Hoftheater gegründet worden. Das zwischen Theaterwall und Stadtgraben im Stil der italienischen Renaissance errichtete Theater brannte 1891 ab. An seine Stelle trat ein vom oldenburgischen Stadtbaumeister Carl Franz Noack errichtetes imposantes Haus im neobarocken Stil, das 1893 eröffnet wurde. Trotz dieses Willens zur Repräsentation, der die Bedeutung des Oldenburger Theaters über die Grenzen von Stadt und Land hinaus hervorheben sollte, galt für Oldenburg für lange Zeit ein Diktum der Hofschauspielerin, Autorin und Frauenrechtlerin Anna Löhn-Siegel.

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In ihrer Autobiographie „Vom Oldenburger Hoftheater zum Dresdner: letzte Theatertagebuchblätter“ stellt sie 1885 lapidar fest: „In Bremen erlosch der neue Komet der Eisenbahn. Oldenburg blieb noch lange Zeit dem altgeliebten Postillon treu.“ Das galt für die Zeit ihres Aufenthalts in Oldenburg Mitte des 19. Jahrhunderts. „Aber davon“, erzählte mir mein neuer Intendant ­Harry Niemann gleich nach meiner Ankunft, „ist noch heute etwas geblieben. Die Kritik, vor allem die überregionale, kommt meistens nur bis Bremen.“ * Schicksal Provinz? Nein! Wenn auch viele Male die sogenannte große Kritik ausblieb, so habe ich über die Jahre in Kiel bei Joachim Klaiber und in Oldenburg bei Harry Niemann erfahren und lernen können, was verantwortungsvolles ästhetisches Denken und Handeln zur Voraussetzung hat: unseren Mut zur Selbstständigkeit zu entfalten als immanente Kraft des Kunstwerks, das im Kollektiv entsteht. Das eben ist auch und besonders an den Orten möglich, die von außerhalb als „Provinz“ tituliert werden. Herbert Ihering, der große Theaterkritiker der 1920er Jahre, der Brecht wenn nicht ­entdeckt, so doch fördernd begleitet hat, wusste um die Bedeutung der Provinz für das Theatergefüge einer Gesellschaft: „Der kennt Deutschland nicht, der die Provinz nicht kennt in ihrer Enge und in ihren reichen Möglichkeiten, in ihrer Resignation und in ihrem Mut!“ Und wir schreiben das Jahr 1930, als dieser fordert: „Helfen wir der Provinz, stärken wir die Provinz!“ * 2004 bat mich das Mainfranken Theater Würzburg aus Anlass seines 200jährigen Bestehens um einen Textbeitrag. Ich war zu der Zeit Präsident des Bühnenvereins und in dieser Funktion hatten mich die Kolleginnen und Kollegen des Würzburger Theaters angesprochen. Was sie vermutlich nicht ahnen konnten, war die emotionale Resonanz, die ihr Themenvorschlag bei mir auslöste: „Theater abseits der Metropolen“. Das weckte die Erinnerungen an meine Zeit in Kiel und Oldenburg. Und gab mir willkommenen Anlass, über die Bedeutung dessen, was fahrlässig wie abschätzig 46

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„Provinz“ genannt wird, nicht nur in meinem Werdegang, sondern grundsätzlich in einer sich globalisierenden Welt nachzudenken. Der vorgeschlagene Titel „Theater abseits der Metropolen“ gefiel mir spontan. Das „Abseits“ nämlich bezeichnet einen ortlosen Ort, eine Abgelegenheit, ein Jenseits des imaginierten Mittelpunkts. „Wie Nietzsches Begriff des Unzeitgemäßen“, schrieb ich damals, „die Chance ergreift, nicht auf der Höhe der Zeit und in alltäglicher Verstrickung zu agieren, so begreift das Abseitige Dasjenige, was nicht zum allseits akzeptierten Kanon, zum bereits ausformulierten Zentrum unseres Denkens und Handelns gehört. Was wäre Kunst anderes?“ * Kiel und Oldenburg waren diese abseitigen Orte für mich. An denen wir ausprobieren konnten, was nicht dem Mainstream der etablierten Häuser in den vermeintlich fortgeschrittenen Metropolen entsprach und gerade deshalb, aus der unterstellten Rückständigkeit heraus, auf der Höhe und an der Zeit war. Wir, das war – neben Harry Niemann und mir – auch der Oberspielleiter Gerhard Jelen. Wie Niemann war auch Jelen dem Haus in Oldenburg lange verbunden. 1968 gekommen, wirkte er dort als Künstlerischer Leiter, Oberspielleiter des Schauspiels und Stellvertreter des Generalintendanten bis in die 1990er Jahre. * Was war das für eine Zeit, in der ich nach Oldenburg kam? „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, hatte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung im Oktober 1969 verkündet. Die Ankündigung war getragen von der Aufbruchstimmung, die die Studentenproteste 1968 erzeugt hatten. Aber die Hoffnung auf mehr Mitbestimmung in allen gesellschaftlichen Bereichen, auf mehr Freiheit für Frauen und Männer, die eigene Lebensform zu wählen, und auf eine stärkere Ausgestaltung des Sozialstaats –, diese Hoffnung stieß bald auf eine Gegenbewegung zurück zu einem autoritären Staatsverständnis. Die Gründe dafür waren zum einen wirtschaftlicher Natur: Da war der sogenannte „Ölpreisschock“ der Jahre nach 1973, ausgelöst durch die Drosse47

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lung der Erdölproduktion und das Embargo der Ölstaaten als ­Reaktion auf die Unterstützung Israels durch den Westen im JomKippur-Krieg. Die leeren Autobahnen an den autofreien Sonntagen als sichtbares Zeichen der Energieknappheit hatten den Menschen in der Bundesrepublik die Grenzen des Wachstums drastisch vor Augen geführt. Der wirtschaftliche Handlungsspielraum wurde enger. Damit einher gingen Verlustängste, die kein Nährboden für eine freie demokratische Gesellschaft waren. Ein Zweites kam hinzu, das möglicherweise mehr Gewicht hatte: Die ­Folgen der nicht aufgearbeiteten deutschen Geschichte in den 1960er Jahren, die zur Gründung und zu den Morden der Roten Armee Fraktion (RAF) führten. Der Block des Schweigens über ihr Leben im Nationalsozialismus, den die Mütter und Väter den Fragen ihrer Kinder entgegensetzten, ebenso wie die über ­Generationen weitergereichte autoritäre Fixierung in Teilen der Protestierenden selbst führten ab 1970 zur Gründung von ­autoritär verfassten politischen Sekten und Splittergruppen, die einem manichäischen Weltbild anhingen. „Entweder Mensch oder Schwein – dazwischen gibt es nichts“, so der im Hungerstreik gestorbene Holger Meins, der der RAF angehörte. Die RAF unterschied sich von allen anderen politischen Gruppen dadurch, dass sie sich offen zur Gewalt und zum politischen Mord be­ kannte. Um dem Terror der RAF zu begegnen, hat sich die Bun­ des­ republik in den 1970er Jahren in einen autoritären Über­ wachungs- und Fahndungsstaat verwandelt. Am „Radikalenerlass“ von 1972, der bestimmte, dass Anhänger extremer Gruppierungen und Parteien nicht in den Staatsdienst übernommen wurden – unklar war, welche Gruppen als extrem angesehen wurden – zeigte sich exemplarisch die Hysterie der Suche und Verfolgung von sogenannten „Sympathisanten“. Der Terror der RAF und die vermutete Menge ihrer „Sympathisanten“ drohten, so wurde gesagt, den Staat zu Fall zu bringen. Um eine „Staatskrise“ handelte es sich nach Ansicht vieler. Um diese Krise zu beenden, schienen auch jene Mittel angebracht, die das Versprechen „Mehr Demokratie wagen“ in Vergessenheit geraten ließen.

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Es war also eine Zeit andauernder Ambivalenz zwischen Bewegungen, die an einer demokratischen Veränderung arbeiteten, und Kräften eines politischen und gesellschaftlichen Rollbacks, als ich ans Theater in Oldenburg kam. Bewegung und Gegenbewegung hielten sich die Waage. Das Ergebnis war Stillstand: eine „bleierne Zeit“, wie es in Hölderlins Elegie „Der Gang aufs Land“ heißt (Margarethe von Trotta hat das Zitat 1981 für einen Filmtitel übernommen). Um den Stillstand der „bleiernen Zeit“ zu beenden, hielten wir es für notwendig, diese unsere Zeit mit einer anderen Zeit zu konfrontieren. So sollte die Gegenwart historisiert werden und sich dadurch öffnen – für Perspektiven und Einsichten, die den Status quo überstiegen. Das war die Überlegung von Harry Niemann, als ich in Oldenburg anfing.

Harry Niemanns unausgesprochenes Programm war die Wieder- und Neuentdeckung des Theaters der 1920er Jahre. Die Opern, die Stücke und die politisch-ästhetischen Experimente der Avantgarde der Weimarer Republik waren durch deren Stigmatisierung im Nationalsozialismus als „entartet“ und „volksfremd“, ebenso wie durch den Kulturkonservatismus der Adenauerzeit nach dem Krieg, gründlich verschüttet worden. Die Erinnerung daran hat sich seit dem Ende der 1960er Jahre mühsam Bahn gebrochen.

Die Werke des jungen Brecht, von Alfred Döblin, Marie-Luise Fleißer, von Irmgard Keun, Ödön von Horváth, Ernst Toller und anderen waren bis Anfang der 1970er Jahre mehr ein Gerücht als bekannt. Die Wiederholung der vergessenen und verdrängten Theateravantgarde der 1920er Jahre war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer weltoffenen kulturellen Landschaft.

Diese Wiederholung voranzutreiben, war Harry Niemanns Leidenschaft. Er hat sich dabei gerne auf eine Maxime von Ernst Bloch berufen: „Kritische Beobachtung der Gegenwart, dadurch ermöglichter Erbantritt der Vergangenheit.“ Was Niemann entgegenkam: In Oldenburg gab es in der Tat ein großartiges TheaterErbe anzutreten. Allein in der Spielzeit 1928/29 kamen unter dem Intendanten Hellmuth Götze, der das Theater von 1928 bis 1932/33 leitete, neben fünf klassischen Dramatikern 18 lebende 49

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Harry Niemann, Intendant des Oldenburgischen Staatstheaters von 1968 bis 1985.

Foto: Archiv Nordwest-Zeitung (NWZ)

Autoren wie Bertolt Brecht, Arnolt Bronnen, Gerhart Hauptmann, Georg Kaiser, Franz Molnár, George Bernard Shaw, Carl Zuckmayer, Günther Weisenborn zur Aufführung. Das war riskant, manche würden angesichts dieses Spielplans einen Publikumstod befürchten. Aber im Oldenburger Theater der 1920er Jahre fand diese Ausrichtung des Theaters auf das Soziale und Politische auch unter wechselnden Intendanzen beim Publikum Resonanz. Sogenannte „Zeitstücke“ wie Günther Weisenborns Antikriegsdrama „U-Boot S4“ fanden ebenso Beachtung wie die als „Kulturstücke“ bezeichneten Klassiker. * Geschichte geschrieben hat in Oldenburg die Aufführung von ­Alban Bergs Oper „Wozzeck“. 1925 in Berlin an der Staatsoper 50

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Unter den Linden uraufgeführt, folgten Aufführungen in Prag und Leningrad. Dann aber besorgte das kleine Landestheater Oldenburg, wie es zu der Zeit hieß, 1929 die zweite Aufführung in Deutschland, ein Highlight der Oldenburger Theatergeschichte.

Das war die Tat von Johannes Schüler, der von 1928 bis 1932/33 Landesmusikdirektor in Oldenburg war. Durch ihn erarbeitete sich Oldenburg in kurzer Zeit einen Ruf als ein Zentrum der zeitgenössischen Musik. Berg war selbst bei den Proben zu „Wozzeck“ dabei und hat dort auch einen Vortrag gehalten. Seine „Drei ­Orchesterstücke Opus 6“ hat er für das Oldenburger Orchester eigens uminstrumentiert. Schüler hat sie 1930 in Oldenburg zur Uraufführung gebracht. Berg hat eine Postkarte geschickt und sich noch einmal bedankt. Das Autograph der Uminstrumentierung der „Drei Orchesterstücke“ lag seitdem im Safe des Orchestervorstands. Als ich es mir ansehen wollte, haben zwei Musiker aus dem Orchestervorstand die dazu nötigen Schlüssel für den Safe geholt und ihn mir aufgeschlossen. Kurzer Blick und lange Enttäuschung: Da lag nichts mehr. Das Autograph war wohl zuvor insgeheim gewinnbringend verscheuert worden. * Das war die Aufbruchszeit des Oldenburger Theaters in der Weimarer Republik. An sie wollte Harry Niemann anknüpfen. Gerne zitierte er als Maxime dafür eine Aussage des Intendanten Renato Mordo, der das Haus von 1921 bis 1924 geleitet hat: „Ein Theater, das nicht den Mut hat, Anstoß zu erregen, verdient nicht, gefördert zu werden.“ Darauf konnten Harry Niemann, Georg Jelen und ich uns verständigen. Konkret hieß das für uns, jedes Stück neu zu befragen. Neubefragung auch der Klassiker war Programm in Oldenburg. Das stand manchmal auch in krassem Widerspruch zu den Erwartungen, die das Oldenburger Publikum hatte. Etwa wenn es sich auf „Macbeth“ als ein über 300 Jahre altes klassisches Drama einstellte und dann ein Stück im Schlachthaus zu sehen bekam.

Unser Spielplan war alles andere als bieder. Die Wiederentdeckung der Stücke von Jakob Michael Reinhold Lenz stand gerade erst an. Wir haben „Der neue Menoza“ gespielt. Dazu Maxim Gor51

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kis „Barbaren“ und natürlich Brecht: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“, „Dreigroschenoper“, „Kleinbürgerhochzeit“ und „Das kleine Mahagonny“. Ein Jahr vor meiner Zeit haben Harry Niemann und der Oberspielleiter Gerhard Jelen sogar Ferdinand Lassalles historische Tragödie des Bauernkriegs „Franz von Sickingen“ auf die Bühne gebracht. Im 19. Jahrhundert hatte sie eine berühmte Debatte, die „Sickingen-Debatte“, zwischen Lassalle, Marx und Engels über eine linke Ästhetik ausgelöst. Auf „Sickingen“ zurückzugreifen war keine Nostalgie. Vielmehr ging es darum, verschüttete Traditionslinien der deutschen Geschichte wie die revolutionäre Erhebung der Bauern und das Verhalten von Protagonisten der Zeit, wie das des Reichsritters Franz von Sickingen zwischen Aufstand und Reformation, wieder in Erinnerung zu rufen.

Kurz zusammengefasst: Blickt man auf die Oldenburger Spielpläne, so kann man nicht sagen, dass wir unser Publikum unterforderten. „Ein Theater, das nicht den Mut hat, Anstoß zu erregen, verdient nicht, gefördert zu werden.“ Renato Mordo wusste, wovon er sprach. Er hatte in Oldenburg 1922 Frank Wedekinds Schülertragödie „Frühlingserwachen“ zur Aufführung gebracht, später auch „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“. Das hatte ihm die Empörung besonders des katholischen Teils der Bevölkerung eingebracht, die solche Stücke für unvereinbar mit der katho­ lischen Sittenlehre hielt. Die Auseinandersetzung mit der Religion blieb bis in die 1970er Jahre ein aktuelles Thema. 1970 hatte Dieter Forte mit seinem Stück „Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung“ die Geschichte der protestantischen Reformation streng materialistisch als eine Geschichte von unterschiedlichen finanziellen Interessen der Mächte Kaiser, Papst und Landesfürsten beschrieben. Gerhard Jelen hat das Stück 1972 in Oldenburg aufgeführt. Es hat Diskussionen ausgelöst, aber nicht wirklich Anstoß erregt. Das lag auch am Geist der Zeit nach dem Aufbruch der Studentenbewegung 1968 und noch vor der Hochzeit der RAF und dem „Deutschen Herbst“, der 1977 auf die Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer folgte. * 52

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Anstoß erregt hat das Theater Oldenburg in den 1970er Jahren immer wieder: Harry Niemann hatte kurz vor meiner Zeit mit einer Inszenierung von Johann Strauss’ Operette „Der Zigeunerbaron“ einen Skandal ausgelöst. Dem Argument, dass der politisch nicht korrekte Titel der Operette ein Grund sei, das ganze Stück beiseitezuschieben, möchte ich an dieser Stelle die inhaltliche Brisanz der Handlung entgegensetzen. Es geht um Krieg, Flucht und Vertreibung und um die Ächtung, Ausgrenzung und Verfolgung einer gesellschaftlichen Gruppe und derer, die sich ihr anschließen. Daran zu erinnern, war gerade in Oldenburg angebracht. Denn Sinti und Roma waren die zweite große Opfergruppe, die neben der jüdischen Bevölkerung der Stadt zur Zeit des Nationalsozialismus Verfolgung, Deportation und Tod erlitten haben.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde in der Stadt ein sogenanntes „Zigeunerlager“ eingerichtet, das Ausgangspunkt für Zwangsarbeit und Deportation war. Harry Niemann hat die in der Operette verborgene Geschichte der Gewalt auf die Bühne gebracht, ohne aufgesetzte Aktualisierung. Ein Protestplakat des Chors gegen den Krieg – „Make love, not war“ – und die realistische, ganz und gar nicht operettenselige Darstellung des harten zeitgeschichtlichen Hintergrunds haben für einen Skandal gereicht.

Gerade das Operettenpublikum, das aus schlechter Gewohnheit seinen Kitsch und Schmalz genießen möchte, ist äußerst empfindlich gegen alle Anstrengungen, die großen Operetten von Strauss, Offenbach und anderen so ernst zu nehmen, wie sie es verdienen.

Anstoß erregt hat in Oldenburg außerdem, kurz nach meinem Abgang, Georg Jelens Inszenierung von Albert Camus’ Drama „Die Gerechten“. In dem Stück planen Sozialrevolutionäre ein politisches Attentat. Es ist ein Ideendrama, in dem vor dem Hintergrund von Camus‘ Parteinahme für die französische Résistance die Berechtigung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung diskutiert wird. Einen Tag nach der Oldenburger P ­ remiere im September 1977 entführte die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Dieses Ereignis und die T ­ hematik von Camus’ Stück schienen plötzlich auf unheimliche Weise ein Match 53

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auszumachen. Das schlug hohe Wellen in der Oldenburger Gesellschaft. Skandal! Sind das Theater und dieser Intendant noch tragbar?! Regina Jerichow, Journalistin und Kritikerin der Nordwest-Zeitung Oldenburg (NWZ), blickt 2017, 40 Jahre nach der Premiere, auf den Skandal zurück: „Mitte September setzte Intendant Harry Niemann das Stück für einige Monate ab – ,aus Respekt vor den Opfern‘. Dass die in der Aufführung gesprochenen Texte eine ,Indoktrination von eindeutig marxistischer Färbung‘ seien, wie seinerzeit der Theaterkritiker dieser Zeitung geschrieben hatte, wies er aber entschieden zurück. Welche Rolle der politische Druck durch CDU-Landtags- und Bundestagsabgeordnete gespielt hat, darüber lässt sich nur spekulieren. ,Wir mussten uns sehr wehren‘, erinnert sich Jelen, ‚auch gegen unqualifizierte Äußerungen von Leuten, die das Stück gar nicht gesehen hatten.‘“ * Theater ist, auch und gerade in Zeiten der Globalisierung, verwoben in die Geschicke und die Geschichte der Regionen. Das meint nicht provinzielle Beschränktheit, sondern die Auseinandersetzung mit der Verflechtung von Traditionen und gegenwärtigen Herausforderungen vor Ort. Diese Überlagerung von Gegenwart und Vergangenheit an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Gegend steht wiederum im Horizont überregionaler, weltweiter Dynamiken. Beide, die regionale und die globale Bewegung, verlaufen selten im Gleichschritt. Häufiger sind raumzeitliche Verschiebungen, Nachklappbewegungen, Wiederkehrschleifen und vorauseilende Absetzbewegungen vom regional Überkommenen.

Ernst Bloch hat in seinem Buch „Erbschaft d­ ieser Zeit“ von der „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ gesprochen. Er wollte damit eine Erklärung für den Erfolg der nationalsozialistischen Massenbewegung liefern, die, so Bloch, kein Rückfall in archaische, barbarische Zeiten darstellt, wie oft behauptet, sondern eine barbarische Archaik in der Gleichzeitigkeit der Gegenwart selbst.

Eine Ungleichzeitigkeit, hervorgebracht von den Konflikten und Widersprüchen der gegenwärtigen ­Gesellschaft.

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* Mit dieser Ungleichzeitigkeit wurden Gerhard Jelen und ich konfrontiert, als wir Bertolt Brechts „Die Gewehre der Frau Carrar“ inszenierten. Thema des Stücks ist der Widerstand im Spanischen Bürgerkrieg. Teresa Carrar, die Frau eines Fischers, die ihren Mann im Bürgerkrieg gegen die Franquisten verloren hat, will sich und ihre beiden Söhne fortan aus dem Krieg heraushalten.

Das gelingt nicht. Ihr ältester Sohn wird beim Fischen von den Faschisten erschossen. Daraufhin entschließt sich Teresa Carrar zum Kampf und gibt die versteckten Gewehre ihres Mannes an die Kämpfer gegen Franco weiter. Das Stück, 1937 in Paris mit Helene Weigel in der Titelrolle aufgeführt, war Brechts theatrale Solidaritätsadresse zum Spanischen Bürgerkrieg und eines seiner meistgespielten Stücke zu seinen Lebzeiten. Als wir uns Anfang der 1970er Jahre ans Werk machten, war das Stück immer noch aktuell. Denn Francisco Franco lebte noch und mit ihm der Franquismus als gewichtiger Faktor in der europäischen Politik. Was für ein Anachronismus in einem auf die Demokratie verpflichteten Europa, wahrhaftig eine Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen! Brecht selbst hatte seine Schwierigkeiten mit dem aus dringendem Anlass rasch geschriebenen Stück. Er fand es zu sehr aristotelisches Drama, zu sehr auf Einfühlung setzend. Deshalb empfahl er, es zusammen mit einem Dokumentarfilm über den Spanischen Bürgerkrieg zu zeigen. Ich erinnerte mich an die Lösung, die Andreas Weißert und ich in Kiel für die Aufführung von Hauptmanns „Die Weber“ gefunden haben. Ich schlug Jelen ­daher vor, für „Die Gewehre der Frau Carrar“ mit Dokumenten, literarischen Texten, Gedichten und Liedern aus dem Spanischen Bürgerkrieg zu arbeiten und damit die Handlung des Stücks ­immer wieder zu unterbrechen und für die Reflexion zu öffnen.

Jelen war einverstanden. * Wir haben im Schlosstheater geprobt und plötzlich kommt ein dunkel gekleideter Herr herein. Ich bin am Überlegen, wer das sein könnte, und auch Jelen fragt: „Wer ist das denn?“ Ich bin auf 55

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den dunklen Herrn zugegangen und habe gesagt: „Entschuldigen Sie bitte, aber wir sind hier auf einer Probe und Sie stören uns im Augenblick. Was möchten Sie denn überhaupt?“ Da sagt der: „Ich komme vom Präsidenten, der wünscht die Texte zu haben, die Sie lesen.“ Mir fiel fast die Kinnlade herunter, wie man in einem solchen Fall wohl sagt. Der Präsident war der Präsident des Landes Oldenburg, der unterrichtet sein wollte, was „sein“ Theater so trieb, ob es vereinbar war mit dem, was politisch gerade opportun war, oder ob er es verbieten lassen sollte. Einen solch unverhohlenen Anspruch auf Zensur habe ich nie zuvor und danach nie wieder erlebt. Man kannte es aus der DDR, wo die Inszenierungen vor der Premiere vom zuständigen Parteifunktionär ‚abgenommen‘ und gegebenenfalls verboten wurden. Anachronistische, ‚ungleichzeitige‘ Verfahren. Gegenwärtig lässt sich Zensur subtiler über die Vergabe von Geldern ausüben. Die AfD z. B. setzt auf dieses Mittel. Damals in Oldenburg konnte ich dem dunklen Herrn, nachdem ich mich wieder gefangen hatte, nur dies antworten: „Wissen Sie was? Der Präsident wird die Texte kennenlernen in der Premiere, wenn er kommt. Und Sie gehen jetzt sofort. Wir arbeiten hier und Sie stören. Verlassen Sie den Raum!“ * Der Präsident und sein Mann: Da war sie wieder, die dunkle Kehrseite Oldenburgs und des Oldenburger Theaters. Der Aufbruch des Theaters zu wahrer Zeitgenossenschaft durch die Neuund Wiederentdeckung der Theatermoderne der Weimarer Republik wurde immer wieder eingeholt durch die Reste der nicht aufgearbeiteten Geschichte der Stadt. Oldenburg war eine Verwaltungs- und Beamtenstadt. Industrie gab es so gut wie nicht.

Der bildungsbürgerliche Quietismus, später durch ein studentisches Publikum konterkariert, begünstigte das Schweigen über die gescheiterten demokratischen Bewegungen in der Stadt und dem Land Oldenburg: die Revolution von 1918, der Kampf gegen die Weimarer Republik und die Zeit der Nazi-Herrschaft. Auch die Revolte der Studierenden von 1968, im Kern eine Auseinander56

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setzung mit ihren Müttern und Vätern im Nationalsozialismus, blieb unaufgearbeitet. Das Unaufgearbeitete aber kehrte wieder – als gefährlicher Überrest des Vergangenen in der Gegenwart.

Das kulminierte in den 1970er Jahren im sogenannten „Deutschen Herbst“, der staatlichen Bekämpfung des Terrors der Roten Armee Fraktion. Der Überwachungsstaat, der hier geschaffen wurde, konnte bestens anschließen an obrigkeitsstaatliche Traditionen in der deutschen Geschichte. Dass Telefone in dieser Zeit abgehört wurden, war Usus. Ich hatte im Theater eine Telefonverbindung, da war ich, wenn ich nur den Hörer abnahm, verbunden mit einer Anwaltspraxis der DKP. Da war wohl eine Überwachung von vermuteten „Sympathisanten“ des Terrors, wie linke Anwälte und Theatermacher, gleich im Verbund angestrebt.

Das äußerlich sichtbare Symbol für die Wiederkehr der Reste des Vergangenen war in Oldenburg die gesellschaftliche Stellung des großherzoglichen Hauses. Obwohl das Großherzogtum Oldenburg mit der Revolution von 1918 abgeschafft und Stadt und Land in die Demokratie der Weimarer Republik überführt worden waren, hielt die nach wie vor dominierende gesellschaftliche Stellung des großherzoglichen Hauses an. Im Theater konnte das jeder an der hervorgehobenen Position der großherzoglichen Loge sehen. Der Soldatenrat hatte diese 1918 der großherzoglichen Familie überlassen, welche die Loge und den dazu gehörenden Vorraum, wo Großherzogs Hof hielten, seitdem als ihr Eigentum betrachteten. Von dieser Loge aus hat die großherzogliche Familie die Hervorbringungen ihrer Untertanen auf dem Theater argwöhnisch beäugt und kritisiert. Wenn die Großherzogin mit dem Gezeigten nicht einverstanden war, rief sie den Intendanten an und machte ihm klar: „So wie der König Duncan in ihrer ‚Macbeth‘Inszenierung benimmt sich kein gekröntes Haupt.“ Das musste dem bürgerlichen Emporkömmling Harry Niemann doch mal gesagt werden, woher sollte er auch wissen, was comme il faut ist. * In einer Kneipe habe ich den ältesten Diener des Großherzogs kennengelernt. Der war schon über 80. Wie ein verkappter 57

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­ ristokrat, als der er sich aufführte, hat er mir erzählt, wie sich A die großherzogliche Familie gegenüber den Mitgliedern des Soldatenrats 1918 verhalten hatte: „Als die bei uns ankamen, haben wir sie erst einmal warten lassen. Drei Stunden haben wir sie warten lassen. Dann haben wir sie reinkommen lassen und ihnen gesagt: ‚Das Theater könnt ihr haben. Es kostet eh zu viel.‘“ ­Soweit die Erzählung des Dieners in der Kneipe. Ob es sich haarklein so zugetragen hat, kann ich nicht sagen. Aber es trifft die geistige Haltung dieser Lemuren der Geschichte auf den Punkt. * Dass diese Gespenster immer wieder überleben konnten, dafür trugen allerdings leitende Personen des Theaters in Oldenburg Mitverantwortung. Zum 31. Juli 1932 wurde Hellmuth Götze, der Intendant, der Oldenburg ein Theater für die Republik ermöglicht hatte, von den der politischen Rechten angehörenden Mitgliedern im Theaterausschuss gekündigt. Unter seinem Nachfolger Rolf Roenneke und vor allem unter dem Oberspielleiter Gustav Rudolf Sellner übernahmen die Nationalsozialisten, bereits ein halbes Jahr vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, im Landestheater Oldenburg die Macht. Gustav Rudolf Sellner ist am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten. Das hat sich für ihn ausgezahlt. Seine Karriere ging steil nach oben: Er wurde Gaustellenleiter in Oldenburg, war SA-Anwärter und wurde, nachdem er sich durch eine Reihe von Inszenierungen auf dem Boden der nationalsozialistischen Kulturpolitik „bewährt“ hatte, 1937 zum Schauspieldirektor am Landestheater Oldenburg ernannt. Mehr noch: Sellner war auch Leiter der Thingstätte „Kultstätte Stedingsehre“. * Die Freilichtbühne, die 20.000 Menschen fassen konnte, wurde 1934 eigens errichtet für ein Thingspiel des Heimatdichters ­August Hinrichs. Die Grundsteinlegung für die Kultstätte fand in Anwesenheit des Reichsleiters Alfred Rosenberg, des Reichsführers SS Heinrich Himmler und des Gauleiters Carl Röver statt.

Geplant war, den Thingspielort zu einem „Oberammergau des Nordens“ zu machen. Das Thingspiel von Hinrichs feierte die 58

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700jährige Wiederkehr einer Schlacht, die die einstigen Bauern aus der Umgebung, die Stedinger, entscheidend verloren hatten.

Die Tendenz des Weihespektakels „De Stedinge“, die sich daraus ergab, war klar: Gefeiert und glorifiziert wurden Blut und Boden, das Opfer für die Gemeinschaft und das Vorbild, das der zum Opfer stilisierte Tod in der Schlacht für die Heutigen geben sollte.

150.000 Menschen haben in kurzer Zeit an diesem theatralen Opferritual teilgenommen. Die Inszenierung lag in den Händen des Oberspielleiters des Oldenburger Landestheaters Gustav Rudolf Sellner. 1940 wechselte Sellner erst ans Stadttheater Göttingen, dann nach Hannover. Von 1943 war Sellner Gaukulturrat im Gau Südhannover-Braunschweig. * Gustav Rudolf Sellner war kein Mitläufer. Er war ein überzeugter Nazi, der auf dem Theater den Ungeist der Zeit verbreitet hat. Das taten damals auch andere. Der eigentliche Skandal um Sellner ist die ungestörte Karriere nach 1945, die ihn – bei den Spruchkammerverfahren als „Mitläufer“ eingestuft – zu einem der wichtigsten und angesehensten Regisseure und Intendanten der 1950er und 1960er Jahre aufsteigen ließ. Nachdem er von 1951 bis 1961 zunächst Intendant in Darmstadt war und dort als vorbildlicher Inszenator von Klassikern, vor allem von Chören (im Thingspiel gelernt) galt, übernahm er von 1961 bis 1972 für volle elf Jahre die Deutsche Oper in Berlin als Generalintendant und Chefregisseur. Das war die höchste Position, die im Theater der Bundes­ republik zu der Zeit zu vergeben war. Zugleich war die Deutsche Oper als Aushängeschild des Westens gegenüber der Staatsoper Unter den Linden in der DDR besonders exponiert. Dass solche Karrieren alter Nazis wie Sellner in der Theaterlandschaft der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre hinein möglich waren, hat Wunden in der Gesellschaft hinterlassen. * Ich war in Oldenburg damals noch nicht über die skandalöse Karriere des ehemaligen Oberspielleiters des Theaters informiert, aber ich spürte die Wiederkehr der dunklen Kräfte, die sich Harry 59

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Niemanns unausgesprochenem Programm eines Wiederanknüpfens an die Theatermoderne der 1920er Jahre entgegenstellten.

Ein Theater für die Republik ist 1945 nicht vom Himmel gefallen.

Der Weg dorthin war lang. Dabei ging es auch um die internen Strukturen des Theaters: Ungebrochen war die absolute Herrschaft der Intendanten. Das war kein persönliches, sondern ein strukturelles Problem der festgeschriebenen Position samt all ihrer Rechte.

Auch Harry Niemann hatte diese allmächtige Position inne. Was das bedeutete, zeigte sich am deutlichsten in den Besetzungen, die er vorgenommen hatte und die Jelen und mich, zurückhaltend gesagt, immer wieder irritierten. Das verlief typischerweise so: Wir saßen zusammen und redeten und redeten über mögliche Besetzungen und plötzlich kramte Harry einen Zettel hervor, blickte drauf und sagte dann: „Ach, ich sehe gerade, die Rolle der Julie habe ich doch der Dings versprochen.“ Ja, warum saßen wir dann da und überlegten hin und her, wer die beste Besetzung sein könnte? Jelen und ich waren frustriert. Aber aus dem Frust heraus haben wir einen Entschluss gefasst: Wir beide entwerfen ein Papier und lassen es von Niemann unterschreiben. Darin stand, dass er das Schauspiel nicht mehr allein führen kann, sondern dass das in Zukunft eine gemeinsame Angelegenheit von uns Dreien ist, die Sache eines Triumvirats. Es gab einen Riesenkrach in der Intendanz. Harry hat gebrüllt: „Das mach‘ ich nicht!“ Mir war klar, dass er mich hätte rausschmeißen können. Nachdem er sich ausgeschrien hatte, kam er zu sich und sagte: „Gib mir mal das Papier her, gib’s mal rüber. Ich unterschreibe das jetzt.“ Er hat es gemacht.

Und dadurch konnten wir im Schauspiel wunderbar weiterarbeiten.

Unser Vertrag mit dem Intendanten war nicht der Einstieg in ein volles Mitbestimmungsmodell, wie es ab 1972 am Schauspiel Frankfurt mit enormen Problemen praktiziert wurde. Aber es war ein Stück mehr Demokratie auf dem Weg des Abbaus von Intendantenwillkür. Vorgewagt habe ich mich in dieser Sache erst in meiner dritten Spielzeit in Oldenburg. Jedenfalls meiner Erinnerung nach. Erst vor kurzem erfuhr ich, dass das bereits in meinem ersten Jahr in Oldenburg geschah. Da hatte ich mich tatsächlich 60

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was getraut. Die Geschichte zeigt, dass sich der Mut ausgezahlt hat. Sie zeigt aber auch die Größe von Harry Niemann, der sich auf unseren Vorschlag eingelassen hat. Auch im internen Umgang wurde Harry Niemann den Werten gerecht, die dem Theater, das wir in Oldenburg machten, inhärent waren. * „Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, wie wir durchsetzen.

Der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.“ An diesen Satz aus Brechts „Leben des Galilei“ musste ich in Oldenburg angesichts des höchst gegenwärtigen zähen Widerstands der Dunkelmänner und -frauen aus vergangenen Zeiten immer wieder denken. Gut, dass es seit 1973 die Reformuniversität in Oldenburg gab. In der Gründungspräambel der Universität steht: „Diese Universität heißt Carl von Ossietzky Universität“. Diese ­Namensgebung wurde in den ersten Jahren aber nicht realisiert.

Sie wurde von der Politik aus unterschiedlichen Gründen verweigert. Der Hauptgrund war, dass man Namensgebungen jetzt generell vermeiden wollte, weil sie mit Komplikationen verbunden sein könnten. Carl von Ossietzky, Journalist, Pazifist und Herausgeber der Zeitschrift „Die Weltbühne“, von den Nazis ins KZ geworfen, wo er den Friedensnobelpreis ausgehändigt bekommen hat, bevor er an den Torturen des Lagers starb – dieser Carl von Ossietzky, Vorbild für jede demokratische Gesellschaft, sollte der Universität mit seinem Namen Komplikationen bereiten können? Absurd, aber charakteristisch für den Geist der Jahre und die Mutlosigkeit der Demokraten. In weiten Teilen der Bevölkerung, auch der Oldenburgs, galt Ossietzky als Kommunist. Was er nie war. Ich habe mich sehr für die Namensgebung der Universität eingesetzt und habe dafür einige Dinge unternommen. Einmal habe ich mich mit dem sozialdemokratischen Kultusminister des Landes Niedersachsen ­Peter von Oertzen getroffen. Auf mein Insistieren, der Universität Oldenburg endlich, wie in der Gründungspräambel beschlossen, den Namen Carl von Ossietzky zu geben, antwortete der Minister mit den üblichen Ausreden: mögliche Komplikationen, Pflicht zur Neutralität etc. Ich habe ihm nur gesagt: „Jetzt kommen Sie mal 61

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100 Meter weiter mit mir, da steht das Hindenburg-Gymnasium.

Dem nehmen Sie dann mal den Namen weg. Ebenso den ganzen Kasernen um Oldenburg herum, die nach alten Panzergenerälen der Wehrmacht benannt sind.“ Der Minister, der ein aufgeklärter und aufrichtiger Mann war, war total perplex. Heute trägt die Universität den Namen Carl von Ossietzky. * Die Jahre in Oldenburg waren eine bewegte Zeit – zwischen Aufbruch zu neuen demokratischen Ufern auch im Theater und der Wiederkehr der unbearbeiteten Vergangenheit. Es war auch die Zeit der Hinterfragung überkommener kultureller Formate. Eine dieser über Jahrzehnte hin eingespielten Einrichtungen war die Institution der Jugendkonzerte. Üblicherweise suchte der zweite Kapellmeister dafür ein paar kleine Stücke von Mozart oder eine Haydn-Sinfonie aus, die er dann mit dem Orchester aufführte, versehen mit belehrenden Erläuterungen für die jungen Leute.

Das schien der geeignete Weg zu sein, die Jugendlichen im Musikleben zu sozialisieren. Das heißt, sie sollten lernen, wie man sich im Konzert benimmt – nicht klatschen zwischen den Sätzen! – und einen Eindruck bekommen, was man in einem Konzert so zu hören bekommt. Offensichtlich war es der falsche Weg, denn von den 500 Plätzen im Schlosstheater, wo die Konzerte statt­fanden, blieben immer mehr leer. Ich habe mich mit Fred R ­ itzel, einem Freund und Professor für Musikwissenschaft an der neu gegründeten Reformuniversität, zusammengesetzt. Ritzels Schwerpunkte waren Musik in den Massenmedien und Geschichte der populären Musik.

Für ihn gab es eine durchlässige Grenze zwischen dem, was man salopp E- und U-Musik nennt. Zusammen arbeiteten Ritzel und ich ein neues Konzept für die Jugendkonzerte aus, das radikal auf Partizipation der Jugendlichen setzte. Dafür starteten wir ein Modellprojekt mit einer Gruppe von Auszubildenden der Post, die in einem dafür vorgesehenen Heim der Post untergebracht waren. Fred Ritzel und ich haben die Auszubildenden dort besucht. Hinzu kamen noch ein paar Studenten von Fred. An die 25 Auszubildende waren da versammelt und warteten auf uns. Wir machten ihnen 62

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einen Vorschlag: Alle zwei Wochen wollten wir uns treffen, um über die Musik in ihrem Leben zu sprechen. Aus dem, was da besprochen wurde, sollten die Jugendlichen dann selbst ein Konzert ­zusammenstellen und es auch selbst moderieren. Der Jugend­ sekretär der Gewerkschaft Post hat skeptisch geschaut und uns prophezeit: „Da kommen fünf Leute und dann kommt keiner mehr!“ Es waren aber regelmäßig elf bis dreizehn Jugendliche da, alle vierzehn Tage, manchmal sogar wöchentlich. Bei den Treffen haben wir zunächst über die musikalischen Hörgewohnheiten im Alltag geredet: Was hört ihr denn morgens, wenn ihr aufsteht?

Was bei den Hausaufgaben, was in der Freizeit und was ist los, wenn ihr ausgeht? Alles wurde ernsthaft diskutiert. Die jungen Leute kannten auch etwas klassische Musik. Und Filmmusik. „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick hat sie begeistert. „Da sind doch Walzer drin – und wahnsinnige Fanfaren am Anfang.“ Die wollten sie im Konzert dabeihaben und so kam der Beginn von Richard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ in eines ihrer Programme. Auch von uns kamen Vorschläge. Nach einigen Monaten wurde schließlich folgendes erstes Programm von der Gruppe ermittelt: 1. Filmmusiken ∙ drei Titel aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ (Ennio Morricone) ∙ Love-Theme aus „Der Pate“ (Nino Rota) ∙ „Säbeltanz“ von Chatschaturjan ∙ Titelmusik aus „Jesus Christ Superstar“ (Webber/Rice) 2. Als zusätzliche Vorschläge der Planungsgruppe wurden der 1. Satz aus Mozarts Jupiter-Sinfonie und die „Eisengießerei“ des russischen Futuristen Alexander Mossolow diskutiert und akzeptiert.

3. Zu diesen Live-Titeln kamen Bandeinspielungen (da anders nicht realisierbar) von Soundtrack-Ausschnitten aus den Filmen „Der Exorzist“ und „Tommy“. Dazu die Originalfassung von Jane Birkins und Serge Gainsbourgs „Je t’aime – moi non plus“ (wohl als Probe auf die Ehrlichkeit unseres Mitbestimmungsangebots gedacht).

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UNERHÖRTE AUGENBLICKE

* Die Abfolge der Stücke wurde in einen multimedialen Programmablauf eingebunden. Vor Beginn und nach dem Ende lief Tonbandmusik. Bildprojektionen, abgelöst durch Tonband-Interviews und Moderation, unterbrachen oder begleiteten die Musik. Alles war sinnvoll kalkuliert. Die Meinungen der Auszubildenden zu Klassischer Musik ging z. B. dem Mozart-Satz voraus.

Die Veranstaltung stieß bei den Jugendlichen auf starkes ­Interesse. Zur anschließenden Diskussion blieb die Hälfte der 500 Zuhörer:innen im Saal. Kritische Stimmen gab es nur aus dem Orchester. Es war das vielleicht radikalste Experiment, das wir in Oldenburg unternahmen. Solange ich dort war, haben wir dieses Modell der Jugendkonzerte weiterverfolgt und ausgebaut. * Für mich war die Arbeit mit den Auszubildenden an den Jugendkonzerten eine der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens. Ich bin dieser Erfahrung später zusammen mit meiner Frau noch einmal begegnet. Es war auf Juist. Wir hatten Ferien und wollten Fahrradfahren. Beim Fahrradverleih sieht ein junger Mann mich an und fragt: „Sag‘ mal, kennst du mich nicht mehr?“ Es war mir peinlich, dass ich mich nicht an sein Gesicht erinnern konnte.

Aber er hat mich ohne Umstände aufgeklärt: „Du, wir haben doch in Oldenburg die Jugendkonzerte zusammen gemacht!“ Da fiel’s mir wieder ein, ich erkannte ihn und wir sprachen über die weiteren Lebensläufe von ihm und den anderen. Alle hatten zwar ihren Abschluss bei der Post gemacht, aber keiner war dabeigeblieben. Durch die Erfahrung, die sie bei unserer gemeinsamen Arbeit gewonnen haben, haben sie sich getraut, selbstständig zu denken und zu handeln und ihren eigenen Weg zu gehen. Mein Mitstreiter von damals hat uns zum Tee eingeladen. Er hatte die Erlaubnis, in den Dünen ein Holzhaus zu bauen, weil es dort ein schwer zu beseitigendes Betonfundament für eine Flakbatterie ­gegeben hat. Darauf konnte er sein Haus bauen – eine schöne Metapher für das Neue auf altem Grund in der deutschen ­Geschichte. Wir saßen zusammen beim Tee, es war eine verrückte, 64

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wunderbare Wiederbegegnung. Die Jugendkonzerte, sagte er, waren eine einmalige Erfahrung für ihn. Und ich war glücklich, antworten zu können: „Für mich auch.“ * Ohne dass ich von Oldenburg wegwollte, bahnte sich hinterrücks mein Abschied an. 1975 rief mich mein alter Freund Hans Zender an. Zu unserer gemeinsamen Zeit in Kiel war er Generalmusik­ direktor dort, jetzt leitete er das Rundfunksinfonieorchester Saarbrücken. Zender informierte mich, dass dort beim Saarländischen Rundfunk (SR) die Stelle des Hauptabteilungsleiters Musik freiwerde. Ob das nicht etwas für mich sei? Dort könnte ich ganz fokussiert meiner Leidenschaft für die Neue Musik nachgehen.

Ich dachte, das ist ja schön, das kann ich mir zumindest mal ­ansehen. Und ich habe einen Termin für ein Gespräch mit dem Intendanten ausgemacht. Der ließ mir gegenüber am Telefon die Bemerkung fallen: „Es ist ja schade, dass der Herr Dr. Bitter jetzt als Co-Direktor mit Michael Gielen an die Oper Frankfurt geht.“ Christof Bitter war der bisherige Hauptabteilungsleiter Musik beim SR, dessen Stelle ich mir mal anschauen wollte. Der Dirigent Michael Gielen war zu der Zeit bereits als Vorkämpfer für Musik des 20. Jahrhunderts seit der zweiten Wiener Schule bestens ausgewiesen. Durch Zufall ergab es sich, dass Gielen gerade zu der Zeit, als ich zu meinem Gespräch mit dem Intendanten in Saarbrücken war, ein Konzert dort gab. Das hatte Zender mir nicht gesagt. Aber Christof Bitter, den ich bei meinem Besuch in Saarbrücken traf, hat mich zu Gielens Konzert eingeladen. ­Danach saßen wir noch zu dritt bei Bitter und Wein zusammen. Irgendwann haben Gielen und Bitter mich gefragt, ob ich nicht mit ihnen zusammen nach Frankfurt kommen wolle. Spontan habe ich Nein gesagt. Ich wollte Hans Zender, der sich für mich eingesetzt hatte, und dem Rundfunk nicht absagen. * Aber das Angebot von Gielen und Bitter ließ mir keine Ruhe. Im Grunde wusste ich, dass das Theater der Ort meiner Bestimmung war. Dort hatte ich bislang meine Erfahrungen gemacht, hatte 65

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e­ iniges gelernt und mich einer Reihe von Herausforderungen gestellt. Der Rundfunk wäre ein Sprung ins kalte Wasser gewesen.

Und der Musik – bislang Hauptargument für die Stelle beim Funk – konnte ich mich an der Oper in Frankfurt natürlich erst recht widmen. Schließlich habe ich Michael Gielen und Christof Bitter zugesagt. Und bin so über Saarbrücken, wo ich vielleicht hinwollte, durch einen Riesenzufall in Frankfurt gelandet, an das ich überhaupt nicht gedacht hatte. * Zurück in Oldenburg: Ich hatte ja noch einen Vertrag bei Harry Niemann. Der lief bis 1977. Ich wollte aber wenigstens ein Jahr vorher den Neubeginn in Frankfurt vorbereiten. Also bat ich Harry Niemann um eine vorzeitige Entlassung aus meinem Vertrag.

Harry hatte vollstes Verständnis dafür, dass ich die Chance, an die Oper Frankfurt zu gehen, wahrnehmen wollte. Andererseits, so machte er mir klar, war ich in Oldenburg in so viele Projekte und öffentliche Veranstaltungen eingebunden, dass er mich eigentlich nicht vorzeitig freigeben konnte. Was tun? Harry bat mich, auf eine Tasse Kaffee zu gehen, er würde sich etwas einfallen lassen.

Als ich zurückkam, wurde ich nicht enttäuscht: „Ich habe eine Idee“, eröffnete er mir, „wir lassen den Vertrag so wie er ist.

Du bleibst in Oldenburg. Aber die Hälfte der Zeit kannst du für Frankfurt arbeiten.“ Das war mehr als ich mir hatte denken können.

Es erleichterte mir nicht nur den Übergang nach Frankfurt, sondern auch den Abschied von Oldenburg. Harry Niemann war ein nobler Charakter.

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FREIER ENTWURF DES MODERNEN MUSIKTHEATERS: FRANKFURT

Die Stadt des avanciertesten Kapitalismus „Kommt aus der Provinz und gilt als links.“ Mit diesen zwei Zuschreibungen hatte mich die Frankfurter Allgemeine Zeitung bei meinem Antritt als Chefdramaturg an der Oper Frankfurt knapp vorgestellt. Es stimmte im weitesten Sinn, aber ich konnte mich, mein Leben und meine Tätigkeit darin nicht wiederfinden. Die dürren Worte glichen mehr einer Abstemplung, als dass daraus ein ernsthaftes Interesse sprach – an dem, was ich bislang gemacht hatte. OK, dachte ich. Ein differenziertes Urteil musst du dir hier erst erarbeiten. * Hier, das war Frankfurt am Main, meine Geburtsstadt, in der ich auch studiert hatte. Die Stadt mit einer großen jüdischen Kulturtradition, von der selbst nach 1945 noch/wieder etwas zu spüren war. Es war die Stadt der Frankfurter Schule, die Stadt von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die aus der Vertreibung aus dem Exil zurückgekehrt waren. Es war die Stadt, in der die ­Studentenbewegung von 1968 von dem Adorno-Schüler HansJürgen Krahl und den Brüdern Frank und Karl Dietrich Wolff theoretisch fundiert und reflektiert wurde, anders als studentische Gruppen in Berlin oder Heidelberg, die maoistischen oder poststalinistischen Direktiven und Glaubensgrundsätzen folgten.

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* Frankfurt war aber auch die „Stadt der Banken und Bordelle“, wie ein Magazin in den 1980er Jahren titelte. Es war die Stadt des avanciertesten Kapitalismus in der Bundesrepublik. Früh schon zeichneten sich hier die urbanen Probleme ab, die auf andere Städte zukommen sollten. Die Gentrifizierung des Frankfurter Westend durch den Abriss von Wohnhäusern und ihre Ersetzung durch Bürohochhäuser hatte zu einem Mangel an Wohnungen geführt. Darauf antworteten die Betroffenen im Frankfurter Häuserkampf der frühen 1970er Jahre mit Hausbesetzungen und Straßenschlachten, die den Abriss der Häuser verhindern sollten.

Unter den Besetzern waren auch Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer, die späteren Politiker der Grünen. Einer der Investoren, die Grundstücke aufkauften, um Bürotürme darauf zu bauen, war Ignatz Bubis, später Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Frankfurt und des Zentralrats der Juden in Deutschland. In Rainer Werner Fassbinders Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, bereits 1974 geschrieben, glaubte man in der Figur des jüdischen Kaufmanns Ignatz Bubis wiederzuerkennen. Jenseits des Antisemitismusvorwurfs, der gegenüber Fassbinder erhoben wurde, stellt das Stück die Zerstörung des städtischen Lebens unter dem Diktat des Profits und des Warencharakters aller Beziehungen aus. Nicht umsonst spielt eine Prostituierte, deren Tod für viele ihrer prominenten Kunden an die Existenz ging, neben den Grundstücksspekulanten sowie Banken und Politikern in Fassbinders Stück eine wichtige Rolle. Das war die Kehrseite zur Stadt der Kritischen Theorie. Das Frankfurt der 1970er Jahre: eine Stadt des ungehinderten, ungezügelten Kapitalismus.

Kurz: Frankfurt war keine Stadt, in der die Musen ursprünglich zu Hause waren. Hier hatte Rudi Arndt, von 1972 bis 1977 Oberbürgermeister der Stadt, schon in den 1960er Jahren vorgeschlagen, die Ruine der Alten Oper nicht zu restaurieren, sondern zu sprengen.

Das hatte ihm den schönen Namen „Dynamit-Rudi“ eingebracht. ­Etwas von diesem Geist des Sprengens, der alles, was nicht zur Ware gemacht werden konnte und verwertbar war, aus dem Weg zu 68

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s­chaffen versucht, herrschte in der Stadt noch immer, als ich aus ­Oldenburg zurück in die Metropole am Main kam. Es brauchte Menschen, die bereit waren, Räume zu schaffen für die Künste, für Theater, ­Museen, Konzerthäuser, für ein Musiktheater und ein Ballett – die nicht in Tradition erstarrt vor sich hindümpelten. Es brauchte Menschen, die überzeugt waren von der unabdingbaren Notwendigkeit von Künsten auf der Höhe ihrer Zeit, und die sich vehement dafür einsetzten, künstlerische Erfahrungs- und Reflexionsräume für die Städte­bewohner des 20. Jahrhunderts bereitzustellen. * Die Stadt hatte Glück. Es gab diese Menschen und es gab die Einrichtungen, die sie geschaffen hatten. Allen voran das Schauspiel Frankfurt unter der Intendanz von Peter Palitzsch von 1972 bis 1980. Weil es die Zeit war, in der der junge Regisseur Hans Neuenfels mit bahnbrechenden Inszenierungen von sich reden machte – exemplarisch „Medea“ von Euripides 1976 – wurde diese Zeit auch die Palitzsch-Neuenfels-Ära genannt. Bekannt wurde das Schauspiel Frankfurt in diesen Jahren nicht zuletzt durch das Experiment eines Mitbestimmungsmodells. Auch wenn der Versuch, eine Mitbestimmung des ganzen Ensembles in allen organisatorischen und künstlerischen Belangen durchzusetzen, letzten Endes scheiterte, war es doch eine große Zeit des Sprechtheaters in Frankfurt.

Neben dem Schauspiel ist besonders das Theater am Turm, das TAT, zu nennen. Das TAT, aus der 1953 gegründeten Landesbühne Rhein-Main erwachsen, wurde ab den 1960er Jahren mit den Arbeiten von Claus Peymann und dem Dramaturgen Wolfgang Wiens und dann später durch Tom Stromberg zu dem legendären Frankfurter Theaterlabor, vernetzt mit der internationalen Avantgarde: Vivienne Newport, Jan Fabre, Jan Lauwers und die Needcompany und Anna Teresa De Keersmaeker waren regelmäßige Gäste.

Von größter Bedeutung für eine Kunst der Moderne in einer modernen Metropole war der Kulturdezernent Hilmar Hoffmann.

Seine Verdienste um die Künste in seiner Zeit als Kulturdezernent von 1970 bis 1990 sind nicht hoch genug einzuschätzen. Hoffmann war Gründer der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, aus69

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gebildeter Regisseur und Kulturpolitiker. Unter seinem Lebensmotto „Kultur für alle“ hat er früh die Freie Szene im Kulturbereich gefördert und das Mitbestimmungsmodell am Schauspiel initiiert. Er hat eines der ersten kommunalen Kinos eingerichtet, das Künstlerhaus Mousonturm auf den Weg gebracht und neue Museen (u. a. das Filmmuseum, Architekturmuseum und das ­Museum für Moderne Kunst (MMK)) geschaffen. Das Museumsufer Frankfurt geht auf seine Initiative zurück. Hilmar Hoffmann war der Mann, den es gebraucht hat, um von verantwortlicher kommunalpolitischer Seite Räume für eine entschiedene Kunst der Moderne zu schaffen, die der modernsten Stadt des Kapitalismus begegnen konnte.

Und die Oper? Oper fand nach dem Krieg nicht mehr am Opernplatz statt. 1944 durch einen Fliegerangriff zerstört, stand dort nur noch die Ruine der vormaligen, jetzt Alten Oper bis zu ihrem Wiederaufbau 1977, der 1981 abgeschlossen war. Die Alte Oper wird seitdem als Konzert- und Veranstaltungshaus genutzt.

Die neue Oper, das Haus, in dem Opernaufführungen stattfinden, fand 1963 in der doppelten Theateranlage – Schauspiel und Oper – am Theaterplatz, jetzt Willy-Brandt-Platz, ein Zuhause. Von 1952 bis 1961 erlebte das Frankfurter Opernpublikum unter dem Generalmusikdirektor Georg Solti musikalisch mitreißende Aufführungen – bis der Maestro in Frankfurt immer mehr durch Abwesenheit glänzte, um auf Gastspielreisen seine Weltkarriere voranzutreiben.

Auch unter Christoph von Dohnányi, einst Assistent unter Solti, ab 1968 Generalmusikdirektor und seit 1972 Operndirektor in Frankfurt, war das musikalische Niveau der Aufführungen hoch. Die szenische Ausgestaltung konnte aber weder unter Solti noch Dohnányi mithalten. Die Vorstellung, dass Oper ein Gesamtkunstwerk ist, in dem viele Künste zusammenwirken, und es dafür vor allem einer klugen Dramaturgie bedarf, die mit mehr als mit Programmheften und Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt ist, war beiden Künstlern eher fremd. Der Musikkritiker der Frankfurter Rundschau Hans-Klaus Jungheinrich fasst die szenische Praxis unter Solti und Dohnányi so zusammen: „Die meisten Neuinszenierungen wurden auf die da70

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mals noch nicht hinterfragte routinemäßige Weise von ‚Hausregisseuren‘ in drei- bis vierwöchiger Probenzeit hingeschludert. […]

Viele Premieren lagen inszenatorisch keinen Strich über der Konfektion.“ Allerdings haben in diesen Jahren auch Klaus Michael Grüber eine Doppelaufführung von Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und Arnold Schönbergs „Erwartung“ (1974) sowie Hans Neuenfels „Macbeth“ (1976) inszeniert.

„Ohne Leitbild“ Trotz solcher Ausnahmen: Die Oper in Frankfurt war vor dem Antritt von Michael Gielen, Christof Bitter und mir 1977, obgleich musikalisch beachtlich, doch weit entfernt von einer Kunst für Zeitgenossen, einem Opernhaus für ein Frankfurt der künstlerischen Moderne. Mit Recht stellt Jungheinrich in seinem Überblick über unsere Frankfurter Jahre fest: „Offenbar verstanden die ab Sommer 1977 in Frankfurt tätigen Männer ihre Arbeit nicht als Nachfolge, sondern als […] freien Entwurf.“ Das trifft es ziemlich genau. Die Ablehnung von „Nachfolge“ und einer Politik des „Weiter so“ war wohl die Voraussetzung unserer Verpflichtung.

Vermutlich war Hilmar Hoffmann daran gelegen, endlich auch die Oper auf das Niveau der anderen Häuser in Frankfurt zu heben. Die Rede vom „freien Entwurf“, der unsere Arbeit war, hielt fest, dass wir nicht mit einem fertigen und festen künstlerischen Konzept in Frankfurt angetreten sind. Wenn heute oft zu hören ist, dass in der „Gielen-Zehelein-Ära“ in Frankfurt das zeitgenössische Musiktheater aus der Taufe gehoben wurde, so sind das Formulierungen und Urteile, die weit im Nachhinein entstanden sind. Was immer daran richtig sein mag: Wir waren, als wir antraten, mit Adorno gesprochen „ohne Leitbild“.

Wir, das waren Michael Gielen, Generalmusikdirektor und Operndirektor, Dr. Christof Bitter als Co-Operndirektor für die Spielzeiten 1977/78 und 1979/80 und meine Person als Chefdramaturg, Mitglied der Direktion ab 1980/81 und später Koordinierter Operndirektor.

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Michael Gielen und Klaus Zehelein. Foto: Mara Eggert

Wer waren wir und warum fanden wir zusammen? Ich denke, es war das Engagement für die Neue Musik, das uns zusammenbrachte. Der Dirigent Michael Gielen, 1940 mit seiner Familie vor den Nazis nach Argentinien emigriert, begann schon mit elf Jahren das Klavierwerk Arnold Schönbergs zu studieren. Sein Lehrer Eduard Steuermann war Schönberg-Schüler. In Buenos ­Aires gehörte er als Pianist dem Ensemble Agrupación Nueva Música der Argentinischen Gesellschaft für Neue Musik an. Dort lernte er auch Mauricio Kagel kennen. Nach seiner Rückkehr nach Europa ging Gielen zunächst an die Wiener Staatsoper als Korrepetitor und traf dort auf die Mitläufer und Nutznießer des Nationalsozialismus Herbert von Karajan, Karl Böhm und Clemens Krauss. Danach ging er eigene Wege. Von 1960 bis 1965 war er Musikdirektor der Königlichen Oper in Stockholm.

Musiktheatergeschichte schrieb Michael Gielen mit der Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ 1965 in Köln. Die Oper, die neben einem überdimensionierten Orchester auch Multimedia-Elemente, Filmprojektionen und Bandeinspielungen vorschreibt, galt zuvor als unspielbar. Ich bin 72

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Klaus Zehelein beim Studium einer Partitur. Foto: Mara Eggert

seinerzeit nach Köln gereist, habe die Uraufführung gesehen und danach auch mit Michael Gielen gesprochen. Kein Zweifel: Die Uraufführung von Zimmermanns „Die Soldaten“ war für die Entwicklung der Oper im 20. Jahrhundert ein „Geschichtszeichen“, wie Kant es nennt. Von dem Anspruch an ein zeitgenössisches Musiktheater, der darin gesetzt ist, gab es kein Zurück mehr.

Das sah auch Christof Bitter so, der 1974 postum Bernd Alois Zimmermanns Schriften unter dem Titel „Intervall und Zeit“ herausgegeben hatte. Promoviert worden war Christof 1959 mit einer ausgezeichneten Dissertation über die Inszenierungsgeschichte des „Don Giovanni“. Nach Stationen als Dramaturg u. a. in Bielefeld und Kiel und einer Tätigkeit als Lektor im Musikverlag B. Schott’s Söhne in Mainz war er von 1968 an Haupt­ abteilungsleiter Musik beim Saarländischen Rundfunk. Sein Fokus lag also gleichfalls auf der Neuen Musik, als er nach Frankfurt kam.

Das war bei mir nicht anders – einerseits. Andererseits hatte ich vor allem durch meine dramaturgische Arbeit im Sprechtheater und die enge Zusammenarbeit mit den Regieführenden ein Gespür für visuelle Lösungen und reichliche Erfahrungen in der 73

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Transformation von Text in Szene. Das hat mir in Frankfurt sehr geholfen beim Vorschlagen und bei der Auswahl von Regisseurinnen und Regisseuren. Dabei war ich nicht immer einer Meinung mit Michael Gielen und Christof Bitter: Christof war mit mir d‘accord, Hans Neuenfels und Ruth Berg für die Regie zu gewinnen.

Beide kannte er, von beiden hatte er Inszenierungen gesehen – auch Neuenfels’ erste Opernarbeit „Der Troubadour“ in Nürnberg. Er hat aber auch einen damals gehypten Regisseur wie ˇ ­Jonathan Miller für zwei Inszenierungen vorgeschlagen (Janáceks „Das schlaue Füchslein“ und Wagners „Der fliegende Holländer“).

Millers Arbeiten waren witzig, aber doch stark konventionell.

Heute ist er nicht mehr bekannt, gehalten haben sich die Namen von Hans Neuenfels und Ruth Berghaus.

Wir hatten kein Leitbild und ausgearbeitetes Konzept, aber wir hatten ein paar Grundsätze, als wir in Frankfurt anfingen. Der erste Grundsatz war, dass wir uns Zeit nehmen, alle anstehenden Produktionen und Probleme gemeinsam zu besprechen. Das haben wir auch gemacht. Oft saßen wir bis spät in die Nacht da.

Dabei ging es auch um organisatorische Fragen, hauptsächlich aber um die Inhalte des Spielplans und um die Opern selbst, die wir in Frankfurt vorstellen und vermitteln wollten. Es war nicht immer leicht, dafür die Zeit zu finden. Vor allem die Vorbereitung gestaltete sich schwierig. Wir hatten für die Vorarbeiten zu den ersten Spielzeiten von der Stadt kein Geld gefordert, und ein Büro haben wir nicht bekommen – ganz im Gegensatz zu unserem Nachfolger, der bestens für die Vorbereitung ausgestattet wurde.

Da traf es sich gut, dass Christof Bitter uns sein Haus am Lago Maggiore zur Verfügung stellen konnte. Dort haben wir intensiv miteinander diskutiert und auch gestritten. Das war notwendig.

Denn: Das Gute und Richtige stellt sich nicht von allein ein, es braucht die Auseinandersetzung mit allen Argumenten und Positionen, die von allen Seiten eingebracht werden.

Unser zweiter Grundsatz: Wir machten keinen Unterschied, wie wir Werke des 20. Jahrhunderts oder altbekannte Repertoirestücke anzugehen hatten. Wir haben da keine unterschiedlichen 74

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Strategien entwickelt. Vor allem mit dem Engagement von Pamela Rosenberg, meiner späteren Ko-Intendantin in Stuttgart, kam dem Repertoire bei uns seine gewichtige Bedeutung zu. Alles ist aus der gleichen Ernsthaftigkeit gegenüber den Werken entstanden. Nur so wird es möglich, dass die Werke der Moderne und die der Geschichte sich wechselseitig beleuchten. Das bedeutete die Abkehr von einem an Tradition und Konventionen orientierten klassisch-romantischen Repertoire. Es ging nicht darum, die Werke schlicht zu aktualisieren, sondern sie mit unserer Zeit zu konfrontieren. Es hieß, die Opern der Moderne immer auch im Blick darauf zu sehen, was aus der Vergangenheit darin aufscheint. Die Gleichwertigkeit der Werke der Moderne und der vorausgegangenen Jahrhunderte in einem Repertoire war nach unserer Ansicht die Voraussetzung für ein Musiktheater, das den Herausforderungen des Lebens in unserer Zeit gerecht wird. * Der dritte und vielleicht entscheidende Grundsatz, unter dem wir angetreten waren, ist die Verantwortung gegenüber dem Werk.

Damit war nicht gemeint, was man im Nationalsozialismus und in den 1950er Jahren unter dem Schlagwort der „Werktreue“ verstand. „Werktreue“ zielte auf das Festhalten von Aufführungskonventionen, nicht auf eine Befragung der Werke. Unter dem „Werk“ verstanden wir in der Oper das Libretto und die Partitur inklusive ihrer Vor- und Nachgeschichte sowie unterschiedlicher Fassungen, jeweils voneinander unterschieden und zueinander in Beziehung gesetzt. Das implizierte auch die Gleichberechtigung von Musik und Szene. Keines sollte dabei des anderen Diener sein. Gerade aus der relativen Eigenständigkeit von beiden konnten sich erhellende Widersprüche zeigen. Die Verantwortung gegenüber dem Werk schützte auch vor vorschneller, aktualisierender, oberflächlicher Interpretation und gedankenloser Nach­ ahmung von Aufführungskonventionen. Und es ermöglichte den Werken, uns durch das Zusammenspiel der Differenzen in ihren Elementen in eine produktive Unruhe zu versetzen. Keine aufs Verständnis eines Ganzen zielende Interpretation hielt dieser pro75

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duktiven Unruhe stand. Das genau machte das (Fort)Leben der Werke in der Gegenwart aus. Dafür übernahmen wir die Ver­ antwortung. Allen voran Michael Gielen. Sein Verantwortungs­ bewusstsein gegenüber den Werken konnte zuweilen in eine unerbittliche Strenge umschlagen. Das traf dann diejenigen im Orchester, die Abstand zum Ethos der Verantwortung hielten.

Was heißt Verantwortung übernehmen? Wichtig scheint mir die folgende Unterscheidung: Verantwortung kann nicht heißen, sich einzusetzen für eine bestimmte Interpretation, für ein Konzept oder eine Idee, die aus dem Werk abstrahiert und abgezogen wurden. Dieses Verfahren wird heute gewöhnlich mit dem Begriff des Regietheaters assoziiert. Verantwortung übernehmen heißt, sich einzusetzen für die prinzipielle Offenheit und Unabgeschlossenheit von Kunstwerken, für die Beachtung des Nicht-zu-Vereinbarenden in jeder geschlossenen Interpretation. In einem „Uner­ hörte Augenblicke“ überschriebenen Rückblick auf die Frankfurter Jahre schrieb ich: „Die Sprache der Kunstwerke ist die eines Rätsels. Jeder Interpretierende weiß, dass er sowohl ‚traduttore‘ als auch ‚traditore‘, Übersetzer und Verräter (am Rätselcharakter des Kunstwerks) ist. Was von vielen als Ärgernis der Frankfurter Opernarbeit aufgenommen wurde, war für uns eine Qualität: dass im Ansatz widersprüchliche Erfahrungen nicht verschwiegen, sondern in den Aufführungen ausgehalten wurden. Eben nicht um die Enträtselung der Werke ging es, in der die Scheinhaftigkeit der Lösungen mit der Ideologie vom Verschwinden der Arbeit am Werk korrespondiert – jene ‚Barbarei der Vollendung‘, wie dies der Pianist Eduard Steuermann einmal nannte. Den je spezifischen Spuren der Werke folgend, eher abwartend dem Fluss der Bedeutungen nachgebend: Die schönsten Aufführungen dieser Frankfurter Ära haben sich dem schnellen Zugriff eines Resultats entzogen.“ Verantwortung gegenüber dem so verstandenen Werk zu übernehmen, findet keinen Halt an einer aufs Ganze zielenden Deutung. Halt findet sie nur im Handeln: in der Verfolgung des 76

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Klaus Bertisch, Helga Niemeyer, Klaus Zehelein, Carla Gläser, Jürgen Drescher, das Dramaturgie-Team im Sommer 1987. Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

Pamela Rosenberg, Michael Gielen, Klaus Zehelein, Udo Grefe, die Direktion 1987. Foto: Mara Eggert 77

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eigenen künstlerischen Wollens, welches in der Arbeit mit anderen zusammen immer wieder neu zu entdecken und zu entfalten ist. Weil die Entscheidungen, die dabei getroffen werden, nirgendwo vorgegeben, weil das Gelingen dieses Tuns nicht garantiert ist, ist solches Handeln immer ein Risiko. Dieses Risiko einzugehen, ist die gleichsam existentialistische Grundbedingung des verantwortungsvollen Subjekts.

Die Dinge ausdiskutieren im offenen Gespräch, an der Herstellung eines Repertoires arbeiten, das die Moderne und Opern vorangegangener Zeiten gleichberechtig umfasste, und Verantwortung zu übernehmen für die Werke – mehr war es nicht, von dem wir bei unserer Arbeit ausgingen. Es hat gereicht, auf nachhaltigen Widerhall zu stoßen und die Szene des Musiktheaters gründlich zu verändern. An drei Produktionen, die als Höhepunkte der Frankfurter Opernjahre in Erinnerung geblieben sind, möchte ich zeigen, welche Ausgestaltung unsere generellen Überlegungen in der konkreten Arbeit gefunden haben. Dabei kommt der historischen Verortung der Werke, der spezifischen Zeit der Oper, eine besondere Bedeutung zu.

Drei Beispiele unserer Arbeit, die keine Beispiele sind Luigi Nono: „Al gran sole carico d’amore”, Spielzeit 1977/78 Am 1. September 1959 hielt Luigi Nono im Rahmen der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt den wegweisenden Vortrag über „Geschichte und Gegenwart in der neuen Musik“. Helmut Lachenmann hatte ihn übersetzt und war als Schüler Nonos sicherlich an der Konzeption beteiligt. Ich hatte das Glück, dabei zu sein und mit Nono darüber zu reden. Nono war in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit dieser Zeit einer massiven Abwehr gegen die politische und gesellschaftliche Stellung von Musik ausgesetzt. In seinem Vortrag versuchte er, seine Position, das Kunstwerk auch als Dokument einer Epoche zu verstehen, öffentlich zu bekräftigen. Die Freiheit des Komponisten 78

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Luigi Nono. Foto: Mara Eggert

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liege, so Nono, in der Verantwortung gegenüber der Geschichte und Gegenwart. Von Beginn an begriff Nono technologische Avanciertheit nicht als hermetischen Raum der Totalität von Reihen, als eine, wie Stockhausen es formuliert, „überpersönliche Musiksprache“, die jedes expressive Moment ausgrenzt. Udo ­Unger hat Nonos Verfahren als ein Komponieren in der Entscheidung pointiert: „objektivierende Technik im Dienst subjektiven Ausdrucksstrebens“.

Mich hat dieses Verfahren Nonos unmittelbar angesprochen.

Sein kompositorisches Vorgehen und das diesem zugrunde liegende historisch-gesellschaftliche Selbstverständnis korrespondierten mit meiner Auffassung über das Risiko der Verantwortung. Die polare Spannung zwischen deterministischen Strukturen serieller Arbeit und der Entscheidung des Komponierenden kann in Nonos Komponieren eben auch, das wurde mir rasch klar, als die ambivalente Erfahrung des Subjekts beschrieben werden, das sich vereinnahmt sieht von einem fortschrittsgläubigen technologischmechanischen Geschichtsbild, gegen das sein Einspruch notwendig erscheint, wenn das Subjekt sein Verschwinden nicht widerspruchslos hinnehmen will.

Aus dieser doppelten Einsicht in Nonos Komponieren und in die Bedeutung subjektiver interventionistischer Entscheidungen im Lauf von Geschichte ergab sich für mich eine weitere Schlussfolgerung: dass nämlich die Dramaturgie einer Oper im Sinn von Nono nicht einer linearen Narration – der musiktheatralen Repräsentanz objektivistischen Geschichtsverständnisses ebenso wie (kompositorisch) deterministischer Reihen – folgen konnte.

Im April 1975 kam Nonos zweite Oper „Al gran sole carico d’amore“ in Mailand zur Uraufführung. Claudio Abbado hat dirigiert, die Regie hatte Juri Ljubimow, der Leiter des TagankaTheaters in Moskau, übernommen, mit dem Nono bei der Erstellung des Librettos eng zusammengearbeitet hatte. „Al gran sole carico d’amore“ greift einzelne Episoden aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, der Klassenkämpfe und Revolutionen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart auf. Im ersten Teil steht die 80

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Pariser Kommune im Zentrum, der zweite Teil greift die Russische Revolution von 1905, den Streik der Fiat-Arbeiter im Turin der 1950er Jahre, die Revolution auf Kuba, den Guerillakampf von Tamara Bunke und den Vietnamkrieg auf. Nono verzichtet auf jede lineare Erzählung, Entwicklung und Perspektive. Die Beschreibung von Ereignissen und Personen findet meist indirekt, durch Zitate statt. So übernimmt er Passagen aus Brechts Stücken „Die Tage der Commune“ und „Die Mutter“ oder auch Texte von Cesare Pavese und Arthur Rimbaud. Aus einer Zeile von Rimbauds Gedicht „Die Hände der Jeanne-Marie“ ist der Titel „Al gran sole carico d‘amore“ entnommen: „Dunkle Hände, die der Sommer gerbte … / Sie erblassten, die wunderbaren / Unter der großen Sonne von Liebe beladen.“ Es sind die Hände einer Frau.

Und Frauen, Kämpferinnen, Revolutionärinnen wie die Kommunardin Louise Michel, Brechts Mutter oder Tamara Bunke aus der DDR, die sich den Guerillas in Argentinien angeschlossen hatte, stehen im Zentrum der „Azione scenica in due tempi“.

Schon mit Nonos erster Oper „Intolleranza 1960“, der diskontinuierlichen Geschichte eines Bergarbeiters, der auf dem Weg zurück in die Heimat unterschiedliche Stationen von Folter und Unterdrückung durchmacht, war ich gut vertraut. Für „Al gran sole“ hatte er sein Material neu strukturiert. Sehr bewusst entnahm Nono sein Material unterschiedlichen Textarten: Tagebücher, Lieder, autobiographische Texte, Gedichte, essayistische und natürlich auch szenisch-dramatische Texte. Das zeigte eine solche Vielfalt an Niveaus, dass Erzählung im traditionellen Sinn gar nicht mehr stattfinden konnte – und sollte. Nono setzt in „Al gran sole“ keine Figuren mehr ein, die einen überschaubaren Weg gehen. Dieser Weg war in „Intolleranza 1960“ noch durch die Blöcke Faschismus und Revolution bzw. Utopie definiert und endete schließlich im Scheitern. Das Scheitern ist auch Strukturmoment des gesamten Stückes „Al gran sole“, aber nicht als Aufgeben von Positionen, sondern als eine den Positionen selbst innewohnende Problematik. Dieses gleichsam immanente Scheitern kommt in „Al gran sole“ zur geschichtlichen Entfaltung. Nicht 81

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umsonst handeln die gesamten Texte von Verlusten, von Verlorenen, von zu Betrauernden. Die geschichtlichen Referenzpunkte sind die gescheiterten Revolutionen – die Pariser Kommune 1871, Petersburg 1905 und Moncada auf Kuba 1953. Man darf auch nicht vergessen, dass der Kontext des Stücks das abrupte Ende der Demokratie in Chile und der Tod Salvador Allendes ist. In Deutschland beendeten die Ereignisse des „Deutschen Herbstes“, der Terror der RAF, die Ermordung Hanns Martin Schleyers, der Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim und die damit verbundene staatliche Repression fürs Erste alle Blütenträume für eine Gesellschaft, die sich einem Mehr an Demokratie, Gerechtigkeit und Weltoffenheit verschrieben hatte.

Das Scheitern war die historische Grunderfahrung der späten 1970er Jahre, die sich „Al gran sole“ eingeprägt hat. Ich sah darin das Stück der Stunde. Aber es ist kein pessimistisches Stück.

Nur ist Geschichte darin nicht in schwarz und weiß, als gescheiterte Aufbrüche und sieghafte Revolutionen, dargestellt. Anstelle der bloßen Behauptung von Scheitern und sieghaftem Triumphieren ist auch das Scheitern in „Al gran sole“ geöffnet für etwas, das jenseits von Pessimismus und Optimismus auf Fragen beharrt.

Auch nach der Szene „Die Mauer der Konföderierten“, nach dem Mord an den Kommunarden, stellt sich diese Notwendigkeit des Weiterdenkens. Und das nicht durch Oppositionen, sondern durch Öffnen des Vorgangs selbst. Die Erfahrung neuer Perspektiven ist bereits im Stück angelegt. So, dass das Geschichtsbewusstsein, das Nonos Oper auf diese Weise entbindet, im Einspruch eines „Doch“ gegenüber all dem, was uns umgibt, zu sehen ist.

Eben weil Luigi Nonos „Al gran sole“ so punktgenau ihre Zeit in Töne und Gedanken fasst, wollten Michael Gielen, Christof Bitter und ich es programmatisch an das Ende unserer ersten Spielzeit in Frankfurt stellen. Regie sollte, so hatten wir es geplant, Ruth Berghaus führen. Ruth Berghaus, Choreographin, Schülerin von Gret Palucca, verheiratet mit Paul Dessau, dem Vorzeigekomponisten der DDR, hatte als Regisseurin und Intendantin das Berliner 82

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Ensemble von 1971 bis 1977 zu einem nicht mehr erhofften Blühen gebracht. Ihr war es gelungen, entgegen der ideologischen und ästhetischen Bevormundung durch die Partei und die Dok­ trin des sozialistischen Realismus das Haus, das nach Brechts Tod einem Mausoleum glich, zu neuem Leben zu erwecken und ­Regisseure und Autoren wie Einar Schleef, B. K. Tragelehn und Heiner Müller ans Berliner Ensemble zu binden. Der junge Peter Konwitschny hat in dieser Zeit bei Berghaus gelernt. Ruth Berghaus, Kommunistin und Mitglied der SED, war jeder Ideologie abhold und neugierig und offen für jede neue Erfahrung, die sich an den Werken, mit denen sie sich befasste, machen ließ. Ruth Berghaus bewegte sich geschickt und erfolgreich auf dem schmalen Grat zwischen Repräsentation und Dissidenz. Sie schien mir die geeignete Frau für die Zusammenarbeit mit Luigi Nono, der, obgleich Mitglied der PCI, der kommunistischen Partei Italiens seit 1952, mit der doktrinären Politik der DDR nichts am Hut hatte. Nono war stark beeinflusst von Antonio Gramscis Philosophie der Praxis, einem Versuch, linkes politisches Handeln jenseits der Legitimationsideologie der kommunistischen Partei vom objektiven, determinierten Gang der Geschichte zu denken.

Diese Betonung der menschlichen Praxis passte zur neu entstandenen Bewegung des Eurokommunismus, der seit 1975 in Westeuropa in Abgrenzung zu dem Kommunismus sowjetischer Prägung entstanden war. Die eurokommunistischen Parteien Italiens, Spaniens und auch Frankreichs verwarfen die Idee einer Diktatur des Proletariats und wollten ihre Ideen im Rahmen einer parlamentarischen, pluralistischen Demokratie voranbringen. Vor diesem Horizont schien uns die Zusammenarbeit einer undogmatischen, weltoffenen ostdeutschen Kommunistin und eines italienischen Gramsci-Marxisten äußerst produktiv und sinnvoll für ein Werk wie „Al gran sole“. Ruth Berghaus erhielt allerdings keine Genehmigung für diese Gastinszenierung in Frankfurt.

Nach einigen Gesprächen schien es uns richtig, dass Jürgen Flimm die Regie übernehmen sollte. Karl-Ernst Herrmann entwarf die Bühne, die Kostüme Nina Ritter.

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Anfang 1978 fand in Mailand die Wiederaufnahme von „Al gran sole“ statt. Wir fuhren mit der ganzen Kapelle hin: Gielen, Bitter, Flimm, Herrmann und ich. Es ging darum, Luigi Nono von unserer Lesart seiner Oper zu überzeugen. Das war nicht einfach. Nono war von Ljubimows Inszenierung von 1975 überzeugt, die nun zur Wiederaufnahme kommen sollte. Er hielt sie für modellhaft.

Unser Problem war: Die Mailänder Inszenierung war eine Enttäuschung. Musikalisch ausgezeichnet, Claudio Abbado dirigierte, aber in einer gewissen Weise szenisch plakativ und von einer langatmigen Biederkeit. Es war eine tableauhafte Bebilderung, z. B. wurde Delacroix’ Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ auf der Bühne nachgestellt. Die Inszenierung wurde der Struktur des Fragmentarischen und der Dramaturgie der Immanenz des Scheiterns, die das Werk ausmachen, im Grunde nicht gerecht. Stattdessen trat eine eindeutige politische Parteinahme hervor. Das Oratorienhafte der Inszenierung ging in die Richtung eines Requiems für die „unsterblichen Opfer“, wie sie in jenem Trauermarsch besungen werden, der zum eisernen Bestand der kommunistischen Geschichtspolitik zählt. Es suggerierte die Kontinuität einer Opfergeschichte, die den Weg in eine bessere Zukunft weisen soll. Die Zukunft des Kommunismus auf das ritualisierte Gedächtnis der Opfer der Vergangenheit zu bauen, mit dieser Strategie waren die kommunistischen Parteien in Europa nach dem Krieg der Faschisten und Nationalsozialisten angetreten. Dass diese Strategie immer neue Opfer erfordert hat und an ihr Ende gekommen war, hatte Ende der 1970er Jahre Heiner Müller in seinem Stück „Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution“ ausgesprochen und vor Augen gestellt. Von dieser Einsicht war in der Mailänder Inszenierung von Nonos Werk nichts zu spüren.

Ljubimows Inszenierung war so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir auf der Grundlage unserer musikdramaturgischen Analyse anstrebten. Wie konnten wir mit Nono darüber reden?

Mir war bekannt, dass Nono in solchen Gesprächen durchaus ausrasten konnte, ich habe das später einmal selbst erlebt. Naheliegend war, dass Michael Gielen als Dirigent und Komponist am 84

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besten mit Nono reden sollte. Aber Michael wollte das nicht übernehmen. Als ich mich umblickte, stand ich allein da. Also habe ich mit Luigi Nono drei Stunden intensiv und ins Detail gehend diskutiert. Am anderen Morgen kamen die anderen wieder dazu.

Nono und ich waren inzwischen schon bei „Klaus“ und „Gigi“ angekommen. Und Nono verkündete den anderen: „Klaus kennt das Stück besser als ich.“ Das stimmte natürlich nicht. Aber es sprach ein großes Vertrauen daraus.

Für die Proben kam Luigi Nono nach Frankfurt. Unsere Gespräche gingen weiter. Nono nahm regen Anteil an unseren Überlegungen. Er hat eine Umarbeitung des Werks vorgenommen, die Instrumentationskorrekturen sowie eine teilweise Neukomposition und eine Überprüfung der Tonbandeinspielungen betraf. Viele Gespräche darüber führten wir in der Pfälzer Weinstube gleich neben dem Theater, wo man einen recht trinkbaren Wein bekam. * Für die Inszenierung arbeiteten Jürgen Flimm und Karl-Ernst Herrmann das erste und einzige Mal zusammen. Uns war klar, dass wir die einzelnen Szenen nicht illustrieren wollten. Es ging darum, für die Brüche und Reibungen von Text und Musik szenische Distanz zu schaffen. Dazu wollten wir das Geschehen zum einen bildhaft konkretisieren, um ein mögliches Pathos des rein Oratorischen zu vermeiden. Zum anderen sollten die Bilder eine eigene, kommentierende oder surreale Dimension in das Geschehen einführen. Das ist Flimm und Herrmann meines Erachtens sehr gut geglückt. Ich erinnere mich an die Szene gleich zu Beginn. Nono hatte die Rolle der Louise Michel, der Revolutionärin der Pariser Kommune, auf vier Soprane aufgeteilt, um sowohl einer Heroisierung der Einzelnen wie auch ihrem Aufgehen im Kollektiv zu entgehen. Der Text von Louise Michel zu dieser musikalischen Szene lautet: „Für dieses weite und hilfsbereite Herz – trunken von Solidarität – ist die einzig atembare Luft die Menschenliebe.“ Um einem möglichen Abgleiten ins Sentimentale zu entgehen, hatte Flimm die glückliche Idee, den Gesang der vier 85

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v.l.n.r. Karl Ernst Herrmann, Klaus Zehelein, Michael Gielen, Jürgen Flimm und Luigi Nono anlässlich des Gastspiels „Al gran sole carico d’amore“ in Amsterdam 1979.

Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

Soprane mit dem Vorgang des Wäscheaufhängens, einer alltäglichen Arbeit im überkommenen Bild der Frau, zu verbinden. Da standen die vier Sängerinnen, beschworen den alle verbindenden Äther der Menschenliebe und taten das, was Frauen seit jeher taten: Sie hängten die Wäsche auf. Durch diese bildhafte Konkretisierung wurde die Szene zum einen geerdet, zum anderen wurde sie geöffnet auf eine neue Perspektive: Durch sie zeigte sich die Differenz zwischen der Arbeit für die Revolution und der Arbeit fürs alltägliche Überleben – eine nicht auflösbare Spannung, ein unlösbarer Widerspruch. Übrigens haben wir für die Ver­ständ­ lichkeit der Texte einen sehr großen Fernseher auf der Mitte der Bühne platziert. Wir wollten, dass die Texte verstanden werden, 86

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aber wir wollten die Oper nicht auf Deutsch machen. Uns war wichtig, dass das Publikum tatsächlich den Text hatte.

Nono hat in der Zusammenarbeit mit der Frankfurter Produktion von „Al gran sole“ sehr genau gespürt, dass die Zeit der großen Erzählungen zu Ende gegangen war und es darauf ankam, durch solche einander überlagernden Schichten auf der Szene Probleme nicht zu lösen und Fragen nicht zu beantworten und gerade dadurch Geschichte offenzuhalten.

Das fiel ihm nicht immer leicht. Es gibt im zweiten Teil des Stücks die Szene „Russische Fabrik. Die Mutter verteilt Flugblätter“. Wir zeigten den Sohn, der nachts die Flugblätter mit dem Aufruf zur Veränderung an die Mauern klebt. Er wird von der Polizei verhaftet und abgeführt. Die Polizisten verbrennen die aufrührerischen Flugblätter. Während der gesamten Szene singt der Chor den Beginn des Kommunistischen Manifests: „Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst des Kommunismus.“ Und dazu steigt die Asche der verbrannten Flugblätter auf. Viel Asche. Ein Aschenregen. Nono war entsetzt. „Das kann nicht sein!“ Das Kommunistische Manifest – alles Asche?! Ich musste in die Pfälzer Weinstuben mit ihm. Sofort! Zunächst habe ich ihm erklärt, dass die Verbrennung ja tatsächlich von der Polizei, also von einer Art Stasi-Spitzeln initiiert wird. Aber das beschrieb, soviel war uns beiden klar, nur die Kausalität der Oberfläche des Bildgeschehens. In Wirklichkeit stehen die musikalische Proklamation des Kommunistischen Manifests und das Bild der Asche gleichberechtigt und ohne Vor- und Nachgeschichte nebeneinander. Sie überlagern und kommentieren sich wechselseitig. Die Asche dementiert das Kommunistische Manifest, sie nimmt es gleichsam zurück – das ist nach der katastrophalen Geschichte des Kommunismus eine Einsicht und ein Handeln, das hoch an der Zeit ist, wenngleich eine psychisch schwer hinnehmbare Enttäuschung für alle, die ihm angehangen haben. Zum anderen aber erhält sich das Kommunistische Manifest gerade durch die Asche hindurch. Die Asche des Kommunismus, das heißt die Annahme des Scheiterns der klassischen kommunistischen Bewegungen weltweit, ist die Voraussetzung, 87

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dass die Idee des Manifests, die Befreiung der Unterdrückten und die Transzendierung der bestehenden Verhältnisse, in der Geschichte weiter virulent ist. Die Asche des Kommunismus war die historische Signatur, die wir für die deutsche Erstaufführung von „Al gran sole carico d’amore“ in Frankfurt 1978 gefunden haben.

Für Luigi Nonos Oper. Und für unsere Zeit.

Luigi Nono, so steht es auf Wikipedia, sah unsere Frankfurter Inszenierung „als zwingende szenische Alternative zur Arbeit von Ljubimow an“. Das stimmt. Von Nonos positivem Urteil abgesehen: Die Aufführung war ein großer, unbestrittener Erfolg. Sie fand internationale Beachtung und lockte Besucher:innen aus aller Welt nach Frankfurt, die spürten, dass hier eine Reise zu einer neuen Form von Oper, zu einem modernen Musiktheater begann. * Giuseppe Verdi: „Aida“, Spielzeit 1980/81 Am 31. Januar 1981 sollte die Premiere von Verdis „Aida“ stattfinden. Die Musikalische Leitung hatte Michael Gielen, Regie sollte Hans Neuenfels führen, die Bühne entwarf Erich Wonder und die Kostüme Nina Ritter. Das Stück gehört zu den Kronjuwelen der Schatzkammer des Repertoires. Generationen von Besucher:innen vor Neuenfels und Wonder wussten, wie dieses Stück zu inszenieren sei. Auch wenn sie nicht die Elefanten im Triumphmarsch in der Arena di Verona gesehen hatten, erwarteten sie doch ein saftiges Stück Exotismus. Enthebung aus dem Alltag und Verzauberung durch prachtvolle Bauten und Kostüme und das Gefühl des Erhabenen durch die Monumentalität einer fernen Zeit. Kurz, eine alltägliche Liebesgeschichte, ein Mann (Radames) zwischen zwei Frauen (Amneris und Aida), aber das Ganze aufgepeppt in exotischem Kostüm und Bühnenbild und vermeint­ licher Größe einer vergangenen Zeit.

Die Vermutung von Teilen des Publikums ging wohl dahin, dass sie dies an diesem Abend in Frankfurt nicht zu sehen bekämen.

Die Intensität und Aufmerksamkeit, die wir nicht nur Werken der Moderne, sondern auch und besonders den Opern des klassischen Repertoires zukommen ließen, – das war einer der Grundsätze, 88

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unter denen wir angetreten waren – verstanden sie als Angriff auf ihre liebgewordene Vorstellung von einer abgehobenen Kunst des Allgemein-Menschlichen, ohne jede historische Verortung, ohne jeden Gegenwartsbezug. Auf den „Angriff aufs Repertoire“, wie sie die Arbeiten von Hans Neuenfels, Ruth Berghaus, Christof Nel, ­Alfred Kirchner u. a. verstanden, reagierten sie mit deutlich vernehmbarer Aggression. Lange Zeit war unklar, ob wir mit unserem Konzept der Gleichwertigkeit und wechselseitigen Interpretation von Moderne und Repertoire erfolgreich sein würden.

Um drei Uhr nachmittags am Tag der Premiere von „Aida“ rief die Frankfurter Rundschau bei uns an: „Wir haben einen ­Anruf bekommen, dass eine Bombe im Opernhaus versteckt ist.“ Wir haben uns sofort mit den für die Sicherheit Verantwortlichen in Verbindung gesetzt. Nachdem eine Staffel Spürhunde das Haus durchsucht und nichts gefunden hatten, entschlossen wir uns einstimmig: Die Premiere findet statt.

Sie fand statt, aber sie war umkämpft. Während der Premiere und noch bei einigen wenigen Wiederholungsaufführungen war „Aida“ „dicht daran, in der Empörung düpierter Publikumsfraktionen unterzugehen“, wie der Kritiker Hans-Klaus Jungheinrich in seinem Rückblick zu den zehn Frankfurter Opernjahren 1977 bis 1987 berichtete. „Aida“ war der Höhepunkt der Proteste aus dem Publikum – und auch aus Teilen des Hauses –, aber es war auch ihr Wendepunkt. Noch einmal Jungheinrich: „Ein großer Teil der öffentlichen Resonanz war von Begeisterung erfüllt. […] Diese ‚Aida‘ wollten alle sehen und hören. Die Oper wurde zu einem der größten Publikumserfolge, die die Frankfurter Oper jemals hatte. ‚Aida‘-Vorstellungen waren oft ‚ausverkauftissimo‘. Zwei Publikumsströme vereinigten sich dabei: der kleinere der ‚Fans‘, denen ‚Aida‘ wie andere exzeptionelle Frankfurter Opernabende zur ‚Kultaufführung‘ wurde, die man sich bis zu -zigmal ansah und anhörte, und der größere der Neugierigen und Sensationslustigen, die sich diese Unerhörtheit einmal anschauen wollten und sich dabei möglicherweise ärgerten, vielleicht aber auch ein Damaskus-Erlebnis hatten, das sie zu An89

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gehörigen der ersten Gruppe und zu treuen ‚Aida‘-Anhängern werden ließ.“ Der allmähliche und andauernde Erfolg der „Aida“-Inszenierung von Hans Neuenfels war in unserer vierten Spielzeit ein ermutigendes Zeichen, dass unsere Arbeit nun auch im Repertoire anzukommen schien. Was machte diese Arbeit vor der Aufführung und hinter der Rampe aus? Auch in diesem Fall ging es um die Entdeckung der eigentümlichen Historizität der Oper, um ihr Verhältnis zu Geschichte und Gegenwart.

Wir wussten, dass die Sehnsucht des Publikums nach einem historistisch-exotischen Opernspektakel durch einen simplen Trick befriedigt wurde: Die Beziehungen und Gefühle der agierenden Personen mussten als alltäglich vertraut und nah beschrieben werden, als etwas, das so jedem von uns geschehen konnte. Von der Vorspiegelung dieser falschen Nähe und unterstellten Alltäglichkeit aus wurden die Personen dann in überhöhende Kostüme gesteckt und vor monumentale Kulissen gestellt. So wurde der Schein einer erhabenen Gegenwart geschaffen, die für drei Opernstunden über die erbärmliche Realität hinwegtrösten konnte.

Wollte man sich von dieser Opernpraxis verabschieden, musste man auf Abstand gehen und Distanz zwischen der Entstehungszeit der Oper, der darin verhandelten Zeit und unserer Gegenwart aufbauen. In der Vorbereitung wandte ich mich deshalb verstärkt der Entstehungszeit der Oper zu. Dass ihre Uraufführung im Opernhaus in Kairo am 24. Dezember 1871 stattfand, ist bekannt. Ebenso, dass die Eröffnung des Suezkanals 1869 in der Entstehungsgeschichte eine (umstrittene) Rolle spielte. Die Oper steht im historischen Kontext der Feier des industriellen Fortschritts, auch in seiner kolonialistischen Gestalt.

Ja, „Aida“ hat ihren Platz zwischen dem Suezkanal, diesem Triumph der Technik und Industrie, und der Ausstellung der Gesellschaft in der Mailänder Scala. Diese Schein-Wirklichkeit gerinnt ihr zum zentralen Motiv, kulminierend im Triumph-Bild, jener überkippenden bourgeoisen Selbstfeier zwischen Gott, Tod, Rache und Gnade im altägyptischen Kostüm. „Aida“ gehört auch 90

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in den Zusammenhang des deutsch-französischen Kriegs 1870/71.

Kaiser Wilhelm I. wiederholt im Spiegelsaal von Versailles die historischen Worte, die nach dem Sieg bei Sedan um die Welt gingen: „Wir haben gesiegt mit Hilfe der göttlichen Vorsehung; der Feind hat sich ergeben. Gott helfe uns weiter.“ Auch Verdi hörte diesen Satz von der „göttlichen Vorsehung“ und empfahl ihn seinem Librettisten Ghislanzoni als Muster für den Priesterchor beim Empfang der heimkehrenden siegreichen Ägypter.

Hartnäckig halten sich zu Verdis Engagement in Ägypten zwei Vorurteile. Erstens: Verdi habe das nur wegen des tatsächlich beträchtlichen Honorars von 150.000 Goldfranken gemacht, ohne inneren Bezug zu diesem Unternehmen. Und zweitens: Das Werk sei, so Edward Said, ein Werk des Orientalismus, das heißt einer Festschreibung des westlichen Blicks, das die Perspektive der britischen Kolonialherrn feiere. Beides sind wie gesagt Vorurteile. „Aida“ ist kein Werk des westlichen Imperialismus, wie Edward Said es behauptet hat, sondern eine Oper, die den westlichen Blick, die Perspektive des Orientalismus, umwendet auf die Kolonialherrn selbst, gleich welcher Provenienz sie sind. Und „Aida“ ist eine Oper, die den tieferen Grund des imperialistischen Strebens im 19. Jahrhundert benennt: die Sehnsucht zurück zu einem unangefochtenen Mittelpunkt der Erde, nach einer Rückkehr zum ursprünglichen Leben, nicht angekränkelt und verdorben durch die Abstraktheit und Kälte der Lebensformen in der modernen Zivilisation.

Die kulturelle Praxis, in der diese Sehnsucht ihren exemplarischen Ausdruck findet, ist die Archäologie. Die Archäologie ist die Metapher, die sowohl die Sehnsucht nach der Verlebendigung der toten, vergrabenen Zeiten artikuliert als auch durch ihre ­wissenschaftliche Objektivität diese sehnsüchtige Praxis zugleich vergegenständlicht und ausstellt. Auf der Suche nach einem Zugang zu „Aida“ schrieb ich 1981 in meinem Essay „Archäologie als Metapher“: „Die Archäologie ist eine der Metaphern, mit der das 19. Jahrhundert den Verlust konkreten Lebens, den verloren gegangenen 91

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Zusammenhang mit der Geschichte signalisiert, und das ans Licht gebrachte Ausgrabungsobjekt erhält den Wert des ,missing link‘, der die Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart garantieren soll. Aber so, wie der Archäologe im Volksglauben als Ruhestörer und Grabräuber den Fluch der Pharaonen fürchten muss, so legt die Berufung auf das Vergangene als Instrument, als Ausweis historischer Glaubwürdigkeit, ja Größe, den Schnitt endgültig, der Vergangenheit und Gegenwart, Historie und Leben trennt.“ So kann die Archäologie als Metapher für einen nicht historistischen Umgang der Gegenwart mit Geschichte gelesen werden: Als sehnsüchtige Hinwendung zu einer Welt, in der die Toten lebendig werden und Menschen und Dinge in einer unmittelbaren Lebenswelt am rechten Platz sind. Und als das wache Bewusstsein von der unwiderruflichen Trennung der Gegenwart von dieser Welt. Diese Trennungserfahrung, die an der Sehnsucht nach Rückkehr nicht abschüttelbar haftet, bewahrt den Wunsch nach dem Vormaligen vor der Regression und richtet ihr Potential an Emotionen und Energie auf die Transzendierung der Zukunft.

Die Metapher der Archäologie schien mir aus dem besonderen Grund passend für eine Annäherung an „Aida“, weil der Verfasser des Szenarios, das dem Libretto von Antonio Ghislanzoni zugrunde lag, selbst Archäologe war. Auguste Mariette (1820– 1881), ein französischer Ägyptologe, kam 1850 nach Ägypten. Er hat das Land dort vor dem Ausverkauf seiner Funde und Kunstschätze aus altägyptischer Zeit bewahrt, selbst Tempel und Gräber ausgegraben, eine Denkmalspflege eingerichtet und das Ägyptische Museum in Kairo gegründet. Dieser Mariette schreibt 1869 auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen Erfahrungen den Tagtraum „Aida“ auf, ein vollkommenes Opernszenario in vier Akten und sechs Bildern, wie wir heute wissen. Zur Zeit unserer Arbeit an „Aida“ Anfang der 1980er Jahre war das allerdings noch kaum bekannt. Der „Aida“-Entwurf von Mariette galt bis 1977 als verschollen – Jean Humbert veröffentlichte ihn zu der Zeit in der Révue de Musicologie. Ich wollte mir selbst ein Bild von diesem Entwurf machen und rief einen befreundeten Dramaturgen der 92

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Opéra de Paris an: „Könnt Ihr nicht mal nachsehen, ob es bei Euch im Archiv etwas zu ‚Aida‘ im 19. Jahrhundert gibt?“ Der Freund ließ sich bringen, was das Archiv zu meiner Anfrage hergab. Es waren zwei Berge an Büchern und Schriften, jeder etwa eineinhalb Meter hoch. Meine leicht unverschämte Bitte, ob er das alles nicht mal für uns durchsehen könne, wurde abgelehnt.

Drei Tage Arbeit für uns, das ging nicht. Er hatte selbst zu tun.

Das war verständlich. Intuitiv sagte ich: „Dann nimm den rechten Berg und greif mal auf etwa zwei Drittel seiner Höhe.“ Er legte auf. Nach einiger Zeit rief er wieder an: „Ich hab‘ was gefunden!“ Er hatte doch länger gewühlt. Und am Ende den vollständigen, 23 Seiten umfassenden Entwurf von Mariette entdeckt, 1870 von Mourès in Alexandrien gedruckt. Dieser Entwurf war die präzise ausgearbeitete Grundlage von Verdis Oper. Ghislanzoni hatte den Entwurf dann in Verse gesetzt. Der Plot von „Aida“ stammt von einem Archäologen. Verdi hatte das ungewollt verschleiert, weil er in einem Brief von 1891 fälschlicherweise von vier kleinen Seiten spricht, die Mariettes Entwurf ausmachen. Er hat es verwechselt mit den vier Exemplaren, die ihm vorlagen. „Aida“ ausgraben, das schien mir die richtige Herangehensweise für unsere Inszenierung. Keinen historischen Ort imaginieren, sondern den Vorgang der Ausgrabung zwischen der Gegenwart der Entstehung, unserer Zeit und der altägyptischen Vorzeit ins Werk setzen. Mit diesen Vorstellungen, die ich in einem Papier mit dem Titel „Archäologie als Metapher“ festgehalten hatte, fuhr ich nach Österreich. Im tiefsten südlichen Burgenland wollten Hans Neuenfels, Erich Wonder, Nina Ritter und ich uns auf ­Wonders Vierkanthof treffen, um eine Woche lang gemeinsam das szenische Konzept für „Aida“ zu besprechen.

Einen Tag später traf auch Michael Gielen ein. Er hatte sich bei der Fahrt über das Tote Gebirge – Neuenfels hatte ihm zu dieser „Abkürzungstour“ geraten – die Hydraulik und den Unterboden seines Citroën DS ruiniert. Das hat ihn aber nicht abgehalten, voller Energie in die Diskussion einzusteigen. Im Vorfeld hatte ich allen Beteiligten meinen Text geschickt. Jetzt offenbarte 93

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Klaus Zehelein, Nina Ritter, Hans Neuenfels, Erich Wonder bei der Arbeit an „Aida“ im Sommer in Wonders Vierkanthof in Österreich 1979. Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

Neuenfels mir in der Runde: „Klaus, ich kann damit leider wenig anfangen. Das hilft mir nicht weiter.“ Ihn interessierten vor allem die sozialen Konflikte des Stoffs: die Stellung der Sklavin Aida, die Lage der besiegten Äthiopier, die Herrschaft der Ägypter. Das war ja auch richtig und sollte im Fortgang der Proben zunehmend an Bedeutung gewinnen. Aber ich war doch enttäuscht, weil ich mir den Kampf um Rang, Macht und Herrschaft nicht im luftleeren, ortlosen Raum vorstellen konnte. Da meldete sich Erich Wonder zu Wort. Er könne mit meinem Text durchaus etwas anfangen.

Ihm habe er sofort einen Zugang geöffnet. In der Tat: Erich Wonders Bildideen haben auf meine Fragen, wie wir uns der Geschichte von „Aida“ annähern können, welche historischen und gegenwärtigen Zeiten dabei korrespondieren sollten, wunderbare szenische Erfindungen vorgeschlagen. Hans Neuenfels ist dann in seiner unnachahmlichen surrealen Suggestion ebenfalls darauf eingegangen: Zu Beginn reißt Seppo Ruohonen in der Rolle des Radames in ­seinem Studierzimmer das Parkett auf, um darunter die Büste der Aida auszugraben. Dieses archäologische Artefakt besingt er in der berühmten Eingangsarie „Celeste Aida“. Mit diesem Auftakt 94

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ist der Abstand ausgemessen, der zwischen unserer Gegenwart und dem Ägypten der Pharaonen liegt. Was dann geschieht, sehen wir mit fremdem Blick auf das scheinbar Vertraute. Die Bühne stellt keine Tempel und Grabmäler vor, sondern entwirft begrenzte Räume nach der Ägyptenmode des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Eine Art ägyptisierendes Art Déco verweist auf die historische Mittlerstelle der Entstehungszeit der Oper zwischen der Gegenwart und dem altägyptischen Reich vor 3.000 Jahren. Auch Neuenfels sah jetzt die Räume, welche die Konflikte zwischen den gesellschaftlichen Rängen plastisch vor Augen stellten. Berühmt geworden ist die Szene, in der Edna Garabedian als Amneris die Darstellerin der Aida Aurea Gomez, mit einem Putzeimer ausgestattet, den Boden ihres Kabinetts wischen ließ. Das stieß bei manchen auf Empörung, aber Handlung und Raum passten nun so zusammen, dass die Geste den Konflikt punktgenau traf.

Die Vorbereitungen gingen voran. Aber ein Teil des zweiten Aktes blieb auch bei der Bauprobe ausgespart: das Triumphbild, der Triumphmarsch des zweiten Akts. Auch Michael Gielen schien ratlos, wie er mit dem Triumphmarsch umgehen sollte.

Seit jeher waren diese Szene und der Marsch nicht in Frage gestellt worden. Die Ägypter haben gesiegt. Jetzt feiern sie den Sieg mit einer erhebenden, mitreißenden Marschmusik. Das muss man doch verstehen!

Auch wenn die jungen Kommunisten in Peter Weiss‘ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ am Ende ihrer Treffen auf einem Plattenspieler Verdis „Triumphmarsch“ abspielten, auch wenn Fußballvereine bis in die Gegenwart hinein mit dem „Triumphmarsch“ vor dem Spiel ihre Mannschaft und die Zuschauer:innen aufputschen wollen, war für Michael Gielen klar: „Das ist ein Triumph, der mit musikalischen Mitteln die schale Macht der Sieger über die Besiegten feiert, ein kaltes, schamloses Auskosten der Herrschaft über die Unterworfenen.“ Nicht dass Gielen Verdi damit am Zeug flicken wollte. Verdi habe das sehr bewusst gemacht.

Weil das Publikum schon immer danach fieberte, beim „Triumphmarsch“ emotional mitzugehen, gleichgültig, wen der Triumph 95

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als Verlierer traf, schien es einleuchtend, das Publikum selbst in die ungleiche Verteilung der Macht zwischen Siegern und Besiegten einzubeziehen. Es sollte ein Opernpublikum sein, das aus den Logen eines Opernhauses heraus, quasi in der Position der Sieger, den Zug der gefangenen Äthiopier als Ereignis goutiert.

Die mussten jetzt gebaut werden, und zwar schnellsten. Wir waren spät dran. Mit Max von Vequel-Westernach, dem Technischen Direktor, saßen wir zusammen. Erich Wonder zog eine ­Zigarettenschachtel aus der Tasche und stellte sie auf die schmale Längsseite. „Max, schau her. 16 Meter breit, 8 Meter hoch und 5 Meter tief. So einen Kasten brauchen wir von dir.“ Max von Vequel-Westernach konnte es nicht glauben. „Seid ihr noch bei Trost. Wo gar keine Zeit mehr dafür ist!“ Wonder blieb ruhig. „Max, das ist noch nicht alles. Der Kasten muss auch fahren.“ Bis zu den Endproben hatten es die Werkstätten doch geschafft. Wenn sich der Vorhang zum zweiten Bild des zweiten Aktes hob, erblickten die Zuschauerinnen und Zuschauer zu den Klängen des „Triumphmarsch“ – sich selbst. Ganz vorne am Rand der Bühne sahen sie die Ränge eines Opernhauses, das das ihrige zu sein schien. Sie waren konfrontiert mit ihrem eigenen Spiegelbild. Michael Gielen dirigierte den „Triumphmarsch“ mit einer Perfektion und Kälte, die einen zurückweichen ließ vor jeder stimmungsvollen Identifikation der Triumphierenden. Dann fuhren die Ränge des Opernhauses auf der Bühne zurück und gaben den Raum frei – erst für die Sieger, dann für die besiegten und verschleppten Äthiopier. Sie wurden vorgeführt als die „Wilden“, zu denen sie von den vermeintlich zivilisierten Siegern erst gemacht wurden. Die tiefste Erniedrigung, die man ihnen zugedacht hatte, war, dass sie angeblich erst zivilisiert und erzogen werden mussten, indem man ihnen beibrachte, wie man Brathähnchen mit Messer und Gabel isst. Daraus entwickelte sich ein wildes, gleichwohl präzises Spiel zwischen vermeintlich „Zivilisierten“ und vermeintlich „Wilden“, zwischen Kolonialherrn und denen, die Kolonie werden sollten, zwischen Siegern und Besiegten. Das setzte eine ausgefeilte Choreographie voraus. Sie wurde 96

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einstudiert von einem jungen Choreographen – so unscheinbar bei der ersten Begegnung, dass wir dachten, er hätte seinen Assistenten geschickt. Aber es war Uwe Scholz, später der geniale Choreograph des Leipziger Balletts nach der Wende. Leider ist er viel zu früh verstorben. Seine Choreographie zu „Aida“ im Triumphbild hat wesentlich zum Erfolg der Oper beigetragen.

Einige Mitglieder des Chors waren über diese Szene außerordentlich empört. Es war die Reaktion der Realität von 1981, die mit dazu gehörte zu den Zeitschichten, die wir mit dieser „Aida“ ausgegraben haben. Die Einsicht, dass das Grab, der Tod, das Ende jeden Grabens markiert, kehrte noch einmal wieder in den gesungenen Schlussworten der Amneris: „Pace, Pace“, zu denen sie die Büste der Aida, halb vorzeigend, halb sich verwandelnd, über ihrem Haupt hielt.

Dass diese „Aida“ die Menschen bewegte, daran war trotz aller Widerstände nicht zu zweifeln. Der schönste Beleg war für mich die Anekdote, von der mir ein Taxifahrer erzählte. Ein Kunde aus Japan, berichtete er, wollte schnellstens zur Oper. Der Taxifahrer machte ihm klar, dass es zwei Opern in Frankfurt gibt: die Alte Oper und die Oper am Theaterplatz. Mit deren Unterschied kannte sich der japanische Gast nicht aus. Aber er wusste sich zu helfen: „Ich möchte dahin, wo ‚Aida‘ spielt.“ * Franz Schreker: „Die Gezeichneten“, Spielzeit 1978/79 In unserer zweiten Spielzeit kam es zu einer Oper, die kaum einer kannte, von einem Komponisten, der weitestgehend in Vergessenheit geraten war. Die Inszenierung von Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“ durch Hans Neuenfels wurde zu einem ­Höhepunkt der Frankfurter Jahre und zum vielleicht nachhaltigsten Erfolg der Direktion von Michael Gielen.

Das war alles andere als geplant. Als Michael Gielen und sein Co-Direktor Christof Bitter sich zusammensetzten, um den Spielplan der zweiten Spielzeit zu besprechen, dachten sie an die Oper „Amerika“ des polnisch-israelischen Komponisten Roman Haubenstock-Ramati. Haubenstock-Ramati war auf der Flucht vor 97

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Nationalsozialisten und Stalinisten in Palästina untergekommen, ehe er nach 1945 nach Europa zurückkehrte. Seiner in den Jahren 1962 bis 1964 komponierten Oper „Amerika“ liegt der AmerikaRoman von Franz Kafka „Der Verschollene“ zugrunde. Dabei handelt es sich weniger um eine Vertonung des Romanfragments, sondern um ein davon inspiriertes Totaltheater im Stil der Zeit, „ein Mobile der Möglichkeiten mit Ballettpantomimen, Sprechchören und nicht weniger als drei Orchestern, eines live, zwei vom Band, die rundum im Saal verteilt das große Raumklangtheater beglaubigen sollten“, wie der Rezensent der FAZ Holger Noltze anlässlich einer Aufführung in Zürich 2024 schrieb. Diese Beschreibung stimmt mit meiner damaligen Sicht auf das Werk überein. Ich sprach von einer Calder-Ästhetik, der HaubenstockRamatis Totaltheater huldigte: Ein unverbindliches Mobile, ästhetisch dekorativ und auch interessant, aber doch zu wenig Widerständiges, um etwas Entscheidendes unserer Zeit zu treffen. Ich trug also Gielen und Bitter meine Argumente gegen ihre Entscheidung vor. Am Ende einer langen, intensiven Auseinandersetzung ging es nicht mehr darum, Haubenstock-Ramati zu verteidigen oder zu kritisieren, sondern um die ganz pragmatische Frage: Wenn nicht „Amerika“, was dann?

Ich weiß nicht, was mich bewog, tief hinabzusteigen in mein musikalisches Archiv, das ich, bewusst-unbewusst, immer mit mir trug. Noch am Ende meiner Schulzeit hatte ich mir einen Klavierauszug gekauft, auf dessen Einband eine attraktive weibliche ­Jugendstilfigur prangte über dem Namen des Komponisten und dem Titel der Oper: „Franz Schreker: Die Gezeichneten“. Trotz verbissener Versuche konnte ich damals das Stück auf dem Klavier nicht wirklich realisieren. Vielleicht hatte der spätere Student ähnliche Vorstellungen mit dem Namen des Komponisten und der Oper verbunden, wie sie Theodor W. Adorno 1959 in einem Rundfunkvortrag über Schreker als die des jungen Teddys beschrieben hatte: „Man stellte sich etwas riesenhaft Wogendes, etwas Unmäßiges vor“, erinnert der erwachsene Mann die Imaginationen des Jugendlichen, „auch etwas Schreckhaftes, wie es 98

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vom Naturalismus und vom Namen des Komponisten ausging, schockierend erotische Vorgänge. Selbst wenn den Ohren des vierzehnjährigen Knaben nicht all das sich erfüllte, das Ganze viel leichter zu apperzipieren war, als die Begierde nach Ungeheuer­ lichem ihm vorgegaukelt hatte, so ist doch zuweilen das Gerücht, das von einem Kunstwerk ausstrahlt, näher an ihm als die präzise Analyse. Die Konfiguration von verschwenderischer Fülle, rücksichtsloser Gewagtheit und einem unübersichtlichen und unreglementierten Bild von Moderne leuchtete attraktiv aus dem Schreker‘schen Œuvre.“ * Das Gerücht über den Komponisten und das Werk mag mich gleich dem jungen Adorno angezogen haben, als ich den Klavierauszug erstand. Es war der Anlass für eine beginnende eingehende Beschäftigung mit dem Werk Schrekers. Franz Schreker war ­ der meistgespielte Opernkomponist der 1910er und 1920er Jahre.

Er galt als der legitime Nachfolger Richard Wagners. Seine Opern waren mehr geschätzt als die von Richard Strauss. „Die Gezeichneten“ wurde am 25. April 1918, gleich zu Beginn des umfassenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs, der mit dem Ende des Ersten Weltkrieges die alte Ordnung zusammenbrechen ließ, in der Alten Oper in Frankfurt uraufgeführt.

Die Uraufführung an dem Ort, an dem wir 60 Jahre später in unsere zweite Spielzeit gingen, war für mich ein äußerer Ansporn, mich noch einmal inhaltlich intensiver mit dem Libretto und der Partitur der „Gezeichneten“ zu befassen. Auch erinnerte ich mich an die Worte von Harry Niemann, meinem Intendanten in Oldenburg, die die Bedeutung der Wiederentdeckung der verschütteten klassischen Moderne der 1920er Jahre für die Entwicklung der Künste in der Gegenwart betonten. Und verschüttet war Schreker. Seit dem Nationalsozialismus wurden seine Opern nicht mehr aufgeführt. Sehr zu Unrecht. Denn die Handlung der Oper „Die Gezeichneten“ konnte ich nach intensiver Auseinandersetzung als eine ungewöhnliche, buchstäblich unerhörte Historisierung unserer Gegenwart lesen. Das Libretto der Oper, von Schreker 99

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selbst verfasst, – das hatte er tatsächlich mit Wagner gemein – führt in die Zeit der Renaissance. Das späte 19. Jahrhundert hatte sie sich als ein Fest der Lüste und Begierden nach einem falschen Verständnis von Nietzsches Begriff des „Übermenschen“ erträumt. „Übermenschen“, die sich nehmen, wonach ihnen die Sinne stehen. „Die Schönheit sei Beute des Starken“ – das ist ihr Motto. Ausgelebt wird es auf einer paradiesischen Insel, einem Elysium genannten Ort vor der Küste Genuas, den der Edle Ritter Alviano Salvago entworfen und geschaffen hat. Weil er verkrüppelt und hässlich von Gestalt ist, nimmt er selbst nicht teil an den orgiastischen Festen, die seine adligen Freunde dort feiern. Als er erfährt, dass für die adligen Vergnügungen Bürgerstöchter entführt und ermordet werden, vermacht er sein Paradies den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt. Schluss mit den mörderischen Orgien, gesittetes Freizeit­ vergnügen für alle! Das begeistert den Bürgermeister und die braven Bürger der Stadt, und lässt die adligen Lebemänner um die Entdeckung ihrer Verbrechen fürchten.

In die Auseinandersetzung um den paradiesisch-utopischen Ort eingelassen sind die Liebesgeschichte zwischen Alviano und der Malerin Carlotta, der Tochter des Bürgermeisters, und die tödliche Dreiecksgeschichte zwischen Alviano, Carlotta und Vitelozzo Tamare, dem Anführer der Adelsclique. Carlotta, die mit Alviano am Ende des zweiten Akts eine scheue, tiefe Liebe eingeht, erliegt im nachfolgenden Elysium-Akt dem sinnlichen Reiz des bacchantischen Treibens auf der Insel und der Verführung Tamares. Als Alviano ­diesen ersticht, gilt ihr letzter Seufzer noch dem verhassten Rivalen. * Diese Oper trug ich seit meiner Jugend mit mir herum und nun schlug ich sie Michael Gielen und Christof Bitter anstelle von Haubenstock-Ramatis „Amerika“ vor. „Die Gezeichneten“ war den beiden nicht wirklich gegenwärtig. Gielen hatte das Vorspiel in einem Konzert dirigiert. Aber ansonsten konnten sie mit den „Gezeichneten“ nichts verbinden. Also fragten sie mich: „Warum schlägst Du diese durch Fin de siècle und Jugendstil hindurch gesehene Renaissance-Geschichte vor? Was interessiert, was faszi100

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niert dich daran?“ „Das künstliche Paradies als positiv besetzter Fluchtpunkt einer Gesellschaft!“ Das war für mich gleichsam die Hauptfigur der Oper: die Insel Elysium. Ein Ort der Seligen auf Erden. Ein paradiesischer Zustand vollkommener Glückseligkeit.

Eine Utopie. Erschaffen und eingerichtet für die ganze Stadt ­Genua, für alle ihre Bürger. Eine Utopie, die zu einer Dystopie, zu einem schrecklichen Ort wird. Und das nicht zufällig. Es sei wohl, so argumentierte ich, in jeder Utopie, die sich als absolut gesetzt begreift und auf Verwirklichung drängt, in ihrem Kern angelegt, dass sie umschlägt in ihr Gegenteil. Dass der Wunsch nach der verwirklichten Glückseligkeit den Schrecken gebiert. Das war für mich in dem Augenblick, in dem ich mit Michael Gielen und Christof Bitter darüber sprach, nicht von einer höheren philosophischen Warte aus daher gesagt, dahinter steckte die politische Erfahrung der 1970er Jahre. Wir hatten ja erlebt, wie die Wiederbelebung der sozialistischen Ideale in der Studentenbewegung, wie die Wiedererweckung kommunistischer Utopien sich verkehrt und entblößt hatten im Terror der RAF und ihrer Partei­ nahme für autoritäre bis mörderische Regime von Ostberlin bis Peking. Gerade wenn man in unserer Arbeit dafür eintrete, dass die Welt ein besserer Ort wird, sei heute die Auseinandersetzung mit dem Scheitern der politischen Utopien unerlässlich.

Das war die politische Dimension, die mich an der Insel ­Elysium in den „Gezeichneten“ interessierte. Eine andere, gleichsam kulturdiagnostische kam hinzu: Sie deutet sich in Alvianos egalitärer Idee an, die Insel zu einem Vergnügungspark für alle zu machen. Prompt fragt der Bürgermeister bang, ob die Leute durch so viel Vergnügen und Zerstreuung nicht von der Arbeit abgelenkt würden. Er könnte sich trösten mit der späteren Erkenntnis, dass solche künstlichen Paradiese für die Massen das Komplement zur entfremdeten Arbeit darstellen – ein notwendiges Supplement der Arbeitswelt, das deren Funktionieren sicherstellen soll. Die Triebbefriedigung der Bürger im Vergnügungspark Elysium, wäre seine Schenkung an die Bürger der Stadt glücklich zustande gekommen, stünde dann ganz im Dienst der Ordnung. Sie wäre, mit einem 101

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Wort Herbert Marcuses, „repressive Entsublimierung“. Zwölf Jahre nach der Uraufführung der „Gezeichneten“ haben Bertolt Brecht und Kurt Weill in „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1930) das Schreker’sche Elysium für alle Bürger zu einem präzisen Bild der kapitalistischen Konsumindustrie ausgearbeitet. In „Mahagonny“ darf man allen Lüsten frönen, solange man die Kosten, die sie verursachen, bezahlen kann. Schrekers Insel der Vergnügungen für alle ist ein Vorläufer des künstlichen Paradieses von „Mahagonny“.

Das entscheidende Motiv, das unausgesprochen-unbewusst das Handeln der Figuren in den „Gezeichneten“ bestimmt, ist das verdrängte Begehren, die Verdrängung der Lust. Daraus erklärte sich für mich auch der Name der Oper: Die körperliche Entstelltheit Alvianos ist ein äußeres körperliches Zeichen für die Verdrängung einer narzisstischen Kränkung, die im gehemmten Umgang mit Carlotta durchgehend auffällig wird. Auch Carlotta ist durch eine Krankheit, eine Herzschwäche, von der Verdrängung gezeichnet. Alviano und Carlotta sind die Gezeichneten, die der Titel der Oper anspricht. Aus der Verdrängung heraus hat Alviano das Paradies der Lust erschaffen. Einen Ort, an dem die Adelsclique um Tamare ihre Lüste auslebt wie de Sades Libertins in „Die 120 Tage von Sodom“. Einen Ort, den Alviano nicht betritt, und Vergnügungen, an denen er nicht teilhat. Aus dem ungelebten Triebleben, aus der Verdrängung heraus, erschafft Alviano seine Utopie, die von anderen brutal ausgelebt wird. * Die Größe von Schrekers Oper lag für mich darin, dass er die Macht der Verdrängung in ihren Sublimationen zeigt, aber keine Lösung für den Umgang mit der Macht des Begehrens vorgibt. Er exponiert die de Sade’sche Praxis der adligen Genueser, offenbart aber auch die Schwäche der sublimierten Liebe zwischen Alviano und Carlotta. Carlotta genügt sie nicht, weshalb sie sich am Ende mit voller Absicht in die Arme Tamares stürzt.

Alviano ersticht darauf Tamare. Doch er tötet damit sein eigenes personifiziertes Begehren. Die psychoanalytische Struktur der Dramaturgie der „Gezeichneten“ ist nicht von der Hand zu 102

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weisen. Über weite Strecken der Oper ist Tamare darin als Alter Ego von Alviano angelegt. Sein tödliches Zusammentreffen mit Tamare kann als die Begegnung mit seinem unterdrückten Triebwunsch verstanden werden, der ihm in Gestalt des Feindes entgegensteht. Die Insel Elysium, die Alviano geschaffen hat, wäre dann zu lesen als Sublimation des verdrängten Begehrens. Durchgehend hervorgehoben in den „Gezeichneten“ ist das Motiv der narzisstischen Kränkung, das sich in der Missgestalt Alvianos symptomatisch darstellt. Mit dem durch narzisstische Kränkung und verdrängtes Begehren gezeichneten Einzelnen hat Schreker die moderne Gestalt des Individuums zeitdiagnostisch festgehalten. Nachdem Schrekers Einsichten am Ende des Ersten Weltkriegs durch den Nationalsozialismus und die Restauration der 1950er Jahre verschüttet und vergessen worden waren, haben in den 1970er Jahren Studien erneut auf die Bedeutung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen aufmerksam gemacht.

Das Genua der Renaissance in Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“ liefert also nicht das historistische Tableau für ein Kostüm- und Dekorationsspektakel, sondern ist erfüllt von den Erfahrungen der Moderne. Sie betreffen die Einzelnen und ihre (Un)Fähigkeit, Beziehungen zu leben. Und sie erspüren die Möglichkeiten, die Vergnügungssucht der Massen zu lenken. ­ Mit Nachdruck schließlich stellen sie die Frage nach dem Ort des Begehrens in der modernen Gesellschaft. * Für Michael Gielen war Arnold Schönberg der historische Maßstab für den „Stand des Materials“, von dem Adorno gesprochen hatte. Alles, was kompositorisch nicht diesem Stand entsprach, hat er als Rückschritt angesehen. Nun sind den „Gezeichneten“, wie am Plot zu sehen ist, Trivialmythen nicht fremd. „Frankenstein“ und „Die Schöne und das Biest“ lassen darin grüßen. Den Trivialmythen entsprechend, lassen sich auch in der Musik triviale und sentimentale Passagen finden. Ich versuchte Gielen zu überzeugen, dass gerade er, von Schönberg und der Neuen Musik herkommend, der Geeignete sei, um damit in der richtigen Weise umzugehen.

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Das war nicht nur so daher gesagt, um ihm zu schmeicheln.

Ich hatte ein Konzert mit ihm erlebt, da hat er zwischen die ­„Orchesterstücke Opus 6“ von Webern die „Rosamunde“-Musiken Schuberts gesetzt. Ich war damals sprachlos. Wie Gielen Schuberts Schauspielmusik über die Arbeit mit Webern jene helle Würde zurückgab, die doch als Gebrauchsmusik oft nur in ihrem naiven und auch trivialen Ton belächelt wurde, überzeugte mich.

Michael Gielens Dirigat war außergewöhnlich. Ich habe erfahren, dass es eine Würde im Trivialen gibt. Er hat Schrekers ­Musik nicht verraten, sie nicht uns angedient, sondern in eine eigenartige Ferne gerückt. Sie klang aus der Fremde. Schrekers Klangideal sei „Musik, die Luftwurzeln treibt“, hat Adorno in seinem Rundfunkvortrag zu Schreker pointiert. Ursprung und Konsequenz gleichermaßen leugnend, evoziere sie die „Vorstellung eines Tönenden, das gleichsam nirgendwoher kommt und nirgendwohin geht“. Als eine der Zeit enthobene Phantasmagorie imaginiere Schrekers Musik den Eindruck unmittelbarer räumlicher Präsenz.

In ihr verdichtet sich die Geschichte der Gefühle, die die Figuren umtreibt. Gielen hat das Trügerische der Phantasmagorie, das einfühlende Aufgehen in den Gefühlen anderer, nicht romantisierend affirmiert, sondern sie mit einer Aureole der Kälte umgeben. In irisierendem Changieren wurde das im Klang sedimentierte Sentiment in der Resonanz des Körpers unmittelbar vernehmbar und, andererseits, aus der Distanz anschaubar. Ein ferner Klang, um den Titel einer anderen Schreker-Oper anzusprechen, oder, wie es mir schien: ein Ensemble unerhörter Augenblicke. * Die Inszenierung von Hans Neuenfels und die Bühne und die Kostüme von Dirk von Bodisco standen der musikalischen Qualität der Aufführung nicht nach. „Die Gezeichneten“ wurde eine der schönsten Inszenierungen von Neuenfels. Dass es nicht um die Renaissance, sondern um Frankfurt 1979 ging, wurde bereits während der Ouvertüre deutlich. Im kalten Dickicht der Stadt verwandelte sich dort ein junger Mann in ein Frankenstein-Monster à la Boris Karloff. Die Adelsclique trug Sportklamotten, ein 104

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Kühlschrank, Coladosen, eine weiß gekachelte Küche und Spiegelfassaden ließen keinen Zweifel an einer in die Zukunft verlängerten modernen Großstadt als Handlungsort aufkommen. Gösta Neuwirth, Musikwissenschaftler und Komponist, der über Schreker promoviert hatte, machte mich darauf aufmerksam, wie filmisch die Musik von Schreker angelegt ist: wechselnd zwischen Nahaufnahme, Totale und Schwenk. Dementsprechend haben wir die Schauplätze und die Perspektiven von Intimität und Überblick öfter gewechselt, als es die Bild-Beschreibungen des Librettos vorgaben.

Hans Neuenfels war vielleicht nicht so stark im Lesen von Noten, aber er konnte ausgezeichnet hören, was in der Musik geschieht. Schreker gibt zum Vorspiel des dritten Akts, der auf dem Eiland spielt, das die Bürger demnächst in Besitz nehmen sollen, eine leicht schwülstige Beschreibung des Treibens von Faunen und Nymphen in der bukolischen Natur. Hans hat sich die Musik dazu angehört und uns ratlos mitgeteilt: „Leute, ich hör‘ das nicht. Ich kann da beim besten Willen kein faunisch-­ obszönes Liebesspiel heraushören.“ Was er stattdessen vernommen hat, zeigte das erste Bild des dritten Akts: Bürgerinnen und Bürger, die mit Picknickkörben, Decken und Klappstühlen trippelnd den Vergnügungspark für sich erobern.

Alviano ist kein singuläres Monster, sondern ein Zeittypus.

In großen bespielbaren Lettern stand auf der Insel Elysium die Parole: „Werde Alviano“. Was a prima vista als Aufforderung gelesen wurde, dem Idol des Tages nachzueifern, offenbart auf den zweiten Blick die narzisstische Störung Alvianos als potentielles Massenphänomen. * Neuenfels hat das Triviale des Stoffs grell herausgestellt und die Oper damit vor jeder falschen Romantik gerettet. Die „Acht“, die Leibgarde des Dogen Adorno, war eine Art weibliche Privat­ armee, zusammengesetzt aus Vertreterinnen typisch weiblicher Berufe – von der Hausfrau über die Sekretärin bis zur Sexarbeiterin. Das emblematische Bild der Inszenierung war das Schlussbild 105

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der Liebesszene am Ende des zweiten Akts: June Card als Carlotta und Werner Götz als Alviano sitzen einander in einer kalt-weißen Küche am Tisch gegenüber: Beide haben demonstrativ die Beine auf die Tischplatte gelegt. Hier ringen Frau und Mann gleichermaßen um Anerkennung und keine:r gibt nach. Die Momentaufnahme im Kampf um Gleichberechtigung – Frankfurt 1979. * Die Aufführung von Schrekers „Die Gezeichneten“ hat mitten ins kalte Herz der neuen Städte getroffen. Sie hat alles gezeigt, was gegenwärtig der Fall ist: im Begehren der Einzelnen, in der Beziehung der Geschlechter und im Bedürfnis der Massen. Sie hat dem Frankfurter Publikum eine Oper wiedergewonnen, die in dieser Stadt am Ende des Ersten Weltkriegs ihre Uraufführung erlebte. Sie hat exemplarisch die klassische Moderne der 1920er Jahre für das Repertoire eines zeitgenössischen Musiktheaters wiederentdeckt und damit eine Brücke geschlagen zwischen dem klassisch-romantischen Repertoire und heutigen Werken des ­Musiktheaters. Und sie hat schließlich, über Frankfurt hinausreichend, eine Renaissance der Opern von Franz Schreker ausgelöst.

Die Inszenierung der „Gezeichneten“ war auch für mich ein großer, entscheidender Schritt auf dem Weg unserer Arbeit in Frankfurt.

Zeit der Erfolge, Zeit der Kämpfe Dass ich mich nicht so recht erinnern kann, ob ich mit dem Erfolg von Schrekers Oper „Die Gezeichneten“ auch persönlich zufrieden und vielleicht sogar glücklich war, liegt daran, dass die unbestreitbaren Erfolge, die wir verzeichnen konnten, immer auch verbunden waren mit den Kämpfen, die wir nach Innen und Außen zu bestreiten hatten. Einem Freund gegenüber habe ich mich jüngst zu der Aussage verstiegen, die Zeit in Frankfurt sei nur Kampf gewesen. Das stimmt so nicht. Aber es verdeutlicht den enormen Druck, unter dem wir standen. Noch in der dritten Spielzeit kam es zum Skandal um „Aida“, standen Aufführungen auf der Kippe. Zwar wuchsen uns neue, auch überregionale Publi106

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kumssegmente zu, die begeistert waren von dem Musiktheater der Moderne, das es in Frankfurt zu bestaunen gab – darunter Menschen, die zehnmal und mehr in „Die Gezeichneten“ und „Aida“ gingen. Aber etliche Abonnenten, die seit Jahr und Tag Aufführungen von Verdi, Puccini und all den Klassikern des Repertoires gesehen hatten, verstanden sich als Kenner, die genau zu wissen meinten, wie man eine dieser Opern aufführt. Für sie machte jede Abweichung Skandal. Mit diesen Menschen hatten wir zu kämpfen. Das Verb kämpfen ist dafür nicht übertrieben.

Denn die vornehme Zurückhaltung und Delikatesse des Umgangs, die in ihrer Vorstellung eine „richtige“ Opernaufführung auszeichnen sollte, legten sie selbst bei ihren Unmutsäußerungen, ihrem Pfeifen, Gröhlen und Brüllen nicht an den Tag. „In Frankfurt sitzt der Pöbel im Parkett“, titelte eine Zeitung und benannte damit exakt das Verhalten der Kombattant:innen in Modellkleid und Maßanzug, die für eine Oper nach dem Geschmack von anno dunnemals kämpften. Ihren unrühmlichen Höhepunkt erreich­ten die pöbelnden Invektiven mit einem Zwischenruf in Ruth Berghaus‘ Inszenierung von Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“. Als Michael Gielen bei der Premiere im Dezember 1981 nach der Pause wieder ans Pult trat, schrie einer aus dem Publikum unüberhörbar laut: „Eine Jude dirigiert, eine Kommunistin inszeniert und eine Schwarze singt die Konstanze! Pfui!“ Der Rassist im feinen Opern-Habit! Er gehörte wohl zu jenem reaktionären Grundstock der Bewohner Frankfurts, die den Weg der Stadt in eine transkulturelle Gesellschaft mit allen Mitteln verhindern wollten. Ihnen ist es immerhin gelungen, mit der Umgestaltung der Ostseite des Römerbergs zu einem puppenstubenhaften Fachwerkhaus-Mittelalter und mit der Behauptung eines Wiederaufbaus der Altstadt als Disneyland etwas Herzerwärmendes der vermeintlich guten alten Zeit in die Gegenwart zu retten. * Zu kämpfen hatten Michael Gielen, Christof Bitter und ich aber auch im Inneren des Hauses. Das Orchester war zumindest anfangs nicht an die Anforderungen gewöhnt, die Michael Gielen 107

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stellte. Ein befreundeter Komponist hat mir nach dem Besuch einer Orchesterprobe die Rückmeldung gegeben: „Jetzt habe ich erlebt, dass ein Dirigent besser sein kann als das Orchester, das er dirigiert.“ Die Strenge und das Verantwortungsbewusstsein, das Michael an den Tag legte, stieß anfangs auf eine gewisse Befremdung. Was will der mit uns? Wir kennen doch die Noten. Wir können das doch spielen. Was will er denn eigentlich? Durch diese Haltung herausgefordert, kam es dann zu einer bestimmten Insistenz von Michael Gielen, die natürlich nicht die Arbeit zwischen Orchester und Dirigent fruchtbarer machte. Klar. Er konnte ganz schön happig werden, der Michael. Daraus ergaben sich auch Widerstände. Aber am Ende stand auch die Einsicht der Musiker:innen in die besondere Qualität dessen, der da vor ihnen stand. Schwieriger war es mit dem Chor. Bis zum Ende unserer Zeit sind wir uns fremd geblieben. * Befremden, Widerstand und Ablehnung haben mich zeitweise auch persönlich betroffen. Es waren zu Beginn kleine Nadelstiche, die den treffen, der sich am Beginn einer Laufbahn an einem bestimmten Ort den nötigen Respekt erst erarbeiten muss. Da spielt sich dann oft ab, was Hegel den „Kampf um Anerkennung“ genannt hat. Exemplarisch dafür kann meine erste Begegnung mit Jürgen Flimm stehen. Jürgen Flimm sollte am Ende unserer ersten Spielzeit 1977/78 Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ inszenieren. Flimm führte zu der Zeit Gespräche über die Schauspielintendanz in Köln, er war Oberspielleiter am Thalia Theater in Hamburg und der heimliche Chef dort. Wir hatten uns in Hamburg verabredet, um die Inszenierung von Nono in Frankfurt vorzubereiten. Ich wollte Flimm entgegenkommen und fuhr fünf Stunden mit dem Zug nach Hamburg. Ich stand dort im Vorzimmer von Flimm, und Flimm war nicht da. Die Vorzimmerdame meinte: „Er muss unbedingt den Schnitt für seinen Film machen.“ „Wir sind verabredet“, entgegnete ich, „rufen Sie ihn bitte an.“ Nach einiger Zeit ging Flimm ans Telefon, erinnerte sich auch, dass wir verabredet waren, aber bedauerte, dass er jetzt leider 108

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nicht abkömmlich sei. Ich war sauer. „Herr Flimm, wollen Sie die Regie oder wollen Sie sie nicht? Wenn ja, dann kommen Sie jetzt ins Thalia!“ Ich benehme mich hier wie ein alter Intendantensack, habe ich bei mir gedacht. Aber Flimm war so perplex, dass er kam. „Ich habe mir gedacht, das ist doch der aus Oldenburg“, hat er mir später gestanden. Das war seine Art von Entschuldigung. So war Jürgen Flimm. „Al gran sole“ wurde übrigens seine erste Opernregie. Und eine seiner besten. Später, nach unserer Zeit in Frankfurt, hat er mich als Chefdramaturg ans Thalia Theater geholt, nachdem er dort selbst Intendant geworden war. * Am Ende der Spielzeit 1979/80 legte Christof Bitter das Amt des Co-Direktors der Oper nieder und ging als Leiter der Musikabteilung zum SWR. Mit Bitters Weggang und meinem Eintritt ins ­Direktorium 1980/81 und meiner späteren Berufung zum Operndirektor stand ich vermehrt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Oft wurde ich in der Öffentlichkeit als Graue Eminenz des Hauses und dessen „Chefideologe“ bezeichnet. Gerade durch die letztgenannte Titulierung fühlte ich mich gründlich missverstanden.

Nichts lag mir ferner als ein geschlossenes, totalitäres Denksystem. Ich hatte damals manches zu erdulden und manche harte Auseinandersetzung geführt. Und hatte dabei doch auch positive, unterstützende Erfahrungen gemacht. Eines Tages betrat der Bassist Heinz Hagenau, Urgestein der Oper Frankfurt seit 1963, ausgebildeter Maurer und Gewerkschaftsvertreter, mit einer großen abgewetzten Aktentasche mein Büro. Daraus zauberte er vier Flaschen guten Rotwein. „So, die sind jetzt mal für Sie. Mir ist jetzt erst klar geworden, was für ein wichtiger Job das ist, den Sie da machen!“ Das hatte ich gerade vom Obmann der Gewerkschaft Deutscher Bühnenangehöriger und vom Gewerkschaftsvertreter des Saarlands und von Hessen nicht erwartet. Hagenau blieb der Oper Frankfurt noch bis 1994 treu. Das Gegenstück zur Überraschung aus der Aktentasche widerfuhr mir nach der Zeit in Frankfurt auf einem Flug nach Wien. Per Zufall kam ich neben dem Sänger des Gurnemanz in Ruth Berghaus‘ „Parsifal“-Insze109

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nierung zu sitzen, der ein bekennender Feind unserer Arbeiten war und sich auf den Proben entsprechend aufgeführt hatte. Jetzt sollte das alles nicht mehr wahr sein, und er wollte mit mir auf die guten alten Frankfurter Zeiten anstoßen. Da ist mir übel geworden. * Ohne Unterstützung von außen, soviel ist klar, hätten wir den Anfang unserer Zeit in Frankfurt nicht überstanden. Natürlich hat uns das neu gewonnene Publikum getragen, auch wenn es keinen direkten kulturpolitischen Einfluss hatte. Hilfreich war auch, dass uns die Musikkritiker der beiden großen in Frankfurt beheimateten Tageszeitungen, Gerhard R. Koch von der FAZ und HansKlaus Jungheinrich von der Frankfurter Rundschau, mit kritischer Sympathie begegneten. Das war wichtig. Ich kenne Großstädte, die bis heute in der Hand von einem Musikkritiker sind, der gegebenenfalls alle Anstrengungen, ein zeitgenössisches Musiktheater zu etablieren, niederschreiben kann.

Entscheidend für unser Überleben in Frankfurt war die Un­ ter­stützung des Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann.

Unser Vorgesetzter war einer der wenigen, mit dem wir nicht kämpfen mussten. Bei ihm sind wir mit unseren Anliegen immer auf offene Ohren gestoßen.

Zum Beispiel im Fall der unterbesetzten Dramaturgie. Da die Städtischen Bühnen als Regiebetrieb geführt wurden, konnten wir nicht daran denken, den Stellenplan zu verändern, um weitere drei Stellen in der Dramaturgie zu finanzieren. Also sind wir zu Hilmar Hoffmann gefahren. Der war gerade auf einem SPD-Parteitag in Wiesbaden. Er hat uns in die Pause des Parteitags bestellt. Ich habe erklärt, dass wir zwei bis drei Stellen im Stellenplan für die Dramaturgie brauchen. Ich stellte mir darunter zwei Dramaturg:innenStellen und eine Geschäftsleitung für die Dramaturgie vor. Es war totenstill. Ich dachte: Was denkt der jetzt eigentlich? Ich kannte ihn nicht gut. Ich wusste, dass er ein bedeutender Kulturpolitiker ist – hat das Museumsufer geschaffen und vieles mehr. Aber persönlich kannte ich ihn nicht richtig. Da sagte er plötzlich: „Singen denn Domingo und Pavarotti bei Ihnen?“ „Pavarotti und Domingo sin 110

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Hilmar Hoffmann, Hans Neuenfels, Klaus Zehelein. Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

gen eigentlich nicht bei uns.“ „Na also“, meinte er trocken, „dann ist doch genug Geld da. Dann geht das in Ordnung.“ Das war Hilmar Hofmann. Wir sind Freunde geworden. Dabei haben wir oft unterschiedliche Meinungen gehabt, weiß Gott.

Aber ich habe eine Hochachtung vor ihm gehabt. Er hat zu uns gestanden, man konnte ihm vertrauen. Ich wünschte, dass alle, die an Theatern Verantwortung tragen, dies von ihren Kulturreferent:innen sagen könnten. * Ein spektakulärer Fall, an dem Hilmar Hofmann auch beteiligt war, war die Neubesetzung des Leiters oder der Leiterin des Balletts in Frankfurt. Damals war es noch so, dass das Ballett unter der Hoheit der Operndirektion stand, und diese berief den Ballettchef oder die Ballettchefin. Und als Fred Howald, der bisherige Leiter, 1984 an das Königliche Ballett in Stockholm ging, haben wir überlegt, wer ihm nachfolgen könnte. Wir waren ja verantwortlich. Da hat sich etwas Eigenartiges abgespielt, das ich erst im Nachhinein erfahren habe. Michael Gielen ist nach Bremen gefahren, um sich dort Reinhild Hoffmanns Arbeit „Callas“ anzusehen.

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Reinhild Hoffmann, die als Tänzerin u. a. mit Kurt Jooss und Johann Kresnik gearbeitet hatte, war seit 1978 zusammen mit Gerhard Bohner Direktorin des Bremer Tanztheaters und hatte diesem zu einem überregionalen Ruf verholfen. Ihre Choreographien standen in der Nachfolge der ballets d’action und versuchten mit choreographierten Bildern tiefere, sprachlich nicht kommunizierbare Gefühle und Handlungen vorzustellen. Es war eine Art Bilder-Tanz-Theater, mit dem Reinhild Hoffmann in diesen Tagen allerorts auf große Resonanz stieß. Ich hatte mir „Callas“, ihre vielleicht berühmteste Choreographie, bereits zuvor ange­ sehen. Ich wusste also, wie sie arbeitet.

Zurück aus Bremen befand Gielen, dass Reinhild Hoffmann die Ballettchefin werden sollte. Ich war verärgert – nicht wegen seiner Entscheidung, sondern weil er mich nicht über seine Reise informiert hatte. Für mich war das ein großer Vertrauensverlust.

Nach einigem Hin und Her, Vorwürfen und Zerknirschung forderte er mich auf, ich solle sagen, wen ich vorschlagen würde: „Also dann: Ich schlage Billy Forsythe vor.“ Den amerikanischen Tänzer und Choreographen William Forsythe, den alle nur Billy nannten, kannten damals noch nicht allzu viele. 1973 hatte ihn John Cranko, Schöpfer des „Stuttgarter Ballettwunders“, an sein Haus geholt, an dem er seine ersten Choreographien absolvierte und bald zum Hauschoreographen ernannt wurde. Billy Forsythe war angetreten, um dem Neo­ klassizismus von George Balanchine durch die Abschaffung der Zentralperspektive eine neue multiperspektivische Raum-Dimension hinzuzugewinnen. Ich hatte mich bei Fred Howald, unserem scheidenden Ballettdirektor, der Forsythe von Stuttgart her kannte, über ihn informiert. Howald hatte auch die ersten Choreographien von Forsythe in Stuttgart gesehen und hat ihn mir heiß empfohlen. Als ich hörte, dass Forsythe in Amsterdam seine neue Choreographie „Gänge“ erarbeitete, nahm ich mir frei und fuhr für zwei Wochen nach Amsterdam. „Gänge“ war eine Über­ prüfung des tänzerischen Reservoirs an Bewegungen, eine kritische Rückwendung auf die unhinterfragten Grundelemente des 112

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Tanzes, um sich von hier aus eines zukünftigen tänzerischen ­Bewegungspotentials zu versichern. Ich war begeistert. In Billy Forsythes choreographischen Angängen fand ich das Zukunftsweisende.

Ich habe mit Forsythe in Amsterdam geredet und war beeindruckt von seinem freien, gleichberechtigten Umgang mit den Tänzerinnen und Tänzern. Gleichzeitig war deutlich, dass hier einer ist, der sich und seine Arbeit ständig neu befragt. Ich war überzeugt, dass Billy Forsythe der Richtige für Frankfurt ist. Und wenn ich von etwas überzeugt war, ist es mir meist gelungen, auch andere zu überzeugen. Ich bin zu Hilmar Hoffmann gegangen: „Hilmar, ich mache keine leeren Versprechungen auf die Zukunft: Forsythe wird eine Weltkarriere machen!“ So ist es gekommen. Und Frankfurt war der Ort, an dem sie begann und auch ihren Höhepunkt erreichte. Wir haben „Gänge“ nach Frankfurt geholt. Vor wenig Zuschauer:innen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Forsythes Chorographien beim Publikum durchsetzten und Kult wurden – wie „Artifact“ (1984), „Die Befragung des Robert Scott“ (1986), „In the Middle, Somewhat Elevated“ (1987), „Impressing the Czar“ (1988) oder „Limb’s Theorem“ (1990), allesamt Sterne am internationalen Balletthimmel. Mit William Forsythe hatte das Ballett Frankfurt einen Direktor bekommen, der Hilmar Hoffmanns und unser gemeinsames Vorhaben, in Frankfurt Kunst für die Städtebewohner des 20. und 21. Jahrhunderts zu machen, in idealer Weise erfüllte. Es war mir gelungen, Michael Gielen und Hilmar Hoffmann gleichermaßen von Forsythe zu überzeugen.

Jahre später, während meiner Intendanz in Stuttgart, saß Hilmar Hoffmann eines Tages in unserem Haus auf der Solitude auf der Couch und meinte zufrieden: „Klaus, mit Billy haben wir alles richtig gemacht!“ „Ja“, habe ich gesagt. „Ja, ja, ja.“ Weil ich keinen Kulturpolitiker kannte, der diese Langmut gehabt hätte und sich im Stadtparlament beschimpfen ließ, wenn anfangs vielleicht die Hälfte der Plätze leer blieb. Welcher Kulturpolitiker stand das denn durch? Hilmar Hoffmann.

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Marianne und Lina Laure ist das Pseudonym der französischen Schriftstellerin Colette Peignot (1903-1938). Aufgewachsen in einem streng katholischen Milieu, ist es ihr in ihrem kurzen Leben gelungen, sich daraus zu befreien und in einer Tour durch die Hauptstädte Europas mit wechselnden Geliebten die Grenzen sexueller Freiheit zu erkunden und auszutesten. Georges Bataille, einer ihrer Liebhaber, hat ihre sexuellen Exzesse in seinem Buch „Le bleu du ciel“ beschrieben. 1980 sind Laures wiederentdeckte Schriften in deutscher Übersetzung bei Matthes & Seitz erschienen.

1981 fand die Premiere von Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ in Frankfurt statt. Als Libretto liegt ihr Jakob Michael Reinhold Lenz gleichnamiges bürgerliches Trauerspiel aus dem 18. Jahrhundert zugrunde. Hauptfigur des Stücks ebenso wie der Oper ist nicht der Stand der Soldaten, sondern die Bürgerstochter Marie, die aus der Enge des bürgerlichen Lebens auszubrechen versucht und sich den gesellschaftlichen Aufstieg durch die Liebschaft mit Desportes, einem soldatischen Edelmann aus dem Hennegau, erhofft. Im Frankfurter Programmheft zu Zimmermanns „Soldaten“ findet sich eine vierundzwanzigseitige Abhandlung und Textcollage, die das fiktionale Schicksal von Lenz‘ und Zimmermanns Marie durch die 150 Jahre später erschienene Geschichte der Laure hindurch liest. Eine bestechende Lektüre, die die Geschichte des Bürgermädchens aus dem 18. Jahrhundert auf die (immer noch andauernden) Emanzipationsbestrebungen der jüngst vergangenen Gegenwart öffnet.

Sichtbar werden die Parallelen beider Frauen – der Auf- und Ausbruch –, aber auch die Unterschiede: Von sich redend, reflektierend und planend die eine, Laure; getrieben und gesehen immer nur aus der Perspektive von anderen, Lenzens Marie.

Eine präzise Studie, die uns einen Zugang zur Figur der Marie jenseits einer Opfer- und Mitleidsästhetik ermöglicht hat. ­Verfasserin des Beitrags ist Marianne Weigmann, meine Frau.

Marianne ist Diplompsychologin. Mit dem Theater und der 114

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Oper hat sie von Berufs wegen nichts zu tun. Sie entwickelte jedoch recht früh eine ganz eigene, leidenschaftliche Beziehung speziell zur Oper, während sie auch zunehmend Kontakte zu den Theatermachenden aufnahm. So hat sie sich schon während ihrer Schulzeit auf einen Platz im Kasseler Extrachor der Oper beworben und war dort zwei Jahre Mitglied. Es war ziemlich am Beginn der Frankfurter Jahre, als wir uns ineinander verliebten.

Dass sich Marianne im Programmheft der Bürgerstochter Marie Wesener angenommen hat, war eine einmalige Angele­ genheit. Es war aber auch kein bloßer Zufall. Denn zum einen hatte sie von Berufs wegen einen Blick für die unterschiedlichen Wege und Irrwege weiblichen Aufbegehrens, zum anderen hat Marianne sich von jeher in der Solidarität mit anderen Frauen geübt. In Lenz’/Zimmermanns „Die Soldaten“ den Fokus für die Figur zu schärfen, die, obgleich im Zentrum stehend, vom Spektakel eines „Totaltheaters“, das Zimmer­mann vorschwebte, oft überrollt und an den Rand gedrängt wird, war Marianne wichtig. So kam es zu ihrem Beitrag für das Programmheft. „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau“ – abgedroschene Sprüche dieser Art, mit denen bei der Verabschiedung des Mannes aus dem Berufsleben gerne „die Frau an seiner Seite“ gewürdigt werden soll, taugen in gar keiner Weise, um unser Verhältnis zu beschreiben. Wir waren beide immer selbstständig in unserem Berufsleben und wir sind es im Privaten bis heute. Dabei standen wir uns selbstverständlich bei wesentlichen persönlichen und beruflichen Entscheidungen mit Gespräch und Rat zur Seite. * In ihrem Beruf war Marianne neben Coaching und Supervision vor allem auf dem Gebiet der Systemischen Organisationsentwicklung tätig. Dabei geht es um die Organisation und Steuerung komplexer Arbeitssituationen und die Entwicklung von Lernenden Organisationen. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, ­eingefahrene Wege im Denken wie in der alltäglichen Routine zu verlassen und sich immer wieder neu und für Neues zu entscheiden. Die Bedingungen und Kriterien für Entscheidungen einseh115

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Michael Gielen, Marianne Weigmann-Zehelein. Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

bar und nachvollziehbar zu machen, war der Dreh- und Angelpunkt von Mariannes Arbeit. Hier liegt, denke ich, eines der Anziehungsfelder zwischen uns beiden. Denn die Frage und Notwendigkeit einer verantwortungsvollen Entscheidung spielt, wie ich ausgeführt habe, auch in meinem Leben eine große Rolle. Ich denke, wir haben uns hier wechselseitig unterstützt und weiterentwickelt.

Spannend waren die unterschiedlichen Kreise, denen Marianne durch ihr Konzept der Systemischen Organisationsentwicklung begegnete. Viel war sie in der Bildungsberatung unterwegs.

Ein von der Robert Bosch Stiftung gefördertes Pilotprojekt mit dem Titel „Schulentwicklung als systemische Organisationsentwicklung“ an Grund- und Hauptschulen, sogenannten Brennpunktschulen, im Raum Stuttgart ist eines von mehreren, in denen es um die Weiter- und Neuentwicklung der Abläufe und Kooperationen an Schulen ging. Dass Marianne auch eine Ausbildung als Lehrerin an Haupt- und Sonderschulen vorweisen konnte, hat ihr bei dieser Arbeit sicher geholfen.

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Auf der anderen Seite standen das Coaching von Führungskräften und ein mehrjähriges EU-Projekt, in dem sie als westdeutsche Vertreterin die Gendergerechtigkeit in den Führungsetagen der Wirtschaft untersuchte und mit den leitenden Personalverantwortlichen an praktikablen Änderungsschritten arbeitete. Interessant waren dabei Unterschiede im Gestus und Habitus der ­leitenden Angestellten, die das jeweilige städtische und gesellschaftliche Umfeld spiegelten. Sehr deutlich in Frankfurt, wo die Führungskräfte die Sprache der Frankfurter Schule quasi verinnerlicht hatten – der Adorno-Sprech ging ihnen ­mühelos von den Lippen.

Um das soziale Feld von Mariannes beruflichen Erfahrungen abzurunden, kam schließlich noch eine mehrjährige Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am TransferZentrum für Neuro­ wissenschaften und Lernen an der Universität Ulm hinzu. Vor dem Hintergrund unserer beider spannenden und ereignisreichen Berufstätigkeiten hatten wir das Glück, immer wieder Momente eines Austausches unserer Interessen und Erfahrungen als be­rei­ chernd zu erleben.

So wurde daraus ein reiches Leben für uns Zwei, und bald auch für uns Drei. Anfang der 1980er Jahre wurde unsere Tochter geboren. Lina hat die berufliche und private Entwicklung ihrer Eltern kritisch begleitet. Entschieden eigenständig agierte unsere Tochter, als nach dem Ende der Frankfurter Zeit der Umzug nach Hamburg anstand, wohin Jürgen Flimm mich als Chefdramaturg ans Thalia geholt hatte. Für Lina war das nicht ver­lockend, verlor sie doch alle Freundinnen und Freunde, die sie in Frankfurt gehabt hatte. Erst wollte sie gar nicht nach Hamburg mitkommen und allein in Frankfurt bleiben. Dann teilte uns die Sechsjährige großzügig mit, sie könne ja regelmäßig mit dem ­Flieger zwischen Frankfurt und Hamburg pendeln. Ebenso eigenständig reagierte die Sechsjährige, als wir uns doch entschieden hatten zu heiraten. „Heiratest Du in Weiß?“, hat unsere Tochter meine Frau gefragt, als der Termin für die Hochzeit feststand. Als Marianne verneinte, hat sie enttäuscht entschieden: „Dann komme ich nicht.“ Ich 117

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weiß nicht mehr, wie wir schließlich zusammengefunden haben.

Aber es hat am Ende wohl funktioniert.

Im Laufe der Jahre äußerte sich Linas kritische Begleitung der Arbeit ihrer Eltern in vielen Diskussionen. Mit ihr wurde in unseren Diskursen die Stimme der ­Diver­sität unüberhörbar – auch in der Kritik an unserer alltäglichen Festschreibung von Vorurteilen, wie wir sie gedankenlos ­reproduzieren oder sie unwidersprochen hinnehmen. Wären da nicht die Theater aufgerufen, so Lina, nicht nur mit großen Worten die Perspektiven der Vielfalt zu proklamieren, sondern sie auch in Rezeption und Produktion für alle zugänglich zu realisieren? Gerade in einer Zeit, in der der Präsident der Vereinigten Staaten alle öffentlichen Programme zur Förderung von „Diver­sity, Equality and Inclusion“ für beendet erklärt, ist die Frage der Vermittlung unserer Künste, die weit­ gehend Linas Arbeit bestimmt, von entscheidender Bedeutung.

Dass es dabei nicht darum gehe – was oft genug geschähe – die Institution Theater zu vermitteln, sondern das, was sie ermög­ liche, nämlich Kunst. Und: Vermittlung könne nur dann gelingen, wenn sie nicht nur nach außen, sondern auch nach innen – in die Häuser hinein – wirke.

Ihre eigenen Vorstellungen und Ideen konnte sie als Dramaturgin und Leiterin der Vermittlungsabteilung im Staatstheater Darmstadt entwickeln. Vieles von ihren Gedanken und Erfahrungen aus dieser Zeit sind in mein Kapitel „Laboratorien der Vermittlung“ eingegangen.

Geschichten aus der Produktion.

Ausbau des Repertoires. Ensemblearbeit Die Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ 1965 in Köln war ein eindringliches Ereignis für mich. Für Michael und mich war es selbstverständlich, die Oper auch in Frankfurt zu zeigen. Zusammen mit Luigi Nonos „Al gran sole“ sollte „Die Soldaten“ das zweite kanonische Werk der zeitgenössischen Moderne werden. Uns war allerdings auch klar, dass die 118

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Oper einen enormen musikalischen und szenischen Aufwand ­erforderlich machte. Lange galt die Oper als „unspielbar“. Keinem Opernhaus war es gelungen, die Anstrengungen, die das geforderte Totaltheater neben Orchester und Bühnenmusik, Jazz-Combo und Einspielbändern verlangte, in die Repertoirefähigkeit des Werks umzumünzen. Wir haben es 1981 mit vereinten Kräften geschafft. Das ist ganz wörtlich zu verstehen. In dieser Produktion haben der Dirigent Michael Gielen, der Regisseur Alfred Kirchner, der Bühnenbildner Karl Kneidl, der Choreograph Hans Kresnik, der Dramaturg Klaus Zehelein und der Spielleiter David Walsh so eng zusammengearbeitet, dass das Programmheft keine einzelnen Funktionen, sondern die Namen des gesamten Leitungsteams unter dem Stichwort „Produktion“ zusammenfasste – ein durchaus ungewöhnlicher Vorgang im hierarchie- und funktionsversessenen deutschen Theater. Mit dieser Ensembleleistung im Leitungsteam ist es uns gelungen, die Gefahr der auseinandertreibenden musikalischen und szenischen Kräfte in der Probenarbeit zu bannen und alle Beteiligten jeweils auf den aktuellen Stand des Gesamtprojekts zu bringen. Was die Szene anging, so kamen wir überein, auf die wechselnden Bilder, wie sie die Uraufführung in Köln gezeigt hatte, zu verzichten und Zimmermanns Diktum der „Kugelgestalt der Zeit“ anders zu realisieren. Vor einer Wand mit Neonröhren und Jalousien als Sichtblenden zeigte die Bühne drei aufgeschüttete Erdwälle, die in einem Viereck angelegt waren, dessen zum Publikum gewandte Seite offenblieb.

Die Erdwälle, Reminiszenz an die Schützengräben des Ersten Weltkriegs, waren bedeckt mit Mänteln und Kleidern, eine Anspielung sowohl auf die Uniform der Soldaten als auch auf das Geschäft des Tuchhändlers Stolzius, Maries unglücklichen Verlobten. In diesem einheitlichen Bühnenbild, das gleichwohl viele Möglichkeiten für die Verortung der einzelnen Handlungen, vor allem für die Simultanszenen, bereithielt, krochen die Soldaten am Ende über die Wälle, auf obszöne Weise in den Kleidern stochernd, auf Marie zu – ein wahrhaft intensives Bild, das keine weitere Zitation weltweiter Katastrophen benötigte. Die szeni119

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sche Konzentration ermöglichte eine genaue Herausarbeitung der Dreiecksbeziehung der Hauptfiguren. Nan Christie stattete ihre Marie mit einer Mischung aus Soubrettenspiel, Koloraturschüben und hochdramatischen Spitzen aus, wie Die Zeit vermerkte, Walter Raffeiner mit Kopfverband war ein spielerisch wie sängerisch gleichermaßen eindringlicher Stolzius und William Cochrans metallischer Heldentenor ließ keine Zweifel daran, wer hier die Macht und Verführungs­gewalt hatte. Das „Rösel aus Hennegau“, das Lied von Weseners alter Mutter, sang Martha Mödl, die große Wagner-Sängerin der 1950er und 1960er Jahre. Die kollektiv erarbeiteten „Soldaten“ waren ein voller Erfolg. In der Premiere und – noch erfreulicher – auch im Repertoire sowie bei Gastspielen in Amsterdam und Wien. Wir hatten in Frankfurt die ehemals „Unspielbaren“ repertoirefähig gemacht. * Ich hatte bereits erwähnt, dass uns die Wiedergewinnung der klassischen Moderne im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts besonders am Herzen lag. Mit Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“ in der Regie von Hans Neuenfels hatten wir hier einen Weg eingeschlagen, der bei Publikum wie Kritik gleichermaßen auf Beachtung und Resonanz gestoßen ist. Gut ein Jahr nach der Aufführung der „Gezeichneten“ ließen wir im März 1980 die Premiere eines weiteren Schwellenwerks der Moderne folgen: Ferruccio Busonis „Doktor Faust“. Busoni konnte die 1925 in Dresden uraufgeführte Oper nicht mehr selbst vollenden. Wir spielten die Fassung, die Busonis Schüler Philipp Jarnach zu Ende gebracht hat. Erneut hat Hans Neuenfels Regie geführt. Auch Bühnenbild und Kostüme hat er zusammen mit Anna Viebrock übernommen. Im Fokus von Neuenfels’ Inszenierung stand die Reise. Faust und Mephisto wechseln ja auf nahezu magische Weise die Orte ihres Wirkens – Wittenberg und Parma gleiten ineinander, wenn Figuren aus anderen Welten plötzlich am fremden Ort wiederkehren. Was Busoni bewegte und Neuenfels ausgestellt hat, ist die moderne Erfahrung einer ortlosen Existenz im Unterwegs, die gleichwohl von den Taten der Vergangenheit ein120

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geholt wird. Der deutsch-israelische Bariton Günther Reich war die ideale Besetzung für den Faust. Reich hatte seine eigenen Erfahrungen mit dem (auch unfreiwilligen) Zustand des Reisens. Er war vor dem Nationalsozialismus nach Palästina geflohen, Ende der 1950er Jahre aber wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

Reich hat Schönberg gesungen und eng mit Michael Gielen und Pierre Boulez zusammengearbeitet. Er war derjenige, der unsere Arbeit voll unterstützte. Sein Gegenspieler war der US-amerikanische Heldentenor William Cochran als Mephistopheles. Aus schwierigen Anfängen in Frankfurt entwickelte sich Cochran zu einem der großen Sänger unserer Jahre. In Frankfurt hatte er seine künstlerische Heimat. Desportes in „Die Soldaten“, Mephistopheles in „Doktor Faust“, der Aeneas in „Die Trojaner“ und der Siegfried im Frankfurter „Ring“ waren die Rollen, die von dem 2022 Verstorbenen im Gedächtnis bleiben werden. * Alban Bergs „Lulu“ ist zusammen mit „Wozzeck“ eine der bekanntesten Opern der klassischen Moderne. 1935 geschrieben, ist Berg während der Arbeit am dritten Akt verstorben. Die Uraufführung in Zürich fand als Fragment statt. Der österreichische Komponist Friedrich Cerha hatte seit den 1960er Jahren nach dem Studium von Bergs Particell an einer Instrumentation des dritten Akts gearbeitet. Im Februar 1979 fand an der Pariser Opéra Garnier die Uraufführung der gesamten, d. h. von Cerha ergänzten Fassung der „Lulu“ statt. Pierre Boulez hat dirigiert, Patrice Chéreau war für die Regie verantwortlich. Wenige Monate später haben wir in Frankfurt unsere dritte Spielzeit mit der deutschen Erst­aufführung der gesamten „Lulu“ in der Cerha-Fassung eröffnet. Michael Gielen hatte sich Harry Kupfer als Regisseur gewünscht. Kupfer war zu der Zeit Operndirektor an der Staatsoper Dresden und auf dem Weg zu einer internationalen Karriere. Kupfer arbeitete in der Tradition von Walter Felsensteins realistischem Musiktheater. Und er arbeitete vor allem mit vielen Zetteln. Harry Kupfer hatte jede Szene der Oper im Voraus im Detail geplant. Sein Regiebuch war voll von Zetteln, die er auf den Proben strikt abarbeitete. Das war das 121

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ziemliche Gegenteil von Hans Neuenfels’ Art des Arbeitens, der viel diskutierte und ausprobierte, auch wenn er manchmal in einer Sackgasse landete. Michael Gielen hatte Hans Neuenfels‘ Probieren gelegentlich genervt, wenn es ihm zu langsam voranging. An­gesichts von Harry Kupfers Exekution der Szene aus dem Zettelkasten aber drehte sich Michael am Pult zu mir um und seufzte: „Ach Klaus, wie schön wäre es, wenn jetzt der Hans da wäre und sagte: ‚Leute, Pause – im Moment weiß ich nicht weiter.‘“ Harry Kupfers Zeit in Frankfurt war keine glückliche. Außer „Lulu“ hat er 1980 nur noch „Madama Butterfly“ inszeniert. Sie blieb nicht als eine der großen Frankfurter Inszenierungen im Gedächtnis. Seine beiden Arbeiten am Haus gehören leider, auch nach A ­nsicht von Kritikern, zu seinen schwächsten. * Die Reihe derjenigen, die in den zehn Jahren in Frankfurt Regie geführt haben, ist lang. Bei manchen wie Harry Kupfer, Wolfgang Glück, der 1981 „Ariadne auf Naxos“ inszeniert hatte, oder Jérôme Savary („Pariser Leben“ ,1978), Hansgünther Heyme ­ („Manon ­ Lescaut“, 1983) Volker Schlöndorff („La Bohème“, 1984), Herbert Wernicke („Les Contes d‘Hoffmann“, 1985) und Jürgen Gosch („Le nozze di Figaro“, 1987) blieb es bei einem Gastspiel. Zweimal führte Karl Kneidl Regie und zeichnete auch für die Ausstattung verantwortlich („Alkestis“, 1982; „The Rake’s Progress“, 1983). Nikolaus Harnoncourt dirigierte in zwei Inszenierungen von Horst Zankl („Giulio Cesare“, 1978; „Castor et Pollux“, 1980). Renate Ackermann („Il Turco in Italia“, 1982; „Der Wildschütz“, 1983; „Don Pasquale“, 1984) ebenso wie Christof Nel („Der Freischütz“, 1984; „Falstaff“, 1985; „Die verkaufte Braut“, 1985) inszenierten je dreimal bei uns. Alfred Kirchner verantwortete eine ganze Reihe von Produktionen, angefangen mit „Jenufa“ (1979), seiner vielleicht besten Arbeit. Es folgten „Die Soldaten“, „Un ballo in Maschera“ (1982), „Eugen Onegin“ (1984) und „Stephen Climax“ von Hans Zender (1986), unserer einzigen Uraufführung.

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Anna Viebrock, Hans Neuenfels. Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

Die Liste ist nicht vollständig. Sie kann aber einen guten Eindruck vermitteln: sowohl von der Breite des angebotenen Repertoires wie von der Vielfalt der Handschriften derer, die an unserem Haus tätig waren. Wenn man aber fragt, welche Regiearbeiten die Frankfurter Jahre nachhaltig geprägt haben, welche Produktionen einem in den Sinn kommen und vor Augen stehen, wenn man an die Inauguration des zeitgenössischen Musiktheaters in Frankfurt denkt, dann fallen mit Sicherheit die Namen Hans Neuenfels und Ruth Berghaus. Der Regisseur aus Westdeutschland und die Regisseurin aus der DDR wurden zu den Leitfiguren modernen Opernschaffens, dessen Zentrum für zehn Jahre die Oper Frankfurt war.

Hans Neuenfels war vor seiner Bühnenkarriere ein Jahr lang Assistent von Max Ernst gewesen und hatte bei ihm in Paris gelebt. Die Begeisterung für den Surrealismus, die er von dort mitgebracht hatte, hat auch seinen Blick als Regisseur auf die Darstellungen der Bühne geprägt. Seine szenischen Bildvorstellungen changieren zwischen dem Trivialen und einer auratischen Ferne.

Seine drei großen Arbeiten in Frankfurt – „Die Gezeichneten“ (1979), „Doktor Faust“ (1980) und „Aida“ (1981) fielen in eine 123

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Zeit, in der nach dem Ende der Utopien im „Deutschen Herbst“ der Rückzug in eine „neue Innerlichkeit“ ausgerufen wurde, in der mit dem Regierungswechsel zu Helmut Kohl eine „moralische Wende“ verkündet wurde und in der auch die Friedensbewegten in einem Kokon ausschließlich positiver Gefühle vor sich hin strickten. In dieser Zeit war es eine Wohltat, wenn einer in seinen Arbeiten die Macht unkalkulierbaren Begehrens und dessen gewaltsame Formierung ins Gedächtnis zurückrief. Ob es sich um seine Inszenierung von Euripides’ „Medea“ am Schauspiel Frankfurt (1976) oder um die Frauengang der „Acht“ in den „Gezeichneten“ (1979) handelte, immer durchschlugen Neuenfels’ grelle, obszöne Bilderfindungen den Bann, der Gewalt und Begehren aus der Wahrnehmung des Wirklichen ausblenden und ins Abseits, obscène, stellen wollte. Ohne Nostalgie erinnerten Hans Neuenfels‘ Inszenierungen der 1980er Jahre an das Fühlen und Wissen um die Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft, das mit der zweiten Restauration der Bundesrepublik nach 1977 verloren gegangen war. 1983 ist Alexander Kluges Film „Die Macht der Gefühle“ in den Kinos angelaufen. Er handelte vom „Kraftwerk der Gefühle“, wie Kluge die Frankfurter Oper bezeichnet hat, nachdem er über zwei Jahre eine filmische Erkundung unseres Musiktheaters unternommen hatte. Ich habe dazu die Dramaturgie entworfen.

Bei der Fertigstellung des Films habe ich an die Regiearbeiten von Neuenfels gedacht. Wie kein anderer hat er in bleierner, gefühlsarmer Zeit die Macht des Begehrens, der Gefühle und Leidenschaften wieder erfahrbar gemacht. Es ist das Erbe des Aufbruchs von 1968, das er in die Opernarbeit in Frankfurt eingebracht hat.

Für eine andere Art des Aufbruchs stand Ruth Berghaus. Wie viele Künstler:innen und Intellektuelle, die in der DDR lebten und arbeiteten, war sie angetrieben vom Versprechen des Anbruchs einer neuen Zeit, das mit der Gründung der DDR gegeben wurde.

Kein Stalinismus der 1950er Jahre, keine staatliche Repression, Bespitzelung, kein ästhetischer Dogmatismus und auch nicht der Bau der Mauer konnten die Künstlerinnen und Künstler von der Notwendigkeit abbringen, dass es beim Aufbau einer neuen Gesellschaft 124

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auch um die Schaffung und Gestaltung von Künsten ging, die jenseits des verordneten sozialistischen Realismus für die Menschen des neuen „wissenschaftlichen Zeitalters“ lebensnotwenig sind.

Dass diese Überzeugung so stark und langanhaltend war, hat zu tun mit Brecht, von dem in „Kleines Organon für das Theater“ die Adressierung der Menschen des „wissenschaftlichen Zeitalters“ stammt.

Brecht, von den Kulturpolitikern in der DDR immer angegriffen, aber wegen seiner weltweiten Berühmtheit letztlich unantastbar, war der Leitstern aller Künstlerinnen und Künstler in der DDR, die von der ästhetisch-politischen Doktrin der Partei abwichen. Nach Brechts Tod hat man versucht, Brecht selbst doktrinär auszulegen und das Berliner Ensemble in ein Mausoleum zu verwandeln. In der Zeit ihres Direktorats am Berliner Ensemble von 1971 bis 1977 ist es Berghaus gelungen, im Verein mit anderen den toten Bertolt Brecht politisch und künstlerisch wieder unter die Lebenden zu bringen.

Nach Frankfurt brachte Ruth Berghaus das Beste von Brecht mit: den genauen Blick auf die Beziehungen von Menschen im gesellschaftlichen Handlungszusammenhang einer Oper und die analytische Klarheit der Gesten, mit denen sie untereinander kommunizierten. Hinzu kamen Fähigkeiten, die auf ihre Ausbildung in Ausdruckstanz und Tanzregie bei Gret Palucca zurückgingen: die Meisterschaft in der Choreographie von (Bewegungs) Chören und ihr Sinn für szenische Arrangements.

Ich weiß, dass es vermessen ist, zu behaupten, Ruth Berghaus habe in Frankfurt vielleicht ihre besten Inszenierungen gemacht. In Frankfurt hatte sie die Freiheiten, zu arbeiten, die ihr in der DDR oft verwehrt wurden. 1976 war das Jahr der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler haben gegen die Ausbürgerung protestiert, viele danach die DDR verlassen. Es war der Anfang vom Ende der DDR. Ruth Berghaus und ihr Mann Paul Dessau haben damals nicht gegen die Ausbürgerung unterschrieben. Beide standen unter enormem Druck.

Berghaus hatte mit Heiner Müller, B. K. Tragelehn und Einar Schleef drei Mitstreiter am Berliner Ensemble, die der Partei äußerst unangenehm waren. Seit 1975 wurde versucht, sie wegzumobben.

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Ihre Haltung zur Biermann-Ausbürgerung hat ihr nicht geholfen.

1977 hat sie schließlich das Handtuch geworfen. Es übernahm die Kamarilla um Manfred Wekwerth. Das Berliner Ensemble war auf Linie gebracht und tot gemacht. Ruth Berghaus aber hat das Erbe Brechts und Gret Paluccas nach Frankfurt gebracht. Mit ihr kam die Erinnerung an einen gesellschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Aufbruch, der verdrängt und in Vergessenheit geraten war.

Ruth Berghaus und Hans Neuenfels – Ost und West – standen für die Geschichte gesellschaftlicher Umbrüche und Erneuerungsbewegungen, für die in beiden deutschen Staaten zur Zeit ihres Arbeitens kein Platz mehr war. In der Bundesrepublik hatte sich eine zweite Restauration im juste milieu unter dem Kanzler Kohl ausgebreitet, die DDR lag in Agonie und dämmerte ihrem Untergang entgegen. Umso wichtiger war es, dass es mit der Oper Frankfurt einen Ort gab, an dem sich ästhetisch-politische Erfahrungen machen ließen, die in die Zukunft wiesen. In seinen gelungensten Arbeiten war unser Haus, man verzeihe mir das Pathos, Statthalter einer besseren Zeit.

Die Freiheiten, die Berghaus in ihrer Arbeit in Frankfurt hatte, schloss Auseinandersetzungen nicht aus. Ihre erste Inszenierung bei uns, „Die Zauberflöte“ (1980), hat sie zusammen mit der Bühnenbildnerin Marie-Luise Strandt gemacht. Sie waren ein eingespieltes Team. Zu eingespielt, wie ich fand. Frau Strandt war sehr abhängig von Berghaus. Die Arbeiten waren nicht frei von Routine und Konvention. Es kam nie zur Entfaltung einer eigenen Bildsprache. Es fehlte Ruth aus meiner Sicht an einer Herausforderung und an Reibung. Die anderen im Leitungsteam sahen das auch so. Wir saßen in einem Restaurant um die Ecke; es ging um „Parsifal“. Wir fanden, dass Berghaus und Strandt in der Arbeit zu symbiotisch verbunden waren. „Die Ruth braucht eine andere Selbstständigkeit des Bildes. Sie muss nicht nur in dem Bild, mit dem Bild und für das Bild arbeiten, sondern sie muss auch gegen das Bild arbeiten können.“ Als ich im Reden bin, kommt Ruth dazu, die einen sechsten Sinn dafür hatte, wenn etwas hinter ihrem Rücken geschah. Michael und Christof haben geschwiegen 126

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und ich habe mich voll in die Nesseln gesetzt. Die Berghaus hat mich in den Senkel gestellt. Als könnte ich nicht bis acht zählen. „Frau Berghaus, ich bin nicht ihr Schüler“, habe ich mich dagegen verwahrt, „nehmen sie das zur Kenntnis!“ Sehr förmlich, wie vorm Duell. Wir hatten einen richtigen Krach. „An der Lindenoper gibt es sechs Dramaturgen“, habe ich noch einen draufgesetzt, „wenn Sie mir misstrauen, engagiere ich zwei für Sie!“ Ich habe so richtig den Kapitalisten raushängen lassen. * Ruth Berghaus hat es gemocht, zu provozieren. Dafür genügte es manchmal schon, dass sie gern rote Stiefel trug. Die schönsten roten Stiefel, die man sich vorstellen konnte. Die rote Ruth! Es wird oft gesagt, sie sei unflexibel und unnahbar, weil sie bestimmte Meinungen und Haltungen hatte zum Theater. Da ließ sie tatsächlich nicht drüber reden. Und sie war preußisch. Sie hatte einen Arbeitsstil, der preußisch geprägt war. Aber die Leute, die ihr mangelnde Flexibilität vorgeworfen haben, die haben sie nie richtig in der Arbeit erlebt. Ich kann nur sagen, dass Ruth äußerst flexibel war. „Ja, das kann man auch so machen.“ Oder „Es ist immer noch nicht richtig. Das müssen wir weiter probieren“ – solche Sätze von ihr verraten eine eher experimentierende als vorschreibende Haltung auf der Probe. Und sie hörte genau zu und ließ sich auf Diskussionen ein. Wurde die Diskussion länger, schlug sie vor, sie nach der Probe weiterzuführen und fragte, ob alle danach Zeit hätten. Sie war viel zugewandter, als es nach außen hin oft verlautete. Sicher hatte sie etwas, was man vielleicht als dogmatische Vorprägungen bezeichnen könnte. Aber sie konnte davon loskommen. Das alles war umso erstaunlicher, ja bewundernswerter, wenn man bedenkt, was ihr in der DDR widerfahren ist. Von 1979 bis 1991 hat Ruth Berghaus eng mit der Dramaturgin und Musikwissenschaftlerin Sigrid Neef zusammengearbeitet. Bis 1989 hat Neef Berghaus als Inoffizielle Mitarbeiterin im Auftrag der Stasi ausgespäht, damit diese immer auf dem neuesten Stand zu Berghaus’ Ansichten, Einstellungen und Haltungen war. Als ich sie auf diese Täuschung und Enttäuschung 127

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angesprochen habe, konnte sie mir nicht darauf antworten. Es gab Schläge und Verletzungen in diesen deutsch-deutschen Zeiten des Kalten Kriegs, darüber ließ sich nur noch schweigen.

Ruth Berghaus und ich haben uns nicht duelliert, und ich habe auch keine Dramaturgen von der Lindenoper engagiert.

Aber ich habe sie mit zwei Bühnenbildnern zusammengebracht, mit denen sie in einer Weise zusammenarbeitete, dass daraus ihre Meisterinszenierungen der Frankfurter Ära entstehen konnten. In der Bühnenarchitektur von Hans Dieter Schaal hat sie 1983 „Die Trojaner“ von Hector Berlioz inszeniert, mit dem Bühnenbildner Axel Manthey hat sie 1982 bei Wagners „Parsifal“ und ab 1985 im „Ring“ zusammengearbeitet. „Die Trojaner kommen!“ war im Dezember 1983 der Slogan für die Aufführung von Hector Berlioz‘ Grand Opéra „Die Trojaner“ – ich verwende den deutschen Titel „Die Trojaner“, weil wir die Oper unter diesem Titel aufgeführt haben. Der Slogan sollte aufmerksam machen auf ein außergewöhnliches, ja inkommensurables Werk, das, selten gespielt und daher für die meisten unbekannt, aus der Vergangenheit auf uns zukommt. Aber was genau kommt da auf uns zu und was macht es mit uns? Berlioz‘ Oper schildert auf den Spuren von Vergils großem Epos die Flucht des Aeneas aus dem untergehenden Troja und seinen Weg durch die Ägäis nach Karthago, wo sich die Königin Dido in ihn verliebt.

Aeneas aber verlässt sie, um dem Befehl der toten trojanischen Helden zu gehorchen, die ihn nach Italien ziehen, um dort Rom zu gründen. Das Werk ist unterteilt in zwei große Teile, die für sich genommen schon die Größe von eigenständigen Opern haben: den Troja-Teil „Die Einnahme von Troja“ und den Teil, der in Karthago spielt, „Die Trojaner in Karthago“. Berlioz selbst hat keine vollständige Aufführung der beiden Teile von „Die Trojaner“ erlebt.

Erst 1969 wurde in Glasgow die erste vollständige Fassung des Werks nach der kritischen Berlioz-Ausgabe aufgeführt. „Die Trojaner“ sind ein Härtetest für jedes Opernhaus. Zunächst allein vom Umfang des Werks, der Größe des Orchesters und der Chöre her.

Aber auch von der tiefergreifenden Frage: Wo spielt das eigentlich?

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Troja und Karthago – zwei Städte durch Kriege gänzlich vernichtet, verschwunden von den Landkarten, Legenden, bedeckt vom Schutt zwei- bis dreitausendjähriger Geschichte und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgesucht, ausgegraben. „Die Trojaner“ beschwören diese beiden Städte, die ungreifbar, unauffindbar und nichts anderes mehr sind als: Opernschauplätze.

Zwischen Troja und Karthago liegt das Meer, liegt die Überfahrt. Sie kommt in der Oper nicht vor. Man kann sich vorstellen: Sie findet in der Pause statt. Ich imaginierte mir im Entracte das Paris des 19. Jahrhunderts, wie sich Menschen im dichten Gedränge und in all dem Glimmern, Glitzern und Klingklang der Pariser Oper, in der die Architekten Napoleons III. das entlegenste Material aus der kolonialen und industriellen Geschichte der Menschheit zusammengetragen hatten, durch das Foyer bewegten, aus der Musik, aus der Szene herausgetreten, und sich sozusagen einer Gegenwart vergewissern müssen, die die Oper erst einmal sehr unsicher gemacht hat. Und die sich, um auf diese Unsicherheit zu antworten, erst einmal der Vergangenheit in dieser Oper selbst vergewissern müssen.

Für diese Selbstvergewisserung braucht es einen Ort, einen Ort der zwischen der historistischen Imagination von Karthago und Troja und der Gegenwart der Opernbesucher:innen, sei’s im Paris des Zweiten Kaiserreichs oder im Frankfurt der 1980er Jahre, vermittelte. Einen Ort im Entracte der Oper, einen Ort der Überfahrt, einen Ort der Passage.

Unsere Fotografin Mara Eggert hatte mich auf einen Band des Architekten Hans Dieter Schaal aufmerksam gemacht: „Architektonische Situationen“. Ich besorgte mir das Buch und war fasziniert. Geträumte Räume, surrealistische Raumkonstellationen, Häuser aus Glas, von keinem konkreten Ort ausgehende Raumerfindungen inspirierten mich bei der Vorbereitung für „Die Trojaner“. Wir luden ihn ein.

Wir trafen uns bei Ruth Berghaus in Zeuthen. Hans Dieter Schaal kam mit einem geräumigen Kombi. Als er die Heckklappe öffnete, sahen wir den Kofferraum voller Schuhkartons – jeder 129

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mit einem Entwurf für eine Szene der „Trojaner“. Ruth war auf den ersten Blick begeistert. Auf den zweiten Blick wurde uns aber klar, dass es so nicht ging.

Ich saß mit Hans Dieter Schaal bis morgens um 3 Uhr zusammen, Nina Ritter war anfangs auch noch dabei, ehe sie erschöpft aufgegeben hat. Wir haben dann weitergeredet, Ruth hatte immer gute Weine. Die Bühnenbilder aus dem Schuhkarton, allesamt tolle Bilder, meinte ich, stünden für einen Ansatz, den im Grunde jeder Bühnenbildner machen könnte. Ich erläuterte HansDieter Schaal, dass wechselnde Bühnenbilder für die zahlreichen Schauplätze der beiden Teile der Oper uns nicht nur vom bühnentechnischen Aufwand überfordern würden, sondern auch eine historistische Festschreibung bedeuten würden, von der sich Berlioz‘ Werk entschieden absetzt. „Die Trojaner“ ist vielleicht die erste Oper, die die Erfahrung der Moderne artikuliert. Aeneas ist ein Held, der alles Überkommene, Heimat, Liebe, religiöse Bindung hinter sich lässt. Die Götter setzt er nur manipulativ ein, um sein Ziel durchzusetzen: die Gründung eines Reichs aus dem puren Nichts. Dem Nichts der Toten und des Totenkults, in dessen Dienst er steht. Mit „Doktor Faust“ hatten wir erstmals die Bedeutung des Reisens und Unterwegsseins als Gegenwartserfahrung thematisiert. „Die Trojaner“ artikuliert diese Erfahrung womöglich noch radikaler: als die eines Daseins in einem Transit, der keinen Ursprung und kein Ziel kennt. Die Oper stellt den Zustand einer Existenz aus, die alle festen Bindungen gekappt und sich von allen Orten losgerissen hat – und die dennoch von den Gespenstern des Einst heimgesucht wird. Diese Erfahrung, das versuchte ich Schaal nahezubringen, ließe sich an Berlioz‘ Oper machen. Wir könnten sie aber nicht den Schuhkartons entnehmen, sondern wir müssten dafür eine eigene szenisch-architektonische Behauptung wagen.

Am nächsten Morgen hat Schaal seine Kartons eingepackt und ist abgereist. Zu der nächsten Arbeitssitzung kam er mit einem Modell, das uns den Atem raubte. Eine riesige Architektur mit 37 Metern Durchmesser: etwas zwischen Schiff, Flugzeugträger und Stadt, ein weiß strahlender Felsen mit unterschiedli130

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Probenfoto zu Hector Berlioz’ „Die Trojaner“, Oper Stuttgart 1983, Klaus Zehelein, Ruth Berghaus, Nina Ritter. Foto: Mara Eggert

chen Flächen, Plätzen und architektonischen Formen. Setzte sich unsere Drehbühne in Bewegung, ergaben sich wechselnde szenische Räume. Und doch blieb es immer die eine ortlose Stadt, das Schiff auf einer immerwährenden Passage. Friedrich Schiller hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts Fragment gebliebene „Seestücke“ entworfen, die die globale Verflechtung alles Geschehens an ­einzelnen Orten durch den Schiffsverkehr und das Gefühl eines Daseins ohne festen Boden unter den Füßen aufgreifen sollten. „Das Theater kann das Schiff selbst sein“, heißt es bei Schiller dazu in einer Regieanweisung. Ein Schiff, das eine Stadt ist, die ein Theater ist: Das war, was Hans Dieter Schaal gebaut hatte; das war, was ich mir bildlos imaginiert hatte.

Gebaut hatte er es allerdings erst im Modell. Wir zeigten es Max von Vequel, dem Technischen Direktor. „Rühr’ schon mal den Beton für die Fundamente an“, versuchten wir Max aufzumuntern. Er hat sich der Herausforderung gestellt und es geschafft, Schaals architektonischen Entwurf tatsächlich zu bauen.

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Mit Recht stehen beide, Hans Dieter Schaal und Max von Vequel, im Programmheft als die für die Bühne Verantwortlichen. „Die Trojaner“ hat uns, vor dem letzten großen Unternehmen, Wagners „Ring des Nibelungen“, alles abverlangt. Ich war in der Vorbereitung so tief eingestiegen in das Sujet, dass ich Ruth Berghaus ein ziemlich umfangreiches Konvolut an eigenen und fremden Texten geschickt habe. Ich erhielt eine knappe Postkarte von ihr zurück: „Lieber Klaus, vielen Dank für das Material. Willst Du’s nicht selber inszenieren?“ Sie hat’s natürlich doch gemacht. Schaals Architektur hat sie herausgefordert und sie hat, wie ich gehofft hatte, angesichts dieser Herausforderung szenische Arrangements und choreographierte Bewegungen von berückender Schönheit gefunden. Nina Ritters Kostüme forderten und unterstrichen charakteristische Bewegungen der Agierenden, z. B. die roten Stäbe an den Armen der Kassandra oder die großen Tierköpfe an den Mantelkragen der Trojaner.

Es war eine außergewöhnliche Leistung des gesamten Ensembles.

Herausragend die drei Hauptrollen: William Cochran als Aeneas, Anja Silja als Kassandra und Rachel Gettler als Dido. Michael Gielen, von dem sich immer noch das Gerücht hielt, er könne ja nur zeitgenössische Musik dirigieren, konnte hier seiner Bewunderung für Berlioz Ausdruck verleihen. Ein Raum-Schiff, unterwegs zwischen den Zeiten, das war „Die Trojaner“ an der Oper Frankfurt. Es war zugleich auch ein treffendes Bild für unsere Reise durch zehn Jahre Opernarbeit. Und wer von den Zuschauenden es vermochte, der konnte im Bild dieses Raum-Schiffs auch sich selbst in seiner TransitExistenz wiederfinden. Ruth Berghaus hat nach den „Trojanern“ an anderen Orten, u. a. in Paris und Wien, noch eine ganze Reihe von Inszenierungen zusammen mit Hans Dieter Schaal gemacht. * Bereits ein Jahr vor Berlioz‘ „Die Trojaner“ hatte Ruth Berghaus zum ersten Mal mit Axel Manthey zusammengearbeitet. „Parsifal“ war sein Einstand in Frankfurt im November 1982. Es sollten noch der „Freischütz“ mit Christof Nel und als Höhepunkt und Abschluss der Frankfurter Entreprise „Der Ring des Nibelungen“ wieder mit Ruth Berghaus folgen. Die Bühne von Manthey für „Parsifal“ war 132

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zwischen Architektur und Schrift angesiedelt. Schräge Stege und Flächen durchzogen den Raum, als seien sie der Filmarchitektur des Expressionismus entlehnt. Wie auf Tafeln waren darauf die Fugen von Mauern oder abstrakte Muster eingezeichnet. Klare Grund­ farben wie Gelb, Rot und Blau als Teil der Kostüme setzten weitere optische Signale. Sie ließen sich jedoch, wie die gesamten Bühnenbilder Mantheys, nicht entschlüsseln. Sie waren zeichenhaft und rätselhaft. Damit korrespondierte Mantheys Bühne mit dem ungelösten Rätsel, das die Handlung des „Parsifal“ enthält: „Was ist der Gral?“ – „Das sagt sich nicht.“ Gurnemanz’ Antwort auf die Frage von Parsifal spricht das Rätsel bleibende Zentrum des Stücks an. Ihm wurden die Bilderfindungen von Axel Manthey gerecht.

Auf seiner Bühne war nur so viel klar: Die Welt war aus den Fugen in diesem „Parsifal“, das war den dominierenden Schrägen und verkeilten Flächen zu entnehmen, und sie wurde auch nicht eingerenkt durch den „Erlöser“ Parsifal. Mantheys architektonische Bilder eröffneten Räume der offenen Assoziation. Das war die szenische Herausforderung dieses „Parsifal“. Sie sorgte für heiße Diskussionen. Ruth Berghaus stand dazu. Ihr ermöglichten Mantheys Raum-Bilder ungewöhnliche szenische Lösungen. Noch gut in Erinnerung ist mir der erste Auftritt Parsifals bei den Gralsrittern. Auf einer großen Schräge hatte Axel Manthey ein überdimensioniertes, aufgeschlagenes Buch mit steilen Schriftzeichen platziert, aus dem Gurnemanz mit dem Zeigestock den vor ihm sitzenden Knappen die Regeln der Gralsgemeinschaft lehrte. Der Kontrast zwischen dem stockschwingenden Oberlehrer Gurnemanz und seiner lammfromm dressierten Schülerschaft und dem spontan-chaotischen Parsifal, dem Walter Raffeiner durchaus eigene Züge verliehen hatte, hätte nicht größer sein können. Raffeiner, der Sänger-Darsteller des Parsifal, stürmte auf die Bühne – gerade hatte er einen Schwan erlegt – und versuchte, die Schräge zu erklimmen, was ihm nicht gelang. Die Probe wurde unterbrochen.

Manthey fragte, was das solle, und bekam von der Berghaus die Antwort: „Er soll sich auf das Buch setzen.“ Axel war empört. S­ eine Bühne sei kein begehbares Gebirge. Darauf Ruth: „Wie könnte Parsi133

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fal denn auf das Buch kommen?“ Axel, nach langem Schweigen: „Ich schlage zwei Krampen in die Schräge.“ Das geschah.

Jahrzehntelang war der „Parsifal“ für Altwagnerianer ein ersatzreligiöser Gottesdienst. Wenn im Schlussbild wie in der Bühnenanweisung vorgeschrieben, eine weiße Taube aus der Kuppel der Gralsburg herabschwebt und über Parsifal verweilt, dann konnte man sich ganz der Erlösung durch den Erlöser hingeben. Ruth Berghaus, diesem Ende keineswegs zugeneigt, wie sich versteht, bestand gleichwohl auf zwei lebenden Tauben. Ich war total verblüfft. Ob sie das ernsthaft meine? Ja, das gehöre schon dazu. Ich gab’s an die Requisite weiter. „Sie braucht zwei dressierte Tauben!“ Alle waren perplex, haben sich aber auf die Suche gemacht. Am Ende fanden wir einen wunderbaren Friseur, der Tauben unterrichtete. Und der hat ihnen beigebracht, sich auf Parsifals Hand niederzulassen und von ihm in die Höhe wegzuflattern. Das Ende unseres „Parsifals“ wird niemand vergessen, der die Aufführung gesehen hat. Mit einem Speer aus Holz und Pappe in der linken Hand stand Walter Raffeiner im Soldatenmantel und mit einer Pappkrone auf dem Kopf im roten Ring. Er hatte den Kragen hochgeschlagen und hielt ihn mit den Zähnen fest. Auf der Hand des ausgestreckten rechten Arms saß die Taube. Kein Held und Heiland, dem die Gralsritter huldigten, stand da, sondern ein zitternder Junge, vielleicht einer von denen, die Hitler bei seinem letzten öffentlichen Auftritt noch ins Feuer geschickt hatte. Es war ein Bild der vollkommenen Überforderung, das Eingeständnis, das die Rolle eines jedweden „Erlösers“, der anderen das „Heil“ bringen sollte, zu groß ist für sterbliche Menschen. Das Schlussbild des Frankfurter „Parsifal“ brachte, anders als von Wagner gedacht, die Erlösung vom Erlöser.

Der Frankfurter „Ring“, Spielzeiten 1985–1987 Dass „Der Ring“ zum opus summum, zum Höhepunkt und Abschluss der Frankfurter Jahre werden sollte, wie es in der Presse zu lesen war, war von uns nicht so geplant. Michael Gielen hat darauf bestanden, dass die Entscheidung für den „Ring“, nach134

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dem sie gefallen war, für ihn den Verzicht auf mehrere für ihn wichtige Werke bedeutete, die er noch dirigieren wollte – darˇ unter „Aus einem Totenhaus“ von Leoš Janácek.

Es gab gegen Ende unserer Arbeit Bestrebungen von Menschen, die uns gerne länger in Frankfurt gesehen hätten, aber die kamen zu spät. Die Verträge mit unserem Nachfolger waren schon gemacht. So musste ausgewählt werden, mussten Entscheidungen getroffen werden – mehr als uns lieb war. * Was dafür sprach, mit Wagners „Der Ring des Nibelungen“ in Frankfurt zu enden, war zunächst die merkwürdige „Tradition“, dass Frankfurt ein ganzes halbes Jahrhundert lang keinen „Ring“ ˇ ´ und Dohnányi waren gleimehr gestemmt hatte. Solti, Matacic chermaßen daran gescheitert. Sollte diese „Tradition“ nicht absichtlich oder unabsichtlich fortgesetzt werden, war eine Frankfurter Neuinszenierung des „Ring“ an der Zeit. Inhaltlich stärker für eine Entscheidung zugunsten des „Ring“ sprach die Tatsache, dass das Werk in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren zum bevorzugten Ort wurde, an dem die Auseinandersetzung mit Wagner aus der Perspektive des zeitgenössischen Musiktheaters ausgetragen wurde. Seit Joachim Herz‘ Leipziger „Ring“ (1973– 1976) und Patrice Chéreaus „Ring“ zum 100jährigen Jubiläum der Bayreuther Festspiele 1976 waren die vier Teile des „Ring“ aus der vermeintlich mythischen Vorzeit in die Realität der industriell-kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts versetzt worden. Herz und Chéreau offenbarten Wagners Werk als in zeitlose Archaik gehüllte Geschichte zeitgeschichtlicher Prozesse und Ereignisse.

Das waren bedeutende Schritte, die gleichwohl noch dem Bildhaft-Interpretatorischen verhaftet blieben. Es war sicher naheliegend, einzelne Teile und Strukturen der „Ring“-Erzählung wie die soziale Kluft zwischen der Welt der Götter und den unten in Nibelheim Schuftenden, das treibende sozialpsychologische Motiv der Gier nach Gold und die soziale Bindung durch Verträge, die Gewalt (vergebens) unterbinden sollen, als Elemente der Klassen135

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gesellschaft und des expandierenden Kapitalismus des 19. Jahr­­ hunderts zu interpretieren. Nur bedeutet eine solche Interpretation eben auch eine Festschreibung, die die Dynamik des Kunstwerks, die immanente Spannung von Musik, gesungenem Wort, Narration, visueller Dramaturgie und szenischer Realisierung zu sistieren versucht.

Für die Dramaturgie in Frankfurt war klar, dass die Ebene der Narration im „Ring“ nur eine trügerische Oberfläche darstellt und dass wir tiefer graben mussten, um jene Kräfte freizusetzen, die die vier Teil-Werke des „Ring“ auseinander- und über jede ­fixierende Interpretation hinaustreiben. In der Wiedergewinnung und Freisetzung solcher treibenden Dynamiken könnte die bodenlose Erfahrung der Moderne liegen, die die Menschen in der Welt von 1985 machen.

Um solche zeitgenössische Erfahrung mit dem Werk zu ermöglichen, mussten wir uns paradoxerweise und sine ira et studio erneut auf Wagner einlassen und den Bauplan seines Arbeitens und Verhüllens, seiner Reflexionen, Selbstdarstellungen und Selbstrechtfertigungen im Verhältnis zum Handwerk des Librettisten und dem Metier des Komponisten studieren. Wir befassten uns deshalb intensiv mit allen Schriften Wagners, den kompositorischen Arbeitsprozessen und den Libretti einschließlich der Bildund Regievorstellungen, nicht um durch solche vertiefte Einlassung ideologisch Festgeschriebenes zu wiederholen, sondern um Zukunftsweisendes zu gewinnen. Die Einstellung, von der wir ausgingen, war nicht für oder gegen Wagner, sondern mit Wagner über Wagner hinaus. Es war die Einstellung der Dekonstruktion, jenes wissenschaftlichen Verfahrens, das sich zu der Zeit, von Frankreich ausgehend, rasch über die Kontinente ausbreitete. Wir fanden es sinnvoll, uns dafür von einem ausgewiesenen Spezialisten für dekonstruktivistische Lektüre beraten zu lassen. So kam Sam Weber, mein Freund aus Studientagen bei Adorno, ins Team.

Samuel M. Weber, heute berühmter Avalon Professor an der Northwestern University von Chicago, hatte ich in den 1960er Jahren in Frankfurt kennengelernt. Mitten in die Lebenswelt 136

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Arlette und Samuel Weber.

Foto: Privatbesitz Klaus Zehelein

der Frankfurter Schule brachte er uns die Schriften von Jacques Derrida und Jacques Lacan. Über den letzteren hat er 1978 eine bahnbrechende Studie veröffentlicht: „Rückkehr zu Freud.

Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse“. Wiewohl mich das Denken Adornos und seine philosophischen Abhandlungen zur Musik stark geprägt haben, war ich durch die Freundschaft mit Sam Weber immer auch offen für die überaus inspirierenden Denkfiguren der Dekonstruktion. Das ging so weit, dass ich auch eine Gastdozentur an dem von Derrida gegründeten Collège international de philosophie in Paris annahm. Davon später, zurück zum Team des Frankfurter „Ring“.

Es war nicht von Beginn an ausgemacht, dass Ruth Berghaus nach „Parsifal“ auch beim „Ring“ Regie führen sollte. Anfangs stand auch Hans Neuenfels mit im Raum. Und auch an Axel Manthey als dem für Bühnenbild und Kostüme Verantwortlichen gab es zunächst Zweifel von der Seite Michael Gielens. Am Ende kam es zu 137

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Probenfoto zu Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, Oper Frankfurt 1985-87, Michael Gielen, Axel Manthey, Ruth Berghaus, Klaus Zehelein. Foto: Mara Eggert

jenem Team, das heute unbezweifelt und nahezu legendär für den Frankfurter „Ring“ steht: Dirigat Michael Gielen, Regie Ruth Berghaus, Bühne und Kostüme Axel Manthey, Dramaturgie Klaus Zehelein, dramaturgische Beratung und Mitarbeit Samuel Weber. * Wir stimmten darin überein, dass eine Gegenüberstellung von Mythos und Wagners Welt des 19. Jahrhunderts uns in die Irre führen musste. Zunächst galt es deshalb zu klären, was es mit der Beschwörung der archaischen Vorzeit im „Ring“ aus geschichtstheoretischer wie künstlerischen Perspektive auf sich hat. Wagner hatte der Nibelungenstoff schon länger beschäftigt. 1848 kreierte er ein Amalgam aus Geschichte und Sage, um den Führungsanspruch der Deutschen gegenüber allen anderen Völkern mit allen Mitteln der Kunst in einer (nie geschriebenen) Oper über den Stauferkaiser Friedrich Barbarossa zu veranschaulichen. In seiner Schrift „Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage“ führt er in einem kühnen Ritt die Herkunft des Stauferkaisers, für Wagner der Vorbote und Garant künftiger Herrlichkeit, auf das mythische 138

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Troja und die Ghibellinen, die Partei der Staufer in Italien, zurück. In Wagners Rückübersetzung werden aus den Ghibellinen die „Wibelungen“, und damit liegt für Wagner – ein Buchstabe hin oder her – die Rückführung der Staufer auf das sagenhafte Geschlecht der Nibelungen und den „Lichtgott“ Siegfried auf der Hand.

Die Geschichte der Nibelungen, nach der Wiederent­deckung des mittelalterlichen Nibelungenlieds im 18. Jahrhundert durch die volkstümliche Rezeption der Romantik ins Bewusstsein der Deutschen gerückt, wurde im 19. Jahrhundert und bis in den Nationalsozialismus hinein immer wieder als Urgeschichte der Deutschen propagiert. Wagners Studie von 1848 enthält noch nicht die Geschichte des „Ring“, gibt aber Einblick in seinen Umgang mit der Geschichte. Geschichte wird bei Wagner alludiert, um die Sage, die sie überformt und ins Mythische überhöht, mit materieller Schwerkraft auszustatten. Die historische Anspielung auf die Zerstörung des Burgunderreichs unter König Gundahar durch die Hunnen im 5. Jahrhundert verleiht der Nibelungensage bei Wagner eine Anmutung von historischer Realität, die den sagenhaften Mythos stützt. Aber nicht um eine historistische Beglaubigung des Mythos geht es Wagner schließlich, sondern um seine Wiederholung und Erscheinung in der Gegenwart. Für letzteres aber braucht es Kunst.

Die wohl größte Kunst Wagners besteht darin, Biographie und Werk als Einheit erscheinen zu lassen. Bei der Lektüre der Wagnerschen Schriften ist auffallend, wie bestimmte Lebenserfahrungen mit der Arbeit am Werk verknüpft, wie Lebensumstände als bestimmend für die künstlerische Arbeit mitgeteilt werden, wie der Schatten des Lebens auf die Arbeit deren eigene Umrisse zu beschreiben scheint, wie schließlich die biographischen Episoden und deren Interpretation der Dignität und Autorität des Werkes zugeschrieben werden und vice versa. In „Eine Mitteilung an meine Freunde“ von 1851 beginnt Wagner ein subtiles Geflecht von Leben und Kunst zu knüpfen, das sich bis in seine letzten Briefe hinein als eine unendliche Totalität behauptet.

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­ agner kommt damit dem Interesse des 19. Jahrhunderts entW gegen, das anstelle der ästhetischen Auseinandersetzung die biographischen Aspekte im Werk aufsucht. Aber er unterläuft auch gleichzeitig diese Tendenz, indem er diese Beziehung im Laufe der Jahre so eng, so total entfaltet – Cosima pflegt in ihrem Tagebuch manche alltäglichen Episoden durch Szenen aus Wagners Werk zu transzendieren –, dass jedes Motiv auf ein vorangegangenes zu verweisen scheint, ein „vollständiges Gewebe“, das sich „ganz unwillkürlich […] über das ganze Drama“ des Lebens „ausbreitet“. Die Verfertigung dieses „Gewebes“ ist die Kunst Wagners, die die archaische Handlung des „Ring“ beglaubigt. Die Vorstellung des „Gewebes“, in dem alles mit allem „verwebt“ ist, ist Wagners höchsteigener Mythos. Sie erzeugt die Phantasmagorie des Gesamtkunstwerks, die es zu entzaubern gilt, will man den Mythos Wagner nicht länger fortsetzen.

Gegen den Zauber der Phantasmagorie hilft die Überprüfung von Wagners Gewebe-Kunst an der tatsächlichen Arbeit des Komponisten. In „Eine Mitteilung an meine Freunde“ gibt Wagner dazu die Vorlage: „Ich entsinne mich, noch ehe ich zu der eigentlichen Ausführung des ‚Fliegenden Holländers‘ schritt, zuerst die Ballade der Senta im zweiten Akt entworfen, und in Vers und Melodie ausgeführt zu haben; in diesem Stück legte ich unbewusst den thematischen Keim zu der ganzen Musik der Oper nieder. Es war das verdichtete Bild des ganzen Dramas, wie es vor meiner Seele stand … Bei der endlichen Ausführung der Komposition breitete sich das empfangene Bild ganz unwillkürlich als ein vollständiges Gewebe über das ganze Drama aus.“ Wagners Anmerkung bezieht sich eher auf den Wunsch nach dem „vollständigen Gewebe“ als auf die Partitur selbst: Einzelne Motive der Senta-Ballade finden sich nur im HolländerMonolog und im Chor der Holländischen Geistermannschaft.

Hierbei aber vom „thematischen Keim“ zu sprechen, von dem aus sich alles zu einem „vollständigen Gewebe“ ausbreitet, kann aus der Perspektive des „Ring“ nur als Wunschdenken bezeichnet 140

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werden. Wagners Phantasma eines sich lebendig entfaltenden Gewebes, das die Totalität des „Ring“ erzeugt, steht im Widerspruch zum Eigensinn der narrativen Episoden ebenso wie zur kompositorischen Ausführung. Folgte man dem Phantasma, so vernichtet man gerade die Besonderheit und den Eigenwert der Einzelteile.

Das genau ist nach Wagners Beschreibung in „Das Kunstwerk der Zukunft“ die Intention des Gesamtkunstwerks, das „alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat“, nur um „jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zugunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur.“ Das Trugbild der unmittelbaren, scheinbar darstellungslosen Darstellung ist durch die Vernichtung der Arbeit des Werks erkauft. „Die Verdeckung der Produktion durch das Produkt ist das Formgesetz Richard Wagners“, stellt Adorno dazu im „Versuch über Wagner“ fest.

Dieses Formgesetz zur Disposition zu stellen, war der Grundkonsens, unter dem die Frankfurter Produktion des „Ring“ vonstatten ging. Man kann sie verstehen als eine Hinwendung zum Einzelnen und Besonderen anstelle von dessen Einreihung in den Siegeszug des Ganzen.

Der Blick aufs Singuläre schärft sich auch, wenn man sich auf ein close reading der Szenen- und Regiebeschreibungen einlässt. Samuel Weber machte mich darauf aufmerksam, dass Wagners Bild- und Regieanweisungen aufs Genaueste zu lesen seien.

Wieland Wagner, der diese tatsächlich als Anweisungen und nicht als Texte verstand, befand sie als Relikte des 19. Jahrhunderts für obsolet. Was aber eine genaue Lektüre dieser Texte leistet, ist unverzichtbar. Z. B. die erste Szene des ersten Aufzugs von „Siegfried“: Bei der Aufzählung der Einrichtungsgegenstände in Mimes Schmiede-Höhle fällt auf, dass alles, Schmiedeherd und Esse, ­Amboss und andere Gerätschaften, Ein- und Ausgang, „aus Felsstücken natürlich geformt“ ist, „künstlich ist nur der große Blasebalg“. Die Betonung des Blasebalgs als alleinigem künstlichem Gegenstand verweist auf die Singularität dieses künstlichen Pneu141

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mas. In der dritten Szene wird es dann Leben entfachen: „Hoho!

Hoho! Blase Balg! Blase die Glut!“ Der ungehobelte Balg Siegfried besingt den Balg, der die gehobelten Späne des Schwertes zum Glühen bringt, schließlich „im eigenen Schweiße schwimmen“ lässt. Das ist ein prinzipiell anderes Vorgehen als das, was Peter Wapnewski, stellvertretend für den Mainstream der Auslegungen, als Siegfrieds Schwertschmiede beschreibt: „So meistert Siegfried selber denn […] Hammer und Blasebalg und fügt kunstgerecht des Vaters Bruchstücke zusammen.“ Eben nicht. Während Mime versucht, die drei Stücke des Schwertes „zusammenzu­ löten“, raspelt Siegfried auf, was nicht zu kitten ist. Nicht das Schmieden selbst, sondern der Vorgang der Verflüssigung ist das Neue, Verflüssigung abgetaner Herrschaftsverhältnisse – hier gibt es nichts mehr zu löten. Die Bruchstücke überkommener Herrschaft werden nicht von der nächsten Generation restauriert, sondern zum Verschwinden gebracht, aufgelöst und vollkommen neu geschaffen. Das ist das radikal Neue, mit dem Siegfried alles Überkommene in Frage stellt. Deshalb muss er weg.

Detaillierte Lektüren wie diese erschließen einzelne Szenen neu. Sie brechen aber die geschlossene Gestalt des „Ring“ eher in eine Vielzahl von Facetten, Differenzen und Differenzierungen auf, als dass sie sich zum Ganzen runden. Dass es mit Letzterem seine Schwierigkeit hat, zeigt sich schon daran, dass Wagner im „Ring“ immer wieder die Exposition nachliefern muss, um den Zusammenhang der ganzen Geschichte plausibel zu machen. Davon haben wir Abstand genommen. In den vier Programmheften zum Frankfurter „Ring“ findet sich an keiner Stelle der Versuch einer Gesamtexegese der vier Teile des „Ring“. Denn jenseits des Phantasmas des organischen Gewebes des Gesamtkunstwerks, jenseits der behaupten Linearität der umfassenden Narration stellt im „Ring“ die Suggestion des musikalischen Motivgeschehens aus Ahnung und Erinnerung die Zeit neu. Es sind die Szenen des ­Erwachens im „Rheingold“ zum Beispiel, die ihre Zeit, ihren Ort im „Augenblick, da die Lider sich öffnen“ benennen, „als haben sie sich vor Monaten in einer anderen Gegend zur Ruhe bege142

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ben“, wie Proust schreibt. Es ist die Durchkreuzung der Horizontalen der Narration durch die Vertikale, in der sich Geschichte und Mythos zueinander verhalten, die jene eigenartige S­ tauung und Verflüssigung der Handlung bewirken, in der die Befreiung von der Hunding-Enge in Ausgesetztheit umschlägt, Verheißung immer auch als Bedrohung sich bedingen.

Die Zeiten und Orte solcher Durchkreuzungen, Stauungen, Vorausahnungen und erinnernden Wiederholungen sind nicht auf der Kette einer fortschreitenden Erzählung aneinandergereiht. Sie finden zueinander durch Korrespondenz. Als einen „Wald von Zeichen“, durch den der Mensch „irrt“, hat Baudelaire im gleichnamigen Gedicht die „Correspondances“ bezeichnet – Zeichen, „die mit vertrauten Blicken ihn bedrängen.“ Unübersehbar ungeordnet ist der „Wald“, aus dem sich einem unvorhergesehen einzelne Zeichen aufdrängen, eine spontane Vertrautheit im Unbekannten, ein Aufblitzen von Sinn im Rätselhaften. Die Frankfurter „Ring“-Inszenierung ist nach dieser Logik der Corresponcances angelegt. Ihre Wirkung ist nicht kalkulierbar. Sie kann nichts anderes als einen „Wald von Zeichen“ schaffen. Daran ­haben wir gearbeitet. Darin haben uns vor allem die Entwürfe von Axel Manthey bestärkt. Manthey hat von Beginn den Zeichencharakter des Geschehens auf der Bühne hervorgehoben, ­indem er es dezidiert als ein Theater-Geschehen ausgestellt hat.

Aus dem roten Vorhang der Bühne werden zeichenhaft die Wogen des Rheins – den Vorhangfalten entnommen, schweben die Rheintöchter durch den Raum. Auch später noch, z. B. auf dem Walkürenfelsen und in der „Götterdämmerung“, kehren die Wogen des Vorhangs wieder. Masken sind wichtige Stilelemente: Die Arbeiter in Nibelheim und Fafner, der Drache in „Siegfried“, werden durch körpergroße Masken vertreten. In der „Götterdämmerung“ schließlich bilden die Speere der Gibichungen einen Wald von Zeichen – wie in Kurosawas Film „Ran“ aus dem Jahr 1985 über den japanischen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Nichts ist vorgegeben in diesem „Ring“, keine Interpretation drängt sich auf. Aber alle Szenen, alle Gesten, alle Bilder und Räume laden 143

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dazu ein, in diesem dichten „Wald von Zeichen“ eigene Entdeckungen zu machen, sich bedrängen zu lassen von Korrespondenzen, von einer plötzlichen Vertrautheit inmitten der Fremde. Und zu erfahren: unerhörte Augenblicke.

Zum Ereignis wurde dieser Frankfurter „Ring“ nicht zuletzt durch die Sängerinnen und Sänger und das Dirigat von Michael Gielen. Alles falsche Pathos, aller Rausch und Schwulst waren aus Gielens Wagner-Gestaltung entfernt. An ihre Stelle trat eine Transparenz, die mit der Zeichenhaftigkeit des Bühnengeschehens korrespondierte. Es ist eine der großen Unterlassungssünden des Hessischen Rundfunks, dass er sich nicht zu einer Aufzeichnung des Frankfurter „Ring“ entschließen konnte. Man muss deshalb aus der Erinnerung hören und sich vor Augen stellen, was William Cochran als Siegfried und Catarina Ligendza als Brünnhilde an Unglaublichem geleistet haben. Die anderen, Helena Döse als Sieglinde, Walter Raffeiner als Siegmund und Wolfgang Probst als Wotan / Wanderer, standen ihnen nicht nach. Man muss nahezu das ganze Ensemble nennen, um der Einmaligkeit dieser Aufführung gerecht zu werden: Paula Page, Margit Neubauer und Ilse Gramatzki als Rheintöchter, Adalbert Waller als Alberich, Heinz Hagenau als Fafner, Heinz Zednik als Loge, Gail Gilmore als Fricka, June Card als Freia und Gutrune, Barry Mora als Gunther seien stellvertretend für alle anderen genannt.

Es gibt einen kurzen Audio-Mitschnitt vom Ende der „Götterdämmerung“, der einen Hinweis gibt, wie diese Aufführung auf eine Wagner-Erfahrung jenseits von Rausch und Phantasmagorie zielte. Das Walhall-Motiv kommt darin nicht pompös daher.

Eher erinnert es an ein Blasorchester auf einem der kommunistischen Humanité-Feste der 1980er Jahre in Frankreich. Das Erlösungsmotiv am Ende, das von manchen Interpreten unerträglich verschleppt und agogisch überreizt wird, dringt aus Gielens Orchestergraben mit schneidender Schärfe – als ein gleisendes Licht aus der Kälte des Weltalls, auf das die allein zurückgebliebene Gutrune das Fernrohr richtet. * 144

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Am Mittwoch, den 24. Juni 1987, fand die letzte Aufführung der „Götterdämmerung“ statt. Sie markierte das Ende unserer Jahre in Frankfurt. Alle, die uns die Zeit über begleitet hatten, wollten dabei sein. Aber es gab keine Karten mehr. In der Pause vor dem dritten Akt strömten die Kartenlosen in den Saal und ließen sich in den Gängen und auf den Treppen nieder. Von der Feuerpolizei war nichts zu hören. Am Ende wurden wir immer wieder auf die Bühne gerufen. Der Applaus dauerte eineinhalb Stunden. Dann fiel der eiserne Vorhang. Es war vorbei.

Es ist schwer, selbst ein Urteil über diese Jahre zu sprechen.

Hans-Klaus Jungheinrich hat von der Schwierigkeit der künstlerischen Arbeit in großen Opernhäusern gesprochen, in denen der Apparat viele große Ideen und Vorhaben aufs Mittelmaß herunterdrückt. Und doch, so Jungheinrich, hoffen diese Häuser auf jene „glücklichen Abende“, die das „ganz Andere“ erreichen: „das Glück eines Gelingens, das […] über alle Bedingtheiten nach dem Unerreichbaren trachtet – der künstlerischen Wahrheit.“ Dann fährt er fort: „Dass dies keine spekulative Abstraktion ist, wurde in der Frankfurter Theaterarbeit immer wieder erfahrbar. Sie war voller Durchbrüche […] Indem sie beweglich, transitorisch und gewissermaßen vieldeutig vorging, näherte sie sich von vielen Seiten dem Innersten der Werke und offenbarte es blitzhaft, ohne alle ‚Geheimnisse‘ preisgeben zu wollen. Nicht beabsichtigt war ein ‚endgültiger‘ Opernbesitz, eine finale Ausinterpretation und Lösung aller Opernrätsel.“ Durch Jungheinrichs Worte fühlten wir uns verstanden. Bisweilen wird im Feuilleton vom „Experiment“ der Frankfurter Opernjahre gesprochen. Dahinter verbirgt sich der Wunsch, dass Unruhe in und um die Oper nur vorübergehend sei. Sie hielt aber an und hält seither an. Michael Gielen hielt die Frankfurter Jahre für unwiederholbar. Im Gespräch mit Kritikern sprach er von einer einmaligen Konstellation, die durch die Zusammenarbeit zwischen ihm und mir zustande gekommen sei. Das war der ­Beginn der Rede von der „Gielen-Zehelein-Ära“. Mich selbst hat145

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ten die Jahre, besonders die Arbeit am „Ring“, an den Rand der Erschöpfung und darüber hinaus gebracht. Als wir in Frankfurt begannen, wussten wir nicht, auf was wir uns eingelassen hatten.

Es wurden zehn Jahre des Lernens – zehn Jahre der auch oft strapazierten Freundschaften. „Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit.“

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INTERMEZZO UNGEBUNDENHEIT UND EINGEBUNDENSEIN 1987–1991

ALS IM JUNI 1987 der Eiserne Vorhang nach der letzten, um­ jubelten Aufführung der „Götterdämmerung“ gefallen war, war ich frei. Keine Vorbereitung auf die neue Spielzeit, keine Proben, ­keine Sitzungen in Dramaturgie und Direktorat standen mehr an.

Noch etwas Abwicklungsarbeit. Sonst nichts. Ein ungewohntes Gefühl nach zehn Jahren Aufbruch. Als ich ihm nachging, diesem neuen Gefühl, stellte ich fest, wieviel Druck die ganze Zeit über auf mir gelastet haben musste. Nun war der Druck weg und ich war doppelt frei. Befreit von der Last, die mit der wunderbaren Opernarbeit in Frankfurt nolens volens verbunden war; aber auch frei, zu entscheiden, was ich nun tun wollte. * Als ich aus dem Abstand meiner neugewonnenen Freiheit auf zehn Jahre Operndramaturgie zurückblickte, kam mir die Zeit meiner Anfänge in Kiel und Oldenburg in den Sinn. Dort war ich überwiegend als Dramaturg für das Sprechtheater tätig gewesen.

Diese Arbeit betrachtete ich keineswegs als Vorstufe für die Operndramaturgie, im Gegenteil. Die Fokussierung auf Texte, die nicht von der Musik in Dienst genommen und von ihr gezeichnet und überformt waren, hielt ich für eine notwendige Einstellung, 147

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um dem drohenden Verschwinden des Texts in der Musik entgegenzuarbeiten. Nicht mit Wehmut, sondern mit einer frisch erwachten Neugier erinnerte ich mich deshalb an die Zeit als Schauspieldramaturg. Mit anderen Worten: Ich hatte Lust, wieder für das Schauspiel zu arbeiten. * Da traf es sich, dass Hans Neuenfels, der legendäre Inszenierungen in Frankfurt verantwortet hatte, seit 1986 Intendant der Freien Volksbühne in Westberlin war. Die Freie Volksbühne war 1948 mit dem Beginn der deutschen Teilung im Westen der Stadt als Pendant zur Volksbühne in Ostberlin gegründet worden. Nach dem Mauerbau war für sie eigens ein Theater in der Schaperstraße errichtet worden. Erwin Piscator, der Theaterrevolutionär der Weimarer Republik, wurde dort 1962 Intendant, und beginnend mit der Aufführung von Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ über die Haltung des Papstes Pius XII. zum Holocaust wurde dort engagiertes Theater gespielt. Hans Neuenfels hatte Bühne und Zuschauerraum so umbauen lassen, dass ein multifunktional bespielbarer Raum entstanden war. Die Freie Volksbühne war in der Endzeit des alten Westberlins vor der Wende ein spannender Ort für zeitgenössisches Theater. * 1987 erhielt ich die Einladung, dort zusammen mit dem Bühnenbildner Karl Kneidl, der hier auch Regie führte, Bertolt Brechts frühes Stück „Im Dickicht der Städte“ zu erarbeiten. Das 1923 uraufgeführte Stück konnte bis dahin auf keine sonderliche Aufführungskarriere zurückblicken. Mit Ausnahme von Klaus Michael Grübers Inszenierung am mitbestimmten Schauspiel Frankfurt 1973 – damals unterschätzt, heute gefeiert – konnten die Theater wenig mit dem Stück anfangen. Das lag zum einen daran, dass der frühe Brecht zu der Zeit noch nicht die Wertschätzung erfuhr, die den im Exil geschriebenen „Klassikern“ wie „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Leben des Galilei“ oder „Der gute Mensch von Sezuan“ entgegengebracht wurde. Die Entdeckung des „anderen Brecht“, wie Hans-Thies Lehmann ihn nannte, 148

INTERMEZZO

stand erst noch bevor. Ein anderes Hindernis, das sich mit dem unbekannten Brecht verband, war, dass das Stück präideologisch ist. Die Handlung von „Im Dickicht“ lässt sich nicht auf die Dramaturgie sozialer Konflikte hin abziehen, wie es bei den genannten, im Exil entstandenen Werken auf den ersten Blick möglich ist. (Dass sich neben und unter der geläufigen Dramaturgie gesellschaftlicher Konflikte auch in diesen Stücken Brechts Schattendramaturgien verbergen, die erstere konterkarieren, steht auf einem anderen Blatt.) „Im Dickicht der Städte“ jedenfalls lässt einen zunächst ratlos auf den motivationslosen Konflikt zwischen dem Angestellten einer Leihbibliothek Garga und dem malaiischen Holzhändler Shlink blicken. Das Stück bleibt einem fremd. Diese Fremdheit aber ist sein Triebgrund. So umstandsund grundlos, wie Shlink in Gargas Leben einbricht und ihm den Kampf erklärt, trifft die Erfahrung des Fremden nicht nur Garga und seine Familie, die vom bäuerlichen Leben auf dem Land in die Stadt gezogen sind, sondern auch die Zuschauerinnen und Zuschauer. Was immer Garga und die ihn Beobachtenden auch unternehmen, um dieser Fremdheit Herr zu werden, das Fremde lässt sich nicht abschütteln, es ist ein Teil von Garga und den Seinen und von uns. Vor mehr als 100 Jahren entstanden, ist „Im Dickicht der Städte“ das Stück zur irrtümlich so genannten Migrationskrise unserer Tage. Ich bin sehr froh, dass wir das kurz vor der Verei­nigung des fremden Ostens mit dem fremden Westen in Berlin zeigen konnten. * Karl Kneidl hatte für die vielen, ständig wechselnden Schauplätze des Stücks eine wunderbar flexible Drehbühne gebaut – mit Wänden aus Stoff, die sich über die Möbel hinweg bauschen konnten.

Ein schönes Bild für die Flüchtigkeit und Fragilität des modernen Lebens in den Städten.

Karl Kneidl war immer am Material interessiert. Einmal, als er ˇ mit Christof Nel als Regisseur Bedrich Smetanas „Die verkaufte Braut“ in Frankfurt auf die Bühne brachte, wollte ihm Nel eine Szene erklären, damit er eine Anschauung für die Bühnenbild149

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arbeit bekäme: „Weißt du“, hat der Nel ausgeführt, „dann steht sie da mit der Zigarette an dem Gasthaus, steht in der zugigen Ecke und weiß nicht, was sie eigentlich machen soll.“ Kneidl hat nur trocken geantwortet: „Also pass auf: Mit der Dame, mit der Zigarette und der zugigen Ecke. Was ich kann, ist dir 100 Kohlköpfe auf die Bühne schaffen lassen. Das kann ich. Das mit der Dame, mit der Zigarette und dem Zug, das kann ich nicht.“ An der Freien Volksbühne in Berlin hat Ingo Hülsmann den Garga und Hermann Treusch den Shlink gespielt. Emine Sevgi Özdamar, die Schauspielerin, die mit Benno Besson gearbeitet hatte und eine berühmte Autorin und Georg-Büchner-Preisträgerin wurde, war in der Rolle der Mae Garga zu sehen. Sie hatte schon die Andromache in Ruth Berghaus‘ Inszenierung von ­Hector Berlioz‘ Doppeloper „Die Trojaner“ gespielt, und ich freute mich über das Wiedersehen. Emine und Karl Kneidl waren frisch verheiratet. * Mir hat die Zusammenarbeit an der Freien Volksbühne gut ge­ fallen, und so habe ich dort ein Jahr später mit Christof Nel als Regisseur auch Shakespeares „Romeo und Julia“ erarbeitet. Ich erinnere mich, dass die Kritik die Aufführung verriss. Da hat ­Bernhard Minetti, der große Minetti, in einem Nachgespräch aus dem Publikum heraus protestiert. Der wurde so was von scharf.

Was sich die Kritiker denn einbildeten, ob sie nichts sehen und nichts hören könnten von dem, was auf der Bühne geschieht? * Das Verhältnis zu diesem Theater gestaltete sich zeitweilig so eng, dass es den Versuch gab, mich fest ans Haus zu binden – in Form einer doppelten Leitung von Hans Neuenfels und mir. Die Wertschätzung meiner Arbeit, die daraus sprach, hat mich gefreut.

Zu einer Doppelintendanz ist es dennoch aus verschiedenen Gründen nicht gekommen. Letztlich hatten Hans und ich doch recht unterschiedliche Vorstellungen über die Führung eines ­solchen Hauses. * 150

INTERMEZZO

Währenddessen ließ mich das Musiktheater doch nicht los. In Brüssel am Théâtre de la Monnaie habe ich 1990 die Dramaturgie zu Hans Zenders Oper „Stephen Climax“ übernommen, die wir zuvor in Frankfurt uraufgeführt hatten. Peter Mussbach führte Regie, Sylvain Cambreling war der Dirigent. Im selben Jahr arbeitete ich mit dem Regisseur Jürgen Flimm an einer Aufführung von „Così fan tutte“ in Amsterdam mit Nikolaus Harnoncourt.

Das eingehende Studium dieser Oper sollte mir kurze Zeit später zum Vorteil gereichen. Davon später mehr. * Ein Höhepunkt in der Zeit meiner vagabundierenden Dramaturgen-Existenz war die Wiederbegegnung mit Claudio Abbado in Wien bei der Arbeit an Modest Mussorgskis Oper „Chowanschtschina“ 1989. Alfred Kirchner, aus etlichen Arbeiten in Frankfurt vertraut, führte Regie, Erich Wonder baute eine großartige Bühne.

Mit Claudio Abbado hatte ich gute Gespräche. Im Kern ging es dabei um den Schluss der Oper: Mussorgski hatte „Chowanschtschina“ nicht mehr selbst beenden können. Es gibt, etwas vereinfacht gesagt, drei Finali – eines von Rimski-Korsakow, eines von Igor Strawinsky aus den Jahren 1912/13 und ein spätes von ­Dmitri Schostakowitsch, das 1960 zum ersten Mal aufgeführt wurde und heute meistens gespielt wird. Abbado wollte von mir wissen, welche Fassung ich denn bevorzugen würde. Er gab dabei vor, die Strawinsky-Fassung nicht oder kaum zu kennen. Als ich ihm die Strawinsky-Fassung mit ausführlicher Begründung empfahl, lächelte er und sagte, so habe er sich das auch vorgestellt. Offensichtlich wollte er mich testen und gleichzeitig überprüfen, ob seine eigenen Überlegungen auf positiven Widerhall stießen. Es war immer spannend, sich mit Claudio Abbado auszutauschen. Wir hatten uns bereits anlässlich der Wiederaufnahme von Nonos „Al gran sole carico d’amore“ Anfang 1978 in Mailand kennengelernt. * Nach fast zwei Jahren der Ungebundenheit bekam ich einen ­Besuch von Jürgen Flimm aus Hamburg. Er war dort seit 1985 151

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Intendant des Thalia Theaters und er machte es dringend. Das Theater sei in einer absoluten Notsituation: Nach dem schweren Unfall von Horst Laube, dem Dramaturgen und Autor, der das Schauspiel Frankfurt nachhaltig geprägt hatte, fehle ein Dramaturg, der als Künstlerischer Leiter zugleich für den Zusammenhang im Ensemble sorgen soll. „Ich bau dir alle Brücken, wenn du kommst“, hat Jürgen mich am Telefon beschworen, „dein Gehaltswunsch wird dir erfüllt, wenn du nicht zu viel willst“ und überhaupt freuten sich alle, wenn ich käme. Ich habe zugesagt. * Zwei Jahre lang, von 1989 bis 1991, war ich eingebunden in eines der besten Theaterensembles in Deutschland. Jürgen Flimm war es gelungen, eine Gruppe hochkarätiger Schauspielerinnen und Schauspieler zusammenzustellen, die auch untereinander harmonierten. Darunter, um wenigstens ein paar Namen zu nennen, Ingrid Andree, Will Quadflieg, Sven-Eric Bechtolf, Peter Maertens, Stefan Kurt, Lena Stolze, Annette Paulmann, deren Karrieren zum Teil am Thalia gerade erst begannen. Dazu kam Brigitte Landes als Dramaturgin, mit der ich mich sehr gut verstand. Dreimal hintereinander, von 1989 bis 1991, ist das Thalia Theater mit diesem Ensemble zum „Theater des Jahres“ gewählt worden.

Für mich kam die Zeit am Thalia genau richtig, um mich erneut auf die literarischen Texte, befreit von ihrer Inhaftnahme durch die Musik, zu fokussieren. Ein besonderer Genuss waren für mich in dieser Hinsicht die Leseproben, sonst oft als öde Pflichtübungen abgetan und in der Oper natürlich unbekannt. In den Leseproben des Thalia-Ensembles hingegen, die von allen mit höchster Konzentration absolviert wurden, erfuhr man die ganze Vielschichtigkeit und Differenziertheit der Texte. Sie wurden im Lesen erkundet und vorgeführt. Und dabei erfuhr man zugleich viel über die Lesenden. * Die Jahre am Thalia Theater waren eine gute Zeit für mich. Ein besonderes Erlebnis war die Zusammenarbeit mit Jürgen Flimm.

Flimm hatte am Ende unserer ersten Spielzeit in Frankfurt Luigi 152

INTERMEZZO

Nonos „Al gran sole carico d’amore“ inszeniert. Wir beide hatten keinen guten Start, als er mich bei einem vorbereitenden Besuch in Hamburg versetzte. Aber inzwischen schätzten wir einander sehr. Flimm, der vom Universitätstheater und der Freien Szene kam, war rasch aufgestiegen zum Regisseur, Oberspielleiter und Intendanten an wichtigen deutschen Bühnen. Seine Arbeit als Intendant aus der Nähe zu verfolgen, war lehrreich und inspirierend für mich. Gab es Probleme auf den Proben für eine Inszenierung, konnte Flimm empathisch und rhetorisch einfühlsam sein.

Nie sagte er in autoritärem Ton: „Dann mach‘ das jetzt so!“, sondern fragte erst nach, wie es eigentlich gedacht war, um dann Vorschläge in Formulierungen zu kleiden wie: „Hast du einmal überlegt, ob dies und jenes eine Lösung sein könnte?“ oder „Könntest du dir vorstellen, dass …?“ Auf diese Weise hat er viele sprichwörtliche Kühe vom Eis gezogen. Hat Jürgen Vorschläge gemacht, die besser waren? Ja. Aber das war nicht das Entscheidende. Entscheidend war für mich die Erfahrung, dass man anders mit Menschen umgehen kann, als sie auf der Probe fertigzumachen.

Auf der anderen Seite konnte Jürgen Flimm in Sitzungen und Besprechungen auch ungebrochen autoritär sein. Dann war er zuweilen unerträglich. Aber seine patrimoniale Herrschaft hatte auch ihre guten Seiten. Horst Laube hat er trotz seiner langen Krankheit nach einem Unfall unterstützt. Als er von einem der Aufsichtsräte gefragt wurde, warum er denn den Herrn Laube alimentiere, sah Flimm mich nur kurz an und sagte dann: „Aber du fährst doch jede Woche zu Laube und arbeitest dann mit ihm zusammen an dem, was anliegt.“ Ich konnte nur zustimmend nicken. * 1991 bekam ich das Angebot, die Staatsoper Stuttgart zu übernehmen. Ich habe Jürgen Flimm davon unterrichtet und ihm auch gesagt, dass ich das Angebot, nachdem es sich als solide ­herausgestellt hatte, gerne annehmen würde. Ich war mit allen Sinnen bei der Arbeit im Thalia Theater, aber ein Opernhaus wie Stuttgart zu leiten, war eine einmalige Chance. Jürgen Flimm sah 153

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das ganz und gar nicht so. Er konnte nicht fassen, dass ich das Thalia Theater gerade jetzt, wo alles so gut lief, verlassen wollte.

Und er hat mich übel beschimpft. Nie, nie, nie, werde er an dieser Oper, die ich dann leiten würde, inszenieren.

Um es kurz zu machen: Im fünften Stuttgarter Jahr treffe ich Jürgen Flimm, und er fragt sofort: „Warum inszeniere ich nicht bei Euch?“ Ich habe ihn daran erinnert, dass er geschworen hatte, nie in Stuttgart zu inszenieren. Dabei ist es geblieben.

Ich konnte es damals in keiner Weise verstehen, dass Jürgen mir den Weg nach Stuttgart verbauen wollte. Von heute aus gesehen kann ich ihn zur Hälfte verstehen. Es war eine großartige Theater-Mannschaft am Thalia. Dass nach nur zwei Jahren ein Mitspieler den Abgang machte, war aus der Sicht der Mannschaft alles andere als schön. Mein Verhältnis zu Jürgen Flimm war nie eintönig, sondern immer vielfältig bewegt.

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MODELL OPER STUTTGART FÜNFZEHN SPIELZEITEN ALS INTENDANT 1991–2006

Die Berufung WOLFGANG GÖNNENWEIN war mein Orgellehrer im Internat in Michelbach an der Bilz gewesen. Kein unsympathischer Mann.

Er hatte eine steile Karriere hingelegt, die ihn vom Chorleiter, vom Professor und Rektor an der Stuttgarter Musikhochschule über die langjährige Verantwortung für die Ludwigsburger Schlossfestspiele bis zum Staatsrat für Kunst am Kabinettstisch des von der Presse sogenannten schwäbischen „Sonnenkönigs“, des Ministerpräsidenten Lothar Späth, geführt hat. Seit 1985 war der Duzfreund und Protegé Späths überdies Generalintendant der Württembergischen Staatstheater.

Der Staatsrat und Generalintendant Gönnenwein rief mich Ende des Jahres 1989 an und bot mir die Direktion der Staatsoper Stuttgart an. Während eines zweiten Gesprächs bemerkte ich anfangs eine gewisse Ungeduld, so, als bedränge ihn etwas, bis er deutlicher wurde: „Es muss jetzt eine Zäsur geben, einen Einschnitt, so etwas wie einen Neuanfang. Ich habe an Sie gedacht.

Sie müssen kommen.“ In den 1970er und 1980er Jahren war Gönnenwein auf der Welle des zweiten schwäbischen Wirtschaftswunders gesurft: Mit den Erträgen von den großen Familien155

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unternehmen im Maschinenbau, von Mercedes-Benz, von Porsche usw. und einer Regierung, die quasi in Erbpacht der CDU war, breitete sich eine Goldgräbermentalität in Baden-Württemberg aus. Die hatte Auswirkungen auf den Charakter: „Gönnenwein war maßlos und ehrgeizig“, stellte Götz Thieme in einem Nach­ ruf der Stuttgarter Zeitung nüchtern fest. In dem Schlüsselroman von Manfred Zach „Monrepos oder die Kälte der Macht“ findet sich folgende auf einen Herrn Bönnheim gemünzte und ebenso auf Herrn Gönnenwein zutreffende Charakterisierung: „Er liebte das Spiel mit der Macht und vermaß die kulturelle terra incognita mit derselben fantasievollen Unbekümmertheit wie ein mittelalterlicher Kartograph Westindien.“ Wolfgang Gönnenwein war wohl ein schillernder Künstlertypus, der als Intendant gut in die höfische Theaterwelt des 17. und frühen 18. Jahrhunderts gepasst hätte, wo repräsentative Prachtentfaltung das oberste Gebot aristokratischen Vergnügens am Theater war. Mir kam es, von Frankfurt und Hamburg aus gesehen, immer so vor, als sei die Wiederkehr dieser höfischen Theaterwelt der geheime Traum von Wolfgang Gönnenwein und Lothar Späth.

Lange Zeit schien Geld keine Rolle zu spielen in diesem Traum. Bis sich eine finanzielle „Bugwelle“, so die euphemistische Bezeichnung des Generalintendanten, vor der Oper herschob.

Eine „Bugwelle“ von 4 Millionen DM an Schulden. In dieser ­Situation hat Gönnenwein mich angerufen.

In einem weiteren Gespräch hat Gönnenwein mich nach meinen Vertragsvorstellungen gefragt. Ich habe sie ihm dargelegt: die Hoheit über alle strukturellen Fragen und über den Etat der Staatsoper, über den Spielplan, die Engagements und Besetzungen. Dem hat er zugestimmt und das auch dem Verwaltungsrat vorgeschlagen, der dann gleichfalls zugestimmte. Damit hatte ich, wie es der damalige Oberbürgermeister von Stuttgart, Manfred Rommel, sehr nett formulierte, „einen Intendantenvertrag für die Oper. Was sollte da noch“, fuhr Rommel fort, „der Generalintendant.“ Wolfgang Gönnenwein wurde nicht durch meine Opernintendanz entmachtet. Ihn holte sein unverantwortlicher Umgang 156

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mit Geld an den Theatern ein. Wegen Steuerhinterziehung und Sozialversicherungsbetrugs bei den Ludwigsburger Festspielen wurde er zu einer Geldstrafe von 96.000 Mark verurteilt. Auch im sogenannten „Bugwellen-Prozess“, der im Wesentlichen die Oper betraf, wurde er wegen Haushaltsüberschreitung in erster Instanz verurteilt, später wurde das Verfahren eingestellt.

In den 1990er Jahren liefen die Kosten für die Wiedervereinigung auf, die neoliberale Wirtschaftspolitik der Chicagoer Schule setzte auf eine rigide Sparpolitik. Wie immer war die Kultur davon mit am stärksten betroffen. Es war nicht länger die Zeit für Träume von einer höfischen Prachttheaterkultur. 1991 musste Lothar Späth wegen der sogenannten „Traumschiffaffäre“ zurücktreten. Gönnenwein legte darauf den Staatsrat nieder und trat 1992 auch als Generalintendant zurück. Die Institution eines Generalintendanten wurde mit seinem Rücktritt abgeschafft. Seitdem gab es drei gleichberechtigte Intendanten von Schauspiel, Oper und Ballett und einen geschäftsführenden Intendanten. Der geschäftsführende Intendant, der mit mir angetreten war und das Amt bis 2009 ausübte, war Hans Tränkle. Er erwies sich als unverzichtbar für uns.

Ich erzähle das alles so ausführlich, um einen Eindruck zu geben, in welcher Lage und in welchem Zustand wir, Pamela Rosenberg als meine Stellvertreterin und ich, die Leitung der Staatsoper in Stuttgart angetreten haben. In der Berichterstattung über die fünfzehn Spielzeiten, die ich an der Staatsoper Stuttgart verantwortet habe, ist überwiegend nur die Rede von einem beispielhaften zeitgenössischen Musiktheater, von den künstlerischen Erfolgen des vielfach ausgezeichneten Hauses, gar von einer ­Goldenen Ära der Staatsoper Stuttgart. Nichts lag ferner, als wir zusammen mit Hans Tränkle die finanziellen Aufräum- und Sanierungsarbeiten begonnen haben, um das wirtschaftlich gefährdete Haus auf solide Grundlagen zu stellen.

Ich war mehr als froh, mit ihm zusammen diesen schweren Einstieg in die Intendanz angehen zu können. In Hans Tränkle hatte ich einen wunderbaren Partner und Mitstreiter. Hans Tränkle hatte schon vor unserer Zusammenarbeit in Stuttgart große 157

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Pamela Rosenberg, Klaus Zehelein vor der Staatsoper Stuttgart. Foto: Archiv Opernwelt

­ erdienste um die Württembergische Landesbühne Esslingen und V das Landestheater Tübingen erworben. Tränkle war ein Kunst-­ Ermöglicher im allerbesten Sinne: uneitel, hochkompetent, ein wirklicher Kämpfer für die Kunst. Ohne ihn wären all unsere Erfolge in Stuttgart nicht möglich gewesen.

Pamela Rosenberg war schon in Frankfurt Mitglied der Operndirektion und hatte ein besonderes Augenmerk auf die ­Pflege des Repertoires. Nach dem Ende der Frankfurter Zeit ging sie als Betriebsdirektorin zu Peter Zadek an das Deutsche Schauspielhaus Hamburg. Danach arbeitete sie als Künstlerische Betriebsdirektorin an der Nederlandse Opera in Amsterdam. Glücklicherweise konnte ich sie überzeugen, von dort zu uns nach Stuttgart zu kommen. Als stellvertretende Opernintendantin und Künstlerische Betriebsdirektorin bis 2000 – sie übernahm danach die Intendanz des Opernhauses in San Francisco – trug sie maßgeblich zum Erfolg der Stuttgarter Jahre bei.

Aus Hannover kam Juliane Votteler als Chefdramaturgin nach Stuttgart. Nach Stationen am Nationaltheater Mannheim und am Theater Basel war sie in Hannover geschäftsführende 158

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Dramaturgin bei Ulrich Khuon. Ich rief sie an: „Ich weiß, Du kannst eigentlich nicht. Du bist mit Hannover verheiratet. Aber wir brauchen Dich hier!“ Juliane Votteler kam nach Stuttgart, und wir haben es beide nicht bereut. Mit ihrer Impulsivität und Klugheit war sie die treibende dramaturgische Kraft bei allen unseren Projekten. Am Theater Augsburg hat sie nach unserer Zeit in Stuttgart über zehn Jahre lang als Intendantin das Haus in die überregionale Aufmerksamkeit geführt.

Sergio Morabito habe ich während meiner Gastprofessur am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-LiebigUniversität Gießen kennen und als meinen Assistenten außer­ ordentlich schätzen gelernt. Er wollte unbedingt zu uns in die Dramaturgie in Frankfurt, um am „Ring“ mitzuarbeiten, aber wir hatten zu der Zeit keine Stelle frei. So hat er die Arbeit an der Inszenierung von Ruth Berghaus als Volontär verfolgt. Da wurde der Wotan während der Proben krank – es ging um den zweiten Akt, die große Streitszene zwischen Wotan und Fricka mit der langen Erzählung der Vorgeschichte. Ruth Berghaus wandte sich Sergio Morabito zu: „Ach sagen Sie mal, können Sie nicht den Wotan spielen?“ Und Sergio hat die ganze Szene des zweiten Akts gespielt, alle Gänge, Gesten, Haltungen, exakt so wie ausgemacht. Ruth Berghaus war perplex: „Wer ist denn das? Der ist toll!“ Und nach einer Viertelstunde: „Kannst Du mir den nicht als Assistenten geben. Der kann ja alles!“ Damit war das Zitat in der Welt, mit dem ich, wie kolportiert wird, später Jossi Wieler Sergio Morabito bei seiner ersten Opernregie empfohlen haben soll: „Der kann ja alles.“ In Stuttgart jedenfalls gab es nun eine feste Stelle für Sergio Morabito in der Dramaturgie. Von wo aus er im Tandem mit Jossi Wieler eine fulminante Entwicklung nehmen sollte. Bis 2025 war er Chefdramaturg an der Wiener Staatsoper.

Mit Juliane Votteler, Dr. Helga Utz, die schon vor unserer Zeit Dramaturgin in Stuttgart war, Klaus Bertisch und mir waren wir in der Dramaturgie bestens aufgestellt. Etwas später kamen noch Sergio Morabito und als Leiterin des Dramaturgiebüros die wunderbare Carla Gläser zu uns. Generalmusikdirektor wurde 159

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Gabriele Ferro. Er blieb bis 1997. Dann gelang es uns, meinen Bekannten aus Kieler Tagen Lothar Zagrosek als Generalmusikdirektor nach Stuttgart zu holen. Zweimal wurde Lothar Zagrosek in Stuttgart von der Zeitschrift Opernwelt zum „Dirigenten des Jahres“ gewählt. Aufführungen wie Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, Schönbergs „Moses und Aron“, der Stuttgarter „Ring“ und viele andere sind in der Erinnerung unlösbar mit seinem Dirigat verbunden. Durch Pamela Rosenbergs Vermittlung konnten wir außerdem Eytan Pessen als Studienleiter gewinnen. Mit Thomas Koch fanden wir endlich einen Mitarbeiter für die Öffentlichkeitsarbeit, einen Kommunikationsdirektor, der sich nicht als Manager verstand, sondern als überaus gut vernetzter und sehr, sehr kluger Vermittler unseres Wollens und Tuns. Das war ein Teil des Teams, mit dem wir in Stuttgart arbeiten durften.

Stadt zwischen Wald und Reben.

Winter-Bayreuth und Postmoderne Wer von Frankfurt und Hamburg aus nach Stuttgart kommt, dem wird die Schwabenmetropole im Vergleich überschaubarer, ja beschaulicher vorkommen. Stuttgart ist zweifelsohne eine Großstadt. Aber auf den ersten Blick doch nicht so offen mit der Welt vernetzt wie die ausufernde Rhein-Main-Region oder die internationale Hafenstadt Hamburg. Stuttgart liegt in einem Kessel. Das Stadtmarketing erfand dafür seinerzeit den Slogan von der „Großstadt zwischen Wald und Reben“. Es scheint, als habe diese nach außen hin natürlich begrenzte und abgeschlossene Lage auch eine Mentalität hervorgebracht, die Grenzüberschreitungen ins Weltoffene stets vom sicheren Boden des heimatlich Gewachsenen aus vornimmt. Bis heute sprechen die Stuttgarter:innen von dem Bundesland, in dem sie leben, als ihrem „Ländle“, mögen Mercedes, Porsche und die „kleinen“ schwäbischen Familien­ betriebe auch weltweit ihre Geschäfte machen und die dort Arbeitenden aus allen Ecken Europas und darüber hinaus nach 160

STUTTGART

Stuttgart kommen. Honoratiorenschwäbisch als Mundart ist nahezu Pflicht, wenn man so richtig dazu gehören will in Stuttgart.

Die Stuttgarter Denkungsart zeichnet etwas BodenständigBeharrendes aus. Der aus der Armut der schwäbischen Unter­ tanen in höfischen Zeiten geborene Fleiß und Erfindungsreichtum und auch die Sparsamkeit haben sich hier ebenso zum Habitus entwickelt wie der aus dem schwäbischen Pietismus hervorgegangene Hang zu Rechtschaffenheit, Selbstbefragung und Spekulation. Nicht zuletzt aber genießen die einstigen Untertanen der Herzöge und Könige von Württemberg heute gerne die Denkmäler der einstigen Herrschaft: Das alte und das neue Schloss, den langgestreckten Schlossgarten samt See und das Große und das Kleine Haus, die von Max Littmann 1909 bis 1912 erbaute Oper im Stil des Neoklassizismus und das Schauspielhaus, im Krieg ­zerstört und 1962 durch einen Neubau ersetzt. Ein Sinn für ­Repräsentation und fürs Repräsentative, natürlich im Rahmen des pietistischen Erbes, gehört auch zum Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Stuttgarter.

Dieses Selbstverständnis und Selbstbewusstsein sind im Stuttgarter Bürgertum reichlich vorhanden. Vielleicht verbunden mit einer kleinen Prise Selbstzweifel, ob die Leistungen, die sie begründen, auch andernorts entsprechend und genügend ge­ würdigt werden. Weshalb nach außen bisweilen eine gelinde Übertreibung der schwäbischen Vorzüglichkeiten angebracht ­erscheint, die aufkommende Selbstzweifel ersticken soll. „Der Schiller und der Hegel, der Uhland und der Hauff, die sind bei uns die Regel, die fallet gar net auf“, ist so ein Spruch, der mit seinem augenzwinkernden Übertreiben dem an sich selbst zweifelnden Selbstbewusstsein der Stuttgarter:innen Halt verleihen soll.

Es ist aber gerade die Unruhe des Zweifels, die Haltung und Bewusstsein des schwäbischen und speziell des Stuttgarter Bürgertums nie in Selbstgenügsamkeit und Selbstgerechtigkeit zurückfallen und stagnieren lässt, sondern ständig antreibt, über sich hinaus zu gehen. So entsteht jene Offenheit für Anderes und Neues mitten im Bodenständig-Beharrenden, für die das Stuttgar161

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ter Theaterpublikum berühmt ist. Das Stuttgarter Publikum, speziell auch das Stuttgarter Opernpublikum, ist das beste der Welt.

Das hört man oft Menschen sagen, die es wissen müssen. Und ich kann sagen, sie haben recht.

Dieses Opernpublikum hat in den 1950er und 1960er Jahren einen opernästhetischen Neubeginn nach der Zeit des Nationalsozialismus erlebt, in den gleichwohl Personen und künstlerische Elemente n ­ ationalsozialistischer Musiktheaterkultur eingingen und eine Verwandlung erfahren sollten. Ihr Protagonist war Wieland Wagner. Wieland Wagner gilt vielen bis heute als der Mann, der die Bühne von Wagners Opern durch eine Regie der Abstraktion, die nur wenige plastische Gesten und Haltungen in inszenierten Lichträumen hervortreten ließ, vom altgermanischen Kitsch und Nationalismus befreit hat. Die vielerorts mit Erleichterung aufgenommene Abstraktion in den Inszenierungen von Wieland Wagner war das ­ästhetische Pendant zur Ideologie der „Stunde Null“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die über die unübersehbar vorhan­ denen Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und bundes­ republikanischer Gesellschaft in den 1950er und 1960er Jahren hinwegsah. In seinem Buch „Hier gilt‘s der Kunst. Wieland Wagner 1941 bis 1945“ hat der Musikwissenschaftler Anno Mungen gezeigt, wie die Grundidee der Lichtregie auf den Austausch mit Hitler und auf Albert Speers „Lichtdome“ zurückgeht. Nachdem Wieland Wagner den Kampf um die künstlerische Leitung der Bayreuther Festspiele gegen seine Mutter und seinen Bruder Wolfgang gewonnen hatte, wurde die Oper Stuttgart zu seiner Probebühne für die Bayreuther Festspiele oder, veredelnder gesagt, zu seinem „WinterBayreuth“. 16 Werke Richard Wagners hat Wieland Wagner von 1954 bis 1966 in Stuttgart inszeniert und dann als Prototyp nach Bayreuth gebracht. Dabei standen ihm Sängerinnen und Sänger von internationalem Rang zur Seite: Martha Mödl, seine Brünnhilde und Isolde, der Heldentenor Wolfgang Windgassen, der Bariton Gustav Neidlinger und die von ihm entdeckte Anja Silja.

Wer damals im Publikum saß, wird den Eindruck gewonnen haben, dass er an ganz außergewöhnlichen Ereignissen eines voll162

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kommen neuen Musiktheaters teilnahm, die die Oper Stuttgart weltweit ins Rampenlicht stellte. Wenige werden sich der Herkunft und Ambivalenz von Wieland Wagners „neuem“ Musiktheater-Stil bewusst gewesen sein. In exemplarischer Weise konnte man in Stuttgart die Gestalt einer janusköpfigen Ausformulierung von Opernästhetik erfahren, die in Rücksicht auf den Nationalsozialismus den Blick entschlossen einer enthistorisierten Gegenwart zuwandte.

Kaum einer im Publikum dürfte damals von der Vorgeschichte des Regisseurs gewusst haben. Noch 2017, zum 100. Geburtstag Wieland Wagners, schwärmten Publikationen vom „Revolutionär und Visionär des Musiktheaters“, von einem „Wegbereiter mit Weltwirkung“. Da war bereits eine historische Studie von Albrecht Bald und Jörg Skriebeleit über die Rolle von Wieland Wagner und seinem Schwager, dem SS-Mitglied und Leiter der „Kriegsfestspiele“ Bayreuth, Bodo Lafferentz, und über ihre Rollen im KZ-Außenlager Bayreuth erschienen. Wieland Wagner war der zivile Leiter des KZ Bayreuth, eines Außenlagers des KZ Flossenbürg. Er hat in dieser Funktion auch Bühnenbilder von Häftlingen bauen lassen. Erst 2021, mit dem Erscheinen des Buchs von Anno Mungen, wurde die Wieland-Wagner-Höhe, ein Aussichtsplatz über Stuttgart, in Heinrich-Heine-Höhe umbenannt.

Mein Urteil über Wieland Wagner fiel nicht immer so aus wie zu der Zeit, in der ich nach Stuttgart kam. 1958 war ich zum ersten Mal in Bayreuth, wo ich seine „Meistersinger“-Inszenierung sah.

Das hinterließ einen ungeheuren Eindruck. 1962 besuchte ich als Student zum ersten Mal die Komische Oper Berlin. Ihr Intendant Walter Felsenstein hat das zeitgenössische Musiktheater durch seine genaue Durchdringung von Psychologie und Realismus nachhaltig geprägt. Die Arbeitsweise der Komischen Oper hat mich fasziniert. Die außerordentlichen, breiten und genauen Vorarbeiten zu den Inszenierungen sowie die intensive und vielgestaltige Probenarbeit. Ich habe mir die Jahreshefte besorgt. Sie waren überaus informativ, gut recherchiert und zugleich einfach fassbar, worauf im Westen kein Opernhaus Wert legte. Andererseits war da Wieland Wagner. Ich hatte bereits ein wenig Sigmund Freud gelesen und so 163

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war es mir nicht fremd, wie Wieland Wagner die Stoffe anging.

Noch mehr imponierte mir die sinnliche Präsenz, die formale Kraft dieses Theaters. Meine Bewunderung galt also zwei Antipoden: Wieland Wagner und Walter Felsenstein.

Soweit die Bewunderung des jungen Mannes für die beiden führenden Opernästhetiker ihrer Zeit. Ich habe von beiden etwas bewahrt, aber von der Bewunderung Abstand genommen in dem Maße, wie ich meinen eigenen Weg ging. Von heute aus gesehen finde ich es schön und gut, dass es auf den Höhen von Stuttgart einen Aussichtspunkt gibt, der den Namen Heinrich Heines trägt.

Nach Stuttgart geholt hatte Wieland Wagner der Generalintendant Walter Erich Schäfer. Er leitete die Württembergischen Staatstheater mit glücklicher Hand von 1949 bis 1972. Auch Schäfer, Theaterautor und Dramaturg, brachte seine Vergangenheit mit. Im Nationalsozialismus hatte er sich angepasst und die NS-Kulturpolitik durch genehme Stücke unterstützt, so dass der „Reichsdramaturg“ Schlösser ihn 1937 als „wichtigen Aktivposten für die von mir ­vertretene nationalsozialistische Theaterpolitik“ bezeichnete.

1949 trat er dann mit einem Zeitstück über den 20. Juli 1944 hervor.

Walter Erich Schäfer ist es gelungen, neben Wieland Wagner noch zwei weitere große Künstlerpersönlichkeiten der Zeit an das Stuttgarter Haus zu binden: zum einen den Choreographen John Cranko, den Erneuerer des klassischen Handlungsballetts. Unter ihm erlebte das Stuttgarter Ballett einen ungeahnten Aufschwung.

Man sprach vom „Stuttgarter Ballettwunder“. Cranko galt als Gegenentwurf zur Abstraktion im Neoklassizismus George Balanchines. Wenn wir heute die eher konservative Ausrichtung von John Crankos Anknüpfen an das klassische Handlungsballett erkennen, ist es eine schöne Pointe, dass aus Crankos Schule der junge Tänzer und Choreograph William Forsythe hervorgegangen ist, der die Dekonstruktion des Neoklassizismus in Frankfurt programmatisch vorangetrieben hat.

Nicht fest ans Haus gebunden, aber fester Gastregisseur war zum anderen Günther Rennert, ein Großer des Musiktheaters der 1950er und 1960er Jahre, Spezialist für die Opern Mozarts, die 164

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Opera buffa und die Moderne. In einer Zeit, in der die Opern des deutschen und italienischen Repertoires noch von sogenannten Hausregisseuren in kürzester Zeit arrangiert wurden, berief sich Rennert auf Walter Felsensteins realistisches Musiktheater und verfolgte einen, wie er es nannte, „psychologischen Realismus“ in der Figuren- und Handlungsdramaturgie. Damit überragten Rennerts Inszenierungen den sich auf Tradition berufenden Schlen­drian der meisten Operninszenierungen um ein Beträcht­ liches. Aber auch bei ihm handelte es sich, wie bei John Cranko, um eine Wiederbelebung der überkommenen Dramaturgie des normativ und überzeitlich verstandenen Dramas.

Rennerts Wirken in Stuttgart war für die Zeit unter dem Generalintendanten Schäfer von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Er trug mit bei zu einer weithin beachteten Blütezeit des Stuttgarter Kunst- und Kulturlebens. Auch wenn dessen Protagonisten und ihre Werke, wie im Falle Wieland Wagners, Zweifel und zwiespältige Eindrücke hervorrufen, so lässt sich nicht leugnen, dass es klar umrissene künstlerische Gestalten und reflektierte Positionen waren, die aus diesen Arbeiten hervorgegangen sind – Gestalten und Positionen, an denen sich die Nachfolgenden a­ barbeiten konnten.

Anders war das Angebot der Oper Stuttgart unter dem Gene­ ralintendanten Gönnenwein und dem Operndirektor Wolfram Schwinger, dem langjährigen Musikkritiker der Stuttgarter Zeitung.

Schwinger, seit 1975 unter dem Generalintendanten Hans Peter Doll im Amt, wandte das Haus mit Aufführungen von Mauricio ­Kagel, György Ligeti, Bruno Maderna, Aribert Reimann und Wolfgang Rihm der Moderne zu und setzte in der Regie auf große Namen: Achim Freyer, Axel Manthey, Klaus-Michael Grüber, Giancarlo Del Monaco, Jean-Pierre Ponnelle, Robert Wilson, Harry Kupfer und Götz Friedrich. Allein die Aufzählung macht deutlich, dass es sich in der Mehrzahl um wichtige Protagonisten und Regisseure des zeitgenössischen Musiktheaters handelte, die zu der Zeit gut nachgefragt waren. Es lässt sich allerdings nur schwer ein roter Faden finden, der die unterschiedlichen Positionen und Handschriften miteinander verbinden oder in eine spannende Konstellation hätte bringen können.

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Das Opernangebot dieser Jahre atmete den Geist post­ moderner Unverbindlichkeit. Repräsentativ dafür ist die PhilipGlass-Trilogie aus den 1980er Jahren. Mir ist klar, dass Adornos Rede vom „Stand des Materials“ seine geschichtsphilosophischen Tücken hat und nicht mehr umstandslos zum Maßstab des Komponierens taugt. Aber ich habe meine Schwierigkeiten mit jener neuen Einfachheit, wie sie in den 1970er Jahren von Steve Reich, Terry R ­ iley und Philip Glass unter dem Label „Minimal Music“ entworfen wurde. Korrespondierend mit dem ahistorischen Ansatz der Postmoderne zielt diese Musik in ihrer variablen Wiederholung einfacher musikalischer Strukturen auf eine meditative Rezeption.

Die postmoderne Parole des anything goes und ihre angebliche Freiheit gründen in der Annahme einer posthistoire. Heute, wo Fukuyamas Behauptung vom Ende der Geschichte selbst an ihr Ende gekommen ist, zeigen sich erneut die vielfältigen Formen der Wiederkehr von Vergangenheit, die prägende Kraft der Vergegenwärtigung von Geschichte, die Notwendigkeit historischen Forschens im Horizont der Gegenwart: Voraussetzung für das angestrebte Ziel einer Zeitgenossenschaft des Musiktheaters jenseits der Bedeutung von Oper als zeitlosem Kunstwerk. Uns ging es darum, den „Zeitkern“ der Opern zu entdecken, jene ­zeitgebundenen historischen Spuren, die die Werke der Über­ zeitlichkeit entreißen und für die Befragung der Gegenwart be­ fähigen. Die Befragung und Infragestellung des status quo der Gegenwart ist die bewegende Energie eines modernen Musiktheaters. Auf eine besondere, nämlich künstlerische Weise erzeugt sie ein historisches Bewusstsein der Gegenwart. Das ist ein Politikum. Denn damit stellt sie die Behauptung der Unverän­ derbarkeit gegenwärtiger Verhältnisse zur Disposition. Dieser Er­ fahrung historischen Bewusstseins im Medium der Opernkunst fühlten wir uns verpflichtet: Das Herzstück einer auf Geschichte gegründeten Opernarbeit ist dabei jedoch die Dramaturgie.

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Ruth Berghaus. Foto: Abisag Tüllmann

Herzstück Dramaturgie Als die Entscheidung, die Leitung der Oper in Stuttgart zu übernehmen, öffentlich wurde, war in den Zeitungen öfter zu lesen, dass nun die Oper Frankfurt nach Stuttgart transferiert werde.

Das klang, als würde der Stadt am Neckar nun ein vorgefertigtes, erfolgreiches ästhetisches Konzept übergestülpt, das anderswo und unter anderen historisch-gesellschaftlichen Umständen entworfen worden war. Ich habe das nicht verstanden. Denn wer sich die Mühe machte, genauer hinzusehen, musste erkennen, dass die Aussage samt der Befürchtung, die sich dahinter verbarg, in doppelter Weise falsch war. Zum einen hatten wir in Frankfurt keinen eindeutigen Stil der Opernästhetik entwickelt, sondern ganz unterschiedliche Handschriften verschiedener Regisseurinnen und Regisseure vorgestellt. Zum anderen hatten wir nicht 167

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Lothar Zagrosek. Foto: A.T. Schaefer

vor, in Stuttgart einfach mit denselben Leuten weiterzumachen, die in Frankfurt inszeniert hatten. Aus der Frankfurter Zeit blieben nur Hans Neuenfels, Christof Nel und bis zu ihrer Erkrankung Ruth Berghaus. Entscheidend für Stuttgart blieben die ­Neuentdeckungen: Martin Kušej und Jossi Wieler kamen vom Schauspiel. In Stuttgart wurden beide zu prägenden Opernregisseuren ihrer Zeit. Auch die Zusammenarbeit Jossi Wielers mit ­Sergio Morabito begann in Stuttgart – mit der Inszenierung von Mozarts „La clemenza di Tito“. Jossi Wieler, Sergio Morabito und die Bühnenbildnerin Anna Viebrock sind seitdem ein Produktionsteam, deren Inszenierungen zu den aufregendsten und schönsten des Musiktheaters zählen. Neu hinzugekommen sind in Stuttgart u. a. auch Johannes Schaaf, Andrea Breth, Peter Konwitschny und der Choreograph Joachim Schlömer. Viele neue ­Gesichter, Menschen, Herangehensweisen. Dazu ein Ensemble, Chor und Orchester, die gleichfalls überzeugt, eingebunden und mitgenommen sein wollten. Wir haben tatsächlich Neuland betreten und etwas gewagt in Stuttgart. Anders wäre es auch gar 168

STUTTGART

Juliane Votteler, Peter Konwitschny

Klaus Zehelein, Martin Kušej

Jossi Wieler, Sergio Morabitu

Jens Schroth, Gérard Pesson

Eytan Pessen. Fotos: A.T. Schaefer.

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nicht gegangen. Denn wer das Erreichte nicht immer wieder aufs Spiel setzt und nichts Neues wagt, stagniert.

Gleichwohl sind wir nicht blind drauflos gerannt, um alles Mögliche anzufangen und einen bunten, aber beliebig zusammengestellten Spielplan anzubieten. Für eine gewisse Kontinuität im Neuen und für Verbindung im potentiell Heterogenen sorgte kein gemeinsamer künstlerischer Stil, sondern eine Methode, die wir in Frankfurt in der Dramaturgie entworfen und die wir in Stuttgart ausbauen und weiterentwickeln konnten. Die Dramaturgie wurde zum Herzstück der Oper Stuttgart in der Zeit meiner Intendanz.

Soweit waren wir in Frankfurt noch nicht. Als wir in Frankfurt anfingen, existierte eine Dramaturgie in dieser Form nicht. Es gab einen Chefdramaturgen und eine halbe Stelle. Da es keine Planstellen gab, konnten wir nicht einfach jemanden engagieren.

Wir sind damals zum Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann gegangen und haben ihm erläutert, warum uns Dramaturgie als Grundlage eines Hauses so wichtig erscheint. Hoffmann verstand uns. Das war ungewöhnlich für diese Zeit. In der Oper war die Dramaturgie lange noch eine Servicestelle für die Öffentlichkeitsarbeit und/oder Vorbereitungsarbeit für die Regie, die beendet war, wenn die Proben begannen. Noch in Frankfurt waren wir mit Öffentlichkeitsarbeit ausgelastet und selbst noch in Stuttgart zu Beginn meiner Tätigkeit dort. Dann haben wir mit der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit unter der Leitung von Thomas Koch zu einer Arbeitsteilung gefunden. Mit der Besonderheit, dass sich die Öffentlichkeitsarbeit wesentlich als inhaltlich bestimmt verstand und nicht als Marketing-Abteilung fungierte. Ein#e weitere Besonderheit, die sich eigentlich von selbst verstand, aber andernorts Verwunderung auslöste, war die Einstellung von drei Komponisten, Andreas Breitscheid, Hans Thomalla und Jens Schroth, als musikalische Mitarbeiter in der Dramaturgie. Versiert im Lesen auch zeitgenössischer Partituren, waren sie ein wichtiger Aktiv­­ posten der Dramaturgie und keinesfalls leichtfertig ausgegebenes Geld, wie uns bisweilen unterstellt wurde. * 170

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Die Wahrnehmung von Dramaturgie hat sich also nachhaltig verändert. Nicht nur am Stuttgarter Haus. Aber wir haben in Stuttgart, so bekomme ich es immer wieder zu hören, wichtige Impulse gesetzt. Zu dem Unabdingbaren dramaturgischer Arbeit gehörte die Vorarbeit von einem Jahr. Nachdem es in der vorhergegangenen Spielplanplanung darum gegangen war, zu ermitteln, was mit diesem Text, mit dieser Partitur vorliegt, stand jetzt die Annäherung an einen „Urtext“ im Zentrum, der unter den Konventionen der Wirkungsgeschichte verborgen ist. Die Frage nach dem „Ganzen“, dem Sinn der Unternehmung, konnte erst gestellt werden, nachdem geklärt war, was philologisch genau vorliegt.

Die Privilegierung des ursprünglichen Texts gegenüber der Wirkungsgeschichte steht im Einklang mit einem Theorem von Adorno, das auch Jürgen Habermas beeindruckt hat: „Adorno“, so Habermas, „hat mir die Augen geöffnet, dass man erst einmal den primären Text ausschöpfen muss, bevor man in die Wirkungsgeschichte hineingeht.“ Die Wirkungsgeschichte, für sich genommen und nicht mit kritischen Augen gelesen, ist trügerisch. Sie beruht auf Interpretationen, die sich zu Klischees verfestigt haben. Mit Blick auf die Wirkungsgeschichte ist „Aida“ eine von Elefanten zugeschissene Oper (siehe Verona) und Puccini ein sentimentaler Kitschier – letzteres ein Vorurteil, dem selbst Gerard Mortier nicht entging. Ein ausdauernder Blick auf die Partituren, besonders auf die in dieser Hinsicht verfemte „Madama Butterfly“, – eine äußerst komplexe und avancierte Partitur – könnte eine Revision der Vorurteile bewirken. Um die Werke vom Schutt der Wirkungsgeschichte zu befreien, unter der sie verborgen sind, ist es unabdingbar, den philologischen „Urtext“ zu rekonstruieren.

Bei Heiner Müller hatte ich wegen der Regie von „Fidelio“ angefragt und mich mit ihm zu einem Gespräch darüber getroffen. Leider kam es nicht mehr zu einer Zusammenarbeit, da Heiner Müller ein halbes Jahr nach unserem Gespräch verstarb. Bei unserem Treffen war er vorbereitet und überraschte mich mit seiner Beurteilung des Librettos. Entgegen der üblichen Einschätzung des Librettos als einer naiven und kaum glaubwürdigen Er171

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zählung hob Heiner Müller gerade seine ursprüngliche Widersprüchlichkeit als die produktive Kraft einer möglichen Inszenierung hervor. Die entscheidende Ambivalenz im Libretto von „Fidelio“ ergebe sich, so Müller, aus der Aussage, dass die als Fidelio under cover agierende Leonore die besten Ketten für die Gefangenen selbst am günstigsten einkauft. Die Stelle zeigt die Dialektik der Befreiung. Sie verweist auf die Opfer im Prozess der Befreiung selbst. Wird diese Stelle und noch andere übersehen, wird die Oper einem abstrakten und folgenlosen Humanismus ausgeliefert. Dieser Hinweis im Text hingegen bewahrt das Stück vor einer idealistischen Lesart und setzt eine Dynamik im scheinbar Bewegungslosen des Werks frei. * Wird man dieser gewahr, so entstehen Bilder, die nach Walter Benjamins Formulierung im „Passagen-Werk“ „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft in einer Konstellation“ zusammentreten lassen.

Benjamin spricht von einer „Dialektik im Stillstand“ oder von „dialektischen Bildern“. „Dialektische Bilder“, die dem „Urtext“ der Opern entspringen, sind die Träger historischer Erfahrungen.

Das ist, sehr abstrakt gesprochen, die Aufgabe heutiger Operndramaturgie. Ihr Gelingen zeigt sich in der Praxis durch die konkrete Zusammenarbeit der jeweiligen Teams aus musikalischer Leitung, Regie, Dramaturgie und Bühnenbild mit den Sängerinnen und Sängern sowie Chor und Orchester. Nicht Zuarbeit, sondern kritische Auseinandersetzung auch im Probenprozess war hierbei unser Verständnis von der Aufgabe der Dramaturgie.

In Opernarbeit im Ganzen und in der Dramaturgie im Besonderen geht es, jenseits von Freundschaft und Ressentiment, um den argumentativen Diskurs. Das verlangt von allen Beteiligten viel. Zu Zeiten ist es erschöpfend. Aber ich kenne keinen anderen Weg, um ein Musiktheater für Zeitgenossen zu machen. In der Frage einer Ethik der Arbeit, bin ich – „Schüler“ des Instituts für Sozialforschung – auch der Diskursethik von Jürgen Habermas nahe.

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Die Intendanz Arbeit an der Gesamtdramaturgie des Hauses In den Jahren zwischen Frankfurt und Stuttgart war ich befreit von den Anforderungen der Institution Oper, denen ich in meiner Funktion als Operndirektor in Frankfurt gerecht werden musste. Es ging mir gut in dieser Zeit. Ich habe die Leitungsfunktion nicht vermisst.

Meine Haltung zur Oper als Institution ist klar. Sie ist auf der einen Seite ein großer Schutz für die künstlerische Arbeit. Und auf der anderen Seite ist sie kontraproduktiv. Die Institution ist auf Rationalität, Überschaubarkeit und ökonomische Produktivität gebaut. Gibt man zu viel Geld aus, gefährdet man die Stabilität der Institution, von der die künstlerische Kreativität abhängig ist. Doch diese folgt wiederum einer anderen Logik als die der Institution. Sie ist ausgelegt auf Verausgabung aller Kräfte im Sinne von Georges Bataille.

Auch die Kunst hat mit Rationalität zu tun, aber nicht mit dieser gesellschaftlichen Vernunft, die eine Institution oft genug vertritt.

Will man künstlerisch schaffen, was noch nicht gedacht und realisiert worden ist, dann muss man eindeutig sagen: Nicht die Institution hat zu bestimmen, wo die Kunst hingeht. Sondern die Kunst hat das Sagen über die Institution und ihre sogenannten Zwänge.

Mit diesen Mechanismen der Institution war ich bei meinem Antritt als Intendant der Stuttgarter Oper konfrontiert. Und ich empfand sie, denke ich nur an die zu kurze Vorbereitungszeit von nur einem Jahr und die belastenden Anfänge mit der prekären ökonomischen Lage des Hauses, oft wie einen Mühlstein am Hals der Kunst, der mich hinunterzuziehen drohte. Mühe und Arbeit, die der Absicherung des Hauses, seiner diversen Einrichtungen und seiner Abläufe auf allen Ebenden dienten, hörten auch später nicht auf. Sie waren notwendig. Dramaturgie als Mittlerin zwischen dem Werk und seiner szenischen Realisierung schien mir ein gutes Bild für die umfassendere Vermittlung zwischen Institution und Kunst zu sein. Deshalb spreche ich von der Entwicklung einer Gesamtdramaturgie des Hauses als der zentralen Aufgabe jeder Intendanz.

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Um eine solche Gesamtdramaturgie am Beginn meiner Intendanz in Ruhe und wohlüberlegt zu entwickeln, blieb Pamela Rosenberg und mir in Stuttgart allerdings keine Zeit. Ich steckte noch zusammen mit Hans Tränkle in der Aufarbeitung der finanziellen Misere, als uns die Neuinszenierung von „Così fan tutte“, die zweite Premiere in unserer ersten Spielzeit, wegzubrechen drohte. Der Anlass war so banal und idiotisch, wie er an Opernhäusern regelmäßig einzutreten pflegt. Die Agentur des Tenors, der den Ferrando singen und spielen sollte, hatte ihm den Termin für einen Liederabend in Paris in den Kalender gesetzt, über den er uns erst spät unterrichten konnte. Nun brauchte er mitten in den Proben drei Tage Urlaub für Paris. Das haben wir im Team besprochen, und das Ensemble hat sehr entgegenkommend erklärt: „Wenn ihr denkt, dass es das braucht, dann arbeiten wir auch sonntags“. Aber der Regisseur und der Dirigent haben sich auf die Hinterbeine gestellt: „So eine Sauerei! Nicht mit uns!“ Sie haben beide hingeschmissen. Nun stand ich da – ohne Regisseur und Dirigenten. Glücklicherweise hatte ich Anfang 1990 mit ­Jürgen Flimm und Nikolaus Harnoncourt „Così fan tutte“ an De Nederlandse Opera in Amsterdam erarbeitet. Deshalb traute ich mir zu, die Inszenierung zusammen mit Gordon McKechnie, Spielleiter am Haus, zu übernehmen. Gordon war ein zurückhaltender, äußerst sympathischer Mann. Er war beliebt und anerkannt bei den Sängerinnen und Sängern. Wir haben sehr gut zusammengepasst.

Die musikalische Leitung hat der englische Dirigent Alan Hacker übernommen, der gerade mit Axel Manthey die Produktion von Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in patria“ vorbereitete.

Die Probenzeit war keine schlechte Zeit. Wir hatten knapp vier Wochen. Ich habe wahnsinnig gerne geprobt, obwohl ich in der Zeit so gut wie nicht geschlafen habe. Das Ensemble war hervorragend. Die finnische Sängerin Soile Isokoski, deren Welt­ karriere in Stuttgart begann, sang die Fiordiligi, Helene Schneiderman die Dorabella, Laurence Dale den Ferrando, Michael Ebbecke Guglielmo, Anna Steiger sang die Despina und Karl-Friedrich Dürr den Don Alfonso. Wir haben manchmal über drei Stunden 174

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geprobt, und wenn ich gesagt habe: „Leute, jetzt müssen wir aufhören“, bekam ich zu hören: „Nee, lass uns das noch ­machen, das ist wichtig jetzt!“ „Così fan tutte“ hatte unter den Da Ponte-Opern von Mozart nicht den besten Ruf. Oft war zu hören, die Handlung mache nichts her. Dabei gibt es hier Ensembles zu hören, die Mozart nie wieder so geschrieben hat. Allein das Trio zu Beginn. Mit unserer Inszenierung hat die Geringschätzung der „Così“ zumindest abgenommen. Auf der leeren, kalten Bühne von Roland Aeschlimann wurde die Aufführung ein Riesenerfolg. Sie hielt sich über die fünfzehn Jahre meiner Intendanz hinweg im Spielplan. Noch unter meinem Nachfolger wurde sie gespielt.

Aus der Not geboren hatte die Arbeit an „Così fan tutte“ eine Menge kollektive Kreativität freigesetzt. Möglich wurde es, weil wir uns auf die zusätzliche Belastung und den Stress der Umorganisation, Neukalkulation und Mehrfachbelastung eingelassen haben. Wir haben dafür das Notwendige getan. Das aber ist entscheidend, wenn man als Intendant von einer Gesamtdramaturgie des Hauses sprechen will: Dass man sich nicht zu schade ist für die grundlegenden Dienste an und für die Institution, die getan werden müssen, bevor man nach einem Ausgleich zwischen künstlerischer Freiheit und institutionellen Restriktionen strebt.

Kurze Zeit nach dem Notfall „Così“ saßen wir mit dem Team um Axel Manthey zusammen, um eine Lösung für die erheblichen technischen Probleme bei der Produktion von „Il ritorno d’Ulisse in patria“ zu finden. Es war unmittelbar vor der Premiere, und es brannte die Hütte, wie man so sagt. Das wusste das ganze Haus.

Da platzte Herr Gönnenwein rein und fragte, ob ich denn nicht Zeit hätte, er hätte gerade seinen Vertrag unterschrieben und wolle darauf auch mit mir anstoßen. Ich war fassungslos. Er hatte wohl eigene Vorstellungen von der Aufgabe eines Intendanten.

Zu den notwendigen Aufgaben des Intendanten gehörte für mich von Anfang an der vernünftige Umgang mit Geld. Ich habe schon früher gesagt, dass ich das als Chefsache verstand, und daran hat sich während der gesamten Zeit meiner Intendanz nichts 175

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geändert. Was in erster Linie hieß: Sparen, wo es geht und künstlerisch vertretbar ist. Als Hans Tränkle und ich uns anfangs über die Bücher beugten, sahen wir, dass in den letzten Jahren die Abendeinnahmen noch nicht einmal die Abendkosten deckten.

Die „Bugwelle“ der unter Gönnenwein aufgelaufenen Schulden in Höhe von 4 Millionen DM wurden uns von Stadt und Land erlassen. Damit waren wir aus dem Schneider. Andererseits erreichte uns später die Aufforderung, 4 Millionen aus dem Gesamt­ etat der Württembergischen Staatstheater einzusparen.

Natürlich war das nicht zu schaffen. Wir haben gekämpft und sind am Ende bei einer Summe von 1,4 Millionen gelandet.

Ein andermal, es war kurz vor meiner ersten Verlängerung, dem zweiten Fünfjahresvertrag, den ich unterschreiben sollte, wurde erneut deutlich, dass wir die Tariferhöhungen selbst tragen sollten. Wir hätten doch genug Geld, hieß es. Wir haben uns dagegen gewehrt. In dieser Situation habe ich den zweiten Fünfjahresvertrag, der unterschriftsreif vorlag, nicht unterschrieben. Stattdessen habe ich verlangt, dass in einem veränderten Vertrag steht, dass die Tariferhöhungen von Land und Stadt übernommen werden. Wenn nicht, würde ich sofort gehen. Das wollten sie nun auch wieder nicht. Der Minister für Wissenschaft und Kunst hat zwar noch auf die Oberhoheit des Parlaments in Finanzfragen verwiesen, aber nachdem ich ihm erwiderte, dass mich das nicht interessiere und ich ohne die Zusicherung sofort demissionieren würde, haben die Verantwortlichen zugestimmt. Es ist der Normalfall: Als Intendant muss man kämpfen, ja auch seine eigene Existenz aufs Spiel setzen, um das zu erreichen, was das Haus auch immer braucht.

Sparen, wo es geht und dennoch die Qualität möglich zu machen, die wir uns als Maßstab selbst gesetzt haben: Das war die ständige Herausforderung. Wenn aber die Finanzen so eng geschnürt sind, dass man sich fragt, was man denn überhaupt noch machen kann, dann nistet sich in vorauseilendem Gehorsam die Schere im Kopf ein. Die Not – ja, auch im vermeintlich reichen Stuttgart – ließ uns auch zusammen immer wieder ­Lösungen finden.

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Aber allzu leicht wird daraus der Mythos, dass die Kreativität aus dem Mangel erwachsen würde. Nichts ist falscher. Die Armut macht die Menschen nicht phantasievoller, sie deformiert sie. Der fortdauernde Zwang zum Sparen hinterlässt seine Spuren in der Psyche derjenigen, die diesem Zwang kontinuierlich ausgesetzt sind. Zur künstlerischen Arbeit gehört auch ein Stück Verantwortungslosigkeit gegenüber den Zwängen der Institution. Damit rede ich nicht einem Opernbetrieb als Festivalzirkus wandernder Gaststars das Wort. Aber in der Arbeit für eine Oper mit Repertoire und Ensemble, wie wir sie täglich realisierten, habe ich erfahren und gelernt: Die einzige Konstante unserer Arbeit ist das Risiko. Und diesem Risiko musst du dich täglich neu stellen.

So viel zum „Reich der Notwendigkeit“, der Arbeit, die der Intendant leisten muss, um die Not zu wenden. Das „Reich der Freiheit“ beginnt da, wo es weitgehend von uns abhängt, wie wir die Intendanz gestalten, welche Art von Oper wir einrichten wollen. Ein entscheidender Schritt dafür ist die Kommunikation mit allen, die am und für das Haus arbeiten. Von Anfang an haben wir mit offenen Augen und Ohren in das Haus geschaut und gehört.

Gute Ideen für das Haus zu haben, ist das eine. Es genügt aber nicht, wenn man nicht weiß, ob, wie und mit welchen Mitarbeiter:innen man sie realisieren kann, wie die Ideen gegebenenfalls abgeändert, korrigiert und neu durchdacht werden müssen. Das ganze Haus in die Arbeit der Leitung mit einzubeziehen, mitzunehmen und auf die Resonanzen aus den einzelnen Abteilungen zu hören, war eine grundlegende Voraussetzung für die weitere freie Entfaltung aller Kräfte. Wir haben uns von Beginn an mit den Beschäftigten des Vorderhauses, mit den Menschen an der Kasse und den für die Abonnements Verantwortlichen, regelmäßig getroffen. Die Entscheidung, vom Einkauf wechselnder Stars, wie er bei unseren Vorgängern gang und gebe war, abzurücken, musste von allen, die mit dem Publikum in Kontakt kamen, argumentativ vertreten werden. Im Laufe der Zeit haben wir diese Schiene der Kommunikation ausgebaut, haben alle zu Beginn einer Produktion eingeladen, um die Grundzüge dessen, was auf 177

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den Proben geschehen soll, für alle Mitarbeitenden einsichtig zu machen. Alle sechs Wochen haben wir morgens um neun Uhr ein Treffen abgehalten, eineinhalbStunden maximal – ein Treffen, das als Dienst galt – und haben informiert: Was passiert zur Zeit im Haus, wer dirigiert, wer inszeniert denn da und wer singt?

Wer macht das Bühnenbild? Wir haben das auch verschriftlicht und alle im Vorderhaus Tätigen damit ebenso ausgestattet wie mit den wichtigsten Kritiken. Alle sollten auf dem Stand sein, inhaltliche Auskunft zu geben über das, was am Abend auf der Bühne zu sehen und zu hören war. Das verbesserte nicht nur den Kontakt zwischen dem Haus und den Besucher:innen, sondern sorgte auch für die Identifikation aller Beteiligten mit dem Haus.

Alles, was künstlerische Freiheit an künstlerischen Erfolgen hervorbrachte, stützte sich auf die beiden unabdingbaren Säulen unserer Tätigkeit: Ensemble und Repertoire. Um Opernaufführungen mit jener Gründlichkeit und Nachhaltigkeit zu erarbeiten, wie es die dramaturgische Analyse nahelegte, brauchte es ein über mehrere Spielzeiten und Jahre hinweg eingespieltes Ensemble. Ein Ensemble, in dem man sich kannte, in dem man aufeinander ­reagieren und zusammen agieren konnte. Das Gegenteil davon ­erlebte ich bei einer Wiederaufnahme von „Carmen“ an einer anderen Staatsoper, in der die eingekauften Gaststars ohne gegenseitiges Verstehen und ohne Abstimmung im Quintett einander an Lautstärke übertrumpfen wollten. Das war absolut schrecklich.

Ensemblearbeit war unverzichtbar für die Oper, die wir machen wollten und machten. Auch die Sänger:innen lernten die Vorzüge der Ensemblearbeit schätzen: die gemeinsame Erarbeitung einer Inszenierung, das wechselseitige Verständnis für die Rollen der anderen und das gegenseitige Zuhören. Die Qualität und das Können der in Ensemblearbeit geschulten Sänger:innen sprach sich an anderen Häusern herum. Sie bekamen rasch Angebote zu Gastspielen, auch international. Und wir, die wir dem Gaststarbetrieb distanziert gegenüberstanden, versuchten, unseren Sängerinnen und Sängern so viele Gastauftritte zu ermöglichen, wie irgend ging.

Das war nicht einfach. Denn wir hatten unsererseits Ansprüche, 178

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die Qualität unserer Arbeit zu sichern. Jede Abendaufführung sollte zumindest so gut sein wie die Premiere, war einer unserer Grundsätze. Für Wiederaufnahmen, die wir mit neuen Besetzungen machten, und für die andere noch nicht mal eine Bühnenorchesterprobe einrichten, wurden in Stuttgart drei bis vier Wochen angesetzt. Wie auch in Frankfurt haben wir von Doppelbesetzungen abgesehen, weil wir sie würdelos fanden.

Die zweite Säule, die unsere Arbeit trug, war das Bekenntnis zum Repertoire. Das war Anfang der 1990er Jahre nicht unumstritten. Ich erinnere mich, dass mein Freund, der Komponist und Dirigent Hans Zender, von dem wir in Frankfurt die Oper „Stephen Climax“ aufgeführt hatten und in Stuttgart seinen „Don Quijote de la Mancha“ auf die Bühne bringen wollten, mir am Beginn unserer Stuttgarter Arbeit sagte: „Warum machst Du Repertoire? Damit sinkt doch unweigerlich die Qualität! Heute gehen nur noch Aufführungen en suite, wie sie Gerard Mortier in Brüssel am Théâtre de la Monnaie macht.“ Nebenbei: Brüssel brachte es auf 85 Aufführungen im Jahr, wir in Stuttgart machten 160 bis 180. Das ist ein fundamentaler Unterschied, der gegen das En-suite-Modell spricht. Hans Zenders Bedenken hinsichtlich der mangelnden Qualität der Repertoire-Aufführungen konnte ich mit dem Hinweis auf die Grundsätze unserer Ensemblearbeit zerstreuen. Er hat sich dann selbst vom Niveau unserer Aufführungen überzeugt.

Der tiefere Grund unseres Eintretens fürs Repertoire war, dass wir dem Stuttgarter Publikum die ganze Bandbreite des europäischen Opernschaffens von den Anfängen bis zur Gegenwart, von Monteverdi bis Helmut Lachenmann, zu Gehör bringen und vor Augen stellen wollten. Es ging uns darum, anstelle des schmalen Repertoires – Mozart, Verdi, Puccini, Wagner, Strauss –, das an vielen Häusern die eiserne Ration ausmacht, von der sich das Publikum ernähren muss, garniert mit der „Fledermaus“ und „etwas Modernem“ – die ganze Fülle, die sinnlich greifbare Verschiedenheit und ja, den betörenden Glanz eines umfassenden Kanons, den europäisches Musiktheater zu bieten hat, vorzustellen. Das hieß, Einzelnes, das aus dem engen deutschen und italienischen Rahmen 179

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fiel, nicht als exotische Zugabe zu behandeln, sondern die gesamte Zeit, den ganzen Epochenkontext in unseren Inszenierungen neu aufzurollen und Verbindungen nachvollziehbar zu machen.

Wichtig war uns z. B., die Geschichte der Oper von den A ­ nfängen bis zum Belcanto in wegweisenden Inszenierungen neu nachzuzeichnen. Von Claudio Monteverdi haben wir alle drei Opern gespielt: „Il ritorno d‘ Ulisse in patria“ (1992), „L’incoronazione di Poppea“ (1999) und „L’Orfeo“ (2002). In den Zusammenhang der Arbeiten an der Barockoper in ihrer ganzen Vielfalt gehörten auch „König Arthur“ von Henry Purcell (1996) und Rein­hard Keisers Spektakel „Masaniello furioso“ (2001). Zu den größten Erfolgen unserer Stuttgarter Jahre zählt Händels Oper „Alcina“ (1998), begeistert gefeiert nicht nur in Stuttgart, sondern auch in Edinburgh und San Francisco. Auf die „Alcina“ folgte 2003 Händels „Giulio Cesare in Egitto“. Zuvor schon, 2002, war es zu einer spektakulären Inszenierung von Vicenzo Bellinis „Norma“ gekommen. Der Belcanto-Oper schloss sich dann 2006 die „Alceste“ des Opernreformers Christoph Willibald Gluck an.

Dass diese Abfolge von Opern von den Anfängen des europäischen Musiktheaters bis zum Belcanto Bellinis, immerhin eine Zeitspanne von 160 Jahren umfassend, nicht eine zufällige Aneinanderreihung blieb, lag daran, dass es eine große Kontinuität bei den Regieteams und den Sängerinnen und Sängern gab, die diese Stücke neu befragten. Martin Kušej hat „König Arthur“ und „Giulio Cesare in Egitto“ inszeniert, gleich vier Arbeiten stammten vom neuen, in Stuttgart aus der Taufe gehobenen Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito: „L‘incoronazione di Poppea“, „Alcina“, „Norma“ und „Alceste“, immer in den Bühnenbildern und Kostümen von Anna Viebrock.

Es waren nicht zuletzt zwei Sängerinnen, die zum Erfolg dieser Arbeiten beitrugen: Catherine Naglestad und Helene ­ Schneiderman. Catherine Naglestad hat die Titelpartien der Poppea, A ­ lcina, Norma und Alceste gesungen, Helene Schneiderman u. a. die ­Penelope in „Il ritorno d’Ulisse in patria“ und die Bradamante in „Alcina“. Beide haben Stuttgart unerhörte Augenblicke beschert.

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Natürlich haben wir auch Mozart gespielt. Aber eben nicht nur „Le nozze di Figaro“, „Don Giovanni“ und „Zauberflöte“, letztere in einer aufregenden Inszenierung von Peter Konwitschny, sondern auch „La clemenza di Tito“ (wobei Jossi Wieler und Sergio Morabito zum ersten Mal zusammenarbeiteten), „La finta giardiniera“ und „Idomeneo“. Und „Così fan tutte“ sowie „Die Entführung aus dem Serail“, von denen schon die Rede war. Auch Verdi war stark vertreten. Neben „La Traviata“, „Il trovatore“, „Rigoletto“, „Don Carlo“ (Wieler, Morabito, Viebrock), „Falstaff“ und „Otello“ in der Regie von Martin Kušej, auch der selten gespielte „Attila“ in einer konzertanten Aufführung, „Simon Boccanegra“ und „Macbeth“, die letzte Inszenierung von Ruth Berghaus. Der bei etlichen zu Unrecht als Kitschier verschriene Giacomo Puccini wurde von uns neu befragt.

In Stuttgart waren seine Hauptwerke „La Boheme“, „Tosca“, ­„Madama Butterfly“ und „Turandot“ zu sehen.

Ich könnte endlos und im Detail fortfahren, beschränke mich aber aufs Wesentliche: Opern aus dem osteuropäischen ˇ („Aus einem Totenhaus“ Raum waren präsent mit Leoš Janácek ˇ und „Die Sache Makropulos“), Bedrich Smetana mit „Die verkaufte Braut“ in der Inszenierung von Andrea Breth, Peter Tschaikowsky („Pique Dame“), Modest Mussorgski („Boris Godunow“), Béla Bartók („Herzog Blaubarts Burg“), Sergej Prokofjew („Die Liebe zu den drei Orangen“) und Dmitri Schostakowitsch („Lady Macbeth von Mzensk“).

Ein großer Erfolg war Rossinis „L‘italiana in Algeri“ mit ­Helene Schneiderman und dem Team Wieler/Morabito/Viebrock.

Rossinis „Il barbiere di Siviglia“, Jacques Offenbachs „Pariser Leben“ und „Blaubart“ als Komplement zu Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ sowie die vielgescholtene Spieloper „Der Wildschütz oder Die Stimme der Natur“ von Albert Lortzing fanden gleichfalls ihr Publikum. Und nicht zuletzt die Operette aller O ­ peretten: „Die Fledermaus“ von Johann Strauss.

Selbstverständlich haben wir auch das deutsche Repertoire vorgestellt. Michael Gielen kam nach Stuttgart, um „Fidelio“ in der Regie von Martin Kušej zu dirigieren. Richard Wagner war 181

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mit den „Meistersingern“ in der vielgelobten, auch umstrittenen Inszenierung von Hans Neuenfels, mit „Tristan und Isolde“ in der Regie von Luk Perceval sowie, in einer nichtszenischen Aufführung, mit „Rienzi, der letzte der Tribunen“ gegenwärtig. Über den Tabubruch des Stuttgarter „Ring des Nibelungen“ wird an anderer Stelle noch ausführlich zu sprechen sein. Richard Strauss war mit „Ariadne auf Naxos“, Inszenierung, Bühne und Kostüme von Axel Manthey, „Salome“ in der Regie von Inga Levant und „Elektra“ in der Regie von Peter Konwitschny vertreten.

Unser besonderes Anliegen war es, den Kanon der großen Werke des europäischen Musiktheaters nicht mit der Wende zum 20. Jahrhundert abzuschließen, sondern die klassische Moderne der zweiten Wiener Schule und die weitere Entwicklung eines zeitgenössischen Musiktheaters bis in unsere Gegenwart hinein als unverzichtbare Elemente einer Oper der Moderne repertoirefähig zu machen. Es überrascht daher nicht, dass zentrale Meisterwerke der klassischen Moderne – Alban Bergs „Wozzeck“ in der Regie von Johannes Schaaf und „Lulu“, inszeniert von Margarethe von Trotta, sowie Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“ in der Inszenierung von Jossi Wieler, Sergio Morabito und der Bühne von Anna Viebrock – prominent vertreten waren. Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ und Ferruccio Busonis „Doktor Faust“ waren Wiederentdeckungen meiner Frankfurter Zeit. Ich hielt und halte sie für so bedeutend für eine Operngeschichte der Moderne, dass wir beide erneut in den Spielplan aufnahmen. Allerdings mit einem, gegenüber den Frankfurter Aufführungen, komplett veränderten Team. Schrekers „Die Gezeichneten“ wurde von Martin Kušej inszeniert, Busonis „Doktor Faust“ von Wieler/Morabito/Viebrock in einer Koproduktion mit der von Pamela Rosenberg geleiteten San Francisco Opera. Das Publikum in der Oper von San Francisco war durchaus begeistert. Nicht so die örtliche Presse, die ganz genau zu wissen schien, wie eine Oper, unter der sie eine Kunstform des 19. Jahrhunderts verstand, zu sein hat.

Das Verfahren der Wiederaufnahme mit einem veränderten Leitungsteam haben wir auch bei Luigi Nonos „Al gran sole carico 182

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d’amore“ angewandt. Führte in Frankfurt Jürgen Flimm Regie, übernahm jetzt in Stuttgart Martin Kušej die Verantwortung für die Inszenierung. In Luigi Nono sahen und sehen wir einen Eckstein des modernen Musiktheaters. Bereits in unserer zweiten Spielzeit haben wir daher „Intolleranza 1960“ in der Regie von Christof Nel und im Bühnenbild von Alfred Hrdlicka aufgeführt.

Eine der wichtigsten Inszenierungen während meiner Intendanz in Stuttgart war „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill in der Regie von Ruth Berghaus in unserer ersten Spielzeit. Die Aufführung ist legendär. „Mahagonny“ wurde 2000 zum Gastspiel nach Tel Aviv eingeladen. Bühne und Kostüme waren bereits dorthin verschickt. Da marschierte der israelische Oppositionsführer Ariel Scharon, der mit Recht den Spitznamen „Bulldozer“ trug, mit ca. 1000 Polizisten und Soldaten auf den Tempelberg in Jerusalem. Diese unglaublich dumme und/oder bösartige Provokation der arabischen Bevölkerung löste die zweite Intifada aus. Unser Gastspiel musste abgesagt werden.

Unser Bühnenbild und die Kostüme blieben dort.

In Frankfurt ging Michael Gielen und mir der Ruf voraus, wir könnten ja wohl nur Moderne – verbunden mit der Befürchtung, dass nun eine Uraufführung die nächste jagen würde, alles auf Kosten des Repertoires. Das hat sich alles nicht bewahrheitet. Am Ende gab es in Frankfurt diese Uraufführung zu sehen: Hans Zenders Oper „Stephen Climax“. Von ihm, von dessen kompositorischer Qualität wir alle überzeugt waren, haben wir in Stuttgart in der dritten Spielzeit „Don Quijote de la Mancha“ mit großem Erfolg aufgeführt. Regie führte Axel Manthey, die musikalische Leitung lag bei Bernhard Kontarsky. Weitere Uraufführungen sind zu nennen: von der rumänischen Komponistin und Pianistin Violeta Dinescu die Kammeroper „Eréndira“ nach Gabriel Garcia Márquez in der Regie von Beat Fäh, Dirigat Bernhard Kontarsky (1993); die Uraufführung der Neufassung von Wolfgang Rihms „Séraphin“, wiederum dirigiert von Bernhard Kontarsky, inszeniert von Peter Mussbach (1996); Adriana Hölszkys „Giuseppe e Sylvia“ nach dem Text von Hans Neuenfels, der auch Regie führte, musikalische Lei183

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tung Johannes Kalitzke (2000); die Wiederentdeckung einer Oper des 18. Jahrhunderts, Joseph Martin Kraus‘ „Aeneas in Karthago“, wurde 2006 uraufgeführt, musikalische Leitung Lothar Zagrosek, Inszenierung Klaus Zehelein, M ­ ichaela Dicu und Michael von zur Mühlen nach einer Konzeption von Peter Konwitschny. In der Spielzeit 1986/87 kam es zur Uraufführung von Gérard Pessons „Anacréon ou L‘Amour fugitiv“, leider nur konzertant, da die Technik streikte. Am Ende der Spielzeit 2005/2006 wurde „Mondschatten“ von Younghi Pagh-Paan, ein Musiktheater nach „Ödipus auf Kolonos“ von Sophokles, uraufgeführt. Das Libretto stammte von Juliane Votteler, die musikalische Leitung hatte Johannes Debus, Ingrid von Wantoch Rekowski hat Regie geführt.

Auch „Schauspieler, Tänzer, Sängerin“ von Gisela Wysocki in der Regie von Axel Manthey und der Musik von Andreas ­Breitscheid vertrat auf dem Spielplan die Zeitgenossen. Und an allererster Stelle Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, vergleichbar nur mit den Werken von B. A. Zimmermann und Luigi Nono und für mich einer der Höhepunkte, wenn nicht der Höhepunkt unserer Arbeit in Stuttgart.

Es stimmt, wir haben uns die zeitgenössische Opernproduktion sehr genau angesehen. Uraufführungen um der Uraufführung willen herauszubringen, die nach kurzer Zeit vergessen sind, war nicht unser Ding. Damit unterschieden wir uns vom ehemaligen Kollegen Rolf Liebermann, dem früheren Intendanten der Staatsoper Hamburg, der selbst Komponist war. Liebermann präsentierte der staunenden Öffentlichkeit jedes Jahr eine Uraufführung. Dabei hätte ein Blick in die Partitur genügt, um von der einen oder anderen Produktion Abstand zu nehmen. Aber egal, Hauptsache das Werk erregte beim Publikum Aufmerksamkeit für einen Augenblick. Ich finde die Haltung, die dahintersteckt, zynisch. So habe ich einmal Götz Friedrich gefragt, warum er eine Oper von Aribert Reimann nur viermal ansetze. Offensichtlich hatte er kein Vertrauen, weder in das Stück noch in die Gestaltung und Vermittlung seines Spielplans. Zeitgenössische Oper, das war unsere Überzeugung, ist Teil des Repertoires und ist erlebbar 184

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und verstehbar im Kontext des gesamten Kanons, den wir vorstellen und mit unserem Publikum und unseren Produktionsteams immer wieder neu hinterfragen. Nur so war es möglich, dass wir „Intolleranza 1960“ von Luigi Nono 29 Mal und mit einer Auslastung von 83 Prozent spielen konnten. Die Produktion war eben keine singuläre Marotte, sondern eingebunden in den ganzen Kanon, mit dem wir unsere Zuschauerinnen und Zuschauer in fünfzehn Spiel­zeiten in immer neuen Konstellationen vertraut machen konnten.

Dieses Repertoire in seiner Spannweite und Ausbreitung vom Barock bis in die Gegenwart – in allen seinen „Haupt- und Nebenwegen“, um ein Bild von Paul Klee zu zitieren, auf dem kein Unterschied zwischen beiden zu erkennen ist –, dieser Kanon vorgestellt im Zusammenspiel eines eingespielten Ensembles mit den historischen Tiefenbohrungen unserer Dramaturgie, ist der Grund für den nachhaltigen Erfolg unserer Opernpraxis in Stuttgart. Die Nachhaltigkeit dieses Erfolgs weist, allen kurzzeitigen Moden zum Trotz, die Oper Stuttgart in den Jahren 1991 bis 2006 als Modell einer zeitgenössischen Oper aus.

Dieses Modell ist nicht auf Grund einer friedlichen Übereinkunft aller Beteiligten vom Himmel gefallen. Ensemblearbeit ist nicht immer ein Vergnügen. Als ich einmal gefragt wurde, was denn die Aufgabe eines Intendanten im Kern ausmache, habe ich etwas vollmundig geantwortet: „Die Intendanz versucht, die unterschiedlichen und vielleicht auch berechtigten Eigeninteressen zusammenzuführen. Das ist die eigentliche ­Aufgabe eines Intendanten.“ Das ist nicht einfach und öfter erweist sie sich als unmöglich. Denn natürlich fühlen sich Sängerinnen und Sänger zurückgesetzt, wenn sie die Besetzung sehen und fragen: Warum stehe ich da nicht drauf? Warum bekomme ich nicht die Partie, die mir zusteht? In solchen Fällen haben ­Pamela Rosenberg und ich mit den Betroffenen vereinbart: „Wir werden mit großem Ernst versuchen, dass, wenn sie an einem anderen Haus diese P ­ artie angeboten bekämen, wir sie dafür freistellen.“ 185

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Solche Anstrengungen zur Befriedigung von Konflikten haben nicht immer gereicht. Es gibt Interessen, die nicht zu harmonisieren sind. Die Agenturen der Gast-Sängerinnen und -Sänger wollen z. B. für ihre Klientel keine langen Proben, damit sie sie schnell in immer neue Engagements bringen können, bei denen sie dann ihre Provision kassieren können. Wenn Sängerinnen und Sänger dieses Profitdenken ihrerseits internalisiert haben, wird es ganz, ganz schwer.

Die Interessen, die hier aufeinandertreffen, treiben bisweilen die seltsamsten Blüten. In Frankfurt kam eine Sängerin zu mir und sagte, sie will raus aus dem Festvertrag. In Zürich bekomme sie jene Partien zu singen, die wir ihr nicht anböten. Wir stimmten der Aussetzung des Vertrags zu – mit Ausnahme von „Freischütz“-Vorstellungen, in denen sie die Agathe sang. Nach einem halben Jahr kam sie zurück und jammerte, sie habe jetzt erfahren, dass sie die Partien auch in Zürich nicht singen wird. Da sitzt du da und fragst dich, wie du reagieren sollst. „Wissen Sie was“, habe ich schließlich gesagt, „Sie hören jetzt auf zu heulen, gehen in Ihre Garderobe und bereiten sich vor. Sie haben heute Abend noch eine Vorstellung bei uns.“ Ein anderer, härterer Fall: Ein Tenor kommt zu uns ins Büro und sagt, er habe plötzlich solche Scham, vor Publikum zu stehen.

Er könne das nicht mehr. Pamela Rosenberg hat er Geschichten aus seiner Kindheit erzählt, die das gleichsam psychoanalytisch unterfüttern sollten. Wir lösen also den Vertrag auf. Ein halbes Jahr später sieht ihn Pamela in Wien putzmunter und selbstbewusst auf der Bühne stehen. Er wollte nur raus aus dem Vertrag mit uns und hat dafür die ganze Geschichte erfunden.

Geschichten wie diese könnte ich viele erzählen, auch Geschichten von Anfeindungen und Beschimpfungen. Sie erwachsen aus der Unvereinbarkeit von Interessen, die zum internationalen Opernbetrieb, wie er ist, dazu gehören. Deshalb, so möchte ich ergänzen, sind Intendant:innen nicht nur diejenigen, die unterschiedliche Interessen zusammenführen, sondern sie sind auch, im Falle ihrer Unvereinbarkeit, ein Prellbock, der in einer solchen Situation: „Stop!“ sagt. „Bis hierher und nicht weiter! Jetzt wird so oder so entschieden!“ Die Intendanz, so habe ich es immer verstanden, 186

muss den Mut haben, das Risiko autoritativer Entscheidungen zu tragen. Das bedeutet nicht ein Lob der einsamen Entschlüsse. Entscheidungen, für die ich einstehen musste, sind immer aus ausführlichen Erörterungen im Leitungsteam hervorgegangen. Und natürlich wollten diese Entscheidungen argumentativ begründet sein. So habe ich es gehalten. Das schützt die Intendant:innen aber nicht in jedem Fall davor, dass die von ihren Entscheidungen Betroffenen ihren Frust und ihre Wut an ihnen ablassen. Mir war früh bewusst, dass zu den unterschiedlichen Rollen eines Intendanten auch die des Prellbocks gehört. Das Mitbestimmungsmodell am Schauspiel Frankfurt war meines Erachtens mit daran gescheitert, dass es ­keine Person gab, die diese Rolle übernehmen wollte. Ich habe in dieser Rolle stets die notwendige Kehrseite zur autoritativen Entscheidungsgewalt gesehen. Die Rolle des Prellbocks ist bisweilen schmerzhaft und es braucht viel psychische Energie, um damit umzugehen. Aber das ist in Ordnung so.

Ich kenne berühmte Inszenatoren, die sehen im Orchester und dem Dirigenten die natürlichen Feinde der Regieführenden.

Das ist in dieser Pauschalisierung natürlich Unsinn, aber es enthält ein Körnchen Wahrheit. Das Verhältnis des Orchesters zur Leitung eines Opernhauses und zu den Regieteams ist strukturell schwierig. Das Orchester ist die beharrende künstlerische Instanz an der Oper, die jede Intendanz überdauert. In Stuttgart bekam ich vom Orchestervorstand zu hören: „Wissen Sie, wir sind die Konstante. Das Staatsorchester hat schon mehrere Intendanten überlebt, und Sie überleben wir auch.“ Das Orchester hat als eine anscheinend auf Dauer gestellte Einrichtung in der Oper einen Herrschaftsanspruch auf die Verteidigung seiner Domäne sui generis. Ist man nicht gewillt, den einfach hinzunehmen, kommt es unweigerlich zu Konflikten. Die hatte ich anfangs immer wieder.

Z. B. wenn drei Hörner, die gestern noch auf einer wichtigen Probe waren, am Tag darauf in der Vorstellung durch drei andere Kolleg:innen ersetzt worden waren. „Die können das doch auch.“ „Und warum haben wir probiert?“ Solche Dialoge sind mehr als Macht­gerangel. Dabei geht es auch um die Verteidigung von 187

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Pfründen, z. B. darum, anderswo einen bezahlten Zusatzdienst, eine sogenannte Mucke zu schieben. Mir ging es um die Beibehaltung des musikalischen Qualitätsstandards. Auseinandersetzungen gab es auch um die Frage, ob die Pause inklusive oder exklusive der Arbeitszeit bei Proben sei, ob in Ausnahmefällen zehn bis fünfzehn Minuten länger geprobt werden darf. Ich musste erst ein Gerichtsurteil zitieren, um hier eine gütliche Regelung mit dem Orchestervorstand zu erreichen.

Der Orchestervorstand hat mich vor das Arbeitsgericht zitiert, weil er bei der Berufung von Lothar Zagrosek zum Generalmusikdirektor nicht ausreichend genug gehört worden sei. Das Orchester hatte nichts gegen Zagrosek, mit dem es nach dessen Berufung Erfolge feierte. Sie wollten nur ihr Recht auf Anhörung stärker berücksichtigt finden. Als der Termin für die Verhandlung und der Vorsitzende Richter feststanden, habe ich diesen angerufen: „Ich kann und will Sie in keiner Weise beeinflussen, sondern Ihnen lediglich meine Sicht auf die Dinge kurz schildern. Meines Erachtens darf das Orchester auf keinen Fall verlieren. Denn ich will auch in Zukunft mit ihm zusammenarbeiten. Wenn ich verliere, werde ich mein Amt niederlegen. Das wäre nicht ideal, aber konsequent. Aus meiner Sicht wäre ein Vergleich die beste Lösung.“ Am Tag der Verhandlung hat uns der Richter zu Beginn der Verhandlung mitgeteilt: „Bevor wir in die eigentliche Verhandlung eintreten, kann ich den Orchestervertretern jetzt schon sagen, dass sie nicht das Recht bekommen, das sie hier einklagen.

Setzen sie sich mit der Gegenseite zusammen und suchen sie einen Vergleich.“ So geschah es. Mir wurde die Auflage erteilt, bei der nächsten Berufung eines Generalmusikdirektors das Orchester noch stärker einzubinden. Damit konnten wir alle leben. Zumal die Zusammenarbeit des Orchesters mit Lothar Zagrosek immer besser lief. Es war ein langer, umkämpfter Weg, den wir mit dem Orchester zurücklegten, aber wir haben zusammengefunden. Am schönsten zeigte sich das ausgerechnet bei der Arbeit an Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefel­ hölzern“. Anfängliches Befremden über die Partitur wich bald der 188

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Neugier und dem Interesse an Lachenmanns vielfältigen Weisen der Tonerzeugung. Das Orchester hatte ganz offensichtlich Freude an der Partitur gefunden, sich darin vertieft und viel gelernt. Vor der Wiederaufnahme von Lachenmanns Oper mit fünf weiteren Aufführungen kam der Orchestervorstand zu mir und sagte, sie würden dem Publikum gerne zeigen, wie sie sich die Partitur angeeignet haben. Sie fragten, ob sich dafür ein Format finden ließe? Es brauche nicht als Dienst angerechnet werden. Ich war bass erstaunt und hocherfreut und schlug das Kammertheater vor. Das hatte 250 Plätze. Sie waren jedes Mal eineinhalb Stunden vor der eigentlichen Aufführung voll.

Ein Freund Lachenmanns, Professor Matthias Hermann, bot sich an, die Veranstaltung zu leiten. Auch der Chor hat sich in diesen Einblick in die musikalische Werkstatt mit eingebracht. Die Übereinkunft mit dem Orchester hat mir gezeigt: Es lohnt sich, einen langen Atem zu haben und nicht nur mit, sondern auch um die Menschen zu kämpfen. Denn auch die beste Gesamtdramaturgie eines Opernhauses ist angewiesen auf die Menschen, die sie mit Leben erfüllen.

Sieben aus Einhundertfünfzehn Inszenierungen, die für das Haus stehen und die mir am Herzen liegen 115 Inszenierungen haben wir in den 15 Spielzeiten meiner Intendanz in Stuttgart im Großen Haus vorgestellt. Sieben davon stellvertretend eigens anzusprechen, ist ungerecht gegenüber v­ ielen anderen, die auch eine besondere Erwähnung verdienten. Und doch möchte ich den Versuch unternehmen, ein paar Anmerkungen zu Aufführungen zu machen, die aus meiner Sicht Eckpunkte unseres Wirkens markierten und den Geist des Hauses artikulierten.

Luigi Nono: „Intolleranza 1960“, Spielzeit 1992/93 Nono war in Stuttgart unbekannt. Der Zeitgeist hielt es mehr mit den Postmodernen. Minimal Music war angesagt. Ein Hauptvertreter der Minimal Music war John Adams. Mit seiner vermeintlich zeitgeschichtlichen Oper „Nixon in China“ (1987) hatte er 189

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eine intensive Debatte ausgelöst. Zwar sah der Kritiker der New York Times Donald Henahan in der Oper nur „substanzloses Augenfutter“ und fand den schönen Vergleich: „Herr Adams machte mit dem Arpeggio, was McDonald’s mit dem Hamburger anstellte: Er strapazierte einen simplen Einfall für alle Ewigkeit.“ Aber andere sahen darin die große amerikanische Oper, und auch deutsche Kritiker zeigten sich von „Nixon in China“ angetan.

John Dew besorgte 1989 die deutsche Erstaufführung.

Philip Glass hatte ein anderes Gewicht. Er war der bedeutendste Komponist auf dem Feld der Minimal Music. Achim Freyer hatte in der Vergangenheit in Stuttgart alle drei großen Werke von Philip Glass, „Satyagraha“, „Echnaton“ und „Einstein on the Beach“, inszeniert. Es war eine der großartigen und mutigen Behauptungen der Stuttgarter Oper. Und wir hätten diese Trilogie in unserem Spielplan aufgenommen, wenn ein Jahr vor unserem ­Anfang mindestens zwei Werke dieser Trilogie wieder aufgenommen worden wären.

Gönnenwein sah sich dazu außerstande. So mussten wir uns entscheiden, auf die Wiederaufnahme zu verzichten. Das trug mir den Zorn von Achim Freyer ein. Ich konnte ihn ein Stück weit verstehen. Aber uns waren durch Gönnenweins Entscheidung die Hände gebunden. Wir hatten schlicht keine Kapazitäten dafür. Die Wiederaufnahme hätte die Planung der ersten beiden Spielzeiten mit allen eingegangenen Verpflichtungen obsolet gemacht.

Zu diesen Planungen gehörte von Anfang an das Werk Luigi Nonos. Pamela Rosenberg hatte mir vorgeschlagen: „Lass uns gleich eine Setzung machen, die die Richtung anzeigt, in die wir gehen wollen!“ Diese Setzung war am Beginn unserer zweiten Spielzeit Nonos erste Azione scenica in due tempi „Intolleranza 1960“. Damit die „Intolleranza 1960“ in Stuttgart nicht als Eintagsfliege gehandelt werden konnte – „Irgendetwas Modernes muss man ab und zu machen“ – erweiterten wir den Horizont. Wir arbeiteten mit dem SWR und mit der Musikhochschule zusammen, um in einer Reihe von Veranstaltungen Nonos Musik zu ­Gehör zu bringen. So waren die „Tage für Neue Musik Stuttgart“ vom 27. September bis 14. Oktober 1992 Luigi Nono gewidmet.

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Nono wurde eine lange Zeit von den Rundfunkanstalten in Deutschland boykottiert, weil er Kommunist war. Italienischer Kommunist wie auch Claudio Abbado und Maurizio Pollini.

Blickt man heute in die Kritiken der damaligen Inszenierung von Christof Nel in der Bühne von Alfred Hrdlicka, fällt einem die Angst der Kritiker vor der roten Fahne ins Auge. Die war am Ende des ersten Teils kurz geschwenkt worden zu Majakowskis Marsch: „Poltert auf Plätze den Marsch der Empörung / Hoch stolzer Häupter wogendes Feld! Wie einer zweiten Sintflut Verheerung / Waschen wir wieder die Städte der Welt!“ Danach ein Black. Und als das Licht wieder anging, lag die rote Fahne allein auf dem Boden der leeren Bühne. Da seufzten die Kritiker erleichtert auf. Hatten sie doch nichts anderes erwartet als ein linkes Propagandastück. Nono war schließlich Kommunist.

Es hätte nur ein wenig Beschäftigung mit Nonos Werk gebraucht, um zur Einsicht zu gelangen, dass „Intolleranza 1960“ kein politisches Tendenzstück ist. Majakowskis Marsch, den die Oper zitiert, ist ein vorübergleitender Augenblick, eine kurze Bewegung in den Zeitschichten des Stücks. Wenn am Ende eine von Menschen verursachte Überschwemmungskatastrophe die Protagonisten und alle anderen einen qualvollen Tod sterben lässt, kehrt die Musik von Majakowskis Marsch wieder, jetzt aber mit diesem Text: „Wir sind aber überlassen der Gewalt des Wassers.“ Vom Triumph der Empörung kann keine Rede sein. Nicht der Erfolg einer linken Geschichte wird erzählt oder suggeriert. Die Perspektive ist die der Gegenwart, die Vergangenheit im Augenblick ihres Verschwindens festhält. Denn es ist – im übertragenen Sinn – die Sintflut des Vergessens, die das Bewusstsein der im Heute Lebenden heimzusuchen droht. Es geht in „Intolleranza 1960“, mit Walter Benjamin gesprochen, darum, ein „Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick einer Gefahr dem historischen Subjekt einstellt.“ Nonos Azione scenica hält dieses Bild fest in den Zeitschichten von Text und Musik, die die Gegenwart durchziehen.

Die Handlung von „Intolleranza 1960“ orientiert sich, oberflächlich gesehen, an der Abfolge eines expressionistischen Statio191

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nendramas: Der Arbeitsemigrant in einem (belgischen) Bergwerk möchte zurück in die Heimat. Obwohl eine Frau, die Geliebte, ihn davon abhalten will, macht er sich auf den Weg. Unterwegs gerät er unbeteiligt in eine Demonstration. Er wird festgenommen, verhaftet und gefoltert. Danach findet er sich in einem Konzentrationslager wieder. Zusammen mit einem algerischen Mitgefangenen gelingt ihm die Flucht, die Befreiung feiert der Marsch von Majakowski. Ende des ersten Teils.

Der zweite Teil beginnt mit den Absurditäten des gegenwärtigen Lebens, die den Geflüchteten bedrängen. Es ist eine Szene senza musica; der Text des Librettisten Angelo Maria Ripellino ist eine Schwachstelle der Oper. Wir haben sie durch eine Audioszene ersetzt, in der die tagesaktuellen dpa-Nachrichten, die wir telefonisch jeden Abend auf einem Kanal abriefen, zu hören waren, während auf dem anderen Kanal Heiner Müllers Stimme, die seinen Text „Sisyphos“ las, zu vernehmen war. Beide Einspielungen kommentierten sich auf seltsame Weise immer wieder neu. Danach lernt der Geflüchtete eine Gefährtin kennen. Sie werden heimgesucht von der Vergangenheit: der verlassenen Geliebten und Alpträumen von Folter, Rassenwahn und Vernichtungslagern. Am Ende tritt der Fluss, der Fluss der Heimat, über die Dämme und überschwemmt alles. Der Schlusschor zitiert Verse aus Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“: „Ihr die ihr auftauchen werdet aus der Flut / In der wir untergegangen sind / …

Gedenkt unserer / Mit Nachsicht.“ Nur auf den ersten Blick wird hier eine kontinuierliche Geschichte erzählt. Tatsächlich sind es Zeitschichten der Erinnerung in der Gegenwart: die unmenschliche Arbeit in den Minen, die Polizei, das Konzentrationslager, die Folter im Algerienkrieg. „Ganze Nächte lang während eines Monats habe ich die Gefolterten brüllen gehört. Ihre Schreie bleiben eingegraben in mein Gedächtnis“, berichtet die Stimme des französisch-algerischen Journalisten und Kämpfers für die Freiheit Algeriens Henri Alleg. Dieses Gedächtnis beruht nicht auf beschreibbarer Kontinuität, ist nicht, wie Walter Benjamin in „Über den Begriff der Geschichte“ schreibt, 192

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eine „Abfolge von Begebenheiten, die durch die Finger laufen (…) wie ein (…) Rosenkranz“. Die Geschichte dieses Gedächtnisses ist – indem die Schreie der gefolterten Algerier mit dem Abschied des zum Tode verurteilten jungen Griechen zusammenfallen – vertikal zu denken. Ein Gedächtnis der Gleichzeitigkeit von Orten, von Ereignissen. Die Schreie, die Glocken – noch einmal die Geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin – das „heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ – Geschichte und ihre Erinnerung bestehen hier geradezu auf Diskontinuität.

In der dritten Szene (Demonstration) werden Parolen verschiedener Zeiten und Orte neben- und übereinandergeschrieben: „Nie wieder!“ gegen die Wiederaufrüstung Nachkriegsdeutsch­ lands; „No pasarán!“ aus dem Kampf gegen Franco; „Morte al ­fascismos e libertà al populo!“ der kommunistischen Partisanen; „Down with Discrimination!“ gegen den Rassismus; „La sale ­guerre!“ gegen den französischen Indochinakrieg. Geschichte, so vertikal verdichtet, setzt Energie für die Gegenwart frei, wie sie in der Präsenz der Musik Nonos, in den Reibungen der geschichteten Klangbänder aufblitzt.

Es ist die Präsenz der Vergangenheit im Heute, die höchst gegenwärtige Erinnerung an Leiden, Hoffen, an Liebe und Scheitern, die „Intolleranza 1960“ evoziert. Nonos Azione scenica bietet an, sich dem Gegenüber auszusetzen und aus dieser Aussetzung Kraft und Mut zu gewinnen. Das ist eine Entscheidung, die jede:r für sich treffen muss. Jene, für die schon eine auf dem Boden liegende Fahne ein buchstäblich rotes Tuch ist, haben ihre Entscheidung getroffen. Sie wollen nicht länger von der Wiederkehr der Vergangenheit in der Gegenwart belästigt werden. Nicht zuletzt wohl deshalb, weil das Erinnern eine schmerzvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte impliziert. Die Entscheidung, ob man sich dieser stellt, halte ich für eine eminent politische. Die anhaltende Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, die „Intolleranza 1960“ ausstellt, fordert zu dieser Auseinandersetzung auf. Diese Herausforderung ist das Politikum von Nonos Oper.

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Christof Nel, Alfred Hrdlicka, Gisela Storch, Klaus Zehelein im Atelier von Alfred Hrdlicka, 1992. Foto: Johanna Klinger

Es ist ein Grundzug aller unserer Bühnenbildarbeiten in Frankfurt und Stuttgart gewesen, dass sie die Handlung nicht bebildernd verdoppelten, sondern den Blick der Zuschauenden auf die Verflechtung von Raum und Zeit in den jeweiligen Werken lenkten. Im Falle von Nonos „Intolleranza 1960“ ging es darum, einen Eindruck von der Ungleichzeitigkeit, den wiederkehrenden Bruchstücken der Vergangenheit inmitten der vollendeten Gleichzeitigkeit der Gegenwart, zu geben. Ich war überzeugt, Alfred Hrdlicka, Schöpfer großartiger Zeichnungen und Plastiken, die sich durch Klarheit wie Einfachheit auszeichneten, könnte der Richtige dafür sein. Man hatte uns vor ihm gewarnt. Er sei schwierig. Aber Hrdlicka lud uns in sein Atelier in Wien ein. Seine ­einzige Bedingung war, dass die von ihm gemalten Prospekte sein Eigentum blieben. Hrdlicka baute eine dreifach gerahmte ­schwarze Guckkastenbühne auf einer nach hinten ansteigenden Schräge, die den Raum, der sich im Bühnenausschnitt zeigte, so verkürzte, dass die gezeigten Aktionen wie Bilder wirkten. Der Theater-Blick auf die Bühne der Gegenwart, der immer nur einen Ausschnitt zeigt, der fälschlicherweise für das Ganze genommen wird, wurde durchkreuzt und geschnitten durch Transparente, bemalt mit Bildern oder Schrift, die von oben oder von unten in den 194

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Bühnenraum ­gezogen worden. In Die Zeit schrieb der Kritiker Claus Spahn: „Geschundene Kreaturen, nacktes, gequältes Fleisch und düstere Gestalten mit verschwommenen, verzerrten Gesichtszügen. Ein Kopf mit obszön entblößtem Hirngekröse, ein Relief, in das verrenkte, röntgenbildartige Körperabdrücke eingegraben sind, und eine riesige Partiturseite, über die eine Blutspur führt.“ Christof Nel hatte die Handlungen auf der Szene aufs Äußerste reduziert, die Protagonisten und der Chor agierten mittels einfacher gestischer Verweise. Dem „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ – mit dem Titel eines Films von Alexander Kluge 1985 gesprochen – setzte die Inszenierung den Einbruch der verdrängten Vergangenheit in die Gegenwart entgegen. Nonos szenische Aktion und die Arbeit von Nel und Hrdlicka, die Protagonist:innen David Rampy als Flüchtling, Ursula Koszut als Gefährtin und Kathryn Harries als Frau, das Dirigat von Bernhard Kontarsky, das Orchester und der überragende Chor der Stuttgarter Staatsoper, der zum ersten Mal in der Geschichte der Aufführungspraxis des Werks auf der Bühne live die Partitur realisierte, sie alle hatten zusammen ein zuvor unbekanntes exemplarisches Werk der Moderne zu einer festen, in 29 Aufführungen nach­ gefragten Größe des Repertoires gemacht. Die Auslastung betrug 83 Prozent von 1.400 Zuschauern. Mit anderen Worten: Über 30.000 Zuschauer haben die Stuttgarter „Intolleranza 1960“ gesehen. Ich habe auf diese Zahlen schon einmal angespielt. Ich tue es erneut, denn sie fallen nicht einfach vom Himmel. Und sie zeigen, worum es uns bei unserer Arbeit ging.

Georg Friedrich Händel: „Alcina“, Spielzeit 1997/98 Das Interesse an Barockopern beschränkte sich nach 1945 aufs rein Musikalische. Ein stärkeres szenisches Interesse an ihnen setzte ab den späten 1970er Jahren ein. Herbert Wernicke hatte 1978 in Darmstadt Händels „Belshazzar“ inszeniert, Peter Konwitschny in den 1980er Jahren ebenfalls von Händel „Floridante“ in Bad Lauchstädt sowie „Rinaldo“ und „Tamerlano“ in Halle an der Saale. Das war wegweisend. Allerdings waren die wenigsten 195

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der nachfolgenden Inszenierungen hinsichtlich der besonderen szenischen Herausforderungen dieser Opern historisch informiert.

Anders war das in unserer Stuttgarter Inszenierung. Sie unterschied sich deutlich von dem, was unter dem Rubrum einer vermeintlichen Neuentdeckung der Barockoper andernorts zu sehen war. Das löste zum Teil Befremden, aber auch Begeisterung aus. „Alcina“ in der Inszenierung von Jossi Wieler, Sergio Morabito und der Bühne von Anna Viebrock war ein internationales Ereignis und einer der größten Erfolge unserer Jahre in Stuttgart.

Vereinzelt gab es allerdings auch Stimmen, die das anders sahen.

So beim umjubelten Gastspiel mit „Alcina“ auf dem Festival in Edinburgh. Hier stand der vehemente Zuspruch des Publikums in denkbar scharfem Kontrast zu einer Rezension in der Presse mit der gereimten Überschrift: „Help! Handel in the hands of Vandals“. Damit nicht genug. Als ich mit dem Dirigenten Christoph von Dohnányi, der die Aufführung besucht hatte, die Treppe des Opernhauses hinunterging, merkte er ätzend an, dass man für eine solche Inszenierung doch bitte ein anderes Stück aussuchen solle. Nun ja, das war Dohnányi, ein Kapellmeister alter Schule, der verlangte, dass die Sängerinnen und Sänger den Blick strikt zu ihm nach vorne richten und nicht auf die Monitore mit dem Dirigenten, die seitlich der Bühne angebracht waren, blicken, um szenische Aktionen jenseits der starren Ausrichtung nach vorn zu ermöglichen. Dennoch wollte ich die beiden kritischen Äußerungen nicht vorschnell abtun. Mich beschäftigte die Wut, die aus ihnen sprach.

Günther Heeg hat sich mit der Wut über die Enttäuschung falscher Erwartungen in der Stuttgarter „Alcina“ befasst und das exemplarische Zeitgenössische der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito sowie der Bühne und Kostüme von Anna Viebrock herausgestellt. Ich zitiere im Folgenden eine lange Passage aus seinem luziden Essay über Händels Oper „Alcina“ und ihre Stuttgarter Inszenierung: „In vielen Inszenierungen von Barockopern wird die doppelte raumperspektivische Anordnung der Szene übersehen, die für 196

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diese Opern charakteristisch ist: Einerseits gestattet die Maschinerie der Kulissenbühne die blitzschnelle Veränderung des Schauplatzes. Wo eben noch eine öde Gegend war, ist plötzlich ein ­Palast zu bewundern. Der Palast wiederum, der eben festgefügt schien, geht im nächsten Augenblick in Flammen auf. Andererseits sind die spektakulären Bilder der Verwandlung dem zentralperspektivischen Blick der Zuschauenden entsprungen. Sie sind Projektionen eines stets am selben Ort Verharrenden. Die ­Abwechslung, die sie bieten, ist die eines Wechsels im Immergleichen.

Die Doppelstruktur der Szene in der Barockoper zeigt die Lust am Spektakel ebenso wie seinen Grund im leeren, begehrenden Blick des Zuschauenden als dem wahren Souverän der Szene. Wer diese Doppelstruktur nicht erkennt, der reduziert die Barockoper aufs Spektakuläre und stellt Dinosaurier auf die Bühne. „Alcina“ von Händel greift diese Doppelstruktur auf. Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock stellen sie szenisch aus. Es ist die Ent-Täuschung von Spektakel und Verzauberung, die die eingangs Genannten wütend macht. Die Verfechter einer konventionellen Anordnung der Sänger:innen auf der Szene ebenso wie die Fürsprecher:innen des Spektakulären wollen nicht auf den vermeintlichen Trost des musikalisch und/oder szenisch Imaginären verzichten.

Dabei übersehen und überhören sie die Erfahrung der conditio humana, die Händels Oper und die Stuttgarter Inszenierung bereithalten.

Der Mythos von Alcina, den Händels gleichnamige Oper aus dem Jahr 1735 einer Episode aus Ludovico Ariostos Versdrama „Orlando furioso“ (1516) entnimmt, hält die Gefahr einer spektakulären Verwandlung ohne Rückkehr im Schicksal von Alcinas Liebhabern fest. Sobald sie ihrer überdrüssig geworden ist, verzaubert sie sie in wilde Tiere, Felsen oder Quellen. Im Bild der in die Gestalt von Natur und Tierheit gebannten Liebhaber artikuliert sich der Schrecken einer verdinglichten Existenz ohne Bewusstsein, der Schrecken der Regression.

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In Händels Oper gerät der Ritter Ruggiero in die Hände der mächtigen Zauberin, die ihn verführt und seine Verlobte Bradamante vergessen lässt. Bradamante, verkleidet als Mann, und Ruggieros ehemaliger Erzieher Melisso sind gekommen, um Ruggiero aus der Zaubermacht der Alcina zu erretten. Das gelingt am Ende.

Alcinas Reich geht unter.

Die moralisch eingerahmte Handlung – am Anfang steht der tugendhafte Ritter und seine ebenso tugendhafte Verlobte, am Ende obsiegen beide und mit ihnen das ritterliche Ethos – ist in Händels Opera seria nur der Anlass, das Begehren der Zuschauer:innen zu wecken, um die ganze Affektstaffel von Lust, Liebe, Leidenschaft und Liebesschmerz musikalisch und szenisch ins Bild zu setzen, und der vom Begehren getriebenen Einbildung Raum zu geben. Die Bildwerdung des Begehrens durch Projektion und die Verselbständigung dieser Einbildungen des Begehrens gegenüber den Projizierenden ist fester bestand der historischen Anthropologie der Moderne.

Die Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito und die Bühne von Anna Viebrock greifen den Vorgang der szenischen Imagination des Begehrens auf und stellen ihn aus. Wir sehen in ein leeres Zimmer, irgendwo zwischen Salon, Boudoir und Bunker, die Tapete ringsumher in Rokoko-Ornamentik, die Tür auf der rechten Seite eine graue Fahrstuhltür, an der Decke Neonleuchten, in der linken Ecke Gerümpel, Waffen, ein Waldhorn etc. Beherrschend an der Rückwand des Raums und seine Ordnung definierend ein ca. fünf mal zwei Meter großer, vergoldeter Bilderrahmen. Aber an der Wand hängt kein Gemälde, die Fläche innerhalb des Rahmens ist leer – vielleicht ein Spiegel? Ein Spiegel allerdings, der nicht reflektiert. Wie durch einen gerahmten Mauerdurchbruch blickt man auf das Geschehen im Hinterzimmer, hinter der Szene. Doch nichts anderes eröffnet sich dort dem Blick als das Bekannte: ein schmaler Raum parallel zum Rahmen, möglicherweise ein Gang, von der bekannten Rokoko-Tapete abgeschlossen. Draußen ist drinnen.

Alcinas Reich: ein abgeschotteter Raum der Projektion – außerhalb des Raumes herrscht Krieg – der Spiegel ein Zauber198

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spiegel. Nicht Wunschbilder zeigt er uns, sondern die Bildwerdung des Wunsches, den leeren Grund des eigenen Begehrens als Projektionsfläche unserer Sehnsucht nach dem Anderen. Wie dieses Wunschbild den Anderen unfehlbar verfehlt, zeigt etwa die Spiegelszene, in der Morgana, die vertraute Alcinas, jene junge Frau, die sich gleich zu Beginn in einen der Neuankömmlinge, die als Mann verkleidete Bradamante, verliebt hat, vor dem Spiegel die Treueerklärung ihres Angebeteten im Spiegel zu vernehmen vermeint. Im Verlauf der Arie entledigt sich Bradamante ihrer Männerkleidung und entpuppt sich als Frau, neben der ihr Verlobter Ruggiero auftaucht, an den sich die Arie richtete, in die Morgana auf fatale Weise einbezogen war. Dem Spiegel unserer Wünsche ist nicht zu trauen. Das Begehren lässt sich nicht sozial und moralisch einhegen.

Wieler, Morabito und Viebrock zeigen uns Alcinas Zauberreich als eine Szenerie, die durch den Spiegel hindurchgeht, ohne seinem Bild zu verfallen, die – auf der Bahn der Projektion – die Projektion auf halber Strecke unterbricht und so die Ordnung der Bilder aufs Spiel setzt und durcheinanderbringt. Das schreibt die Geschichte um.

Alles könnte auch anders sein. Ein Experimentierfeld der Gefühle à la Marivaux zum Beispiel: Jede:r ist in eine:n andere:n verliebt und alle in den falschen. Keine:r weiß, wie ihm geschieht, keine:r ist seiner/ihrer Empfindungen Herr. In Alcinas Reich ist nichts sicher, außer, mit Marivaux gesprochen, die Unbeständigkeit der Liebe.

Zur Unbeständigkeit der Liebe gehört der Schmerz, die Erfahrung eines unwiderruflichen Getrenntseins des Ichs von allem, was ihm begehrenswert erscheint. Den Schmerz der Trennung zu vermeiden und mit dem Objekt der Begierde zu verschmelzen, ist der tiefste Grund der Wunschbildproduktion. Im Reich der Lust soll der Schmerz ausgeschlossen sein. Wer Schmerz erleidet und diesem Leiden nachgibt, ist herausgefallen aus einer Gesellschaft, die dem Imaginären des eigenen Selbstbilds huldigt. Kaum eine brutalere Szene gibt es in der Stuttgarter „Alcina“ als der distanziert-verächtliche Blick, mit dem Alcinas Schwester Morgana die leidende Alcina bei ihrer Arie „Ah! mio cor“ bedenkt. Lieber zum 199

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Ding werden, als Schmerz erleiden, heißt die heimliche Devise.

Alcina, die Liebende, Alcina, die Getäuschte und Verlassene spricht sie aus, wenn sie sich wünscht: „Könnte ich zu Stein werden und so meine grausame Qual beenden.“ Schmerzvermeidung offenbart sich als der eigentliche Antrieb für die endgültige Verzauberung, nämlich die Versteinerung des empfindenden Subjekts. Vor dieser Versteinerung werden die Zuschauer:innen der Stuttgarter „Alcina“ bewahrt. Dem Schrecken der Empfindung ausgesetzt, empfinden sie sich als ein menschliches Wesen.

Wolfgang Amadeus Mozart: „Die Entführung aus dem Serail“, Spielzeit 1997/98 Noch vor der Premiere von „Alcina“ im Mai 1998 fand im Januar „Die Entführung aus dem Serail“ den Weg auf die Stuttgarter Bühne. Regie führte Hans Neuenfels, Christian Schmidt war für die Bühne verantwortlich, Juliane Votteler für die Dramaturgie. Wir hatten in der vorausgehenden Spielzeit in der dramaturgischen Vorbereitung viel über dieses nur auf den ersten Blick heitere Singspiel gesprochen. In keiner Oper von Mozart wird so oft über den Tod gesprochen wie in diesem vermeintlich lustigen Stück. Das Aufeinandertreffen der Kulturen im Palast des Bassa Selim an der Küste der Türkei ist mit tödlicher Gefahr verbunden. Aber ist es tatsächlich der von Huntington herbeigeschriebene Kampf der Kulturen?

Jedenfalls nicht, was den Herrscher des Palasts betrifft. Der Bassa ist ein Renegat, ein zum Islam übergetretener Christ. Er ist mit Belmonte, dem Geliebten der nach einer Piraterie als Sklavin an Bassa verkauften Konstanze, auf besondere Weise verbunden. Bassa Selim wurde durch die Machenschaften ausgerechnet von Belmontes Vater aus seiner Heimat Spanien vertrieben und um seine Braut und sein Vermögen gebracht. In Bassa Selim, dem vermeintlichen Feind der Christenheit, begegnet also den Christen, mit Carl Schmitt gesprochen, „ihre eigene Frage als Gestalt“. Der Aufseher über die Liegenschaften des Bassa, Osmin, ist, anders als der Bassa, ein Verfechter der kulturellen Identität, der seine Feindschaft gegen die Fremden pflegt. Aber er repräsentiert nicht den gesamten mus200

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limisches Gegenpart zu den Christen in der Oper. Seine, wie er meint, kulturell begründete Auffassung des Verhältnisses von Mann und Frau – „Ich dein Herr, du meine Sklavin“ – steht in Konkurrenz zu Bassa Selims Umgang mit der in seine Gewalt gelangten Konstanze.

Es geht in der Tat in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ um die Gewalt in der Beziehung der Geschlechter und um die Gewalt, die man Fremden antut. Letzteres betrifft nicht nur die türkische Seite, sondern auch den Dünkel, mit dem die Christen als die vermeintlich Emanzipierteren auf die türkischen Herrscher im Palast herabsehen und daraus die Legitimation ableiten, sie zu betrügen, um die Entführung ins Werk zu setzen. Mozarts „Entführung“ ist widersprüchlicher und abgründiger als sie erscheinen mag. * Ich war nach den Anstrengungen der Spielzeit 1996/97 im Urlaub in Irland, als mich Hans Neuenfels anrief: „Hoffentlich geht es dir gut. Ich meine nämlich Folgendes: Wir sollten die Haupt­rollen doppelt besetzen. Also mit den Sängerinnen und ­Sängern und dazu noch, gleichsam als deren Schatten, mit Schauspielern und Schauspielerinnen. Eine Sprechrolle für einen ­Schauspieler, die des Bassa Selim, ist ja sowieso im Singspiel drin. Jetzt brauchen wir fünf weitere Schauspielrollen. Mir ist klar, das kostet Geld.

Deshalb störe ich dich im Urlaub. Damit Du das jetzt schon weißt und verhandeln kannst.“ Ich rettete mich in Ironie: „Das ist ja sehr schön, lieber Hans, dass Du mir das in den Ferien sagst. Das beruhigt mich ungemein. Ich gehe jetzt in den Atlantik.“ Ich gebe zu, am Anfang war uns nicht recht klar, worauf Hans Neuenfels hinauswollte. Aber er hat seine zusätzlichen Schauspieler:innen bekommen. Die sprachen die Texte zwischen den Arien und Ensembles der Sänger:innen, Catherine Naglestad als Konstanze, Kate Ladner als Blonde und Matthias Klink als Belmonte, Heinz Göhrig als Pedrillo und Roland Bracht als Osmin.

Die Sänger:innen wurden gedoubelt von den Schauspieler:innen Emanuela von Frankenberg (Konstanze), Carola Freiwald (Blonde), Alexander Bogner (Belmonte), Alexander von Heidenreich (Pedrillo) und Andreas Grötzinger (Osmin). Die Sprechrolle des Bassa Selim 201

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übernahm Johannes Terne. Die Sänger:innen waren zu Beginn der Proben irritiert bis konsterniert: „Was bin ich denn, ein singender Automat?“, fragte Catherine Naglestad. Was ziemlich genau der Rezeption entspricht, die Mozarts Singspiel in der Regel erfährt, wenn man nur die Musik im Ohr hat und die Texte geflissentlich überhört.

Das eben ist die Krux des Singspiels, das eigentlich ein Schauspiel mit Musik ist, in dem aber die Musik die Texte dominiert. Die Texte stehen im Singspiel unter der Vorherrschaft der Musik. Dadurch gehen ihr Eigensinn, ihre Widerspenstigkeit und ihre ­Widersprüchlichkeit verloren. Hinzu kommt das Umschalten von Gesangsstimme in Sprechstimme, das kaum gelingt, und ferner, dass viele Sänger:innen Deutsch nur als Singstimme gelernt haben und bei den Sprechtexten verloren sind. Das alles sind Gründe dafür, dass man vor den Sprechtexten die Ohren verschließt und damit auf eine vertiefte, differenzierte Erfahrung des Singspiels verzichtet.

Neuenfels‘ Schauspieler:innen, die die Sänger:innen doubelten und mit ihren Rollendoubles und den anderen Charakteren interagierten, brachten die verlorenen, die überhörten Textpassagen in Mozarts Singspiel zurück. Text und Musik begegneten sich auf ­Augenhöhe, eines wurde zum wahrgenommenen Schatten des anderen. Im Abstand zwischen beiden aber kehrte wieder, was durch die Dominanz der Musik über den Text aus dem Singspiel vertrieben worden war: die Mehrdeutigkeit und Abgründigkeit der Handlung jenseits des schalen Genießens von Orientalismus und westlicher Suprematie. Hans Neuenfels’ Inszenierung „Die Entführung aus dem Serail“ wurde von den Krtikerinnen und Kritikern der Fachzeitschrift Opernwelt zur „Aufführung des Jahres“ gewählt. Mit Recht.

Ludwig van Beethoven: „Fidelio“, Spielzeit 1997/98 Heiner Müllers zuvor geschildertes Plädoyer fürs Ernstnehmen des Librettos anstelle von allen möglichen zeitgenössischen Adaptionen blieb der gesamten Dramaturgie in Erinnerung. Es leitete uns bei der Inszenierung, bei der Martin Kušej die Regie über202

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nahm und Michael Gielen dirigierte. Sich den Widersprüchen des Librettos auszusetzen und daraus Energie zu gewinnen, hieß, sich nicht allein auf Trompetensignal, Freiheitsjubel und hehre Gattenliebe im zweiten Akt zu konzentrieren, die in der Re­ zeptions­geschichte als Musik gewordene Emanation des klassischen deutschen Idealismus und Humanismus in luftige Höhen entschwebt sind. Sondern es hieß auch, den ersten Akt gleichwertig ins Auge zu fassen, d. h. zum einen die bereits angesprochene Mittäterschaft von Leonore in Gestalt des Fidelio im Unterdrückungs­apparat des Staatsgefängnisses, zum anderen die dem Singspiel entlehnte Verwechslungsgeschichte zwischen Marzelline und Leonore / Fidelio, die die Oper nicht nur gleichsam vom Kopf auf die Füße stellt, sondern auch zur Gegenwart hin öffnet. Im Folgenden paraphrasiere ich aus meinen Aufzeichnungen „Die ersten Szenen des ‚­Fidelio‘“, die ich für Michael Gielen und Martin Kušej für die Einstudierung der Oper verfasst habe.

Die Oper „Fidelio“ in der endgültigen Fassung von 1814 beginnt mit dem Duett zwischen Marzelline und Jaquino. Dieser bedrängt Marzelline, ihn endlich zu heiraten („Jetzt Schätzchen, jetzt sind wir allein“). Marzelline weiß sich ihm zu entziehen, auch weil das ständige Pochen am Tor des Gefängnisses die Unterhaltung stört. Beethoven hatte in der Fassung von 1805 und 1806 des „Fidelio“ das Duett an die zweite Stelle gerückt und das Stück mit der Arie Marzellines eröffnet. Erst dann schloss sich das Duett an. Diese ursprüngliche Reihenfolge, auf die wir in unserer Inszenierung wieder zurückkommen sollten, war programmatisch.

Die Oper setzt ein mit einer sängerischen Manifestation der Sehnsucht: „O wär ich schon mit dir vereint / Und dürfte Mann dich nennen! (…) Die Hoffnung schon erfüllt die Brust / Mit unaussprechlich süsser Lust, / Wie glücklich will ich werden!“ Marzellines Sehnsucht gilt Fidelio und damit dem falschen. Denn hinter ihm verbirgt sich die als Mann verkleidete Leonore, die die Täuschung nutzt, um ihren eingekerkerten Gatten Florestan zu befreien. Auch wenn Marzellines Ausdruck der reinen Sehnsucht also ihren Gegenstand verfehlt, ist damit ein Grundton der Oper 203

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gesetzt, der in dramaturgischen Lesarten, die auf die hehre Gattenliebe abheben, oft übersehen wird. „O wär ich schon mit dir vereint“ – mit dieser Zeile, als Eröffnung und nicht als Weiterführung des Duetts, weitet Marzelline den Raum auch für Leonore und ihrem „Ziel“ (Leonoren-Arie, Nr. 9), wenn diese auch selbst als Fidelio Objekt des Begehrens ist. Die „Hoffnungen“, von denen beide Arien sprechen, stehen sich gegenüber und sind doch verbunden durch die Liebe. Was noch an diesem Beginn fasziniert, ist der zögerliche Moll-Einstieg und – wesentlich – der gerade herausgesungene Ton der Sinnlichkeit – „… dann schleicht die holde Nacht heran“ sowie die auf dem g‘‘ über zwei Takte ausgehaltene „Lust“ in der Coda der Arie. Diese Sehnsucht wird dann durch das ganze Stück wehen, gekreuzt von allen Konflikten.

Marzelline ist die Tochter des Kerkermeisters Rocco. Sie und ihr ungeliebter Verlobter Jaquino, der Pförtner, leben auf dem Areal des Gefängnisses. Ist die Anwesenheit der Gefangenen und der Gefolterten Bedingung der Szenen des überschaubaren, naiven Daseins der Drei? Das wäre schrecklich, machte diese doch aus jenen mit ihrem offenen Begehren, geheimen Wünschen und kleinen Interessen Monster! Und doch? Marzellines Arie: „(…) und ist die Arbeit abgetan / Dann schleicht die holde Nacht heran (…)“. Die Musik dieser Szene ist nie verfremdend, ironisch oder gar diffamierend. Sie scheint geradezu affirmativ identisch mit der unausgesprochenen Sehnsucht. Die Musik ist aufrichtig, sie weiß nicht mehr. In der Marzellinen-Arie ist Zögern im Hoffen, ist Vorfreude der Lust, Vorstellung der Erfüllung eines Lebens! So blühen die Sehnsüchte gleichsam auf dem grauen Schimmel der Kerker.

Belässt man die ursprüngliche Reihenfolge mit jener eröffnenden Latenz – Hoffnung auf Vereinigung und Glück mit dem fast beschwörenden „(…) wie will ich glücklich werden (…)“, so tritt mit dem Duett von Marzelline und Jaquino das Drängende („heute noch“), Bedrängende, Manische, „(…) das ewige Pochen (…) immer wieder entwischt der Fang (…)“, Verfolgende, ­vergeblich Einklagende mit Jaquino als eine Art „Einbruch“ der 204

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Realität auf die Bühne, die aus der Latenz in das Manifeste der Anwesenheit des (falschen) Anderen und dessen Begehren rutscht. Aus der vermeintlich singspielhaften Genreszene spricht dann Beunruhigung, Abwehr und Verfolgung.

Wenn Marzelline zu Beginn des zweiten Auftritts für sich feststellt: „Ich war ihm (Jaquino) sonst recht gut, da kam Fidelio in unser Haus, und seit der Zeit ist alles in mir und um mich herum verändert“, so nimmt sie den realen Auftritt Fidelios (4. Auftritt) vorweg. Bisher schien diese Welt aus geheimen Sehnsüchten und offen ausgesprochenem Werben zusammengesetzt, eine Welt, die von außen – erwünscht, unerwünscht – gestört wurde.

Diese „Verstörung“ der Gefühle, von der auch Marzelline spricht, wird durch den Auftritt Fidelios konkret: Rocco benennt Fidelio sofort im Zusammenhang mit dem Gouverneur und erwartet ihn ungeduldig, und jetzt erst erfahren wir, dass das Gehäuse dieser Welt in direkter Abhängigkeit des Außens steht. Der Agent des Humanismus betritt die Szene. Zu diesem vielleicht zu zynischen Ausdruck soll angemerkt sein, dass er sich als Gegenbewegung zur gängigen Fidelio-Literatur versteht – einer Literatur, die, cum grano salis, die Befreierin Leonore (das „heldenhafte Weib“, Harry Goldschmidt) und deren „übermenschliche Prüfungen“ in ihre Perspektiven zwingt und, hilflos-oberflächlich ausweichend (Dahlhaus) oder gar „klassenspezifisch“-zynisch (Goldschmidt) argumentierend, das eigentliche Thema der Sehnsucht verspielt.

Der Sehnsucht gab die Inszenierung von Martin Kušej durchweg Raum. Gerade weil sie sie von Beginn an in den Horizont von Gefangenschaft und Auslieferung stellte. So singt Marzelline die Sehnsuchtsarie inmitten von Gefangenen in weißem Turnzeug, deren Tagesablauf beginnt und die in wechselnden Stellungen der Unterwerfung zu beobachten sind, während Marzelline und Jaquino streiten. Es ist tatsächlich eine zone of interest, ein enges Nebeneinander von Folter, Gewalt und Tod einerseits und kleinbürgerlichen Daseinsfreuden andererseits, wie sie in die Unterdrückungsräume unserer Gegenwart hineinreichen. Auf Grund der andauernden Realität solcher zones of interest verweigert die 205

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Inszenierung die als Realität lediglich behauptete Utopie des zweiten Akts. Als das Trompetensignal erklingt, das die Ankunft des Ministers und damit die Rettung für Florestan und das Ende Pizarros ankündigt, schneidet dieser in einem letzten Akt der Rache Florestan die Kehle durch. Danach wird die Bühne schwarz. Erst nach einiger Zeit sehen wir Sängerin und Sänger wieder auf der Szene. Aufgereiht wie in einem Oratorium tragen sie den Schluss der Oper, den Jubel über die Befreiung vor. So rettet die Inszenierung die Oper vor hohlem Pathos und versetzt sie in die Realität eines Alltag, in dem die Eingeschlossenen und ihre Aufseher in der Sehnsucht nach einem anderen Leben vereint sind, auch wenn sie sich über dessen Gestalt unterscheiden.

Arnold Schönberg: „Moses und Aron“, Spielzeit 2002/2003 1898, ein Jahr nach dem Pogrom in der Leopoldstadt Wiens, konvertierte Arnold Schönberg zum Protestantismus, um antisemitischen Anfeindungen zu entkommen. Es war ein vergebliches Unterfangen. Die öffentlichen und militanten antisemitischen ­Exzesse im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg, die auch vor Mord nicht zurückschreckten und die Schönberg auch persönlich trafen, zwangen ihn, sich erneut mit seinem Jüdischsein und dem Judentum auseinanderzusetzen. Das erratische Monument dieser Neubefassung ist die Oper „Moses und Aron“, entstanden in den Jahren 1928 bis 1932. Das Libretto hat Schönberg selbst verfasst, im freien Umgang mit dem zweiten Buch Mose des Alten Testaments. Es setzt ein mit der Berufung des Moses am brennenden Dornbusch. Moses soll dem Volk Israel in der Gefangenschaft der Ägypter den „einzigen, ewigen, allgegenwärtigen, unsichtbaren und unvorstellbaren“ Gott verkünden und es, so es diesen Gott angenommen hat, aus der Knechtschaft in Ägypten führen. Hört man die erste Szene der Oper, die Berufung Moses, glaubt man, in dem Sträuben Moses gegen die Berufung – er sei alt, seine Zunge ungelenk und er wolle lieber in Ruhe seine Schafe hüten – das Sträuben Schönbergs zu vernehmen, sich nun, da ihn die anderen als Juden abgestempelt haben, als solcher zum Judentum 206

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zu bekennen und seinen Geist zu verkünden. Solche persönlichen Motive mögen in das Werk eingeflossen sein. Sie berühren aber nicht Aufriss, Struktur und Essenz der Oper, die abstrakt gesprochen Grundfragen des Verhältnisses von Wahrheit zu deren Vermittlung aufwerfen, von dem Hiatus von Sinn und Sinnlichkeit, der abstrakten Erkenntnis des Einzelnen und der konkretkörperlichen Erfahrung und Artikulation der Massen.

Weil Moses zwar die Einzigartigkeit des undarstellbaren Gotts erkennt, aber das Wort nicht findet, das ihn dem Volk begreiflich, d. h. vorstellbar machen kann, hat Gott ihm als Unterstützung seinen Bruder Aron beigegeben. Dieser, ein gewandter Redner, überzeugt das Volk zunächst durch allerlei Gottes-Wunder, die er mit dem Stab Moses anstellt. Die Israeliten sind daraufhin bereit, diesem Gott und dem von ihm berufenen Moses aus der Knechtschaft in Ägypten hinaus in die Wüste zu folgen. Als aber Moses 30 Tage auf dem Berg Horeb verweilt, um dort von Gott die Gesetzestafeln zu erhalten, murrt das Volk und ist nicht länger zu besänftigen. Aron will ihnen ein sinnliches Zeichen der Anwesenheit Gottes geben und lässt dafür ein goldenes Kalb bauen. Alsbald gerät das Volk in einen ekstatischen Taumel und tanzt um das Goldene Kalb. Als Moses vom Berg zurückkehrt, zerbricht er die Gesetzestafeln und gerät mit Aron über dessen Tun in Streit. Zwei Wege des Umgangs mit der Wahrheit scheinen sich in Moses und Aron gegenüberzustehen: das Beharren auf der abstrakten Erkenntnis, auch wenn sie keine Anhänger findet – Moses: „Ich liebe meine Gedanken“ – und die Priorisierung der Vermittlung, die neudeutsch gesprochen auf eine möglichst große Reichweite und möglichst viele Follower im Volk abhebt – Aron: „Ich liebe dieses Volk“ –, mag unter dieser Vermittlung auch die Wahrheit längst nicht mehr zu erkennen sein.

Moses, der Stotterer, für den Schönberg eine besondere Art des Sprechgesangs geschrieben hat und Aron, der geschmeidige ­Tenor, sind auf den ersten Blick entgegengesetzte Typen im Kampf um die Wahrheit. Sie sind aber auch komplementäre Figuren, denn die Vermittlung ist der Wahrheit inhärent. Keine Wahrheit ohne 207

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Vermittlung. Mit diesem aporetischen Verhältnis von Wahrheit und Vermittlung – Antipoden und Komplemente – endet der zweite Akt der Oper. Es sollte ihr letzter bleiben. Schönberg hat den dritten Akt zwar skizziert, aber nicht mehr komponiert. Er selbst macht dafür die fehlende Zeit verantwortlich. Überzeugender ist die Annahme, dass die aporetische Anlage keine andere Möglichkeit zuließ, als die Frage Moses oder Aron/Moses und Aron offenzulassen. Übersehen wird bei der Fokussierung auf die beiden Titelfiguren gern, dass es noch einen dritten Protagonisten gibt, der ihnen an Bedeutung mindestens gleichkommt: das Volk. Ihm kommt in „Moses und Aron“ die gewichtigste Rolle zu und das heißt: dem Chor, der sie singen und spielen muss. Die Anforderung, die „Moses und Aron“ an den Chor stellt, ist extrem. Es ist eine der schwierigsten Chorpartien, die ich kenne. Schon in meiner Frankfurter Zeit wollten Michael Gielen und ich „Moses und Aron“ aufführen. Ich habe Michael seinerzeit gefragt: „Traust du dem Chor das zu?“ Er schüttelte nur den Kopf. Nun hatten wir in Stuttgart einen Opernchor, der sängerisch wie spielerisch zu den besten der Welt gehört. Also konnten wir „Moses und Aron“ in Angriff nehmen.

Die Inszenierung verantwortete das Regie-Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito samt der Bühne von Anna Viebrock, die auch die Kostüme besorgte. Moses wurde gesprochen/gesungen von Wolfgang Schöne, und Aron von Chris Merritt. Die Premiere fand am 6. Juli 2003 statt. Am 20. März hatten die USA und Großbritannien mit Bombardements auf Bagdad den zweiten Irakkrieg eröffnet. Die Bereitschaft zum Krieg musste in der Bevölkerung und gegenüber der UN erst geweckt werden – mit gefälschten Bildern von angeblichen Massenvernichtungswaffen, die Saddam Hussein in nächster Zukunft einsetzen würde, weshalb ein Präventivschlag gerechtfertigt sei. Die Wahrheit über Saddam Hussein – er ist ein schlimmer Gewaltherrscher – hatte sich über die Vermittlung – wir zeigen Euch die Orte, an denen er Massenvernichtungswaffen herstellt – in eine Lüge verwandelt, die die Bevölkerung in den Ländern des Westens von der Notwendigkeit eines Präventivkriegs überzeugen sollte.

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Ich weiß nicht, ob die zeitgeschichtlichen Abläufe, die die Arbeit an „Moses und Aron“ begleiteten, für das Regieteam eine besondere Rolle spielten. Die Inszenierung von Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock jedenfalls verzichtete auf jede aktuelle politische Anspielung. Dennoch ist es ihnen exemplarisch gelungen, den Zeitkern der Oper in der Gegenwart zu treffen. Die Stuttgarter Inszenierung von „Moses und Aron“ entfaltet den gegenwärtigen säkularen Gehalt eines Werks, das in seiner Entstehungszeit allein als ideendramatische Erörterung eines religiösen Problems angesehen wurde. Und diese Entfaltung des säkularen Zeitkerns von „Moses und Aron“ geschieht, ohne dem Werk Schaden zuzufügen.

Wir blicken in eine Art Plenarsaal eines Parlaments, dem Ort also, wo die gewählten Vertreter des Volks idealtypisch diskursiv den geeigneten Weg der Zukunft des Landes und seiner Bevölkerung erörtern und am Ende entscheiden. Der Plenarsaal trägt die Spuren der Vergangenheit. Er wird nicht mehr gebraucht in einer Zeit, in der es um die direkte populistische Lenkung der Massen geht. Dabei geht es nicht um das richtige, das wahre Wort, sondern um die massenmediale Entzündung der Leidenschaften. Das goldene Kalb ist auf der Bühne von Anna Viebrock nicht zu sehen.

Aron zeigt stattdessen einen Film. Einen Film, von dem man im Zuschauerraum nichts sieht. Was sich dem Publikum dagegen aufdrängt, sind nur die Reaktionen der Zuschauenden auf der Bühne, die den Film sehen: An diesen Reaktionen „ließ sich ablesen“, so Stephan Hoffmann, der Kritiker der Zeitung Die Welt, „von welchem Kaliber dieser Film ist: Zuerst großes Erstaunen mit vielen Ahs und Ohs, schließlich endet die Vorstellung von Film-Vorführer Aron in allgemeinem Kleiderschmeißen mit Massenkopulation“.

Ekstase ohne Grund, erzeugt durch jeden beliebigen medialen Anlass. Wahr ist, was in diesem Außersichsein der Massen erscheint bzw. für eine Erscheinung gehalten wird. Das ist die gegenwärtige Gestalt der Vermittlung von Wahrheit und Volk. Jossi Wieler, ­Sergio Morabito und Anna Viebrock haben in „Moses und Aron“ das Gesetz des Populismus entdeckt, noch bevor dieser in den nächsten Jahrzehnten unheilvolle Karriere machen sollte.

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Möglich wurde das durch die Chöre, die in „Moses und Aron“ mitwirkten: neben dem Chor der Staatsoper Stuttgart und deren Kinderchor auch noch der Polnische Rundfunkchor Krakau. Über sie und das Dirigat von Lothar Zagrosek schrieb der Kritiker des Online Musik Magazins Christoph Wurzel: „Sensationell sind die Chöre, derjenige aus Krakau ist als Gast und Verstärkung dem hervorragenden eigenen der Stuttgarter Staatsoper ebenbürtig. Die Choristen sind akribisch in Individuen verwandelt, spielen jede und jeder eine Person in der Masse, die aber dennoch als Kollektiv zum Protagonisten wird: fordernd und verführbar zugleich. Ein Darstellerchor von beeindruckender ­Präsenz. Im Orchestergraben formt Lothar Zagrosek Schönbergs Musik wenn nötig zu kammermusikalisch höchster Klarheit bei großer Transparenz der Stimmen mit farbenreichem Klang oder mit großer Vehemenz zu Ausbrüchen von starker Expressivität. Von den ersten Takten bis zum Schlusstakt, dem an- und abschwellenden unisonen Geigenton auf den Noten f und fis zu Moses Worten ‚… du Wort, das mir fehlt.‘ bleibt eine musikalische Hochspannung erhalten, wie sie selten erlebt wird. Die Ovationen für das ganze Produktionsteam hielten bei der Premiere lange an.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Hans Zender: „Don Quijote de la Mancha“, Spielzeit 1993/94 In Frankfurt hatten wir 1986 Hans Zenders erste Oper „Stephen Climax“ in einer Inszenierung von Alfred Kirchner, dirigiert von Peter Hirsch, uraufgeführt. Das Libretto, von Zender nach Episoden von James Joyce und Hugo Ball selbst verfasst, stellt zwei scharf gegeneinander abgegrenzte Lebensformen nebeneinander, die ansonsten nicht miteinander in Kontakt kommen: Der heilige Symeon, der im 5. Jahrhundert n. Chr. 37 Jahre auf einer Säule gestanden hat – auf ihn geht wohl die Bezeichnung des „Säulenheiligen“ zurück – sieht sich gespiegelt in der Nachbarschaft der Freier und Huren aus dem Bordellkapitel des „Ulysses“ von James Joyce. ­Extreme Figuren wie der heilige Symeon und ihr Verhältnis zur Welt haben es Hans Zender angetan. Das zeigt sich auch an seiner 210

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zweiten Oper „Don Quijote de la Mancha“, die bereits in unserer dritten Spielzeit, am 3. Oktober 1993, ihre Uraufführung feierte.

Don Quijote ist die Welt seiner Zeit ebenso fremd wie dem heiligen Symeon die Bordellszenen des „Ulysses“. Deshalb gilt er in den Augen der anderen als verrückt. Don Quijote ist ein Verrückter, der die Zeichen der Zeit, die die Welt neu ordnen – Feuerwaffen, Kapitalkraft und Technokratie – nicht verstehen will, der, indem er die ritterlichen Tugenden und Taten aus seinen Büchern bedingungslos imitiert, mit der Wirklichkeit ein komisches, wahnbesetztes Spiel beginnt, in dessen Verlauf Verbindlichkeiten von Logik und Kontinuität brüchig werden. Da „der Ritter von der traurigen Gestalt“ konsequent auf seinem Traum besteht, immer wieder Abenteuer sucht, wird die Hoffnung der Vernunft, die sie einzig aus dem Befund des Soseins der Dinge schöpft, eigenartig fahl, verheißungslos. Dieser Traum, der die Realitäten verarbeitet, gehorcht nicht ihrer Struktur, er trennt, was zusammengehört, verdichtet, verschiebt, verrückt. Der Verrückte, der Irre, befindet sich so mit dem Künstler am Rande eines Wissens – mit jenem Blick auf die Dinge, der ihren Zusammenhang gefährdet.

Das Theater, das Hans Zenders „Don Quijote de la Mancha“ vorstellt, zielt nicht auf die theatralische Totalität eines Gesamtkunstwerks, das Musik, Sprache, Körper, Bild und Geste zu einer imaginären Einheit verschmilzt. Die Idee einer Verschmelzung der Künste, gegen die sich schon Brecht gewandt hat, ist totalitär.

Sie ist das Pendant zum „Gesamtkunstwerk“ der totalitären Staaten.

Beide, das künstlerische wie das politische Gesamtkunstwerk wollen überwältigen. Zenders „Don Quijote“ strebt die Befreiung von der Überwältigung durch Verschmelzung an. Sprache, Aktion, Gesang, Bild und Instrumentalklang, die Parameter des Musiktheaters, differenzieren sich in immer wechselnden Kombinationen durch die 31 Abenteuer, die Don Quijote und seinem Gefährten widerfahren. Jedes dieser 31 Stücke vermittelt so andere Erfahrung, eröffnet einen neuen, spezifischen Hör- und Klangraum, gibt andere Perspektiven frei. Im Kaleidoskop von „Don Quijote de la Mancha“ zerbricht die scheinhafte Totalität der Welt.

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Axel Manthey hat Regie geführt und auch das Bühnenbild und die Kostüme entworfen. Er sah das Textbuch von Hans Zender vor sich, in dem in sechs Spalten die Gesten und Bewegungen der Agierenden ebenso festgehalten waren wie Lichtstimmungen, das Hinken des Wirts oder der Aufgang des Monds. Lebende Bilder eingefroren, aber mit Gesang, wechseln sich ab mit stummen Aktionen, Szenen mit Instrumentalbegleitung oder Sprache, die bei leerer Bühne über Lautsprecher kommt. Axel Manthey hatte für jede Szene ein eigenes Bühnenbild entworfen. Zwischenvorhänge, hereingeschobene Stellwände und Prospekte gestatteten die blitzschnelle Verwandlung der Szene. Der Kritiker für Die Zeit Eckhard Roelcke fand für seine Besprechung den schönen Titel „Mit Augen hören, mit Ohren schauen“ und liefert die Erklärung dafür nach: „Jede Szene ist eine Herausforderung für den Zuschauer, auch mit den Augen zu hören: Bewegungen als Rhythmen zu erkennen oder als kontrapunktische Geflechte. Und umgekehrt: mit den Ohren zu sehen – die gestopften Blech-Fanfaren als gestelzte Ritterlichkeit; die Glissandi der Pauken als burleske Purzelbäume; die konsonanten, jedoch deformierten Intervalle als leicht verrückte Traurigkeit.“ Hans Zenders Oper „Don Quijote de la Mancha“ lud zum Hör-Sehen ein. Ihre Aufführung war einer der unerhörten Augenblicke, die wir in Stuttgart erleben durften.

Helmut Lachenmann: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, Spielzeit 2001/2002 Helmut Lachenmanns Beschäftigung mit Hans Christian Andersens Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ reichte bis in das Jahr 1975 zurück. Anlässlich der Uraufführung seines Stückes „Schwankungen am Rand“ für die Donaueschinger Musiktage formulierte er in einem Interview mit Tobias Rempe den programmatischen Satz: „Ich hasse – nicht nur in der Kunst – den Messias und den Hanswurst. Der eine ist das Zerrbild des Anderen. Dafür liebe ich Don Quichotte und ich glaube an das Mädchen mit den Schwefelhölzern.“ Was aber stärkte Helmut Lachenmanns Glauben an Andersens Märchen, dass er diesem Stoff mehr als zwanzig Jahre lang die 212

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Treue hielt, bis seine „Musik mit Bildern“, „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, 1997 in Hamburg zur Uraufführung gelangte?

Das Märchen erzählt die Geschichte von einem bitterarmen Mädchen, das in der Silvesternacht auf der Straße Streichhölzer verkaufen soll und mit nackten Füßen – die viel zu großen Pantoffeln der Mutter sind ihr beim Überqueren der Straße abhandengekommen –, frierend an eine Hauswand gedrückt, die Schwefelhölzer eines nach dem anderen anzündet, um sich ein kleines bisschen zu wärmen. In jedem brennenden Streichholz erscheinen ihr die Verheißungen, die mit einem festlichen Silvesterabend einhergehen: ein wärmender Kachelofen, ein köstliches Mahl und ein strahlender Weihnachtsbaum. Aber eben nur, solange die Flamme brennt. Als es das nächste Holz anzündet, erscheint dem kleinen Mädchen die verstorbene Großmutter. Rasch zündet es alle übrigen an, um die Erscheinung festzuhalten und die Großmutter zu bitten, sie mitzunehmen. Am andern Morgen findet man das kleine Mädchen erfroren an der Hauswand in einem Winkel.

Das ist eine ebenso aufwühlende wie sentimentale Geschichte. Der kritische Impuls, die Vorstellung von Armut in einem zugespitzten singulären Schicksal und die implizite Anklage durch den Kontrast mit den imaginierten bürgerlichen Genüssen, wird in Balance gehalten durch den letztendlichen Trost durch die illusionäre Imagination. Nicht leicht also für den Komponisten, damit umzugehen, den Tücken des Stoffs auszuweichen. Ich habe Helmut Lachenmann bei dieser Arbeit begleitet. Nach Gesprächen in Frankfurt und einer von mir versuchten schriftlichen Analyse, besser: Überschreibung von Andersens Märchen, schrieb mir im Sommer 1989 Helmut Lachenmann – acht Jahre vor der Uraufführung an der Staatsoper Hamburg – in einem Brief: „Du versuchst, der Mädchen-Geschichte den Sinn zu ent­ locken, der ihre Musikalisierung (Veroperung??) rechtfertigt, hast auch, wie immer mehr nun auch ich, die gefährlichen, begrenzenden Biederkeiten im Sujet und seiner Strukturierung erkannt.

Ich weiß nicht, ob beziehungsweise wie weit ich als Musiker mich um den Symbolgehalt, um alle Ausdeutbarkeiten und vor213

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handenen oder zu konstruierenden Bezüge kümmern kann, muss, darf. Ich tu das schon, aber eher als philosophierender Dilettant. Und so wie der Besoffene die verlorene Uhr nachts dort sucht, wo die Straßenlaterne steht, tendiert meine Interpretation dorthin, wo meine kunstphilosophischen Spekulationen sich mit musikalischen Materialtendenzen verkörpern lassen. Das ist meine Form der Vergewaltigung, mit der Gefahr, dass am Ende nicht nur das Mädchen in Folge abhanden gekommener Pantoffeln an den Füßen abstirbt, sondern auch – das Märchen.

Aber nur indem wir dem Märchen selbst die Pantoffeln nehmen, können wir diese musikalisierte, musiktheaterisierte Neubegegnung versuchen, meine ich. (…) Das Gespräch mit Dir hat sich bisher weithin um das rechte (?) oder aktuelle Verständnis des Märchens gedreht. (…) Für mich ist die Frage, was mache ich mit dem Ding? Wie viel muss ich – sozusagen in ‚D e i n e m‘ Sinne wissen, bevor ich als Komponist die Gegend abstecke. Wie kann ich schon anfangen, ohne zu ‚wissen‘, so dass ich dennoch nichts blockiere.

Wieweit kannst Du mir beim Abstecken helfen, beziehungsweise solltest Du mir vorsorglich in den Arm fallen, wo ich auf die Tücken in der Löwenhöhle reinfalle?“ * Der ausführliche Ausschnitt aus Lachenmanns Brief an mich zeugt von den Anstrengungen, die Komponist und Dramaturg auf sich nehmen, um sich einander verständlich zu machen. Sie tun das, weil sie überzeugt sind, dass es sich für die Sache lohnt. In der Sache sind drei Themen für mich bemerkenswert. Erstens: Lachenmann ist überzeugt, dass es der Gefahr einer Sentimentalisierung des Sujets, er spricht von „Biederkeiten“, zu begegnen gilt. Das meint er mit der Formulierung, dass es darauf ankomme, dem Märchen die Pantoffeln auszuziehen und ihm, im übertragenen Sinn, Gewalt anzutun. Die Härte, Kälte und Nacktheit der Situation, der das Mädchen ausgesetzt ist und die in Andersens Märchen unter dem Zuckerguss des Sentimentalen aufscheint, soll wiederhergestellt werden. Das soll, zweitens, nicht durch den Weg einer kompositorischen Illustrierung der Handlung geschehen, 214

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sondern durch „musikalische Materialtendenzen“, d. h. durch eine völlig neue Auffassung von Klängen. Und drittens bittet Lachenmann um Unterstützung angesichts der „Tücken der Löwen­ höhle“. Damit meint er die Institution Oper, die Opernhäuser, die ja Boulez schon 1973 in die Luft sprengen wollte. Diese Bemerkung nahm ich, in Kenntnis der immer wieder behaupteten vermeintlichen Notwendigkeit der Opern­häuser, die Komponist:innen auf die Belange der Institution einzuschwören, sehr ernst.

Die Ereignisse um unsere Stuttgarter Produktion von „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ herum sollten zeigen, wie recht ich damit hatte.

Aber der Reihe nach: Um die ganze Härte der Lage, in die das Mädchen gestellt ist, in ihrer gesellschaftlichen und philosophischen Dimension erfahrbar zu machen, hat Lachenmann weitere Texte in das Libretto aufgenommen: einen Brief der Pfarrerstochter und RAF-Terroristin Gudrun Ensslin aus dem Gefängnis von 1968 über das Verrecken und die Opfer des Systems, Kriminelle, Wahnsinnige, Selbstmörder. Ein zweiter eingefügter Text stammt von Leonardo da Vinci: „Zwei Gefühle“. Er beschreibt das Hin- und Hergerissensein eines Wanderers angesichts einer Höhle: Seine Furcht vor der Dunkelheit und seine Neugier, zu erforschen, was es mit der Höhle auf sich hat. Die Ergänzung dieser beiden Texte waren die von außen kommenden Einsätze zu einer Auskältung der Geschichte. Zentral waren aber die neuen, nicht illustrativen musiktheatralen Mittel Lachenmanns.

Lachenmann, der Schüler Luigi Nonos, hatte in der Vergangenheit bittere Erfahrungen gemacht. Seine Musik wurde von Seiten der meisten Orchester und vieler Dirigenten für unausführbar erklärt, weil das traditionelle Verständnis ihres Musizierens in Zweifel gezogen schien, sie sich außerstande erklärten, sein musikalisches Denken in der Praxis zu begreifen. Die etablierten Rezeptionsweisen, ein Hören im Nachvollzug von Kadenzen, Perioden und Sätzen, war in Lachenmanns Kompositionen ausgesetzt, vertraute Hörgewohnheiten radikal verletzt. Anstelle der Auffassung von „Klang als Resultat und Ausdruck abstrakter Ordnungs215

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vorstellungen“, so Lachenmann, sollte jede musikalische „Ordnung möglichst konkret, unmittelbarer Klangrealistik dienen.“ Musique Concrète Instrumentale benannte Lachenmann seine Instrumentalkonkreten Klangkompositionen. In „Pression für einen Cellisten“ schreibt er dazu: „Gemeint ist damit eine Musik, in welcher die Schallereignisse so gewählt und organisiert sind, dass man die Art ihrer Ents­tehung nicht weniger ins musikalische Erlebnis einbezieht als die resultierenden akustischen Eigenschaften selbst. Klangfarbe, Lautstärke […] kennzeichnen, bzw. signalisieren die konkrete Situation. Man hört […] mit welchen Energien und gegen welche Widerstände ein Klang, bzw. ein Geräusch entsteht. Ein solcher Aspekt […] muss durch eine Kompositionstechnik erst freigelegt und unterstützt werden, zugleich wird so den üblichen, eingeschliffenen Hörgewohnheiten […] der Weg verstellt. Das Ganze wird zur ästhetischen Provokation: Schönheit als verweigerte Gewohnheit.“ * In „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ werden Zustände wie Kälte, Eis und Schnee nicht musikalisch repräsentiert, sie sind musikalisch materialisiert. Sie sind nicht Repräsentanten von Gefühlen, sondern sind allesamt präsent in den Klanggeräuschen der Instrumente, z. B. mit dem Holz des Bogens auf den Saiten, gegeneinander geriebenen Styroporplatten oder Metallschalen.

Das Zittern, das Bibbern, Japsen und Händereiben sind unmittelbar „da“ im Klang/Geräusch/Zustand. Hervorgebracht werden sie von zwei Sopranen, einem unglaublich großen und in sich ausdifferenzierten Orchester, einem 16-stimmigen Chor, von zwei Klavieren und der japanischen Mundorgel Sho¯ sowie Einspielbändern. Und damit sind wir bei der „Höhle der Löwen“, d. h. bei den Herausforderungen, die ein solches Werk für eine Aufführung in einem Opernhaus darstellt.

Es war geplant, dass wir „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in einer Ko-Produktion mit den Salzburger Festspielen zur Aufführung bringen. Die Salzburger Festspiele sollten damit eröffnet werden. Dann sollte Stuttgart im Herbst übernehmen. Ziemlich 216

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Helmut Lachenmann. Foto: A.T. Schaefer

kurzfristig stellte sich heraus, dass Salzburg nicht die Eröffnung mit „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wünschte. In dem Absagebrief wurde „aus politischen und finanziellen Gründen“ der Rück­zug der Festivalleitung aus diesem Projekt begründet. Man kann nur vermuten, dass dies mit dem Einstieg von Jörg Haider und den „Freiheitlichen“ (FPÖ) in die Regierung zusammenhing. Einen Brief von Gudrun Ensslin glaubte man wohl dem Salzburger Festivalpublikum nicht zumuten zu können. Wir klagten dagegen. Auch in der zweiten Instanz wurde die Absage als nicht rechtmäßig beurteilt.

Salzburg musste 400.000 Euro Konventionalstrafe zahlen. Wir mussten umdisponieren. Die Endproben, die in Salzburg stattfinden sollten, mussten wir nun zu Hause durchführen. Für die geplante Zeit der Abwesenheit unseres Stuttgarter Orchesters während der Proben in Salzburg hatten wir einen Vertrag mit den Stuttgarter Philharmonikern, einem sehr guten Orchester, geschlossen, die die Aufführungen des Ballettrepertoires in Stuttgart begleiten sollten. Nun waren wir wieder in Stuttgart und brauchten die Philharmoniker nicht mehr. Glücklicherweise hatten die inzwischen auch ein Folge­ engagement gefunden und haben uns aus dem Vertrag entlassen.

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Dank sei ihnen! Glück hatten wir auch, dass ein zweiter Kooperationsvertrag mit dem Festival d’Automne und der Opéra National de Paris Bestand hatte. So dass schließlich am 17. September 2001 „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ im Palais Garnier die Saison in Paris eröffnete und am 12. Oktober die Premiere in Stuttgart stattfand. Der Intendant der Opéra de Paris Hugues R. Gall hat sich großartig verhalten. Er hat uns ausreichend Zeit für die Einrichtung eingeräumt und war auch sehr unterstützend bei der Übertragung von der Stuttgarter Bühne auf die Bühne der Opéra Garnier. In Stuttgart hatten wir zuvor das Haus eine ­ganze Woche lang geschlossen, haben eine Woche lang nur ­Lachenmann geprobt. Das war eine absolut glückliche Zeit. In dieser Zeit war die volle Konzentration, die ganze Kraft des Orchesters, des Chors, der Technik, ja des ganzen Hauses allein der Arbeit am „Mädchen“ gewidmet.

Dazu muss man bedenken, dass es anfangs ein sehr großes Befremden sowohl auf Seiten des Orchesters als auch auf Seiten des Chores gegenüber der Partitur gab. Ich habe schon erzählt, wie die Distanziertheit der Musiker:innen gegenüber den KlangGeräusch-Hervorbringungen von Lachenmann allmählich einer Neugier und offenem Engagement gewichen ist – bis dahin, dass Chor und Orchester in einer besonderen Veranstaltung dem ­Publikum ihre Arbeitsweise vorgestellt haben. Wir haben für die Aufführung ungefähr 100 Proben, von Einzelproben bis zu Gesamtproben angesetzt. Zum Teil auch mit Lachenmann selbst und seinem Freund Professor Hermann. Dazu kam, dass unser Generalmusikdirektor Lothar Zagrosek die Uraufführung in Hamburg 1997 dirigiert hatte. „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wurde bei einer hohen Auslastung insgesamt zwanzig Mal aufgeführt. Mit der Wiederaufnahme im folgenden Jahr haben wir die Spielzeit eröffnet und das Stück sechsmal hintereinander gespielt. Einige, auch in der Direktion, hatten mich für verrückt erklärt. Für mich war klar, dass wir nur mit den konzentrierten Wiederaufnahmeproben vor der Spielzeiteröffnung und der raschen Folge von Aufführungen das künstlerische Niveau würden halten können.

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Peter Mussbach hat Regie geführt und auch die Bühne aus­ gestattet. Keine leichte Aufgabe für ihn, ging es doch darum, jede bildhafte Verdoppelung der Klang-Geräusch-Landschaften von ­Lachenmann zu vermeiden und der durch sie ausgelösten Phantasie einen Raum anzubieten. Mussbach hat mit starken Farbkontrasten gearbeitet. Im ersten Teil ein hartes Schwarz und Weiß, im zweiten Teil, entsprechend der zentralen Rolle der Kälte und den aufflammenden Streichhölzern, ein abstraktes Blau und Gelb. Im ersten Teil, in dem das Mädchen durch die Straßen irrt, öffnen sich im schwarzen Hintergrund abwechselnd Bildausschnitte; der zweite Teil wird durch eine (Haus)Wand und eine Schräge dominiert.

Die Aufführung war eine ungeheure Anstrengung des ganzen Hauses. Sie wurde zu einem einzigartigen Erfolg beim Publikum und von der Kritik einhellig gefeiert. Eine Besprechung der Aufführung von Christoph Wurzel schloss mit den lapidaren Worten: „Dies ist ein Theaterereignis von geschichtlicher Bedeutung.

Man sollte dabei gewesen sein.“ Der Stuttgarter „Ring“, Spielzeit 1998/99 und 1999/2000 Lange schon, seit Wieland Wagners Inszenierung aus den 1960er Jahren, hatte Stuttgart auf eine Aufführung von „Der Ring des Nibelungen“ verzichten müssen. Als ich nach Stuttgart kam, wurde ich daher gleich gefragt, ob und wann wir denn einen neuen „Ring“ in Angriff nehmen würden. Da der Frankfurter „Ring“ von Michael Gielen, Ruth Berghaus, Axel Manthey und mir Beifall und Begeisterung ausgelöst hatte, verband sich mit der Frage nach einem baldigen Stuttgarter „Ring“ auch die Neugier, wie ein solcher wohl im Unterschied zu Frankfurt ausfallen würde.

Mir war unwohl angesichts dieser Erwartungen, mehr noch aber wegen der Erinnerungen an die Produktion des „Ring“ in Frankfurt. Trotz des riesigen Erfolgs dieser Arbeit hatte sie mich, ich hatte es bereits erwähnt, nach „Rheingold“ an den Rand der Erschöpfung gebracht. Damit einher ging eine intellektuelle Krise, die grundsätzliche Zweifel an der bisherigen, auf den systematischen Zusammenhang aller vier Teile des „Ring“ aufbauenden 219

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Aufführungspraxis des „Ring“ aufwarf. Warum sollten wir, wenn wir an „Rheingold“ arbeiteten, bereits die „Götterdämmerung“ inszenatorisch im Blick haben? Das Problem für den einzelnen Regisseur oder die Regisseurin ist doch, dass sie für eine Insze­ nierung des integralen „Ring“ bildnerische, szenische und gestische Verweissysteme etablieren müssen. Ihre Hauptaufgabe liegt dann darin, zwischen sich, den Zuschauer:innen und den einzelnen Momenten der Partitur ein Netz von Zeichen zu spannen, von dem aus alle Ereignisse des „Ring“ verortet, eingeordnet und ­perspektiviert werden können.

Für mich stellte sich die Frage, ob diese Schaffung eines statischen Weltmodells, welches sich von den einzelnen Stücken, Akten und Szenen abhebt und diese dominiert, dem konkreten szenisch-musikalischen Prozess und seiner Eigendynamik überhaupt gerecht werden kann. Boulez wies auf die Entfaltung der Leitmotive im gesamten „Ring“ hin. Handelt es sich bei diesem Vorgehen nicht um eine höchst problematische Abstraktion, durch welche die Erfahrung des je singulären Augenblicks zugunsten der Etablierung eines homogenen Schau- und DenkRaums verdrängt wird?

Diese Überlegungen habe ich mit Juliane Votteler, Sergio Morabito von der Dramaturgie und Lothar Zagrosek, unserem Generalmusikdirektor, geteilt, als wir dem Vorhaben, einen „Stuttgarter Ring“ ins Auge zu fassen, nähergetreten sind. Ich konnte mir nicht vorstellen, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert noch einmal eine auf Totalität zielende szenische Erzählung zur Vorstellung zu bringen, wie sie für das Kausalitäts- und Entwicklungsdenken des 19. Jahrhunderts charakteristisch war.

Kurz bevor wir an dem ganzen Vorhaben verzweifelten, kam der Gedanke auf, den Stuttgarter „Ring“, den wir schmieden wollten, auf vier Regieteams aufzuteilen. Das war ein zu der Zeit unerhörter Gedanke, der nicht nur gegen eine mehr als hundertjährige Aufführungstradition, sondern auf den ersten Blick auch gegen die Intention des Meisters verstieß. 1976 wurde in Paris der Versuch unternommen, den „Ring“ durch zwei Regisseure, 220

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Peter Stein und Klaus Michael Grüber, zu inszenieren. Das Projekt wurde nach der „Walküre“ abgebrochen. Als ich Peter Stein nach dem Grund fragte, wurde deutlich, dass die musikalische Leitung schon mit der „Rheingold“-Inszenierung nicht einverstanden war. Georg Solti kam nur zu den Endproben und forderte das gesamte Ensemble auf, nach vorne zu kommen und mehr oder weniger an der Rampe zu agieren. Das Sängerensemble folgte ihm. Stein war empört und merkte an, er könne nicht mit singenden Bankkonten arbeiten.

Wagner hatte, wie am Beispiel der Senta-Ballade aus dem „Fliegenden Holländer“ bereits beschrieben, im Nachgang seiner Werke suggeriert, alles aus einer organisch sich entfaltenden (kompositorischen) Idee geschaffen zu haben, und so die Phantasmagorie von Kunst, Leben und Welt konstituiert. Ganz in diesem Sinn träumt der erwachende Wotan in der zweiten Szene von „Rheingold“ angesichts Walhalls noch fort: „Vollendet das ewige Werk (…) Stark und schön / steht er zur Schau; / hehrer, herrlicher Bau!“ Dieses zinnenbewehrte „Ewige“ steht aber im gesamten „Ring“ nicht als Werk zur Schau, wie der Träumende noch will: Das Werk wird nicht zu halten sein, wie es das letzte Stück der Tetralogie dann endgültig zeigt. Schrieb Wagner am Anfang der Arbeit an dem „Ring“ davon, dass nach einer Gesamtaufführung „die einzelnen Dramen, die an sich ganz selbstständige Stücke bilden sollen, gegeben werden“ können, so äußerte er einmal gegen Ende der Arbeit den Wunsch, den „Ring“ nur ein einziges Mal aufgeführt zu sehen und dann die Partitur den Flammen zu übergeben.

Wagners Arbeit am „Ring“ zeugt von der Obsession eines Denkens des wahren, geschlossenen Ganzen, aber auch von der Erfahrung, dass aus den Stücken nie ein Ganzes, sinnvoll Geschlossenes geschaffen wird. Aus der Partitur des „Ring“ geht hervor, dass niemand besser wusste als Wagner, dass es nicht um die Darstellung des in sich abgeschlossenen Werkes als Wahrheit geht, sondern um die Aufführung von Stücken als Veränderung.

Von all dem überzeugt gingen wir das Risiko ein, den „Ring“ auf221

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zuteilen und damit die Besonderheit der einzelnen Teile zu stärken. Der Gefahr der Beliebigkeit, nämlich eines ganz zufälligen Aufeinandertreffens von verschiedenen Inszenierungen, begegneten wir dadurch, dass sich die Teams der einzelnen Opern schon ganz früh miteinander bekanntmachten und wir sie in Workshops zusammenbrachten. So teilten alle vier Produktionsteams einen gemeinsamen Horizont, in dem ihre Arbeiten entstanden. Die Namen der kühnen Pionierinnen und Pioniere einer neuen ­ „Ring“-Zeit waren: Joachim Schlömer (Regie) und Jens Kilian (Bühne) samt Klaus Zehelein und Sergio Morabito (Dramaturgie) für „Das Rheingold“; Christof Nel (Regie), Karl Kneidl (Bühne) und Juliane Votteler (Dramaturgie) für „Die Walküre“; Jossi Wieler, Sergio Morabito (Regie und Dramaturgie) und Anna Viebrock (Bühne) für „Siegfried“ und Peter Konwitschny (Regie), Bert Neumann (Bühne) und Werner Hintze sowie Juliane Votteler (Dramaturgie) für „Götterdämmerung“. Die musikalische Leitung für alle vier Teile hatte Lothar Zagrosek.

Es waren keine Theaterleute auf einem Egotrip, sondern renommierte Künstler:innen des zeitgenössischen Musiktheaters, die hier zusammenkamen, um gemeinsam einen neuen „Ring“ aus der Taufe zu heben. Legendär wurde das zweite Arbeitstreffen aller Regieteams, das in Italien im Haus von Lothar Zagrosek stattfand. Da hatte Peter Konwitschny die zündende Idee: Um gemeinsam den „Ring“ zu betreten, sollte jede(r) eine Schwierigkeit, eine Szene in seinem Stück benennen, mit der er/sie nicht zurechtkomme, mit der er/sie nichts anfangen könne und nicht wisse, was das überhaupt solle. Das war ein guter Vorschlag. Innerhalb von zwei Stunden war klar, welche Szenen das jeweils waren, und darüber haben wir dann gemeinsam drei Tage lang diskutiert. Dieses Vorgehen erwies sich als außerordentlich produktiv. Wir waren noch mitten in der Findung und konnten ganz offen und ungesichert reden.

Das war der erfreuliche Prozess im Innern der Produktion.

Nach außen hin war uns klar, dass unsere Aufteilung des „Ring“ nach wie vor als Traditionsbruch Irritation und Befremden auslösen 222

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würde und daher einer Begründung bedürfte. Ende 1997, mehr als ein Jahr vor der Premiere von „Rheingold“ im März 1999, kündigten wir daher eine Pressekonferenz an, in der wir unser „Ring“-Projekt vorstellen wollten. Ich hatte dazu einen Text entworfen, Juliane Votteler und Sergio Morabito hatten das Ihrige dazu beigesteuert. Alle Regieteams saßen mit uns auf dem Podium, als wir unsere Argumente auffuhren. „Wir nähern uns einem neuen Millennium“, führte ich eingangs der Pressekonferenz in einem später unter dem Titel „Der Stuttgarter Ring 1999/2000“ veröffentlichten Statement aus. „Der Übergang zum Jahre 2000 wird ein Einschnitt sein, der den Rückblick auf das Vergangene herausfordert. Der Blick zurück ist zuvörderst einer des Abschieds, eines Abschieds von dem beispiellosen Willen und Aufbruch des 19. und 20. Jahrhunderts zur Vereinheitlichung und Bündelung von Macht, Kapital und Wissen.

Die Einsicht, dass der Gesamtanspruch einer Vereinnahmung der Welt, wie er sich im Glauben an die Durchrationalisierung und an den Fortschritt artikulierte, nicht zu halten ist, hat den Begriff der Utopie tief erschüttert. Über die Opfer, die eine solche Utopie in der Praxis gefordert hat, kann nicht mehr hinweggesehen werden. Die Modelle, mit denen man Welt und Kunst zu erklären suchte, sind als obsolet verworfen, vehemente Stellungnahmen unter Ideologieverdacht gestellt. In dieser Situation an den größten musiktheatralischen Versuch des 19. Jahrhunderts, an Richard Wagners ‚Der Ring des Nibelungen‘, zu denken, heißt, diesen Abschied als Frage mit diesem Unternehmen zu konfrontieren.“ Dann kam ich auf die entscheidende Frage zu sprechen, die mir seit Frankfurt nachging: „Wie Sie vielleicht wissen“, erinnerte ich die Zuhörenden, „habe ich vor über zehn Jahren eine Arbeit am ‚Ring des Nibelungen‘ dramaturgisch begleitet. Seit damals frage ich mich im Hinblick auf den Totalitätsanspruch Wagners im ‚Ring‘, wie sichtbar, erkennbar werden könnte, was durch den Systemzwang zum Gesamtwerk fast zum Verschwinden gebracht ist – das Einzelne, der Einzelne: die Opfer, die für diesen Weltentwurf gebracht werden müssen.“ 223

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Danach erläuterte ich die Problematik einer vereinheitlichenden, auf Totalität zielenden Zentralperspektive in der Tradition der „Ring“-Aufführungen, der sich das Disparate und Versprengte notwendig entziehen muss, und stellte die Schlussfolgerungen vor, die wir daraus zogen: „Die Einsicht in diese Problematik muss also, wenn sie triftig werden soll, in die Arbeitsvoraussetzung selbst eingehen, sie muss die Arbeitsvoraussetzung selbst bestimmen. Gegen die Ästhetik des Verweises versucht die Oper Stuttgart mit der Verpflichtung von vier Regisseuren und vier Bühnenbildner:innen eine Ästhetik der Verausgabung zu initiieren: Entbunden vom Systemzwang können die Teams voraussetzungslos das Wagnis des je einzelnen Augenblicks von Partitur und Szene eingehen. Nicht mehr müssen sie im Sinne einer beschränkten Ökonomie des Verweises mit ihren Mitteln über vier Theaterabende hinweg haushalten, sondern können – sich selbst gegenüber verantwortungslos – die einzelnen Momente ‚ihres‘ Stücks bedingungslos ausagieren und freisetzen. Vielleicht ist der daraus resultierende mögliche szenische Über-Reichtum die Chance, auf den Verschleiß von Menschen und Material, der im ‚Ring‘ statthat, erstmals angemessen zu reagieren.“ Mit der Hervorhebung von Georges Batailles Begriff der Verausgabung anstelle der (nicht aufgehenden) Ökonomie bürgerlicher Kalkulation, die die tödlichen Ausgänge des „Ring“-Geschehens nicht nur nicht verhindern kann, sondern sie geradezu herbeiführt, war eine ganz neue Perspektive auf Wagners opus summum geworfen. Nachdem wir alle vier Regieteams und auch den wissenschaftlichen Beirat, bestehend aus Eckehard Kiem, Richard Klein und Claus-Steffen Mahnkopf, die das Projekt begleiten sollten, vorgestellt hatten, herrschte gespannte Erwartung und Vorfreude auf die Premiere von „Rheingold“. Wir hatten in einer breiteren Öffentlichkeit eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit für das Risiko des Stuttgarter „Ring“-Projekts erreicht und bei vielen ein neues Nachdenken über die Tradition der „Ring“-Aufführungen angestoßen. * 224

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Natürlich gab es Ausnahmen. Die Bayerische Staatsoper war sich nicht zu schade, in ihrer hauseigenen Opernzeitschrift zu behaupten, Zehelein habe wohl niemanden gefunden, der den ganzen „Ring“ stemmen könnte und müsste sich nun mit einer Not­ lösung begnügen. Nun ja, in München gingen die Uhren wohl anders. Das hatten wir auch bei unserem Gastspiel in München mit Karl Amadeus Hartmanns Oper „Simplicius Simplicissimus“ in der Regie von Christof Nel, der Bühne von Karl Kneidl und dem Dirigat von Bernhard Kontarsky anlässlich des 100. Geburtstags des Münchner Komponisten Hartmann erfahren. Von 1934 bis 1936 komponiert und vor den Nationalsozialisten versteckt, erhielt die gegen den Krieg gerichtete Kammeroper zwischen 1948 und 1957 ihre szenische Gestalt. Vor unserem Gastspiel nahm uns der Intendant der Staatsoper beiseite, um uns vorzuwarnen, dass wir damit in München nicht mit großem Publikumszulauf rechnen könnten. Solche modernen Werke – wir standen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts – seien in München nicht sehr beliebt. Zur Sicherheit ließ er gleich noch unser Programmheft ohne unser Wissen mit dem Umschlag der Bayerischen Staatsoper ummanteln. Es hat nichts geholfen. Die Aufführung in München wurde ein großer, umjubelter Erfolg. * Zurück zum Stuttgarter „Ring“. Es ist misslich, Projekte, an denen man selbst beteiligt war, über den grünen Klee zu loben. Aber weil man es sowieso überall nachlesen kann, sei es hier in aller Objektivität und Bescheidenheit einmal ausgesprochen: Der Stuttgarter „Ring“ war ein sensationelles Ereignis, das alle unsere Befürchtungen widerlegte, unsere Risikofreudigkeit belohnte und unsere kühnsten Träume übertraf. Auch heute, 18 Jahre nach der letzten Aufführungsserie, sehe ich noch die Bilder vor mir: die Blicke des aufgereihten Ensembles von „Rheingold“ ins Publikum – während des Orchestervorspiels inmitten einer Bäderarchitektur des Jugendstils; das große runde Wasserbecken mit dem Goldschmuck, die Folterung Alberichs (Esa Ruuttunen) durch die Rheintöchter und den biedermännisch-gewalttätigen Wotan von 225

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Wolfgang Probst; das subtile, ausdrucksstarke Spiel von Angela Denoke als Sieglinde in „Walküre“ in der Annäherung an Siegmund von Robert Gambill; die Türen und Fenster des geschlossenen Hauses, die plötzlich aufflogen im Liebesglück von „Winterstürme wichen dem Wonnemond“. Wer erinnerte nicht Anna Viebrocks Bilder in „Siegfried“: die abgewrackte Fabrikhalle, in der ein paar Küchenteile zusammengestellt waren, das Reich Mimes, des Schmieds. Heinz Göhrigs eindrucksvolles Portrait eines Scheiternden. Maschendrahtzaun mit Stacheldraht im Niemandsland vor Fafners Höhle. Schließlich das eiskalt-weiße Schleiflackboudoir, in dem sich Brünnhildes Erwachen und Siegfrieds Erkennen der Frau abspielt. Wer es sah, wird Lisa Gasteen als Brünnhilde und Jon Fredric West als Siegfried in ihrem zwischen Komik, Ernst und Glück wunderbar ausbalancierten Agieren nicht vergessen können.

Im Gegensatz dazu dann der Beginn von Konwitschnys „Götterdämmerung“: eine Art historistische Bauernspielbühne, die die „Ring“-Aufführungen des 19. Jahrhunderts persifliert. Sie entpuppt sich als die Kopfseite eines schwarzen Kubus, den Bert Neumann entworfen hat –- eines Kubus, der sich dreht und immer neue Raum-Bildausschnitte darbietet. Alles ist im Fluss in dieser „Götterdämmerung“, nichts Statisches, nichts auf Ewigkeit Gestelltes. Am Ende entlässt Luana DeVol, die grandiose Brünnhilde dieser „Götterdämmerung“, die toten Männer aus ihrem Dienst auf der Bühne. Hinter ihr erscheint im Orchesternachspiel die Projektion von Wagners Bühnenanweisungen für das Ende des Stücks. Kein Feuerzauber, kein Weltuntergang auf der Szene, nur Brünnhilde im roten Kostüm, vielleicht eine Zuschauerin, die sich der Erfahrung des Stuttgarter „Ring“ ausgesetzt hat. * „Er ist bereits Legende – der Stuttgarter Ring, konzeptionell, theatralisch und musikalisch“, schrieb der Kritiker Christoph Wurzel anlässlich des achten Aufführungszyklus und erinnert an die Umsetzung „des ehrgeizigen Unternehmens“ binnen eines Jahres. „Mit jeder neuen Premiere“, so der Kritiker, „wuchs das Staunen über die künstlerische Kraft der Bühnenrealisierungen durch die 226

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vier Regisseure.“ Zwar sei das Etikett „Jahrhundert-Ring“ verbraucht, dennoch sei „dieser Stuttgarter ‚Ring‘ zu den grandiosen Interpretationen dieses gigantischen Bühnenwerks“ zu zählen.

Und er schließt: „Wagners genialer Entwurf wurde wohl selten ebenso spannungsvoll wie vielseitig inszeniert. Und seine Musik erschien wohl selten so deutlich durchgehört, so modern in ihrer Sprache und so wahrhaftig in ihrer expressiven Dramatik wie hier unter Lothar Zagrosek. ‚Alles weiß ich, alles ward mir nun frei‘ – darauf ist dieser Ring hin orientiert.“ Davon kann man sich auch heute noch überzeugen. Anders als bei unserem Frankfurter „Ring“, der durch die sträfliche Nachlässigkeit des Hessischen Rundfunks nicht aufgezeichnet wurde, ist der Stuttgarter „Ring“ sowohl auf SWR 2 im Radio gesendet als auch in einer Koproduktion von Euroarts, ARTE und dem Südwestrundfunk sowohl für das Fernsehen als auch für DVD aufgezeichnet worden. Der DVD-Kassettenschuber mit vier bestens dokumentierten Aufführungen ist nach wie vor im Handel erhältlich. Zum Glück! * Nachtrag: Als meine Frau Marianne und ich in New York eine Aufführung der Metropolitan Opera besuchten, fand Marianne im Opernshop unsere DVDs unter dem Label „Euro-Trash“, darunter auch den Stuttgarter „Ring“.

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Luigi Nono „Al gran sole carico d’amore“, Soňa Červená (hintere Mitte), Oper Frankfurt 1978. Foto: Mara Eggert

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Franz Schreker „Die Gezeichneten“, June Card (Carlotta), Werner Götz (Alviano Salvago), Oper Frankfurt 1979. Foto: Mara Eggert

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Giuseppe Verdi „Aida“, Triumphszene, Oper Frankfurt 1981. Foto: Mara Eggert 232

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„Aida“, Edna Garabedian (Amneris), Aurea Gomez (Aida), Oper Frankfurt 1981.

Foto: Mara Eggert

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B. A. Zimmermann „Die Soldaten“, Nan Christie (Marie), Oper Frankfurt 1981.

Foto: Mara Eggert

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„Die Soldaten“, Oper Frankfurt 1981. Foto: Mara Eggert

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Hector Berlioz „Die Trojaner“, Anja Silja (Kassandra) und Chor, Oper Frankfurt 1983.

Foto: Mara Eggert

„Die Trojaner“, William Cochran (Aeneas), Gerolf Scheder (Pantheus), Rachel Gettler (Dido), Alison Browner (Ascanius), Alejandro Ramirez (Iopas), Tom Fox (Narbal), Margit Neubauer (Anna), Oper Frankfurt 1983.

Foto: Mara Eggert 238

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„Die Trojaner“, Rachel Gettler (Dido) und Chor, Statisterie, Oper Frankfurt 1983. Foto: Mara Eggert

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Richard Wagner „Parsifal“, Walter Raffeiner (Parsifal), Manfred Schenk (Gurnemanz). Oper Frankfurt 1982. Foto: Mara Eggert

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„Parsifal“, Walter Raffeiner (Parsifal), Oper Frankfurt 1982.

Foto: Mara Eggert

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Richard Wagner „Das Rheingold“, Paula Page, Margit Neubauer, Ilse Gramatzki (Rheintöchter) und Adalbert Waller (Alberich), Oper Frankfurt 1985. Foto: Mara Eggert 242

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Richard Wagner „Die Walküre“, Wolfgang Probst (Wotan), Catarina Ligendza (Brünnhilde), Oper Frankfurt 1986. Foto: Mara Eggert

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Richard Wagner „Götterdämmerung“, William Cochran (Siegfried), June Card (Gutrune), Barry Mora (Gunther) und Catarina Ligendza (Brünnhilde), Oper Frankfurt 1987. Foto: Mara Eggert

„Götterdämmerung“, June Card (Gutrune), Oper Frankfurt 1987.

Foto: Mara Eggert 245

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Luigi Nono „Intolleranza 1960“, Staatsoper Stuttgart 1992. Foto: A.T. Schaefer 246

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„Intolleranza 1960“, David Rampy (ein Flüchtling), Kathryn Harries (eine Frau) und Staatsopernchor, Staatsoper Stuttgart 1992. Foto: A.T. Schaefer

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Wolfgang Amadeus Mozart „Die Entführung aus dem Serail“, Emanuela von Frankenberg (Constanze Schauspielerin), Catherine Naglestad (Constanze), Matthias Klink (Belmonte), Alexander Bogner (Belmonte Schauspieler), Staatsoper Stuttgart 1998. Foto: A.T. Schaefer

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„Die Entführung aus dem Serail“, Catherine Naglestad (Constanze), Emanuela von Frankenberg (Constanze Schauspielerin), Johannes Terne (Bassa Selim),, Staatsoper Stuttgart 1998. Foto: A.T. Schaefer 250

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Ludwig van Beethoven „Fidelio“, Jonas Kaufmann (Jaquino), Stella Kleindienst (Marzelline), Staatsoper Stuttgart 1998. Foto: A.T. Schaefer

Ludwig van Beethoven „Fidelio“, Renate Behle (Leonore), Herren des Staatsopernchores, Staatsoper Stuttgart 1998. Foto: A.T. Schaefer 252

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„Fidelio“, Robert Gambill (Florestan), Wolfgang Probst (Pizarro), Staatsoper Stuttgart 1998. Foto: A.T. Schaefer

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Georg Friedrich Händel „Alcina“, Catherine Naglestad (Alcina), Alice Coote (Ruggiero), Staatsoper Stuttgart 1998. Foto: A.T. Schaefer

„Alcina“, Catherine Naglestad (Alcina), Staatsoper Stuttgart 1998. Foto: A.T. Schaefer 254

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Hans Zender „Don Quijote“, David Pittmann-Jennings (Don Quijote), Staatsoper Stuttgart 1993. Foto: Andreas Pohlmann

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Arnold Schönberg „Moses und Aron“, Wolfgang Schöne (Moses), Chris Merritt (Aron), Chor, Staatsoper Stuttgart 2003. Foto: A.T. Schaefer

„Moses und Aron“, Chor, Staatsoper Stuttgart 2003. Foto: A.T. Schaefer

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Helmut Lachenmann „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, Staatsoper Stuttgart 2001. Fotos: A.T. Schaefer 257

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Richard Wagner „Das Rheingold“, Michaela Schuster (Fricka), Helene Schneiderman (Floßhilde), Wolfgang Probst (Wotan), Bernhard Schneider (Froh), Catriona Smith (Woglinde), Staatsoper Stuttgart 1999.

Foto: A.T. Schaefer 258

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„Das Rheingold“, Esa Ruutunen (Alberich), Staatsoper Stuttgart 1999.

Foto: A.T. Schaefer

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Richard Wagner „Die Walküre“, Angela Denoke (Sieglinde), Robert Gambill (Siegmund), Staatsoper Stuttgart 1999.

„Die Walküre“, Angela Denoke (Sieglinde), Staatsoper Stuttgart 1999.

„Die Walküre“, Renate Behle (Brünnhilde), Jan-Hendrik Rootering (Wotan), Staatsoper Stuttgart 1999.

Fotos: A.T. Schaefer 261

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Richard Wagner „Siegfried“, Jon Fredric West (Siegfried), Heinz Göhrig (Mime), Staatsoper Stuttgart 1999. Foto: A.T. Schaefer

„Siegfried“, Jon Fredric West (Siegfried), Lisa Gasteen (Brünnhilde), Staatsoper Stuttgart 1999. Foto: A.T. Schaefer 262

Richard Wagner „Götterdämmerung“, Luana DeVol (Brünnhilde) mit Grane, Staatsoper Stuttgart 2000. Foto: A.T. Schaefer

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LABORATORIEN DER VERMITTLUNG

WER ALS DRAMATURG oder Intendant eines Theaters arbeitet, gerät in Gefahr, mit der Zeit eine Höhlenexistenz zu führen. Die Produktionsräume von Theatern sind in sich geschlossene, nach außen abgedichtete Systeme und es kann leicht geschehen, dass man nach einem Tag, der einen vom Büro zum Besprechungsraum, danach zur Probebühne und wieder treppauf treppab in den Zuschauerraum führt, in einer kurzen Pause am Nachmittag, in der man das Haus verlässt, überrascht feststellt, dass draußen die Sonne scheint und auf der Straße das sogenannte wahre Leben tobt.

Will man nicht wie die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis den Schatten der Dinge für ihre wahre Existenz halten, tut es not, immer erneut mit der Welt draußen in Kontakt zu treten.

Diesen Kontakt der Theaterhäuser mit der Welt kann man unter den Begriff der Vermittlung fassen. Es ist ein schillernder Begriff.

Denn leider wird er viel zu oft in einem zu kurz gefassten Verständnis gebraucht. Als Vermittlung gelten dann die Maßnahmen und Vorkehrungen eines Hauses, dem aktuellen und zukünftigen Publikum beizubringen, was diese und jene Aufführung bedeuten will. Es geht dann (nur) um die (Heran)Bildung der Zuschauerinnen und Zuschauer mit dem Ziel ihrer Bindung an das Haus. ­Audience development ist das gegenwärtige Zauberwort, das die zu Marketingabteilungen verkommenen Rayons der Öffentlichkeitsarbeit im Munde führen.

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Diese Schwundstufe der Idee von Vermittlung geht von der Auffassung aus, es gäbe eine Instanz – das Theater –, die Bescheid weiß und die Wahrheit kennt. Die soll in homöopathischen Dosen an das Publikum, das leider nicht so schlau ist, weitergegeben werden. Vermittlung ist dann eine Aufgabe von Pädagogik und Didaktik. Gegen diese Auffassung von Vermittlung hat sich Adorno vehement gewandt. Die Zurichtung der spezifischen Wahrheit, die Kunstwerken inhärent ist, zu mundgerechten Happen fürs ­notorisch unterschätzte Publikum zerstört eben die Erfahrung, ja, Widerfahrnis dieser Wahrheit, die mich trifft.

An der Idee von Vermittlung möchte ich trotz und entgegen ihres gegenwärtigen Gebrauchs festhalten. Sie impliziert für mich aber, dass sich der Vermittler erst selbst mit der Welt vermittelt.

Der Dramaturg, der nach einer langen Probe im Dunkel des Zuschauerraums plötzlich ins grelle Licht des geschäftigen Treibens vor dem Theater tritt, sieht seine zurückliegende Arbeit in diesem Licht relativiert und sich an einen anderen Ort versetzt. Von dort aus blickt er anders zurück auf das, was in den letzten Stunden im Theater verhandelt wurde. Und er erfährt, dass das Andere des Theaters nicht etwas zu Vernachlässigendes gegenüber der künstlerischen Wahrheitssuche ist, sondern dass die Erfahrung der äußeren Welt unabdingbar für jene ist. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hält dazu der Stuttgarter Hoftheaterintendant Julius von Werther fest: „Ein Dramaturg, der nicht das Räderwerk der Zeit auf das allerschärfste beobachtet und sein Urteil an allen wichtigeren politischen und sozialen Fragen fortwährend übt, wird auch in Literaturfragen einseitig-zünftig und vermag ein Theater gänzlich rückständig zu machen.“ Ohne den Gang ins Offene einer Welt, ohne die Aussetzung an Menschen, an ein Umfeld, an eine Situation, die ich nie ganz begreifen und kontrollieren kann, ohne die Auslieferung ans Unübersichtliche und ans Nichtwissen gibt es keine künstlerische Wahrheit, gibt es keine authentische Erfahrung. Die Selbstvermittlung des Theatermanns und der Theaterfrau mit der Welt ist die Grundlage jeder künstlerischen Arbeit im Theater. Es geht 266

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darum, diese basale Vermittlung immer erneut zu wiederholen.

Das heißt, sich in einen Experimentierraum zu begeben, in ein Laboratorium, in dem ungewiss ist, wie das Experiment ausgehen wird. Vermittlung von Theater nicht als Domäne selbstgewisser Vermittler:innen zu verstehen, sondern als geteilte Erfahrung in einem Laboratorium mit offenem Ausgang. Dieser Form von Vermittlung bin ich Zeit meines Theaterlebens nachgegangen: in der offenen Arbeit mit Studierenden und Auszubildenden, in Universitäts­dozenturen und Gastprofessuren, in der Leitung der Bayerischen Theaterakademie August Everding, als Präsident des Deutschen Bühnenvereins und als Initiator des Forums Neues Musiktheater und der Jungen Oper zur Zeit meiner Intendanz in Stuttgart. Das waren sehr unterschiedliche Orte, Modi und Herausforderungen von Vermittlung. Aber immer lag ihnen die Idee von Vermittlung als Laboratorium zugrunde.

Junge Oper Die Idee der Jungen Oper hatte mich schon in Frankfurt umgetrieben. Seinerzeit fehlten uns die institutionellen Voraussetzungen und finanziellen Mittel dafür. In Stuttgart kam Pamela Rosenberg dann mit Nachdruck auf das Vorhaben zurück und engagierte sich dafür. Bei mir stieß sie auf offene Ohren, denn ich hatte es satt, von Kollegen Sätze wie diese zu hören: „Wenn ich Geld für die Gage von Plácido Domingo brauche, stehen potentielle Geldgeber sofort auf der Matte. Aber bei Produktionen für ein junges Publikum bleiben die Geldbeutel verschlossen.“ Das waren Ausreden, um der Mühe zu entgegen, selbst Zeit, Geld und Kraft für ein solches Projekt aufzuwenden. Für Pamela Rosenberg und mich stand fest: Die Junge Oper darf nicht im Betrieb des Großen Hauses nebenherlaufen, sie braucht eine eigene Spielstätte, eine eigene künstlerische Leitung und Geschäftsführung, ein eigenes Ensemble samt eigenem Dirigenten. Und sie will eigenständig aus dem Etat des Hauses finanziert sein. Ohne diese institutionellen und finanziellen Rahmenbedingungen lässt sich ein Projekt wie 267

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die Junge Oper nicht auf Dauer realisieren, davon waren Pamela und ich überzeugt. Ohne diese Voraussetzungen bleibt die Etablierung einer Jungen Oper bloßes Gerede.

Bevor wir das alles ins Werk setzen konnten, stellte sich aber die inhaltliche Frage, was eine Junge Oper denn eigentlich sein sollte. Klar war uns, was wir nicht wollten: Keine „Zauberflöte für Kinder“, keine speziellen Aufführungen von „Hänsel und Gretel“ für Schulklassen in der Advents- und Weihnachtszeit oder andere „kindgerechte“ und „altersgemäße“ Reduktionen großer Werke des Opernkanons. Schon gar nicht ging es uns darum, auf raffinierte Weise im Sinne des Audience development ein späteres Publikum heranzuziehen. Und selbst gegenüber einer musikpädagogisch ausgerichteten Jungen Oper blieb ich skeptisch. Denn Kunst gründet nicht im Pädagogischen. Das Pädagogische geht auf das Verstehen von Dingen, letztlich auf das Begreifen aus. Das betrifft sowohl gesellschaftliche und politische als auch ethische Probleme. Die Arbeit, die hier geleistet wurde, beginnend mit der Museumspädagogik bis hin zur Musikpädagogik, war segensreich. Es ist nicht falsch zu wissen, was eine Durchführung, was eine Coda oder die Sonatenhauptsatzform ist. Aber ein Kunstverständnis reduziert auf weitergegebenes Wissen allein schien mir als eine Verdinglichung von Kunst.

Das waren erste Vorüberlegungen, die wir weitertreiben und auf eine allgemeinere Basis stellen wollten. Dabei hat uns die Bosch-Stiftung großzügig unterstützt, so dass wir ein Symposium mit Expertinnen und Experten aus Kunst, Wissenschaft und pädagogischer Praxis abhalten konnten. Meine Warnung, nicht in die Falle der Verdinglichung durch eine rein pädagogische Weitergabe von Wissen zu gehen, wurde von einigen Lehrern mit der Behauptung gekontert, dass die Jugendlichen erst etwas lernen müssen und die Träger des Wissens die Lehrenden seien. Alles andere münde in Irrationalismus. Heute, da diese asymmetrische Positionierung von Lehrenden und Lernenden in Frage gestellt ist, z. B. durch Abhandlungen wie Jacques Rancières „Der unwissende Lehrmeister“, mag man staunen über die Verve, mit der dieser 268

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Kampf ausgefochten wurde. Für mich war eine Hauptaufgabe von Vermittlung, die Lust am Entdecken zu wecken, die Lust an der Erfahrung dessen zu fördern, was mich verbindet mit der Wirklichkeit. Kunst zu erklären, hieß für mich, ihr zu nehmen, was sie als Möglichkeit des Lustgewinns in sich trägt: das rätselhafte Moment.

Natürlich schließt das die Frage der Jugendlichen nach möglichen Theaterberufen ein, bis hin zur Frage „Was verdienst du eigentlich?“ Aber die viel weitergehende Entdeckung war die von weißen Flächen ihrer Erfahrung, von denen sie nichts wussten, die aber Neugier und Lust weckten, sie im Medium von Kunst kennenzulernen. Die alten Kartographen haben die weißen Flächen auf den Landkarten, von denen man nichts wusste, mit der Bezeichnung versehen: „Hic sunt leones“. Die ganz undenkbare und unberechenbare Begegnung mit den „Löwen“ ist keine schlechte Metapher für die Erfahrung, die die Junge Oper vermitteln sollte – so unsere Überlegungen.

Die Gefahr einer Verdinglichung der Werke, von der ich gesprochen habe, ist verbunden mit dem Konsumentenstatus ­ des Publikums. Um dem zu entgehen, sollte die Junge Oper eine Oper für, von und mit jungen Menschen sein. Eine nicht un­ bedeutende Rolle spielten dabei Workshops der Jungen Oper zu den Produktionen der Staatsoper. Von ihrem Beginn in der Spielzeit 1997/98 an erhielten junge Menschen zwischen acht und 18 Jahren als Sängerinnen und Sänger im Chor, als Instrumentalist:innen, als Tänzerinnen und Tänzer oder als Praktikant:innen in der Dramaturgie oder in den Bereichen von Kostüm, Maske, Beleuchtung, Technik etc. das Angebot, zusammen mit einem professionellen Produktionsteam und jungen Solist:innen des Hauses oder aus der Musikhochschule praktische Erfahrungen in der Entstehung und Aufführung einer Opernproduktion zu sammeln und nicht nur das Musiktheater, sondern auch sich selbst in ihrer Stellung im Produktionsprozess und darüber hinaus besser, weil anders kennenzulernen. Die Opern, die wir aufführten, ­waren wie gesagt keine „Verkleinerungen“ großer Werke, sondern eigenständige Kompositionen, deren Stoffe und Themen einen 269

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­ rfahrungsbezug zur Welt von Kindern und Jugendlichen hatten, E aber nicht unter dem Label Kinderoper firmierten. Dazu zählte u. a. Udo Zimmermanns Oper „Weiße Rose“, die um die Gedanken und Gefühle von Hans und Sophie Scholl vor der Hinrichtung in Stadelheim kreist. Dazu zählen die lyrische Fantasie von Maurice Ravel „Das Kind und die Zauberdinge“, die deutsche Erstaufführung der kammermusikalischen Fassung von Dmitri Schostakowitschs „Moskau, Tscherjomuschki“, eine musikalische Komödie, satirisch-parodistisch, über das Leben in einer Moskauer Trabantensiedlung. Dazu zählen auch Joseph Haydns „Die reisende Ceres“ und Henry Purcells „Dido und Aeneas“. Und dazu zählt auch die Uraufführung von Andreas Breitscheids „P.A.G.S!“, nach einem Libretto von Manfred Weiß, dem Leiter und Dramaturgen der Jungen Oper, komponiert von unserem Musik-Dramaturgen und inszeniert von Ewa Marta und Helmut Barz. Es war ein „Stück“, so Werner Müller-Grimmel in dem Arbeitsbericht der Staatsoper Stuttgart über die fünfzehn Spielzeiten unserer Intendanz, „das wegen seiner am Puls der Zeit orientierten Story und dazu passenden Tonwelten allen Beteiligten wieder ganz neue Erfahrungen ermöglichte. Die collageartige Musik konfrontierte klassisch-romantische und neutönerische Klänge, Live-Elektronik und Computer-Sounds mit Versatzstücken à la Hip-Hop, Techno, Rap, Metal oder Pop-Ballade, während die herrlich durchgeknallte Handlung immer wieder auch die verschiedenen Produktionsbedingungen dieser Musikstile aufeinanderprallen ließ.“ Zwei Aufführungen in jeder Spielzeit haben wir von 1996 an auf die Bühne gebracht. Das waren die Kammerspiele gegenüber dem Großen Haus. Auch eine eigene Leitung besaß die Junge Oper: Erst war Markus Kosuch verantwortlich, später Matthias Behrends, dann Bettina Milz, dann Manfred Weiß. Die musikalische Leitung lag in den Händen von Wolfgang Heinz. Aus den Studierenden an der Musikhochschule, die in der Jungen Oper sangen, sind bedeutende Sängerinnen und Sänger hervorgegangen. Ein Beispiel dafür ist Sarah Maria Sun, heute eine der bedeutendsten Interpretinnen der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.

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Dmitri Schostakowitsch „Moskau, Tscherjomuschki“, Michael Nagy, Wiebke Renner, David Pichlmaier, Steffen Fichtner, Melanie Wandel, Junge Oper Stuttgart 2003.

Foto: Gudrun Bublitz

Das Projekt wurde ein durchschlagender Erfolg: Schulen, Kindergärten und Eltern sorgten für serienweise ausverkaufte Vorstellungen und stetig wachsende Nachfrage an Workshops, Lehrer:innen-Fortbildungen und sonstigen Angeboten. Der Erfolg hält nach wie vor an. Andere Theater übernahmen das Modell mit eigenen Formen und Ideen.

Und die Finanzierung? Von Beginn an war uns klar, dass wir den größten Teil aus dem Etat des Hauses selbst stemmen mussten. Das ist uns gelungen. An die 500.000 DM, später entsprechend Euro, haben wir jährlich für die Junge Oper in die Hand genommen. Dafür gab es eine Garantie der Direktion – die Voraussetzung für eine kontinuierliche Arbeit. Großzügige Spenden machten es möglich, dass wir den Etat entlasten konnten. Einer dieser Wohltäter, ein renommierter Unternehmer in Zement, fragte 271

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mich, was denn eine Inszenierung der Jungen Oper kosten würde.

Als ich ihm sagte, das koste alles in allem 120.000 DM, hat er gesagt: „Die bezahle ich!“ Dann hat er ganz vorsichtig gefragt, ob das denn ginge, dass er in zwei Raten bezahlt. Ich konnte ihn beruhigen. Es ging.

Forum Neues Musiktheater Das Römerkastell über dem Neckar hat schon seit langem keine Römer mehr gesehen. Die Gestalt, die seiner Bestimmung um die Wende zum 21. Jahrhundert zugrunde liegt, hat es Anfang des 20. Jahrhunderts als Dragoner-Reiterkaserne erhalten. Durch das Jahrhundert hindurch wurde das Areal militärisch genutzt. Erst von der Wehrmacht, dann von den Amerikanern. Seit Letztere nach der Wiedervereinigung abgezogen sind, stand der Gebäudekomplex leer und dämmerte verrottend vor sich hin. Hier sollte meine Vision eines Laboratoriums für die experimentelle Erprobung strukturell neuer Formen von Musiktheater Realität werden. * Wobei die Betonung ausdrücklich auf dem Experiment neuer Strukturen lag. So, wie die Gewerke in einem normalen Opernhaus vorgehalten werden und abrufbar sind, sind sie geprägt durch eine Struktur, in der seit über 100 Jahren Oper produziert wird. Aber neue Mittel und Ebenen kommen laufend dazu. Unübersehbar ist der Zuwachs an neuen Medien. Solange alles bei den alten Theaterstrukturen bleibt, werden diese Medien entweder nur als Dekoration benutzt – sowohl im elektro-akustischen als auch im Videobereich – oder sie stoßen, wenn sie mehr sein wollen, auf große Widerstände in der Struktur der alten Opernhäuser. Die Möglichkeit von neuen Strukturen der Opernproduktion im Zusammenspiel mit dem Potential der neuen Medien wollten wir erkunden. Das war die Vision von Andreas Breitscheid und mir.

Zugleich war ich Realist genug, um einzusehen, dass das nicht im laufenden Betrieb eines großen Hauses möglich war. ­Dafür brauchte es ein Labor. Wir haben uns gesagt: Denkräume, Entfaltungsräume in unserem Kopf haben wir. Jetzt brauchen wir 272

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Forum Neues Musiktheater, Außenansicht. Foto: A.T. Schaefer

Forum Neues Musiktheater, Innenansicht Halle. Foto: A.T. Schaefer

pragmatische Räume, wir brauchen ein kleines Theater, wir brauchen ein Tonstudio, wir brauchen eine Menge technischer Einrichtungen, die ein traditionelles Theater nicht zur Verfügung hat.

So weit, so gut. Nur „Woher nehma ond net schtähla?“, wie man im Schwäbischen sagt.

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Und da kam die alte Reiterkaserne, das Römerkastell, ins Spiel. Wolfgang Kreis, Initiator und Eigentümer der Römerkastell AG, wollte dort ein Zentrum für Medientechnologie aufbauen. Von Seiten der Stadt gab es die Auflage, dabei auch kulturellen Einrichtungen Raum zu geben. Und damit traten wir, die Staatsoper ­Stuttgart, auf den Plan. Die finanzielle Unterstützung kam von der Landesbank Baden-Württemberg, deren kunstbegeisterter Kommunikationsdirektor Stefan Schütz sich für unser Projekt engagiert hat.

Für die Hauptfinanzierung sorgte die Landesstiftung Baden-Württemberg. Es waren die schwäbischen Bank- und Geschäftsleute, die „ihrer“ Staatsoper ermöglichen wollten, neue Strukturen zu erproben. Bei einem Sektempfang aus Anlass meines 60. Geburtstags konnte mir der Ministerpräsident Erwin Teufel versichern, dass die Finanzierung des Forum Neues Musiktheater in Höhe von immerhin einer Millionen Euro per annum nunmehr gesichert sei. Ohne dass wir auf den Etat der Staatsoper zurückgreifen mussten, be­ kamen wir Büros und Seminarräume, ein hochausgerüstetes Tonstudio und eine 400 Quadratmeter große Halle, die frei bespielbar war, alles technisch hervorragend ausgestattet.

Als Forum für neues Musiktheater war unser Theater-Labor ausgewiesen. Die Bezeichnung sollte darauf verweisen, dass hier nicht abgeschlossene Inszenierungen zu besichtigen waren. Es ging nicht darum, lediglich eine Spielstätte für neues Musik­ theater zu schaffen. Leitend war vielmehr der Werkstattgedanke, die Betonung des prinzipiell Unabgeschlossenen und Offenen – offen für neue, weitergehende Experimente und Erfahrungen.

Das Forum wollte Angebote an die Teilnehmenden/Zuschauenden machen, sich über die Präsentation eines work in progress aus­ zutauschen und die Arbeit weiterzutreiben. „Wenn wir eine Produktion öffentlich gezeigt haben, dann haben wir ein Arbeitsstadium präsentiert“, so Andreas Breitscheid, der Künstlerische Leiter des Forum Neues Musiktheater. Neben ihm arbeiteten Anna Loos als Geschäftsführerin, Heidrun Havran und (später) Andrea Scheufler (Öffentlichkeitsarbeit) und Jörg Geiger (Disposition). Die technische Leitung hatte Michael Grude.

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Dass wir andere Strukturen austesten wollten, zeigte sich in der Produktionsweise, die wir entwickelt haben. Im Forum haben sich zumeist Gruppen beworben, die bereits einen Vorschlag für ein Thema, ein Stück oder eine Herangehensweise machten. Wir haben diese Vorschläge geprüft, diskutiert und im Fall einer Zusage die Gruppen zu uns eingeladen, um das Projekt und seinen Fortgang zu besprechen. Danach war das Projektteam etwa vier Wochen bei uns zu Gast, um das Forum in seinen technischen und personellen ­Möglichkeiten kennenzulernen. Dem schlossen sich abwechselnd Phasen der Arbeit im home ground der Gruppen und im Forum an, bis die Arbeit dann nach einem Jahr oder mindestens einem Dreivierteljahr bei uns gezeigt wurde. Diese Variation des Residenzprinzips mit dem örtlichen Wechsel der Arbeitswerkstätten sorgte dafür, dass die Produktion buchstäblich in Bewegung und offen blieb.

Im Oktober 2003 wurde das Forum Neues Musiktheater mit der Uraufführung von Andreas Breitscheids „Im Spiegel wohnen“, einer Übertragung von Heiner Müllers „Bildbeschreibung“ eröffnet. Regie führte der französische Müller-Spezialist Jean Jourdheuil, die Bühne kam von Mark Lammert. „Dieses Pilotprojekt“, so der Komponist in dem Essay „Baustelle Zukunft“ von Detlef Brandenburg zum Forum Neues Musiktheater, „beinhaltete nicht nur die Komposition eines Stücks, sondern es bestand daraus, zu versuchen, die Arbeitsformen, die Vernetzungen in der Forschung mit unterschiedlichen europäischen Institutionen in einer Art Modellform auszutesten und zu antizipieren.“ Breitscheid spricht in diesem Zusammenhang von „Anwendungsforschung“. In dieser Perspektive verorteten sich auch die weiteren Produktionen, die im Forum entstanden. Genannt sei zunächst „Infinito Nero“, eine „Projektbeschreibung“ (2004) des italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino. Die Projektleitung hatte der Choreograph Joachim Schlömer, der zuvor überaus beein­ druckend „Das Rheingold“ im „Ring“ inszeniert hatte. Die SopranPartie wurde von Sarah Maria Sun gesungen, die großen Anteil an dem künstlerischen Gelingen der Produktionen des Forums hatte.

Bei Lucia Ronchettis Tragödie in einem Akt „Last Desire“ (2004) 275

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führte Michael von zur Mühlen Regie. Das Projekt war auf einem zuvor stattgefundenen Workshop von Salvatore Sciarrino im Austausch zwischen Ronchetti, von zur Mühlen, der Dramaturgin Tina Hartmann und dem Bühnenbildner Sebastian Hannak entstanden. Ein schönes Beispiel, wie anregend einzelne Formate des Forums für weitere Projekte sein konnten. Unbedingt noch zu nennen ist „fremd“, das Medea-Projekt von Hans Thomalla, in dem Hans-Werner Kroesinger die Projektleitung übernommen hatte.

Juliane Votteler stand für die Dramaturgie, Sebastian Hannak für die Bühne. Die Medea, keine Überraschung, sang Sarah Maria Sun, den Jason hatte Stephan Storck übernommen, der bei Lachenmann Komposition studiert hatte. Lässt man die Namen der beteiligten Künstlerinnen und Künstler an den genannten Arbeiten nachklingen und hat auch ihren weiteren Werdegang vor Augen, wird einem klar, welcher Reichtum an Talent, Können, Klugheit und Reflexion im Forum Neues Musiktheater versammelt war.

Die Veranstaltungsformate des Forums erschöpften sich nicht in diesen und all den anderen Projekten. Begleitet wurden sie von Workshops und Ateliers, z. B. einem Workshop zur Wellenfeldsynthese oder einem Forum Atelier mit William Forsythe zu seiner Arbeit „Three Atmospheric Studies“. Technologien, die Forsythe im Forum entwickelt hatte, gingen unmittelbar in seine Produktion ein. So war das Forum Neues Musiktheater ein tatsächlicher Ort des Austauschs und der Diskussion für Künstler:innen und Profis aus dem Bereich der digitalen Medien, der Neuen Musik und dem Theater mit allen, die sich für die Zukunft des Musiktheaters interessierten.

Oder mit den Worten des Komponisten Salvatore Sciarrino, der gefragt und festgestellt hat: „Wo gibt es heute noch Orte wie diesen auf der Welt? Das ist eine Utopie von Theater, die habe ich hier zum ersten Mal gefunden.“ Es war eine konkrete Utopie, die wir für kurze Zeit, bis zum Ende meiner Intendanz in Stuttgart, hatten Wirklichkeit werden lassen. Bis heute kann ich nicht verstehen, dass sich mein Nachfolger nicht für die Weiterführung dieses einmaligen Orts einge276

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Forschungs­ projekt William Forsythe & Forum Neues Musiktheater: Andreas Breit­scheid, Manuel Poletti, Olivier Pasquet, Nils Lanz, Dietrich Krüger, 2005/06.

Hans Thomalla „fremd“, Musiktheater nach „Medea“, Forum Neues Musik­ theater 2006.

„fremd“, Stephan Storck, Sarah Maria Sun, 2006.

Fotos: A.T. Schaefer 277

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setzt hat. Dass das Forum Neues Musiktheater aufgegeben wurde, ist ein schmerzlicher Verlust, der mir immer noch nachgeht.

Das Forum hat gezeigt, was zeitgenössisches Musiktheater sein und an Zukunft bergen kann. Mir bleibt die Hoffnung, dass der utopische Gehalt dieses Unternehmens von engagierten Musiktheatermacher:innen in die Gegenwart gerettet und unter anderen Umständen, mit anderen Personen und Mitteln fortgesetzt wird.

Das akademische Leben Im Seminar von Theodor W. Adorno hatte ich das akademische Leben von seiner besten Seite kennengelernt: voller Anregungen zum Weiterdenken und -forschen, herausfordernd angesichts der aufgegebenen Lektüren und bereichernd durch den Austausch mit gleichfalls hochmotivierten Kommilitoninnen und Kommilitonen.

Das akademische Leben war mir also vertraut, und so schreckte ich nicht davor zurück, wie manche in der Praxis Erprobten, wenn mich in regelmäßigen Abständen der Ruf auf eine universitäre Gastprofessur ereilte. Im Gegenteil: Ich sah in der akademischen Lehre eine willkommene Gelegenheit, das, was uns in der Theaterarbeit bewegte, in einem Kreis von interessierten Studentinnen und Studenten vorzubringen und zur Diskussion zu stellen. Mir ging es nicht um Belehrung, sondern um Resonanz, um Vermittlung als Einbindung in einen Lernprozess, in dem es nur Beteiligte gibt.

Nachdem ich in Oldenburg zusammen mit Fred Ritzel, Professor für Musikwissenschaft in Oldenburg, und einer Gruppe Auszubildender der Post ein neues Konzept für Jugendkonzerte erarbeitet hatte, schlug Ritzel mir vor, eine Gastdozentur für Musiksoziologie an der Universität zu übernehmen. Weitere ­ Gastprofessuren schlossen sich an: an der University of Minnesota, am Collège international de philosophie in Paris, am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und an der Universität Leipzig – um die wichtigsten zu nennen. Am längsten währte meine Gastprofessur an der Universität für Angewandte Kunst in Wien: von 1986 bis 1992, volle sechs Jahre.

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Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Nicht immer fand ich auf Anhieb die Atmosphäre und Einstellungen vor, die nötig waren, um ein gemeinsames Lernen möglich zu machen. In meinen Veranstaltungen zur Musiksoziologie in Oldenburg beschwerten sich die Studierenden anfangs, dass Texte wie Adornos „Einleitung in die Musiksoziologie“ einfach zu schwierig und eine Zumutung wären. Öfter noch stieß ich zu Beginn meiner Lehrtätigkeit auf ein Befremden darüber, dass ein Mann der Praxis, der ich war, so großen Wert auf Philosophie, Theorie und Reflexion legt. Ich argumentierte dann stets, dass Praxis ohne Theorie blind sei und im nicht hinterfragten Konventionellen stecken bleibe. Wenn die künstlerische Praxis darüber hinausgehen und Neues entdecken wolle, brauche sie gerade den „Stachel des Fremden“ (Bernhard Waldenfels), den Philosophie und Theorie für die Praxis darstellten.

Besondere Bedeutung hatte für mich die Begegnung mit Jacques Derrida, dem luzidesten Philosophen des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion. Derridas Einladung ans Collège international de philosophie war eine hohe Ehre für mich. Lange Zeit hatte Jürgen Habermas versucht, den Einfluss der französischen Poststrukturalisten in Deutschland gering zu halten. Ich selbst kam aus der Frankfurter Schule, hatte bei Adorno gelernt. Allerdings hatte mich mein Freund Samuel Weber schon früh mit den Grundfiguren des französischen Denkens bekannt gemacht. Weber hat auch den Kontakt zu Derrida hergestellt: Er hat Derrida einfach zu mir nach Frankfurt in mein Büro geschickt. Ich mochte ihn auf Anhieb. Bei ihm fand ich ein offenes Ohr für alles, was ich an Modellen, Konzepten und Überlegungen aus Frankfurt mitbrachte, und eine Fülle von Anregungen und Einladungen zum Mit- und Weiterdenken, wie ich es seit meiner Zeit bei Adorno nicht mehr erlebt hatte. Was Jacques Derrida und mich verbunden hat, war, in aller Bescheidenheit und mit Roland Barthes gesprochen, die „Lust am Text“. Beide waren wir passionierte Leser. Texte so lange genau zu lesen und gegen den Strich zu bürsten, bis sich an ihnen eine temporäre Wahrheit entdecken lässt, war Derridas Methode der Dekonstruktion. Das hat eine Saite, wenn nicht ein ganzes Orchester 279

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in mir zum Klingen gebracht. Ein Semester lang bin ich jede Woche von Frankfurt nach Paris gereist, um meine Veranstaltungen am ­Collège abzuhalten. Derrida schlug mir vor, ich könne auf Englisch sprechen oder auch auf Deutsch, da es um Richard Wagner ging.

Mein Französisch war nicht ausreichend. Leider konnte ich die Einladung zu einem weiteren Semester in Paris nicht annehmen, da Frankfurt meine volle Aufmerksamkeit verlangte.

Ein Jahr lang unterrichtete ich am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Es war die Professur nach der von Heiner Müller, so dass der Boden für mich bestens vorbereitet war. Zur langandauernden Erinnerung wurde die Gastprofessur in Gießen für mich aber aus einem anderen Grund: der studen­ tischen Hilfskraft, die mich durch die Semester hindurch begleiten und in allen praktischen Fragen unterstützen sollte. Sie hieß Sergio Morabito und erwies sich nicht nur in allen organisatorischen, sondern auch ästhetischen, historischen und theoretischen Belangen als überaus beschlagen. Dass er dann zuerst nach Frankfurt und später als Dramaturg nach Stuttgart kam, war ein großes Glück – für mich und für das moderne Musiktheater. Sage noch einer, das akademische Leben bleibe folgenlos für die Praxis.

Die Theaterakademie Mit Ende der Spielzeit 2005/2006 endete meine Intendanz an der Staatsoper Stuttgart. Bereits im Herbst 2006 trat ich in München als Präsident der Bayerischen Theaterakademie August Everding an. Ich hatte das Angebot des Freistaats Bayern angenommen, weil ich Theater-Vermittlung für dringender denn je hielt und die Bayerische Theaterakademie mir die beste Möglichkeit zu bieten schien, meine Erfahrungen sowohl in der akade­ mischen Lehre als auch in der Führung eines großen Hauses und in der Zusammenarbeit mit den Studiengangsleiter:innen und Studierenden einzubringen und weiter produktiv zu machen.

Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass der Bayerischen Theaterakademie der Ruf ihres Gründers und späteren Namensgebers, 280

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des Regisseurs, Managers, Kulturpolitikers und Generalinten­ danten der Münchner Staatstheater (1982 bis 1993), der Ruf des „Staatsintendanten“ August Everding anhing. Everding, ein scheinbar omnipräsenter, unermüdlich umtriebiger Kämpfer für die Kultur, besaß die große Gabe, andere Menschen von seinen Ideen und Projekten zu überzeugen. Als Präsident des Deutschen Bühnenvereins von 1989 bis 1999 hatte er sich der Herausforderung der Integration der ehemaligen DDR-Theater und -Orchester gestellt. In München hat er die Renovierung und Wiedereröffnung des Prinzregententheaters vorangetrieben. Damit hatte e­ r einen Ort für die Bayerische Theaterakademie gefunden, die er 1993 gegründet hatte und der er sogleich als Präsident vorstand.

Zehn Millionen per annum hatte er dafür vom Freistaat bekommen – für mich, der ich meine eigenen Erfahrungen mit den ­Mühen der Geldbeschaffung für die Junge Oper und das Forum Neues Musiktheater hatte, eine hochrespektable Leistung.

Alle Ausbildungsgänge, die Theater betreffen, unter einem Dach zu vereinigen, war das Motto von Everding für die Theaterakademie. Das klang überzeugend, vor allem dann, wenn sich eine weiterreichende inhaltliche Idee damit verbinden sollte. Es stellte sich heraus, dass es eine solche Idee nicht gab. August Everding war ein genialer Besitzstandswahrer einer Tradition des kulturellen Mainstreams, wie sie in München oder Salzburg zu dieser Zeit anzutreffen war. An die Frage, wie diese Tradition gegenwärtig zu kritisieren und zu retten wäre, hat er keine Zeit und keinen Gedanken verschwendet. Als Vorreiter eines zeitgenössischen Musiktheaters ist Everding nicht bekannt geworden. Dieses Defizit in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur hat sich auch in der Praxis der Theaterakademie niedergeschlagen.

Die Theaterakademie, der nach Everding in kurzen Abständen Klaus Schultz, Peter Ruzicka, Hellmuth Matiasek und Christoph Albrecht, der mich für diese Position empfohlen hatte, als Präsidenten gedient hatten, war bei meinem Amtsantritt zu meinem Erstaunen in keinem befriedigenden Zustand. Das lag, wie sich bald herausstellte, daran, dass Everdings Rede von den vielen 281

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Wohnungen (resp. Studiengängen) des Theaterbaus in der Praxis so aussah, dass Studiengangsleiter:innen, die „Besitzer:innen“ dieser Eigentumswohnungen, nichts miteinander zu tun haben wollten und keine Zusammenarbeit anstrebten. Es waren, um aus der Zeit der kapitalistischen Marktwirtschaft in den Feudalabsolutismus ­zurückzugehen, lauter kleine Duodezfürstentümer, die unter dem Dach der Akademie ihr Terrain auf althergebrachte Weise pflegten und darauf bedacht waren, dass ihnen niemand hineinredete und ihr Besitzstand gewahrt blieb. Sie wollten nur ihre Position wahren.

Besitzstandswahrung, so habe ich in den ersten Monaten meiner Tätigkeit an der Akademie erfahren, ist die kulturelle Praxis, die übrigbleibt, wenn es keine Impulse und Herausforderungen durch eine Kooperation gibt, die aktiv und bewusst eine Transformation der Künste in der Gegenwart anstrebt. Das ist die Kehrseite einer Akademiegründung, die auf reinen Pragmatismus gebaut war. Einer der Studiengangsleiter sagte mir später, es gab mehr Kontakt unter den Studierenden als unter den Lehrenden. Die kamen nur zusammen, wenn es um die Verteilung der Räume, also um „Besitz“ ging.

Auch den Studierenden war der Diskurs oft fremd. Ich bekam in Diskussionen häufig die Phrase zu hören: „Das ist halt meine Meinung.“ Was das Ende jeder diskursiven Auseinandersetzung und die Absage an die Anstrengung theoretischen Denkens bedeutete, das nicht beim unbegründeten subjektiven Standpunkt verharrt. Es war, mit anderen Worten, eine Menge zu tun, wenn aus der Einrichtung eine wahre Theater-Akademie werden sollte.

Was tun? Als erstes haben wir, Inge Schielein, die für mich nicht nur in organisatorischen Fragen eine unersetzliche Mitarbeiterin war, und ich, alle Studienleiter:innen zu einer zweitägigen Klausur in die Evangelische Akademie in Tutzing eingeladen.

Dort habe ich eine Grundsatzrede gehalten und danach haben wir zusammen über die inhaltliche Ausgestaltung des Vorhabens „Alles unter einem Dach“ und die Notwendigkeit und die Möglichkeiten der künftigen Zusammenarbeit diskutiert. Es ging nicht, dass der Studiengang Dramaturgie, den ich leitete, weiter für sich allein blieb, während der Studiengang Regie ohne das 282

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Klaus Zehelein und Studierende der Bayerischen Theaterakademie anlässlich der ersten Studierendenproduktionsreihe „EigenArten“, Foto: Marcus Schlaf

Wissen und Können der Dramaturg:innen auskommen musste, und dass angehende Musiktheaterregisseur:innen die Sängerinnen und Sänger nicht wirklich kannten. Also schlug ich regelmäßige Produktionen vor, an denen sich möglichst viele Studiengänge künstlerisch und diskursiv beteiligten. Und eine Klausurtagung aller Studiengangsleiter:innen einmal im Jahr.

Die gemeinsame Arbeit möglichst aller Studiengänge an einem Projekt sollte dabei nicht zu einer Mega-Produktion auswachsen, die alle überforderte. Aber sie sollte qualitativ hochwertig sein. Das betraf auch das beteiligte Orchester. Das wurde von der Musikhochschule gestellt, mal mehr, mal weniger vollzählig. Mal fehlte die erste Klarinette, dann die zweite Oboe, und der Konzertmeister war auch nicht da. Da wackelte es oben, wackelte es unten.

Mir war klar: Wir brauchen ein Fundament. Und deshalb haben wir das Münchner Rundfunkorchester engagiert, das Münchner Barockorchester und auch das Münchener Kammerorchester. Das waren unsere Partner. Das Rundfunkorchester hat unsere Aufführungen als Sendung übernommen. Manche Orchestermitglieder mussten sich erst an das Arbeitsethos gewöhnen, das unsere Studierenden mittlerweile an den Tag legten. Ich erinnere mich, dass Ulf 283

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Schirmer, Chefdirigent des Rundfunkorchesters und späterer Intendant der Oper Leipzig, einmal eine Bühnenorchesterprobe mit den Worten unterbrochen hat: „Meine Damen und Herren! Wenn Sie so konzentriert wären wie die jungen Leute auf der Bühne, wäre ich Ihnen sehr dankbar!“ Studierende und Orchester haben fortan konzentriert und motiviert gearbeitet. Mit diesem soliden musikalischen Fundament haben wir uns an die Aufführung im Prinzregententheater von „Das Wundertheater“ nach Miguel de Cervantes, „Ein Landarzt“ nach Franz Kafka und „Das Ende einer Welt“ nach einem Libretto von Wolfgang Hildesheimer gewagt. Regie führte Christof Nel. Es hatte sich eingebürgert, im Sommer eine Freilichtaufführung im Innenhof der Alten Münze vorzustellen. Das versprach einen stimmungsvollen Abend vor der Kulisse eines wunderschönen Spätrenaissance-Ensembles. Die Aufführungen waren, wie man heute sagt, oft suboptimal. Das Hauptproblem aber bestand darin, dass für diese Aufführungen die Mittel aus dem Etat des Studiengangs Schauspiel ausgegeben wurden. Wir entschlossen uns, diese Sommer-Bespielung zu streichen. Bei einer weiteren Durchsicht des Etats stellte sich heraus, dass die Bayerische Theaterakademie indirekt die offensichtlich darbende Bayerische Staatsoper, das Nationaltheater, mitfinanzierte. Möglicherweise hatte August Everding, der ehemalige Intendant der Bayerischen Staatsoper, seinem alten Haus besonders günstige Bedingungen in der Zusammenarbeit mit der Theaterakademie eingeräumt. Jedenfalls konnte die Staatsoper für ihre Opernfestspiele über Wochen unsere Proben- und Aufführungsräume für einen Appel und ein Ei benutzen.

Natürlich waren wir mit der Staatsoper assoziiert, aber 800 Euro am Tag für Räume, Technik und Personal waren praktisch geschenkt. Ich ging zum Minister für Forschung, Wissenschaft und Kunst – ein ehemaliger Zahnarzt –„BEWARE OF DENTISTS“ heißt es bei Heiner Müller in „Ajax zum Beispiel“ – und habe ihm gesagt, dass wir die Staatsoper mitfinanzierten und habe 2.500 Euro für die Proben pro Tag und 5.000 ab dem 40. Tag gefordert. Da kamen sofort böse Kommentare von Seiten der Staatsoper, und der Minis284

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ter war verunsichert. Ich habe ihn aufgefordert, unser Hausrecht zu bestätigen, und am Ende konnten wir uns durchsetzen. Aber das Verhältnis zur Staatsoper blieb angespannt. Was sich daraus ent­ wickelte, lässt sich im Modus der Parallelmontage darstellen: Die Staatsoper wollte auch an anderen Orten spielen, sie wollte mobil sein und hat sich nach einer Spende von 1,5 Millionen von BMW und einer weiteren ministeriellen Zusage von 1,5 Mil­lionen Euro eine mobile sogenannte „Mini“-Oper finanzieren lassen. An der Theaterakademie waren wir inzwischen so weit, dass wir die Idee der Vermittlung, die ich eingangs skizziert habe, weiterverfolgen konnten. Wieder war es die Bosch-Stiftung, die uns 30.000 Euro für zwei Workshops zur Verfügung gestellt hat, um dazu Expert:innen von überallher einzuladen. Die Workshops blieben nicht ohne Folgen. Es ging daraus ein umfangreiches Papier „Zur Vermittlung des Musiktheaters“ hervor. Ausführlich wurde darin die Idee von Vermittlung als Erfahrung, ja Widerfahrnis entfaltet, die, aus der Erschütterung der eigenen Denk- und Wahrnehmungsmuster heraus, neue Entdeckungen und Selbstentdeckungen im Medium des Musiktheaters möglich macht. Die hinausreichten über die Didaxe der Musikund Theaterpädagogik, diese aber gleichwohl miteinschlossen. ­Dieses Papier war als Begründung, als Grundlage eines neuen Studiengangs zur „Vermittlung des Musiktheaters“ gedacht. Für die Finanzierung habe ich es beim Ministerium eingereicht. In der Theaterakademie selbst, aber auch bei den Kolleginnen und Kollegen der Musikhochschule stieß der Plan auf einhellige Zustimmung.

Dann hieß es plötzlich aus dem Ministerium, es sei kein Geld dafür da. Ich ging zum Minister und sagte ihm unmissverständlich, was ich davon halte, dass man dort kein Geld für einen so wichtigen Studiengang zur Verfügung stellen wollte, jedoch 1,5 Millionen für die sogenannte „Mini“-Oper auszugeben im Stande sei. Allein die Lagerung, der Auf- und Abbau der „kleinen“ mobilen Oper, für die 22 Sattelschlepper benötigt wurden, belief sich auf mehrere hunderttausend Euro. Ich fand es skandalös, dass nicht einmal 400.000 Euro, die der Studiengang für ein Jahr gekostet hätte, zur Verfügung standen. Ein Jahr später konnte 285

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man die mobile „Mini“-Oper für einen Euro kaufen. Wer der glückliche Besitzer geworden ist, weiß ich nicht. Das Geld war verbrannt, der Studiengang wäre der erste in Deutschland ge­ wesen.

Wer glaubt, die Presse hätte darauf reagiert, weiß nichts von den Münchner Verhältnissen. Nichts kam von der Presse, gar nichts. Ich habe die Süddeutsche Zeitung auf den Skandal aufmerksam gemacht. Keine Reaktion. Schließlich ging es um das Nationaltheater, da wollte sich keiner dran vergreifen. Einmal wurde ich von einem Münchner Journalisten gefragt, wie wir es denn in Stuttgart geschafft hätten, sechsmal „Opernhaus des Jahres“ zu werden.

Es schwang der Vorwurf mit, wie wir uns etwas anmaßen konnten, was eigentlich der Bayerischen Staatsoper zustand. Mir fehlte die Fantasie, um darauf zu antworten, also reagierte ich ironisch: „Ach wissen Sie, wir haben so längliche Umschläge, da tun wir bei der Premiere für die Kritiker 4 x 200 Euro rein.“ Als Thomas Koch, unser Kommunikationsdirektor, davon hörte, war er entsetzt: „Wie kannst du nur! In München nehmen sie das für bare Münze.“ Vermutlich hatte er recht. So viel zur Atmosphäre im Freistaat Bayern.

Trotz solcher Querelen habe ich die Bayerische Theaterakademie von 2006 bis 2014 acht Jahre lang mit Hingabe, Freude und Erfolg geleitet, länger als alle meine Vorgänger in diesem Amt.

Der Deutsche Bühnenverein 12 Jahre lang, von 2003 bis 2015, war ich Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Wer in diesem Amt nur eine repräsentative Rolle vermutet, täuscht sich über die vielfältigen tarifrechtlichökonomischen und gesellschaftspolitischen Aufgaben des Bühnenvereins. Der Deutsche Bühnenverein wurde bereits 1846 in Oldenburg gegründet. Sein erster Vorsitzender war der Generalintendant der Königlichen Schauspiele Karl Theodor von Küstner.

Anlass waren damals – zur Zeit des Star-Systems im Theater – die zunehmenden Vertragsbrüche von Schauspielerinnen und Schau286

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spielern, um ein höher dotiertes Engagement zu erhalten. Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, schlossen sich die Intendanten der Schauspielhäuser als Arbeitgeber zusammen. Heute ist der Deutsche Bühnenverein der Bundesverband der öffentlichen und privaten Träger der deutschen Theater und Orchester.

Er vertritt 430 Mitglieder, von den Stadt- und Staatstheatern, Opernhäusern bis zu Landesbühnen, Privattheatern und Rundfunkgesellschaften in allen arbeitsrechtlichen und gesellschaftspolitischen Belangen. Die eminente politische Bedeutung des Bühnenvereins unterstreicht die Tatsache, dass seine Präsidenten überwiegend Oberbürgermeister oder Senator:innen waren. Als Vertretung der Arbeitgeber im Theaterbereich ist der Bühnen­ verein Tarifpartner der Bühnengewerkschaften. Mit anderen ­Worten: Beim Handeln und Verhandeln des Deutschen Bühnen­ vereins geht es ans Eingemachte. Man denke etwa an die Tarif­ erhöhungen in den Gewerken, die, wenn sie in den städtisch und/oder staatlich finanzierten Budgets der Häuser nicht eingepreist sind, manche Theater an den Rand der Schließung bringen.

Ein eklatantes Beispiel ist dafür die Lage des Theater Bremen in den 1990er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends. Chronisch unterfinanziert sollten dort nach einem vom Bremer Senat in Auftrag gegebenen Gutachten der Unternehmensberatungsfirma McKinsey & Company 6,5 Millionen DM eingespart werden.

Massive Proteste des Theaters und des Deutschen Bühnenvereins haben das verhindert. Dennoch hatte das Theater in der Spielzeit 2005/06 durch die weiter anhaltende Unterfinanzierung 4,8 Millionen Euro Schulden angehäuft und die GmbH stand vor der Insolvenz, bevor im Bremer Senat doch noch ein Sinneswandel eintrat.

Was auch immer die Fehler der Bremer Theaterleitung gewesen sein mögen, die Hauptverantwortung für die Theaterkrise lag bei der Politik. Klaus Pierwoß, der Bremer Intendant, hatte es in seiner 15jährigen Amtszeit mit nicht weniger als neun Kultur­ senator:innen zu tun. Verlässlichkeit und Planbarkeit sieht anders aus. Hier am (Miss)Verhältnis zwischen den Theatern und der Politik anzusetzen, sah ich als die dringendste Aufgabe für den Präsi287

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denten des Deutschen Bühnenvereins an. Intendanten und Kulturpolitiker saßen ja im Verwaltungsrat des Bühnenvereins an einem Tisch. Die Vermittlung von Politik und Theater war nie einfach, sie war unkalkulierbar und im Ergebnis offen. Keiner der Beteiligten konnte sich dabei auf gleichsam ererbte Positionen und Besitztitel berufen. Aber auch diese Art der Vermittlung war, wie alle anderen, an denen ich Anteil hatte, notwendig und unvermeidlich. Das Zusammentreffen der oft entgegengesetzten Interessen von Politik und Theaterleitung angemessen zu moderieren, hat mir, bei allen damit verbundenen Belastungen, Freude gemacht.

Seit meinem Amtsantritt 2003, aber bereits zuvor auf den Weg gebracht, wurde jährlich der deutsche Theaterpreis DER FAUST verliehen. Er wird getragen vom Deutschen Bühnenverein, der Deutschen Akademie für Darstellende Künste und der Kulturstiftung der Länder. Ausgezeichnet werden herausragende künstlerische Leistungen in einer breiten Skala von Theaterbereichen. Hinzu kommt die jährliche Auszeichnung für das Lebenswerk einer Künstlerin bzw. eines Künstlers. Von 2010 bis 2014 haben wir die Sparten, in denen der FAUST verliehen wurde, erweitert durch einen „Preis des Präsidenten“. Es ging dabei darum, diejenigen sichtbar zu machen, die nicht im Rampenlicht der Bühne stehen, aber für das Fortbestehen und die Weiterentwicklung der Theaterlandschaft in Deutschland von Bedeutung sind. So habe ich auf die wichtige Arbeit der Landesbühnen für das kulturelle Angebot in ländlichen Räumen mit einem Preis aufmerksam gemacht und die Bedeutung von Ensembleleistungen am Beispiel des Staatsschauspiels Stuttgart hervorgehoben. Hans Tränkle, der ehemalige Geschäftsführende Intendant der Staatstheater Stuttgart, ohne den es den Höhenflug des Hauses nicht gegeben hätte, wurde ausgezeichnet. Zweimal ging der Preis des Präsidenten an Vertreter:innen der Theaterwissenschaft: an Erika Fischer-Lichte und an das Leipziger Institut für Theaterwissenschaft. Theater, das wollte ich damit deutlich machen, braucht die kritische Reflexion und Aufarbeitung seiner Praxis durch die Wissenschaft ebenso wie Theaterwissenschaft den ständigen Kontakt mit der Praxis benötigt.

Auch in diesem Fall ging es mir, noch einmal, um Vermittlung.

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LEHRSTÜCK OHNE LEHRE VERSTUMMTE STIMMEN UNERHÖRTE AUGENBLICKE

Lob der Nische Als ich mich im August 2014 vom Amt des Präsidenten der Bayerischen Theaterakademie August Everding verabschiedete, führten die Studierenden der Dramaturgie eine Sprechkantate für mich auf. Deren Refrain bestand aus dem schlichten Vierzeiler: Ja, da hat der Klaus mal wieder recht gehabt Ja, da hat der Klaus mal wieder recht gehabt Ja, da hat der Klaus mal wieder recht gehabt Ja, da hat der Klaus mal wieder recht gehabt Die im Laufe der Kantate vermeintlich endlos wiederkehrenden Worte haben mich berührt und erheitert. Berührt, weil daraus die Anerkennung für eine Arbeit sprach, die in ihrem Planen und Tun nicht nur immer wieder richtig gelegen hatte, sondern es auch recht machen wollte. Erheitert haben mich die Verse, weil sich darin auch eine gewisse Ironie aussprach. Kein Mensch kann immer recht haben. Das zu wissen und zuzugeben, bringt große Erleichterung mit sich. * Die Ambivalenz zwischen der Wertschätzung richtigen Meinens und Tuns einerseits und der ironischen Selbstbescheidung des 289

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Wissens, dass der Anspruch, immer recht zu haben und das Richtige zu tun, ein vergeblicher ist, durchzieht auch die Aussagen dieses Buchs. Als ein „Lehrstück ohne Lehre“ hat Max Frisch sein Theaterstück „Biedermann und die Brandstifter“ 1958 im Untertitel bezeichnet. Zu der Zeit war man noch überzeugt, dass die Gattung des Lehrstücks, die den jungen Brecht ebenso bekannt wie berüchtigt gemacht hatte, der kommunistischen Indoktrination diente. Heute ist erwiesen, dass Brechts Lehrstücken keine Lehre zu entnehmen ist, sondern dass sie, mit Heiner Müller gesprochen, „Stellplätze der Widersprüche“ darstellen: Diese Idee eines Lehrstücks ohne Lehre, die sich mit der Erfahrung und dem Leben in und mit Widersprüchen verbindet, scheint mir gut zu taugen, wenn ich auf die Schauplätze meines Lebens als Dramaturg und Intendant, akademischer Lehrer und Beauftragter in Sachen des Theaters blicke. * Dass sich all diese Stationen und Tätigkeiten nicht zu einem sinnstiftenden Ganzen runden, sondern, im doppelten Sinn von Lebens- und Theaterarbeit, „Stück-Werk“ bleiben, habe ich eingangs gesagt. Ohne die Abwesenheit einer Lehre, die man aus meinem beruflichen Leben ziehen könnte, beschönigen zu wollen, halte ich dieses biographische „Stück-Werk“ für die Voraussetzung, um jene Erfahrungen zu machen, die man in einem Lehrstück ohne Lehre machen kann. Das gilt für mich selbst und auch für alle, die sich als Leserinnen oder Leser mit diesem „Stück-Werk“ beschäftigen. * „Ja, da hat der Klaus mal wieder recht gehabt.“ Wirklich? Ich würde es vorziehen zu sagen: Ich hatte Glück mit allen Entscheidungen, die ich getroffen habe, und mehr noch vielleicht mit denen, die ich nicht getroffen habe. Man kennt die Formulierung, dass er oder sie falsch abgebogen sei, für jemanden, der eine fatale Entscheidung im Leben getroffen hat. In meiner beruflichen Laufbahn sind solche Kreuzungen fürs richtige oder falsche Abbiegen die Angebote, die man von diversen Theater- und Opernhäusern 290

LEHRSTÜCK OHNE LEHRE

bekommt. Es sind merkwürdige und erhellende Erfahrungen, von bizarr über verlockend bis anmaßend, die man dabei machen kann. * Noch während meiner Tätigkeit in Frankfurt bekam ich Anfang der 1980er Jahre ein Angebot aus Basel. Ob sie mich einladen könnten, nach Basel zu kommen? Ja, selbstverständlich komme ich nach Basel. Und dann kam ich dorthin. Da saß dann eine halbe Gemeinde von vielleicht 15 Leuten, und das Gespräch lief anfangs ganz gut. Einige von denen hatten einiges gesehen in Frankfurt, unter anderem „Aida“. Die Neuenfels-„Aida“, die zum Markenzeichen des zeitgenössischen Frankfurter Musiktheaters geworden war. Als das Stichwort „Aida“ fiel, fragte plötzlich eine auf den ersten Blick distinguierte Dame an, wie ich eigentlich dazu käme, so einen, wie sie es formulierte, „Mist“ überhaupt zuzulassen, geschweige denn zu produzieren. Ich dachte, ich bin im falschen Film. Ich habe es kurz gemacht: „Sie wollen mich als Intendanten für Basel haben und beschweren sich jetzt über die Frankfurter ,Aida‘? Das hätte Ihnen vorher einfallen können. Sie haben mich kennengelernt. Ich habe Sie kennengelernt. Jetzt fahre ich nach Frankfurt. Auf Wiedersehen.“ Das war Basel. * Ebenfalls noch in meiner Frankfurter Zeit rief mich Hermann ­Glaser, der Kulturdezernent der Stadt Nürnberg, wegen der Übernahme der Intendanz des Nürnberger Theaters an. Glaser war einer der renommiertesten Kulturdezernenten der Republik, der das Amt 26 Jahre innehatte und viel zur kulturellen Entnazifizierung der Stadt beigetragen hat. Die Gespräche mit den Verantwortlichen in Nürnberg verliefen nicht immer einfach, aber letzten Endes gut. Doch sie wurden in allen Details durchgestochen an die Abendzeitung – von jemandem, der mein Kommen unbedingt verhindern wollte. Das ist gelungen. * Als es an der Staatsoper Stuttgart richtig gut lief und wir von den Kritikern schon mehrfach zum Opernhaus des Jahres gewählt 291

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worden waren, bekam ich zwei Angebote aus Berlin: zum einen von der Deutschen Oper, wegen der Bismarckstraße, an der sie liegt, auch Bismarck-Oper genannt, und später von der Staatsoper Unter den Linden, der Lindenoper. Die Bismarck-Oper war zu der Zeit in keinem guten Zustand. Ihretwegen Stuttgart zu verlassen, wäre ein schlechter Tausch gewesen. Interessanter, ja reizvoller, war das Angebot, die Lindenoper zu übernehmen. Der starke Mann und spiritus rector der Lindenoper war ihr berühmter Generalmusikdirektor Daniel Barenboim. Barenboim hat mir im Gespräch versichert, wenn ich zu ihnen nach Berlin käme, dann wäre er mein Generalmusikdirektor. Ob er sich daran gehalten hätte, wer weiß. Ich habe am Ende abgesagt. Der Lindenoper stand eine grundlegende Sanierung mit einem Ausweichspielort im alten Schillertheater bevor. Es hätte ein mehrjähriges Provisorium bedeutet, das viel Kraft und Reserven gekostet und die Möglichkeiten, ein attraktives modernes Musiktheater zu machen, wie wir es in Stuttgart praktizierten, erheblich eingeschränkt hätte. * Ich will nicht auf alle Angebote, mich beruflich zu verändern und die Zelte an einem anderen Ort aufzuschlagen, eingehen – darunter Essen, das Pariser Théâtre du Châtelet und ein dubioser Anruf aus einem Münchner Ministerium, Intendant der Bayerischen Staatsoper zu werden. Aufschlussreich, deshalb sei es hier zum Schluss angeführt, war 2001 das Angebot, als Nachfolger von Gerard Mortier die Salzburger Festspiele zu leiten. Mortier selbst hatte mich vorgeschlagen, und ich trat in Verhandlungen ein. Die Leitungsorganisation der Salzburger Festspiele ist kompliziert. Es gibt den Festspielfonds, der über die Finanzen verfügt, und als seine Ausführenden ein siebenköpfiges Kuratorium aus (Kultur)Politiker:innen, und dazu dann das Direktorat. Eingebunden in diese Struktur ist der Intendant, der aber keine tatsächlichen Intendantenbefugnisse hat. In den Gesprächen mit Salzburg machte ich deutlich, dass ich diese Struktur für ineffizient und wenig praktikabel hielt. Mir ging es nicht um Alleinherrschaft, sondern um, wie man so sagt, „Beinfreiheit“. Ich wollte einen für 292

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die konzeptionelle, praktische und organisatorische Arbeit erweiterten Handlungsspielraum, für den ich Verantwortung übernehmen konnte. Ich merkte, dass meine Gesprächspartner angesichts meiner Vorstellungen lange Fingernägel bekamen. Eine tatsächliche Intendantenverfasstheit sei sehr schwer durchzusetzen, das bekämen sie vermutlich nicht hin, vielleicht auch, weil sie es gar nicht wollten. Jedenfalls bekam ich nach einiger Zeit einen Anruf, dass es ihnen leider nicht gelungen war. * Es war gut so, wie es gekommen ist. Vermutlich habe ich in Salzburg und Berlin nicht mit dem letzten Nachdruck verhandelt, weil mir immer Frankfurt und Stuttgart als Modell vor Augen standen. Ich war, das wurde mir immer deutlicher klar, Intendant, kein Großintendant. Als wir in Stuttgart von der renommierten Fachzeitschrift Opernwelt zum vierten Mal zum „Opernhaus des Jahres“ gewählt worden waren, habe ich mich vor das Ensemble gestellt und gesagt: „Ja, wir sind sehr gut, vielleicht auch hervorragend, wie die Kritiker schreiben, und wir haben allen Grund, stolz zu sein auf das, was wir hier leisten, und glücklich, dass es dieses Gesamtensemble des Hauses und diesen Ensemblegeist gibt.

Aber machen wir uns nichts vor. Selbst wenn wir x-mal Opernhaus des Jahres werden sollten (wir wurden es noch ein fünftes und sechstes Mal), sind wir nicht repräsentativ für das allgemeine Musiktheater. Wir besetzen lediglich eine kleine Ecke. Wir sind Nische.“ Ich zielte mit diesen Worten nicht auf eine Herabwürdigung und Geringschätzung unseres Tuns, sondern zum einen auf eine realistische Einschätzung des rein quantitativen Verhältnisses von konventioneller Opernpraxis, die weiterhin weltweit dominiert, zu einem immer noch marginalisierten zeitgenössischen Musiktheater, für das wir einstehen. Zum anderen ging es mir ­darum, uns allen klarzumachen, dass diese Nischenexistenz gerade die Bedingung dafür ist, dass wir als ganzes Haus – von der Pforte und dem Kartenverkauf über die Garderobe und allen Gewerken bis zu den Sängerinnen und Sängern, dem Orchester, dem Chor, der Dramaturgie und Regie und dem Leitungsteam – mit voller 293

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Überzeugung und engagiert an einem Musiktheater für die Menschen des 21. Jahrhunderts arbeiten. Ein Musiktheater für die, wie Brecht gesagt hat, „Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters“, die ihre Zukunft über die Aneignung und Transformation der geschichtlichen Vergangenheit entwerfen. Die großen Tanker des globalen Opernbetriebs mit ihren zementierten Publikumserwartungen aus dem 19. Jahrhundert und ihre Erfüllungsgehilfen in den daraufhin ausgerichteten Apparaten tun sich schwer, den Kurs in Richtung Zukunft zu ändern. Es sind die Unternehmungen, die aus dem Schutz der Nische kommen, die diesen Kurs entschlossen einschlagen. Das Forum Neues Musiktheater im Römerkastell über dem Neckar in Stuttgart steht exemplarisch für die Alternative zu den Traumschiffreisen der kulinarischen Oper: ein wendiges Boot, das die Gewässer der konkreten Utopie erkundet. Für die Zukunft, für die konkrete Utopie des Musiktheaters braucht es viele künstlerische Initiativen aus den Nischen des Opernbetriebs.

PS: „Stuttgart zum 6. Mal gewählt.“ Unter dieser Überschrift schreibt die Süddeutsche Zeitung am 4.10.2006: „Deutschlands Opernkritiker haben zum sechsten Mal seit 1994 in der Jahresumfrage der Zeitschrift Opernwelt die Stuttgarter Oper zum ,Opernhaus des Jahres‘ gewählt. (…) Deutschlands Opernintendanten können sich damit trösten, dass die Ära Zehelein vorbei ist und sie von jetzt an wieder reelle Titelchancen haben.“

Verstummte Stimmen Und es braucht Initiativen, die ihre Arbeit in eine Historiographie der Künste einreihen, welche Geschichte immer erneut auf ihre Präsenz in der Gegenwart hin befragen. Denn Vergangenheit, die nicht in der Gegenwart aufscheint, wuchert fort im Schweigen über begangenes Unrecht und kehrt wieder – im Hass der populistischen Bewegungen unserer Tage. Mehr als sechzig Jahre sind nach der Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland vergangen, bis die 294

LEHRSTÜCK OHNE LEHRE

Eliminierung von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern aus den Opernhäusern in Deutschland erforscht und ins Gedächtnis der Heutigen gerufen wurde. Hannes Heer, Jürgen Kesting und Peter Schmidt ist das Projekt „Verstummte Stimmen“ zu verdanken, das seit 2006 in überregionalen und lokalen Ausstellungen an die Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik in deutschen und österreichischen Opernhäusern erinnert. 2008 wurde ich als Präsident des Deutschen Bühnenvereins eingeladen, die Ausstellung in der Staatsoper Stuttgart zu eröffnen. In meiner Rede konzentrierte ich mich auf die Haltung, die es braucht, um damals wie heute die Stimme gegen geschehendes Unrecht zu erheben, gegen manifeste Gewalt. Ein prominentes Beispiel für den feigen Opportunismus gegenüber dem nationalsozialistischen Wüten gegen Kunst und Kultur ist der auch nach 1945 weiterhin gefeierte Dirigent Karl Böhm, der im März 1933 unter aktiver Beteiligung von Adolf Hitler den Posten des geschassten „Judenfreunds“ Fritz Busch als Generalmusikdirektor in Dresden einnahm und sich auch danach den Nazis in jeder Weise andiente. Jener Karl Böhm, der noch 1963 Emigranten verhöhnte, die ja im kalifornischen Paradies gelebt hätten, während er die „schwere Zeit“ des Kriegs hätte durchmachen müssen. Es sind solche aus Verdrängung, Opportunismus und ungebremstem Machtwillen geborenen Einstellungen und Haltungen, angesichts derer der im Exil überlebende Fritz Busch den prosaischen Satz prägte: „Es ist wichtiger, sich anständig zu benehmen, als gute Musik zu machen.“ Das richtet sich gegen die Vorstellung, man könne „gute Musik“ im gesellschaftlich luftleeren Raum produzieren. Ganz in diesem Sinn ­haben die Verantwortlichen der Bayreuther Festspiele lange unter dem „Meistersinger“-Motto „Hier gilt’s der Kunst“ jede Verantwortung für die nationalsozialistische Indienstnahme der Festspiele abgelehnt. Gegen solche Versuche, die angeblich „reine Kunst“ von den Lebensumständen einer Gesellschaft loszulösen, hat Hanns Eisler lapidar gesagt: „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts.“ * 295

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In meiner Eröffnungsrede der Ausstellung „Verstummte Stimmen“ war für mich eine pointierte Analyse von Dietrich Bonhoeffer zentral, der, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus stehend, noch kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet worden war. Bonhoeffer schrieb: „Es musste sich herausstellen, dass eine entscheidende Grunderkenntnis den Deutschen fehlte: die von der Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag. An ihre Stelle trat einerseits unverantwortliche Skrupellosigkeit, andererseits selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führt. Zivilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Menschen erwachsen.“ * Bonhoeffers Worte halte ich heute, angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs der populistisch-demokratiefeindlichen Bewegungen, für aktueller denn je. Sie sollten die Grundlage einer dringend benötigten Ethik der Theaterarbeit werden.

Unerhörte Augenblicke Der Hass rechtsextremer Feinde der Demokratie ist eine Konsequenz aus der Kälte moderner Gesellschaften, in denen die Beziehungen zwischen den Menschen erstarren. Theodor W. Adorno, um noch einmal auf ihn zurückzukommen, plante nach seinem Werk „Ästhetische Theorie“ eine weitere Arbeit, zu der er nicht mehr gekommen ist. Sein Titel sollte nur aus einem Wort bestehen: „Kälte“. Kälte sah Adorno als den Aggregatzustand moderner Gesellschaften an – Kälte als die Normaltemperatur von gesellschaftlichen Umgangsformen, die immer wieder zu Ausbrüchen von Barbarei inmitten gegenwärtiger Formen des Zusammenlebens führen. * Kälte ist das Thema, die Atmosphäre und das Fluidum, das Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ umgibt und grundiert. In der Kälte der Silvesternacht umher­ irrend, erfährt das Mädchen, das Streichhölzer für die Familie 296

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v­ erkaufen soll, im ersten Teil der Oper die Kälte der Mitmenschen, die es nicht beachten. Mit seinen nicht verkauften Streichhölzern erschöpft in der Nische einer Hauswand sitzend, entzündet das Mädchen ein Streichholz: „Sie zog eines heraus, ‚Ritsch!‘.

Wie sprühte es, wie brannte es! […] es war ein wunderbares Licht! Es kam dem Mädchen vor, als sitze es vor einem großen eisernen Ofen“, so Hans Christian Andersen zu Beginn des zweiten Teiles der Komposition. Das Mädchen handelt gegen jede gesellschaftliche Vernunft, indem es beginnt, das Kapital der ihr entfremdeten Familie zu vernichten. Es entzündet ein weiteres Streichholz und erlebt die Imagination eines üppig gedeckten Tischs für ein Silvestermahl. Und noch ein drittes Streichholz zündet das Mädchen an. Mit dem dritten „Ritsch“ ist in Lachenmanns Oper die größte Geräuschperforation erreicht. Gleich einem Feuerwerk durch den Riss über den Wirbel der Klavier­ saiten, durch prasselnde Pizzicato Arpeggien der Streicher, ein Crescendo der Pauken, durch den hämmernden Holzstab wird die Streichholzfriktion ins Riesenhafte gesteigert, wird die Erscheinung der Großen Mutter evoziert: „‚Großmutter‘, rief die Kleine. ‚Oh, nimm mich mit!‘ […] Sie strich eiligst den ganzen Rest der Hölzer, die noch in der Schachtel waren, an […].“ Am Ende des Märchens ist das große Instrumentarium auf¯ einem gebraucht, die eigenartig fremden, fernen Klänge des Sho, rituellen Instrument aus der japanischen Gagaku-Musik, leiten über zur Aktion der zwei Konzertflügel, die durch ein feines Hämmern des jeweils höchsten Tones der Tastatur das Stück beenden: Klopfzeichen, mit denen Eingeschlossene auf sich aufmerksam m ­ achen, Morsezeichen aus einem eisigen Jenseits.

In Lachenmanns Musikalisierung des Märchens wird ein Gleichnis-Charakter vernehmbar. Sein Umgang mit dem Märchen entspricht nahezu einer barocken Exegese: Die Geschichte des Mädchens erscheint als Gleichnis von Fremdbestimmung und Auflehnung, von der gesellschaftlichen ­Kälte und dem Feuer, das sie vertreiben kann. Es ist nicht zu weit hergeholt, wenn ich den Gleichnis-Charakter, der dem Werk eigen ist, ausweiten und die 297

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barocke Exegese auf die Stellung der Oper selbst und unserer Arbeit an und für die Oper in der Gesellschaft anwenden möchte. Opern und Opernarbeit können die Welt nicht retten. Die Vorstellung, das Feuerwerk, das wir mit unseren Aufführungen entfachen, könnte uns auf Dauer erwärmen, ist illusionär. Aber die Lichter, die wir Abend für Abend entzünden, können für Augenblicke, für unerhörte Augenblicke, die Zustände, in denen wir leben, erhellen und Gefühle und Leidenschaften wecken, die uns ahnen lassen, wie eine Welt ohne Kälte, ohne die kalte Flamme des Hasses aussehen könnte.

Von Anbeginn an, von Monteverdis „L‘Orfeo“ bis zu Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, ist Oper Vorschein einer Welt, deren Komplexität, deren Vielfältigkeit zur Lust des Erlebens herausfordert – eine Lust, die uns nur dann ­erfasst, wenn wir das Uneingelöste zulassen. „Ist die Oper eine veraltete Kunstform?“ Ja, das bestätigt sie oft in schrecklichen Aufführungen, an Abenden des Verrats. Hegel hätte dem, was sein sollte und was doch trauriger Tatbestand ist, entgegnet: Umso schlimmer für die Wirklichkeit. Fassen wir also Mut und folgen dem Mädchen mit den Schwefelhölzern.

Zünden wir die Streichhölzer an, immer wieder und erneut, für unerhörte Augenblicke: Ritsch.

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Foto: Stefan Petraschewsky

Günther Heeg, Prof. em. für Theater­­wissen­schaft und Gründungsdirektor des Centre of Competence for Theatre der Universität Leipzig, forscht über Brecht („Recycling Brecht“), das Theater der Wiederholung („Reenacting History“), Gegen­wartstheater („Das Transkulturelle Theater“) und die Zeit­genossenschaft der Oper („Fremde ­Lei­d­en­­schaften Oper“).

Klaus Zehelein hat das neue deutschsprachige ­Musiktheater entscheidend geprägt. Seine Arbeit als Dramaturg und Intendant kann mit Blick auf die ­Erfindung und Ausgestaltung einer Oper für den modernen Menschen als modellhaft gelten. Fernab von Vorstellungen eines auf „Aktualisierung“ zielenden Regietheaters gewinnen Zeheleins Ideen eines heutigen Musiktheaters durch die intensive Aus­ einandersetzung mit der Geschichte der Werke zukunftsträchtige Brisanz. Die Autobiographie folgt den Stationen seines Wirkens – von den Anfängen in Kiel und Oldenburg hin zu den Zeiten des Aufbruchs in Frankfurt und Stuttgart bis zu seiner ­Tätigkeit als Präsident der Bayerischen Theater­ akademie und des Deutschen Bühnenvereins. Sie zeigt, was Musiktheater sein kann: ein Ort unerhörter Augenblicke, die die Gegenwart neu entdecken lassen.

978-3-95749-561-7

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