Julian Beck: Das Theater leben (Das Manifest des Living Theatre)

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Julian Beck Das Theater leben Das Manifest des Living Theatre


Julian Beck war ein Künstler, der ­unnachahmlich revolutionär lebend gearbeitet und unaufhörlich arbeitend gelebt hat. Der amerikanische Aktivist und Poet, Maler und Anarchist g­ ründete zusammen mit seiner Frau Judith Malina das später weltberühmte Living Theatre. Mit ihren Stücken trat die Gruppe auf den Straßen New Yorks, in Gefängnissen und Krisengebieten Amerikas auf, um mit ihrem revolutionären Theater aufzurütteln. In seinen parallel zur künstlerischen Arbeit entstandenen Schriften entwickelt Beck einen ganzheitlichen Theaterbegriff und philosophisch-spirituelle Gedanken, die seine radikale Kritik an der Gesellschaft mit einem bis heute berührenden Entwurf von Positivität verbinden. Sowohl ästhetisch wie auch politisch sucht Julian Beck alternative Ausdrucks- und Praxisformen im Leben der Marginalisierten, der Schwarzen, der Frauen, der Indigenen und Outsider, denen er in seinen Schriften eine eigene Form von Schönheit, Eigensinn und Unbändigkeit zurückerstattet. Becks Miniaturen, Briefe und Gedichte entstanden in den Jahren des Exils der Kompanie zwischen Brasilien und der Schweiz, Brooklyn und Marokko. Sie geben Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Freien T ­ heaters, wie wir es heute kennen, aber auch in den intellektuellen und künstlerischen Stoffwechsel eines der folgenreichsten Theaterkünstler des 20. Jahrhunderts. Mit Das Theater leben liegt ein Klassiker des politisch-aktivistischen ­Theaters erstmals in deutscher Übersetzung vor.

„Julian Beck hat den Willen zur Totalität, er sucht den Moment, der das ganze System aufbricht.“ Milo Rau


Das Theater leben Julian Beck



DAS THEATER LEBEN Der Künstler und der Kampf des Volkes Julian Beck Herausgegeben von Thomas Oberender Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel Mit Texten von Thomas Oberender, Judith Malina und Milo Rau Mit Fotos von Bernd Uhlig


Wir danken den Berliner Festspielen für die Zusammenarbeit an dieser Publikation. Julian Beck Das Theater leben Der Künstler und der Kampf des Volkes Herausgegeben von Thomas Oberender Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel © 2021 by Theater der Zeit Originalausgabe: the life of the theatre. the relation of the artist to the struggle of the people © 1972 by Julian Beck Wie danken Garrick Beck für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Texte von Judith Malina und Julian Beck. Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72, 10405 Berlin, Germany www.theaterderzeit.de Übersetzung: Beate Hein Bennett, Anna Opel Lektorat: Nicole Gronemeyer Umschlagfotos und Bildstrecke: Bernd Uhlig Gestaltung: HIT Druck: Druckhaus Sportflieger Printed in Germany ISBN 978-3-95749-343-9 (Paperback) ISBN 978-3-95749-378-1 (ePDF) ISBN 978-3-95749-379-8 (EPUB)


Thomas Oberender Messianismus und Revolution Über Das Theater leben von Julian Beck

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Julian Beck Das Theater leben: DIE HANDLUNG 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Elend, Theater, Aufstand und Revolution Ich bin ein Sklave Frankenstein, III. Akt Die Kreatur Die Fantasie als Notausrüstung Meditation. 1961. New York City Meditation. 1962. New York City Meditation I. 1963. New York City Meditation II. 1963. New York City fragen. 1963 fragen. 1968 Ai. Aiee. Vordringen. Schlitzen Drei Meditationen über Strategie ATMEN: Notizen für die erste Lektion Meditation. 1966 Die Struktur zerlegen. Polizei Theater I Vertikal sein, sich aufrichten, Homo erectus Wenn die sexuelle Energie der Menschen befreit ist Kleinliche Zusammenstöße Die große Fliegenklatsche Polizei Theater II Polizei Theater III Polizei Theater IV Liberale Besserwisserei Meditation. 1969 Meditation über Schauspiel und Anarchismus Und dann wurde Mogador unsicher, und die ganze Welt war unsicher „Revolutionen kommen wie Diebe in der Nacht“ Nomaden Notizen zur Erklärung von Anarchismus und Theater Schauspiel-Übungen: Notizen für die ersten Lektionen Körper Den Widerstand von Zuschauer und Schauspieler brechen Der Trancezustand des Performers Reflexionen über Aufführungen

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Fernsehen Stars Warum wir die Mise en Scène ändern müssen Die Heldenreise der Performer Die sieben Imperative des zeitgenössischen Theaters Bühnenbild Heiligkeit Brief über Revolution. Judith Malina an Carl Einhorn Die dringende Arbeit Improvisation: Freies Theater Kollektive Schöpfung „Auf Inspiration ist kein Verlass.“ Alchemie Die Bourgeoisie Kann Kunst die Welt verändern? „1968 markiert den Tod einer Kultur.“ Meditation I. 1970 Das absolute Kollektiv Der Stamm Das Ritual Candomblé Religiöses Theater Faschistisches Theater Sexuelles Theater

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Fotostrecke Bernd Uhlig

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Jugend und Alter sind im Volk vermischt Rinne aus fleisch im fleisch Populäres Theater Das Ritual (II) fragen. 1969 Einträge im Arbeitsbuch Antigone Brief an eine Wunde Kurz vor Beginn einer neuen Produktion Gemeinschaft Meditationen über Theater I Die sieben Leuchter der Baukunst Der bürgerliche Instinkt Die Philosophie des Klassischen Theaters – ein Schlag ins Gesicht Meditation II. 1970 Dämmerlicht Selbstzerstörung

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Das große Theater unserer Zeit Der Schrei der Menschen Die Abteilung für politische und soziale Ordnung Die Zofen Meditationen über das Theater II Meditationen 1967–1971 (1930–1971) Avignon. 1968 Dokument: Eric Gutkind über das Was ist zu tun Utopische Rhetorik Dieses Buch Aufzählung Was sind die Bedingungen für ein kreatives Ereignis? Techniken für Konfrontationspolitik: New York City 1969 Die Woodstock Nation Die Besetzung des Odéon Der Genius des Volkes Das Konzept des Sündenfalls Eine Massenbewegung bilden Wie bildet man eine Massenbewegung? Meditation. 1988 Meditation. 1998 Meditation. 2008 Meditation. 1970 Bomb Culture Brief über die Frauenbewegung (Judith Malina an Carl Einhorn) Meditationen über Revolution Meditationen über Gewalt Projekt: Ein Film: WIE MAN SICH AUFLEHNT Meditation über Anarchie In Schönheit zu enden, darum geht es Das Große Stück Schönheit Meditation über Selbstverteidigung. Fragen. 1971 Das Theater ist das Hölzerne Pferd Aus zwei Konversationen über Revolutionäre Theorie Die Theatralisierung des Lebens In der Kunst, die die Menschen anspricht, wird es keine Herablassung geben Alle Macht dem Volk Nach der Revolution FACTA NON VERBA Welche Maßnahmen können wir ergreifen Meditation. Von New York nach Berlin. 1964–1970 für judith wir müssen/wie man sagt/organisieren Arbeitsbuch Notizen: Wörtlicher Bericht. Probe #151

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Notizen. Aktionspläne Das maximale Glück jedes Einzelnen hängt am maximalen Glück aller Nacht

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Judith Malina Feuertaufen in Berlin

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Milo Rau Julian Beck oder Theorie und Praxis der Unreinheit

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MESSIANISMUS UND REVOLUTION ÜBER DAS THEATER LEBEN VON JULIAN BECK Thomas Oberender

Die Idee und Praxis des „totalen Theaters“, von der Julian Becks Buch erzählt, ist bei ihm unlösbar verbunden mit der Praxis der friedlichen Revolution. Und wenn ich darüber nachdenke, so fallen mir, neben Milo Rau, von dem das Nachwort zu dieser deutschen Erstübersetzung von The Life of the Theatre stammt, dem Peng! Kollektiv oder dem Zentrum für Politische Schönheit kaum zeitgenössische Performancekünstlerinnen und -künstler ein, deren Kunst zugleich auf einen Zustandswandel „draußen“ zielt. Christoph Schlingensief war wie Julian Beck ein Künstler, der aus dem Theater ausgezogen und wieder in das Theater zurückgekehrt ist, um dort eine selbstbezügliche Kunst hinter sich zu lassen und eine soziale Situation zu erschaffen, in der die Magie der Kunst verwandelnd wirken kann. Dass die Ideen und Praktiken der friedlichen Revolution von 1989 wirklich revolutionär waren, ist mir erst Jahrzehnte nach ihrem Ende bewusst geworden. Als ich Julian Becks The Life of the Theatre gelesen habe, fühlte ich mich an die Monate eines gesamtgesellschaftlichen Lächelns in Deutschland erinnert – ein gutes halbes Jahr, bevor die Mauer geöffnet wurde, und ungefähr ein halbes Jahr danach war alles veränderbar, stand im Ostteil des Landes alles zur Disposition und wurde der Kampf auf den Straßen, in den neu gegründeten Parteien, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Zeitungen und dem erstmals wieder frei gewählten Parlament belohnt. Unabhängig von der Arbeit des Living Theatre wirkt dieses Buch auf mich als ein eigener Kosmos der Veränderungsideen und des Aufbruchs in etwas Positives – seine Gedanken und Konzepte erzeugen noch heute ein freundliches Vorwärts, das wir in Ostdeutschland ungefähr zwanzig Jahre nach dem Ende dieser Aufzeichnungen tatsächlich im Alltag erlebt haben. Wie wirksam der Entwurf von Positivität mit Protest zusammengeht, ist noch immer verblüffend. Vielleicht berührt Julian Becks und auch Judith Malinas hartnäckige Gewaltfreiheit durch ihren eigentümlichen Messianismus: Im Nest der Gruppe und ihrer Arbeit kann gelebt werden, was als Revolution draußen noch ansteht – als eine Revolution der Körper, der Sexualität, der lebendigen Spiritualität. Diese messianische Note des Denkens und Schaffens von Julian Beck, wie sie sein Buch zeigt, ist mit einer Konstruktion von Positivität verbunden, die bei ihm offenkundig jüdische Quellen hat, aber keiner Partei und Glaubensbewegung folgt. Es ist nicht die Positivität des Kunstheiligen wie bei Botho Strauß, 11


nicht die Positivität des Katholizismus wie bei Paul Claudel, nicht die gnostische Positivität von Jon Fosse oder gottesunmittelbar wie in Peter Handkes Über die Dörfer. Julian Becks Positivität wirkt synkretistisch und anarchistisch. Obwohl Das Theater leben eine Begleiterscheinung von Julian Becks praktischen Erfahrungen ist, seiner unausgesetzten Lektüre, der Begegnung mit Künstlern und Künstlerinnen, Armut, neuen Produktionsformen, anderen Kulturen oder politischen Ereignissen, kristallisiert sich in diesem Buch doch etwas Bleibendes: der komplizierte Wunsch nach einfacher Wahrhaftigkeit, einer Kunst, die mit den Jahren immer deutlicher eine Art von temporärer autonomer Zone bildet, in der, frei nach Hakim Bey, das andere Leben schon jetzt passiert. Beinahe wäre dieses Buch von Julian Beck nie erschienen. „Das Theater leben wurde zweimal geschrieben“, berichtet Judith Malina, Becks Ehefrau und Mitgründerin des Living Theatre im Vorwort der amerikanischen Neuauflage von 1991. „In der Stadt Fontainebleau fiel die erste Version in die Hände eines Diebs; er schnappte es in einem kleinen Garten vor unserm Hotel – in einem Moment war die Arbeit von fünf Jahren weg. ‚Ein glücklicher Zufall‘, sagte der optimistische Julian, ‚denn jetzt kann ich es so schreiben, wie es sein soll . . . Ich weiß so viel mehr.‘ Und er begann von Neuem, Notizen aufzuschreiben: ‚Mach eine Pause und beginne nochmal‘ . . . Sein Leben war so voll und reich, dass da nur gestohlene Momente für die Notizbücher blieben – schnell unterwegs geschrieben, aber auf den langen Straßen kreuz und quer durch Europa meditiert oder in den Zellen oder den Garderoben . . . “ In Julian Becks amerikanischem Wikipedia-Eintrag heißt es, dass er am 31. Mai 1925 in Washington Heights geboren wurde und am 14. September 1985 in New York starb. „Er war ein US-amerikanischer Schauspieler, Regisseur, Dichter und Maler und wurde bekannt als Mitbegründer und Regisseur des Living Theatre sowie für seine Rolle als Kane, der böswillige Prediger im Film Poltergeist II: The Other Side von 1986.“ Julian Beck hat so ziemlich jede Ordnung der bürgerlichen Welt verlassen, von der klassischen Universität über die klassische Ehe bis hin zur klassischen Theaterinstitution oder gesellschaftlichen Bewegung. Nach einem kurzzeitigen Besuch der Yale University veröffentlichte er als Teenager Gedichte, von denen einige bereits anarchistische Ideen enthielten, und begann dann zu malen. Zwischen 1944 und 1958 schuf Julian Beck an die 1500 bis heute erhaltene Werke. Seine frühen Gemälde sind Spielarten des abstrakten Expressionismus der in den beginnenden 1940er Jahren entstandenen New York School, zu der auch Willem de Kooning und Jackson Pollock 12


zählen. Peggy Guggenheim zeigte Julian Beck 1945 in ihrer Galerie Art of This Century und bis heute werden Ausstellungen mit den Werken des jungen Julian Beck organisiert. 1943 lernt er, noch Maler und Student an der Yale University, die damals 17-jährige Schülerin Judith Malina in New York kennen und heiratet sie fünf Jahre später. Ihre Ehe führten sie offen – Beck war bisexuell und gemeinsam mit Judith Malina der langjährige Lebenspartner von Ilion Troya, einem Schauspieler der Gruppe, oder Lester Schwartz, dem späteren Ehemann der Performancekünstlerin Dorothy Parker aus dem Warhol-Umfeld.

Piscator Für die Gründung des Living Theatre spielte Erwin Piscators New Yorker Dramatic Workshop eine bedeutende Rolle. An der Schauspielschule des deutschen Exilregisseurs war Judith Malina von 1945 bis 1947 regulär eingeschrieben, und wie prägend diese Jahre waren, kann man an ihren mehr als sechzig Jahre später veröffentlichten Seminaraufzeichnungen The Piscator Notebook erkennen. Auch Julian Beck belegte einzelne Workshops an Piscators Schule, allerdings ohne ein komplettes Studium zu absolvieren. Zu den später namhaften Studenten und Studentinnen zählten neben Judith Malina auch der Schriftsteller Tennessee Williams oder Harry Belafonte, Marlon Brando, Walter Matthau oder Tony Curtis. Erwin Piscator war einer der folgenreichsten Hochschullehrer seiner Zeit, vergleichbar vielleicht mit dem in Gießen wirkenden polnischamerikanischen Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth. An seiner Schule arbeiteten in und nach den Weltkriegsjahren viele Migranten der ehemals europäischen Theateravantgarde wie Kurt Pinthus, Carl Zuckmayer oder Hanns Eisler, aber auch Lee Strasberg, der mit seinem 1931 gegründeten „Group Theatre“ das Konzept des Method Acting entwickelte und 1947 das „Actors Studio“ gründete. In ihrem Living Theatre knüpften Beck und Malina an die Gedanken von Deutschlands politischstem Regisseur der Zwischenkriegsjahre an. Ihre Aufführungen von Werken der literarischen Avantgarde produzierten sie in den 1950er Jahren zunächst in wechselnden kleinen Spielstätten und trugen so entscheidend zur Entstehung eines Off- und Off-Off-BroadwayTheaters bei, etwas, das Piscator in den späten Vierzigern in New York nicht geglückt war. Erwin Piscator war der Regisseur, der das industriell-technische Zeitalter ins Theater geholt hat. Seit 1924 wirkte er in Berlin als Oberspielleiter der „Volksbühne“ im „Theater am Bülow-Platz“, später Horst Wessel-Platz, später Rosa Luxemburg-Platz. Nach dem Zerwürfnis mit der Volksbühne 13


gründete er 1927 die „Piscator-Bühne“ im Theater am Nollendorfplatz. Er verwendete in seinen Inszenierungen Laufbänder und Lifte, Simultanbühnen und motorisierte Brücken, seine Aufführungen wurden von Bildprojektionen als erzählerische Mittel geprägt und seit 1925 auch durch die Verwendung von dokumentarischen Auftragsfilmen. Zwischen 1927 und 1931 entstanden drei „Piscator-Bühnen“ – zunächst im Theater am Nollendorfplatz, 1928 im Lessing Theater als zweiter Spielstätte und 1930 die „Piscator Bühne“ im Wallner Theater, die in den Jahren der Weltwirtschaftskrise allerdings allesamt wirtschaftlich nicht tragfähig wurden. Gemeinsam mit Walter Gropius entwickelte er am Bauhaus Weimar 1927 die architektonische Vision eines „Totaltheaters“, das die Präsenz des Publikums ins räumliche Theatergeschehen mit einbeziehen sollte. Eine ganz andersartige Auflösung der vierten Wand sollte ein halbes Jahrhundert später auch für das Living Theatre der 1970er Jahre wichtig werden – es baute dafür keine speziellen Theaterräume, sondern zog aus den Theatern aus in Schulen, Fabriken, die brasilianischen Favelas oder den Berliner Sportpalast. Über Julian Becks Buch sagt Judith Malina, dass es „mit dem Sklavendasein in Ägypten beginnt“, der Geschichte von einem Gefängnisausbruch, und mit „dem Ausbruch aus dem Gefängnis, dem Theater, dem Ausbruch in die Welt“ schließt.

Die entscheidenden zwanzig Jahre Das Living Theatre begann sprichwörtlich im Living Room, im New Yorker Wohnzimmer von Julian Beck und Judith Malina, was an das Entstehen des Theaters des Künstlerduos Vegard Vinge und Ida Müller in den frühen 1990er Jahren in Berlin erinnert, die für sich, Freunde und Freundinnen Stücke in ihrem Badezimmer aufgeführt und dabei die handmade-Ästhetik ihrer späteren Produktionen erfunden haben. Das Theater leben handelt von Julian Becks und Judith Malinas Ausbruch in die Welt – es hält die geistigen Bewegungen dieser entscheidenden Zeit fest und denkt die nächsten Schritte vor. 1964 wurden Beck und Malina von einem New Yorker Gericht wegen Steuervergehen zu einer Gefängnishaft verurteilt. Darauf folgte ein rund zwanzig Jahre währendes, selbst gewähltes Exil als nomadisches Tourneetheater, das in 28 Ländern auf fünf Kontinenten fast hundert Stücke in acht Sprachen gezeigt hat. Dieses Exil wurde erst 1984, kurz nach der Magenkrebs-Diagnose Julian Becks, durch ihre Rückkehr nach New York und die Eröffnung eines kleinen Theaters in der 3rd Street beendet. Julian Beck starb mit sechzig Jahren. Aber diese Zeit des TourneeExils der 1960er und -70er Jahre war jene entscheidende Epoche nicht nur in seinem persönlichen Werk, sondern auch in der zweiten Hälfte 14


des 20. Jahrhunderts, in der die wesentlichen Liberalisierungen der westlichen Welt errungen und die Weichen für eine zweite, globale Moderne gestellt wurden. Es war eine Zeit, in der George Harrison Lieder wie „The Inner Light“ schrieb, eine Zeit der spirituellen Wende, der Gurus und Ashrams, aber auch der Politisierung, der Black-Power-Bewegung von Malcolm X, der Studentenrevolten oder Proteste gegen den Vietnam-Krieg. Für die Hippie-Bewegung schien Flower Power nicht nur Power im Sinne von politischer Kraft zu bedeuten, sondern das wörtliche Naherücken an die Kraft der Pflanzen – „fünffingrige cannabis weißes coca der träge mohn die geheimnisse des kaktus die magischen formeln der erde sind unsere chemischen waffen gegen die mörder“, schrieb Julian Beck. Die ersten Ansichten der Apollo-Mission vom fragilen, blau leuchtenden Planeten Erde inmitten des Alls waren Teil eines erwachenden planetarischen Bewusstseins. Es führte zum kalifornischen Aufbruch ins 21. Jahrhundert, der Faszination für die Wüste, Computer und LSD, dem Whole Earth Catalog, der Entstehung von Umwelt- und Friedensbewegungen, der Utopie des Cyberspace und schließlich zum Ende des Kalten Krieges, dessen Symbol die Öffnung der Berliner Mauer wurde. Die Mission des Living Theatre beschrieb Julian Beck 1969 als ein „Anti-Gewalt-Theater. Theater als Fürsprecher für Anarchie, für gewaltlose Revolution, für Revolution“ – weshalb es naheliegt, dass die Öffnung der Mauer für sie eine besondere Bedeutung besitzen würde. 1991, sechs Jahre nach Julian Becks Tod, war Judith Malina auf Einladung der Berliner Festspiele wieder in Berlin. Sie nahm die friedliche Revolution im Ostteil der Stadt, im Osten Deutschlands und Osteuropas, an der viele Künstler und Künstlerinnen beteiligt waren, die an der Entstehung und Ausweitung der Bürgerbewegung zur Volksbewegung entscheidenden Anteil hatten, kaum zur Kenntnis. In ihrer Festspielrede fragt sie lediglich, ob nun, nach der Öffnung der Grenze, die Frage nach der Freiheit mit Waschmaschinen und McDonald‘s beantwortet werden könne. Mehr als dieses Bild der übernommenen Gesellschaft kam von der Revolution im Osten auch in New York nicht an. Ihr zu entkommen war die Essenz von Julian Becks Buch.

Über den Rand hinaus Das Theater leben dokumentiert die Dekade eines unablässigen geistigen Stoffwechsels – mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, dem undogmatischen Feminismus oder den Folgen der brasilianischen Militärdiktatur. Prägend war Becks Neugier auf ausgegrenzte Lebensformen, mit denen er die revolutionäre Hoffnung verband, dass sich im Leben 15


dieser Ausgegrenzten der Vorschein eines anderen Lebens entdecken und fördern ließe, das schließlich das Leben der Mehrheitsgesellschaft zum Besseren verändern könne. Daher sein Studium der spirituellen Außenseiter, der Lage der Frauen, Schwarzen, Arbeiter und Arbeiterinnen, Landlosen, der Nachfahren der Sklaven und Sklavinnen. Beck genderte lange vor dem Entstehen der Political Correctness und folgte auch darin seiner anarchistischen Hoffnung, dass die friedliche Revolution von den Marginalisierten ausgehe. Damit verbunden ist in Becks Notizen natürlich die drohende Überfrachtung der Kunst, wenn sie zum Vehikel der Revolution oder zu ihrem Labor wird, in dem als verwirklicht erlebt werden darf, worauf die Gesellschaft draußen noch wartet, ohne es zu wissen. Mit fast ethnologischer Neugier lässt sich Julian Beck auf seinen Reisen auf die jeweilige Kultur ein und sucht die Nähe zu ihr. In Berlin fällt ihm die Angst der Deutschen vor seiner eindringlichen, sie emotional überwältigenden Theaterform auf, die Angstreflexe heraufbeschwört, zwanzig Jahre nach dem Ende des Faschismus schon wieder durch den Verlust der Distanz auch die mit ihr verbundene Vernunft zu verlieren. Oder sein Staunen über den Karneval und die Tanz- und schamanistischen Zeremonien in Brasilien, den Samba, die Gilden der blocos in den Favelas. In all dem sieht Beck „Theater“ und durch das Theater hindurch das Engagement von Menschen, gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihnen Leid zufügen, zu widerstehen. Becks Studien sind Suchbewegungen am Rand des bürgerlichen Gesellschaftsmodells, bzw. Expeditionen über es hinaus. So schreibt er über die Praktiken schwarzer Magie in São Paulo und die Kultur der Roma und Sinti, der „Gypsies“, wie er sie im Gestus seiner Zeit im englischen Original nennt – eine Sprechweise, die wir in unserer Übersetzung in ihrer historischen Form beibehalten haben, auch wenn wir sie heute mit Distanz zur Kenntnis nehmen. Julian Beck nennt einige seiner Textblöcke in diesem Buch „Meditationen“, und in diesem Sinne sind sie Versuche, zur Welt zu kommen – an konkreten Orten, mit dem eigenen Körper mittendrin. Und in diesen Meditationen melden sich all die Geister, denen er sich geöffnet hat, um dieses „Leuchten der guten Ziele“ zu erzeugen: Eric Gutkind, Strindberg, Pascal, Martin Buber, Dalí, Allen Ginsberg, Paul Goodman, Artaud, William Carlos Williams, Errico Malatesta, John Cage, die heilige Theresa, Joyce und Pound, Breton, Lorca, Proust, Cummings, Gertrude Stein und Rilke, Cocteau, Pollock und de Kooning, Piscator und Robert Edmond Jones, Becks anderer Lehrer, Malraux und Frost, Auden, Barker, Gauguin, Shakespeare, R. D. Laing, Daniel CohnBendit, Grotowski und Stanislawski, Siddhartha Gautama und Yasodhara, Kropotkin, Lenin, Brecht, Allan Kaprow, Charlie Parker, das I Ging, William Baziotes und der noch nicht ins Deutsche übersetzte Zeitgenosse John Donnes Thomas Traherne, Aleister Crowley, Mao Tse-tung, Wilhelm Reich 16


und der Revolution verschriebene Künstler wie Jerome Rothenberg, Jean Duvignaud, Jean-Jacques Lebel, Ernst Fischer, Ed Sanders, Genet, Georges Lapassade, Guy Debord – all das ist das von Beck zitierte Hinterland seiner Arbeit. Bei einer Diskussionsveranstaltung in der Berliner Akademie der Künste 2006 bemerkte der Theaterleiter und Kurator Matthias Lilienthal, dass ein Grund für den anhaltend lebendigen Mythos des Living Theatre sicher der sei, dass jeder alles in dessen Arbeit hineinprojizieren könne. Die vielen Einflüsse, die in Becks Notizen sichtbar werden, zeigen, dass dieser Eindruck nicht grundlos ist, da Julian Beck über Jahrzehnte hinweg im Modus der konstanten Suche gelebt hat. Wie ein Feldforscher kartografierte er die Formen der Ausgrenzung und sammelte die herrschenden Stereotype, um sie umzudeuten. Bis zur letzten Buchseite spürt Julian Beck dem „Vaterkomplex“ der eigenen Homosexualität nach, den Klischees über „das fahrende Volk“ und Aporien der eigenen Bürgerlichkeit oder der Rolle der Kunst im bürgerlichen Gesellschaftszusammenhang: „irgendetwas ist schief / wenn picassos gemälde und schönbergs musik / auf den wappen der macht elite prangen / rockefeller sammelt de kooning / in der wall street wird allen ginsberg gelesen / jacqueline kennedy verehrt manet / sie nehmen alles weg.“

Positivität und nonfictional acting Diese letzte Bemerkung – „sie nehmen alles weg“ – ist vielleicht die berührendste im ganzen Buch. Was soll man dagegen tun? Ich bin älter geworden mit der Selbstverständlichkeit, dass progressives Theater aufklärt, ernüchtert, ironisiert, Distanz lehrt. Und nun erinnern mich die Notizen von Julian Beck an die Option einer anderen Art von „Fortschritt“, an ein anderes Konzept von Wachstum, das wieder zusammenwachsen lässt, was der westliche Fortschritt durchtrennt hat. Und vielleicht wirken viele der Notizen von Julian Beck auch deshalb so frisch, weil sie vor allem Fragen sammeln – zum Teil tatsächlich in Listen, zum Teil aber auch als offene Denkimpulse inmitten längerer Argumentationen. „Das Theater macht Angst“, schreibt Beck 1969 in Italien, „weil es sich mit Geheimnissen und geheimen Fragen befasst. Seit Jahrhunderten fragt das Theater: wer sind wir woher kommen wir wohin gehen wir. Jetzt fragt es: was ist los wohin geht das was tun was stelle ich mit meinem einzigartigen Leben an in diesem Moment, wenn der kollektive Genius der Menschheit die Frage beantworten muss: Wie kann unser Planet überleben?“ Die Corona-Krise, der Bambusvorhang des neuen Kalten KI-Krieges, den die neue Weltmacht China baut, macht diese Frage nach dem Überleben 17


unseres Planeten umso dringlicher. Julian Becks Notizen sind Teil eines neu erwachenden planetarischen Bewusstseins, das fast zeitgleich auch von Denkerinnen wie Donna Haraway und Lynn Margulis vorbereitet wurde, von James Lovelock oder Bruno Latour und dem ganzheitlichen Wissen der Indigenen. Daher wirkt nach all den Jahrzehnten Das Theater leben wie ein Reisebuch ins Post-Anthropozän, das Antworten auf die Frage, wie unser Planet überleben kann, absichtlich an den Rändern des westlichen Lebensmodells gesucht hat. Die vor mehr als fünfzig Jahren gestellte Frage macht das alte Wende-Buch eines wilden Theatermannes plötzlich wieder brisant. Werke wie Paradise Now schufen positive Szenarien der sozialen Einmischung, deren solidarischer Geist das Gegenteil vom Ellenbogengeist der kapitalistischen Gesellschaften bezeugt. Hat den Ostdeutschen, fragte mich neulich wohlmeinend ein westdeutscher Journalist, nach 1989 nicht einfach nur ein bisschen der Ellenbogen gefehlt? Dagegen, scheint mir, hat Julian Beck nach szenischen Strategien der Empathie gesucht und Theaterformen entwickelt, die Gefühle der Isolation und Ohnmacht im Erlebnis der Aufführung selbst zu überwinden erlauben. Das führte zu der herausfordernden Idee, eine Praxis des „nonfictional acting“ zu kreieren – also eine Spielweise, die nicht darauf beruht, Figuren und die für sie erfundenen Geschichten darzustellen, sondern sich eher an Strukturen des Rituals und der Zeremonie zu orientieren. Seltsamerweise verbindet sich der Begriff der Handlung im Theater ja ausgerechnet mit einer Form von Theater, das wie eine Maschine gebaut ist. In ihr führt eins zum anderen, immer voran, weitestgehend berechenbar dem Ende entgegen. Die Handlung ist in diesem Theater der Guckkästen und Fiktionen eine logische Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die sich im Verhalten einer Gruppe von Menschen auflöst. Diese Spielwerke dulden Menschen nur dann und nur gerade so lange, wie sie diesem Fortschritt des Geschehens dienen. Alles, was sie in ihren kurzen Auftritten sagen und tun, ist in diesem Sinne konfektioniert und begründet durch die Logik dieser Maschine – durch ihren Hunger nach entsprechenden Details, die Anlässe zu neuen Handlungen werden und Wissen produzieren, das zu neuen Konflikten führt. Ganz anders ist hingegen das Verständnis von „Handlung“ in diesem Buch von Julian Beck. „Jeden Augenblick entstehen wir und vergehen: Ich will etwas und etwas will mich.“ Alles ist eingebettet – das Publikum in die Aufführung, das Leben der Ensemblemitglieder in die Art und Weise ihrer Produktion – und zu handeln bedeutet daher in Paradise Now, etwas zu tun, das gemeinsam erzeugt wird, mit anderen, jetzt. „Spielen als Aktion“ heißt Julian Becks siebter Imperativ des zeitgenössischen Theaters. Aus ihm folgt der Gedanke, dass „exzellente Form eine Lüge ist“. Die Kunst des Living Theatre hat sich über Jahrzehnte immer weiter von den Rahmungen gelöst, 18


die sich am Broadway z. B. mit „Könnerschaft“ oder „Brillanz“ verbinden. Diese Verschiebung des Akzents vom Gelungenen in Richtung der Aktion und Unmittelbarkeit entwickelte im Schaffen Julian Becks eine große Kraft. „Perfection is something for assholes“, postuliert sechzig Jahre später Taylor Mac, ein anderer Nachfahre des Living Theatre, in seiner 24 Stunden dauernden Zeremonie zur politischen Geschichte der populären Musik. Julian Becks Notizen sind keine Musterbücher, keine Betriebsanleitungen wie Brechts „Modellbücher“, sondern Begleitbücher innerer Reinigungsund Entwicklungsprozesse. Sie sind der Welt entgegengeschrieben und versuchen, eine Ankunft der eigenen Arbeit, der Kompanie und Kreationen da draußen, unter den Menschen und mit den Menschen, durch ein inneres Wissen vorzubereiten. Julian Beck nennt den Broadway und unsere Repertoirebühnen „das exklusive Theater“. Dagegen entwickelte das Living Theatre in den zwanzig Jahren seiner Wanderungen die Idee des geteilten Ritus, eines Festes der Verbindung – nicht nur mit dem Publikum, auch durch das Publikum hindurch. Wobei die Präsenz des physischen Körpers bei der Schaffung seines „neuen Theaters“, in dem Schauspieler und Publikum ineinander aufgehen, eine besonders auffällige Rolle spielt, ähnlich wie im zeitgleichen Schaffen der Wiener Aktivisten und später im Werk von Paul McCarthy oder den Arbeiten von Vinge/Müller oder den Naked Shit Pictures von Gilbert & George. „Schwimmen, spüren, dass wir Schönheit sind und heilig.“ Esoterik ist der griechischen Wortherkunft nach „dem inneren Bereich“ zugehörig und beim Living Theatre verbindet sich das mit einer Sprache, die sich im inneren Lebens-, Schaffens- und Denkprozess einer Gruppe von Menschen gebildet hat. In Julian Becks Schriften kristallisiert sich diese dem inneren Bereich zugehörige Sprache heraus und verbindet dabei den spirituellen Erkenntnisweg mit dem politischen. Dieser Haltung folgend wendet er z. B. das Stereotyp des technischen Einfühlungslehrers „Stanislawski“ und zeigt ihn als einen Lehrer der reflektierten Trance, des Identitätstauschs, der Immersion ins Andere und des Anderen in einen selbst. Rausch und Trance sind für Beck dabei keine Idealzustände, sondern Mittel der Begegnung und reflektiert eingesetzte Techniken, um Grenzen zu überwinden. Immer wieder geht es um diesen anarchischen Messianismus: das Kommende vorzubereiten.

Der Entstehung des Freien Theaters zuschauen In diesem Buch kann man heute dem Entstehen des Freien Theaters noch einmal zuschauen. Es lässt sich schwer überprüfen, ob Judith Malina, die Ende der 1960er Jahre in einem italienischen Städtchen vorschlug, auf einen 19


Abendzettel „Freies Theater“ zu schreiben, den Begriff wirklich zum ersten Mal für eine Arbeitsweise verwandte, die mit den Theaterkonventionen der Zeit bewusst gebrochen hat und das auch vermitteln wollte. Auf dem Zettel stand: „Dies ist Freies Theater. Freies Theater wird von den Schauspielern beim Spielen erfunden. Freies Theater wurde nie geprobt. Wir haben Freies Theater versucht. Manchmal gelingt es nicht. Nichts ist immer das Gleiche.“ Freies Theater hieß in dieser Phase des Living Theatre kein literarisches Theater, kein Theater mit Portal, sondern Improvisation ohne Titel und Ansage. Die Formen ihrer Stücke änderten sich im Laufe der Jahre. Aber die Struktur, in der das Living Theatre zu solchen Aufführungsformen gelangte, blieb auch bei anderen Kompanien mehr oder weniger gleich und prägt bis heute die alternative Produktionskultur des Freien Theaters – die Entscheidung für das Kollektiv, für Selbstermächtigung, die Kreation des Werkes weniger durch einen Autor als durch eine Gruppe usw. Gegen das Hochdienen von der Hospitanz zur Intendanz, gegen die übliche Besetzungspraxis bei Schauspielern und gegen fixe Abonnements vollzog sich im Living Theatre seit den 1950er Jahren eine schrittweise Abkehr von Strukturen, denen man sich als Theaterkünstler und -künstlerin unterordnen und anverwandeln muss. Im Freien Theater ist es bis heute, ohne es romantisieren zu wollen, umgekehrt – hier passen sich die Strukturen in der Regel den Menschen und den jeweiligen Projektformen und Bedürfnissen der Kunst an. Zugleich war das Erwachen des Freien Theaters im heutigen Sinne ein internationaler Prozess: Parallel zum Living Theatre entstand das La MaMa, das nicht minder revolutionäre Theater der Unterdrückten und das Unsichtbare Theater von Augusto Boal, das Teatr Laboratorium und die späteren Special Projects von Jerzy Grotowski, das Bread and Puppet Theater von Peter Schumann oder das Cricot 2 von Tadeusz Kantor. Das Living Theatre beschreiben Julian Beck und Judith Malina als „Besserungstheater“ und stellen es den „Pseudo-Organisationen“ mit ihrer „Architektur von Potentaten“ gegenüber. Gegen das BroadwayBild des Menschen setzt es sein Antibild des Schauspielers und der Schauspielerin ohne Schminke, ohne Manierismen und Imitation „der falschen Sauberkeit des Weißen Hauses“. Als Joulia Strauß, eine bildende Künstlerin und Aktivistin aus Athen, mich vor einigen Jahren auf dieses Buch hinwies, so weniger aus Gründen, die unmittelbar mit dem Theater zu tun haben, als wegen des hingebungsvollen, selbsterforschenden und kämpferischen Geistes dieser Notizen von Julian Beck. „Welches Recht habe ich zu denken“, fragt sich Julian Beck, „sie alle könnten sich für Theater interessieren.“ Dass er aber die großen Forderungen und Ideen zuerst auf sich selbst anwendet, macht die Totalität 20


seiner Forderungen irgendwie erträglich. Wobei es darauf nicht ankommt. Julian Beck wurde auf drei Kontinenten ein Dutzend Mal wegen zivilen Ungehorsams verurteilt. Er lebte sein Theater auch im Leben. War er ein Guru? Ja. Trat er posthum in der Serie Miami Vice auf? Ja. Handelte sein Schaffen von den „Problemchen der Bourgeoisie“? Nein. Kam er in die American Theater Hall of Fame? Ja. Und hätte dieses Buch in der deutschen Übersetzung ohne die Mitwirkung vieler Menschen entstehen können? Nein. Beck spielte sporadisch in Filmproduktionen in Hollywood und andernorts, darunter 1967 den Hellseher Teiresias in Pier Paolo Pasolinis Film Ödipus Rex – wobei dies nur eine der Querverbindungen zu Milo Rau ist, der diesem Buch ein Nachwort schrieb, das Julian Beck als Erfinder eines „Theaters der Unreinheit“ zeigt. Milo Rau zeigt sich zutiefst angezogen von dieser Form eines nicht-bürgerlichen Theaters, das „keine Trennung zwischen Theorie und Praxis, Produktion und Distribution, Kollektiv und Werk, Protest und Kreation“ kennt. Statt des früheren Vorworts von Judith Malina haben wir uns für den Abdruck ihrer Berliner Festspielrede von 1991 entschieden, in der sie die Geschichte des Living Theatre, ihrer Beziehung zu Piscator und Berlin beschreibt, und die kollektive Entstehung „eines unglaublich schönen Stücks“ zum Thema Freiheit, das sie in einem Workshop am Rammzata-Theater entwickelten und dann an den Orten des Konsums auf dem Breitscheidplatz am Kurfürstendamm und danach auf dem Alexanderplatz aufführten. Auf Wunsch von Garrick Beck drucken wir diese Rede im originalen Wortlaut. Für die Spurensuche nach den Texten, Rechten und Bildern möchte ich Thomas Walker und Dirk Szuszies danken, Anna Opel und Beate Hein Bennett für die Übersetzung, Nicole Gronemeyer für das Lektorat, Bernd Uhlig für seine Fotoserie, Yvonne Büdenhölzer und Anneke Wiesner für ihre Unterstützung beim Entstehen dieses Buches. Das Theater leben ist die Chronik des Bestrebens, Theater nicht als Spiegel des Lebens zu verstehen, sondern als eine Form, ein anderes Leben zu erfahren: „Allein wäre ich zu nichts gut. Das Theater ist eine Übung in Gemeinschaft. Ein Einzelner kann es nicht machen, es wird von vielen für viele gemacht.“

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DAS THEATER LEBEN Der Künstler und der Kampf des Volkes Julian Beck Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel



1 Es gibt körperliche Qualen und geistige Qualen; und selbst wenn die Sterne, so oft wir sie betrachteten, Nektar in unsere Münder gössen, selbst wenn Gras zu Brot würde, die Menschen blieben traurig. Wir leben in einem System, das Leid erzeugt; aus seinen Mühlen fließen Fluten von Leid, ein Ozean, ein Sturm reißt uns hinab und wir ertrinken vor der Zeit. Das Theater ist wie ein Boot – nicht allzu groß – aber der Aufstand kehrt das System um und die Revolution ist die Wende der Gezeiten. Ouro Preto, Brasilien, 6. Mai 1971

2 Ich bin ein Sklave, der aus Ägypten kam. Ich habe eine Sklavenmentalität. Aus dem Haus der Sklaverei ins Haus der Lohnarbeit. Als wir vor dreitausendfünfhundert Jahren von einer Kultur in die andere zogen, dachten wir, jetzt wären wir unsere eigenen Herren. Welche Illusion! Einen politischen Herrscher wurden wir los, waren zu unerfahren, unterschätzten die Rolle des Zahlmeisters, des Polizeichefs, der Stützen der Gesellschaft. Uns war prophezeit (als wir um das Goldene Kalb tanzten): kostbare Edelsteine, Kriegsschiffe, Überfluss, Untergang usw. Noch immer tanzen wir um den falschen Gott – kaltes Metall, Mammon, Idol des Reichtums, und deshalb sind wir noch immer in der Wüste. Als wir das Gelobte Land erreichten, trugen wir das Goldene Kalb mit uns; nicht auf unseren Schultern, sondern im Herzen, und verwandelten das Land in eine Wüste, den ureigenen Ort des Goldenen Kalbes: denn der Glanz des Goldes (Strahlung) lässt das Laub verdörren, lässt die Flüsse (das Blut) und die Gefäße des Herzens versiegen. Das Goldene Kalb ist ein falsches Versprechen. Viele meiner Brüder haben feuchte Träume von all ihren Schmerzen und Erniedrigungen, aber so bin ich nicht: Ich bin der Sklave, der sich lauter Fluchten ausmalt; von nichts anderem kann ich träumen als von Flucht, dem Emporkommen, ersinne tausend Arten, ein Loch in die Wand zu schlagen, die Gitter zu schmelzen, flüchten abhauen, notfalls das ganze Gefängnis niederbrennen. Croissy-sur-Seine, Frankreich, April 1970

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3 FRANKENSTEIN, III. AKT. Eine blutige Revolution bricht aus im Gefängnis Welt. Es ist Viktor Frankensteins endgültige Lösung, der letzte verzweifelte Versuch, seine Aufgabe zu lösen: „Wie das menschliche Leiden beenden?“ Und die ganze Welt geht in Flammen auf; und aus der Asche formt sich einmal mehr die Kreatur, sie bedroht die Welt mit Suchscheinwerfer und Netz. Plötzlich passiert die Verwandlung: Die Kreatur lässt ihre Werkzeuge fallen, wirft beide Arme zum Himmel, sie reckt den Kopf empor, die Menschheit lebt, alle Hoffnung liegt auf der Kreatur. Weil wir glauben, dass das Wunderbare geschehen kann. Denn wenn wir die Welt in einer Revolution niederbrennen, mit Gewalt, wird das Leben nur durch ein Wunder, nur durch Mutation weitergehen. Am Ende des ersten und dritten Aktes formt sich die Kreatur aus jenen toten Körpern, die der Gesellschaft zum Opfer gefallen sind. Die Kreatur, die zum Leben erwacht, entsteht aus den verkohlten Leibern, und das sind wir, am Ende der gewaltsamen Revolution – verkohlt, verwundet, verstümmelt, bedrohlich, aggressiv, zu retten nur noch durch Mutation. Das Bild der Hoffnung inmitten von so viel Verzweiflung ist zwingend im Katechismus der Revolution. Weil Verzweiflung jedes Handeln zerstört. Brooklyn, New York City, Oktober 1968

4 Die Kreatur, die sich in Frankenstein am Ende des ersten und dritten Aktes formt, bedroht nicht nur die Öffentlichkeit, sie ist die Öffentlichkeit. Die Kreatur bedroht die Zivilisation und gleichzeitig ist sie die Zivilisation, eine sich selbst gefährdende Zivilisation. Wir sind also beides: die Zivilisation und das Monster, das sie bedroht; in uns steckt die Kreatur, die ihre Arme erhebt und atmet, die sich vor aller Augen wandelt und umbaut, die fleht nach der nächsten Entwicklungsstufe der Menschheit. Lausanne, Schweiz, 10. Januar 1968

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5 1:

Die Fantasie als Notausrüstung des Gehirns.

2:

Die Arbeit des Künstlers: Lösungen erfinden durch Training der Fantasie.

Wir warten auf bestimmte Antworten. Aber die neuen Künstler sagen, es darf keine Anführer geben. Das Ende von Moses. Verschmelzen Laotses mit dem Volk. Meine Sklavenmentalität ist das Öl meiner Fantasie. Dies Buch handelt von der Rolle des Künstlers in der Revolution. Croissy-sur-Seine, Frankreich, April 1970

6 MEDITATION. 1961. NEW YORK CITY Ich bin jemand, der sich nicht für Theater interessiert. Auch nicht für die Art von Unterhaltung, die unser Dasein abwertet. Auch nicht für die Verbreitung von Lügen. Spaß zerstört, Freude ist kreativ. Eric Gutkind. Das Leben ein Traum. Eine alte Fata Morgana, während wir in der Wüste leben. Mein ganzes Leben ist ein Traum. Strindberg. Wir träumen einander. Jeden Augenblick entstehen wir und vergehen: Ich will etwas und etwas will mich. Jeden Tag weiß ich weniger. Das ist meine Ehre. Das Theater unserer Zeit tut so, als wüsste es viel. Was wir zu verstehen meinen, stimmt oft nicht. Es fehlt uns an Fakten, die Sicht ist begrenzt, unser Blick und unsere Gedanken sind nicht frei. Wenn der Schauspieler frei ist, kann er kreativ sein, wie jeder andere auch, wir aber gehen ins Theater und ertragen Schauspieler, die im Wahn der Bourgeoisie gefangen sind, deren Wahn aus den Gesetzen besteht, aus denen ihr Leben besteht, ein Leben für das Geld, das auch ein Gesetz ist, und es macht die Menschen verrückt. Die Freiheit ist neu geboren und stirbt vielleicht schon bald, und auch die Zivilisation, die sich so rasend ausbreitet wie das All, ist jung und könnte den Kindstod sterben. Im Jahr 1961 ist der Höhepunkt noch nicht erreicht. Und an keinem Datum, das wir uns vorstellen

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können. Im Angesicht des Todes machen wir weiter. Sich im Angesicht des Selbstmords für das Leben entscheiden. Wenn ich die Welt erhalten will, mache ich mich selbst unsterblich. Solange Menschen leben, leben wir alle. Enger Blick. Menschen sind verschieden. Hütten und Geschütztürme. Reis und Telefone. Ein Mensch unterscheidet sich nie mehr von einem anderen als von sich selbst zu einem anderen Zeitpunkt. Pascal. Das Theater ist ein Traum. Es ist wie ein Traum, wie ein Bild von der Welt. Die Welt interessiert mich. „M. Dalí“, sagt sein Begleiter, „interessiert sich für alles“. Dalí lehnt sich über den Tisch und fragt Allen Ginsberg: „Warum handelt Ihr Werk von Armut? Ist nicht Gold das Maß des Genies?“ Mag sein, aber unter uns sind viele Schöpfer, sie erfinden ständig etwas Neues für die Welt, das Volk aber macht die Welt satt. Mein Gewissen torkelt unter der Wucht des jüdischen Himmels und dem Banner der Rabbis, auf dem steht, die Welt befinde sich im Prozess ihrer Schöpfung, und die heilige Pflicht des Menschen bestehe darin, Gott beizustehen. Buber spricht von der „Nähe zu Gott“ als „Unterschied zwischen dem wahren Sein und der bloßen bewussten Existenz“. Alle Seiten einer Sache auf einmal. Alle Ebenen. Gleichzeitigkeit. Die entscheidende Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Ohne sie ist Vereinigung unmöglich. Menschen in Zwietracht finden keine magische Formel. Mein einzigartiges Leben. Nur ein Leben. Ich Armer! Muss mich entscheiden. Soll ich nach Gaspé fahren. Soll ich Verkäufer oder Käufer sein. Soll ich das Land bestellen, die Armen satt machen, Händlern und Freunden die Bücher führen, soll ich die Decke der Welt aufreißen und ihre Daunen zu Staub zermahlen, soll ich Felsen und Rinnen in verwesendes Blut verwandeln, Kindsmord, Bazillentod, soll ich Milch pasteurisieren oder Furzkissen bemalen, mit Männern schlafen, mit Frauen schlafen, aufwiegeln, beruhigen, zum Tier werden, lieben, opfern, schreiben, triezen, aufstocken, umarmen, bewässern oder zersetzen. Lieber alt werden oder weise. Ich entscheide mich nicht, im Theater zu arbeiten, sondern in der Welt. Das Living Theatre ist mein Leben geworden als Theaterleben. Wir verschlingen einander. Ich kann uns nicht mehr auseinanderhalten. Judith und ich gehen darin auf. Und andere in uns. Es gibt Schauspieler, die an uns hängen wie Jeffers Läuse am Adler. Manche Schauspieler sind meine Augen, manche Techniker unsere Flügel. Das Nest, an dem wir bauen, 28


wimmelt vielleicht vor Maden. Und aus den Eiern schlüpfen Fleischfresser. Mein Theater. Ich halte den Spiegel hoch, bis meine Arme schmerzen. Er fällt den Zuschauern auf die Köpfe, sie bluten und sind verletzt. Oder es passiert ihnen nichts. Ich halte den Spiegel hoch, das bröselnde Symbol für die Scheiße, und ich bin darunter begraben. Ein Misthaufen auf der Bühne, den niemand zu Gesicht kriegen sollte. Ein einzigartig nichtiges Leben. Was weiß denn ich. Ich kann mich nur sorgen, niemals kann ich wissen. Auf der Bühne ist Leben. Ein Schauspieler, der von seinen Abenteuern kommt und einen Augenblick des Verstehens überbringt, ist ein Held, das Licht unseres Lebens. Ich gehe ins Theater statt zur Synagoge. Nicht um den Weg zur Erlösung zu feiern, sondern um ihn zu entdecken. Vielleicht mache ich die Erfahrung meines Lebens. Ich werde schweben, abheben sogar, wie Horatio in Paul Goodmans The Dead of Spring. Er hat es mir beigebracht. Verehrung sieht anders aus als Erlösung. Wenn man das Schöne betrachtet, kann man erkennen, was sein könnte. Judith. Es leitet sich vom göttlichen Zauber ab, ist mit Gott verbunden, zielt auf Gott, erfüllt von Menschen, die auf Ehre aus sind. Die Vorfahren spielten im Sonnenlicht, wir im elektrischen Licht, Licht ist das Gewand der Ehre, aber es gibt auch Dunkelheit. Leidenschaft. Qualen. Verzweiflung. Arbeit. Die Arbeit, die Hämmer, die Beharrlichkeit, die Besen, die Nägel verbinden mich mit den Menschen, sonst wäre ich nichts als Poesie und Flug. Allein wäre ich zu nichts gut. Das Theater ist eine Übung in Gemeinschaft. Ein Einzelner kann es nicht machen, es wird von vielen für viele gemacht. Aber das Leben im Kibbuz ist hart. Alle beschweren sich. Vor allem ich. Nichts hilft, es ist so vollkommen wie das Wetter, immer schön, wie in einem Kalender, immer schrecklich, immer vergeht der Tag, die Sonne geht unter, der Wind weht wild aus dem Westen. Im Theater arbeite ich an meinem Leben. Mit Judith, dem Engel meines Lebens, ohne den es kein Living Theatre gäbe. Je ne trouve pas, je cherche.

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7 MEDITATION. 1962. NEW YORK CITY Wir sterben, weil eines Tages, vor nicht allzu langer Zeit, unser Bewusstsein dazu gezwungen wurde, den Tod für notwendig zu halten. Artaud. Durch die Welt musst du das Theater betreten. Der heilige Auftrag holt sich das Theater zurück. Alles existiert, nichts hat Wert. Ohne Wert passieren Irrtümer, Sünden, Verluste. In den geheimen Bezirken, im Untergrund, in Greenwich Village, Saint Germain, unter den Studenten, die Sitzstreiks und Friedensmärsche planen, in den abgelegenen Gegenden Afrikas, überall, wo der Wandel seinen Ursprung hat, in der Musik des Wandels, im Marsch zur See, in den Demonstrationen vor den Botschaften wird vom Wert der Welt gesprochen. In versteckten Wohnungen, in denen Anarchisten und Pazifisten dem Geld und der Gesellschaft trotzen, wo all die Lügen untersucht und aufgedeckt werden, die mit dem Tod gemeinsame Sache machen, an diesen Orten lebt jene Poesie, die Gottes Sprache spricht. Im Wahn liegt die Macht, die uns an den Rand der Sphäre bringt, jener Sphäre, in der wir eingeschlossen sind, in der wir sterben, jener Sphäre, die durch das unbekannte Universum driftet, das uns versagt ist, bis wir der Vision der Wahnsinns-Macht, Ginsberg, erlauben, uns beim Durchstoßen der Sphärenschicht zu helfen, sie zu punktieren, und zu jener Schöpfung zu gelangen, die wir bisher nur von archaischen Gerüchten her kannten. Wenn die Wahnsinns-Kräfte ihre Arbeit getan haben und wir das Atmen lernen. Unsere Art zu leben müssen wir nicht verteidigen, unseren vorzeitigen Tod, Tod durch die Regierung, Tod durch Waffen, Tod durch Unterdrückung, Tod durch Klasse, Tod durch die Wehrpflicht, Tod durch Armut, Tod durch den rassistischen Mob, Tod durch Gesetz, Tod durch die Polizei, Tod durch Radioaktivität und vergiftete Luft, Tod durch Erziehung, dieser schreckliche Kältetod, Tod durch Wohlstand, Tod durch Besitz, Tod durch Falschheit, durch den Schmerz in meinem Magen, den Krebs in meinem Rücken, die Plagen, die die Körper zerstören, und, noch fataler für das Leben, durch den Verlust des Daseins. Die Falschheit der Ideale. Tod durch den Broadway. Die richtigen Kostüme, das richtige Sprechen. Tod durch Kompromiss, sicherer Tod durch Luxus 30


und Mangel an Luxus. Aspekte der Bühne, die nicht Welt sind, sondern Eitelkeit. Wir treten an gegen die Bühne der Eitelkeit, wir wissen zwar noch nicht, mit welchen Werkzeugen und wie sie anzuwenden sind, wir sind unsicher, wir haben keine Ideen, sind eine barfüßige Armee aus Versprengten. Das Theater am Broadway gefällt mir nicht, weil es nicht Guten Tag sagen kann. Seine Stimmlage ist falsch, seine Manierismen sind unecht, sein Sex ist falsch, geschönt, perfektionierte Hollywoodwelt, sauberes Bild, gebügelte Kostüme, sauber abgewischter, geruchloser, unmenschlicher Anus des Hollywood-Schauspielers, des Broadway-Stars. Ganz zu schweigen von diesem schrecklich falschen Dreck am Broadway, das Nachtasyl mit dem schlecht nachgemachten Dreck. Das Schauspiel am Living Theatre hat seit Jahren einen schlechten Ruf, besonders bei anderen Schauspielern. Judith und ich haben Schauspieler ohne Manierismen um uns geschart, ohne Stimmen, ohne das richtige Sprechen, ohne die schützende Schminke der Schauspieler, die die Welt des Weißen Hauses imitieren und die Problemchen der Bourgeoisie. Die Welt der bewussten Erfahrung reicht nicht aus. Die Schauspieler des Living Theatre sind ungeschickt, ungeschult, ohne genau zu wissen wie, fordern sie die Konventionen heraus, mit denen Menschen dargestellt werden, die in Demokratien leben, die vernünftig sind, gut, ausgeglichen und die in musealen Versen sprechen. Für die Schauspieler des Living Theatre muss es um Leben und Tod gehen. Am Living Theatre ist das Spiel eine vorsichtige Geste, Andeutung dessen, was noch passieren könnte; aus einem Arm könnte ein Flügel werden, aus Beinen Flossen, aus Körpern nie Erträumtes. Etwas anderes. Der Broadway bemüht sich, das zu zeigen, was er gern sehen möchte. Das, was ist, übertrifft jegliche Illusion. „Genauigkeiten.“ William Carlos Williams. Man betritt das Theater durch die Welt, die heilige Welt, die unvollendete Welt, man betritt das Theater im Bewusstsein unzerstörbarer Hässlichkeit. Hässlichkeit des Lebens. Die Hässlichkeit annehmen und vergessen, was schön ist. Der Pfad der Transzendenz. Die Akropolis, all das Streben, Streben nach dem Mythos der Vollendung wird sich auflösen in der Fülle des Daseins, das Güte ist. Kann mich um sonst nichts kümmern. Besserungstheater. Wo es möglich ist, jemanden auf der Toilette sitzen zu sehen, ohne dass man sich schämt.

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Alle ablehnen, deren konventionell geschriebene Stücke die Konventionen der Zivilisation anpreisen und die Wege hin zum vorzeitigen Tod. Alles oder nichts. Das Living Theatre ist allenfalls Nachahmung, schwach, sehnsüchtig, verdorben, machtorientiert, diktatorisch, arrogant, antikommunal, und es sehnt den Tag herbei, an dem es vergeht. Darin liegt die eigentliche Opposition zum Broadway, dem Dämon der oberen Welt, Dämon der Geldwechsler, die den Dollar aufwerten wollen, die eine Welt des vorzeitigen Todes hinnehmen. Sie sind Errico Malatestas „Mensch in Ketten“ (Leute, die sich derart an ihre Ketten gewöhnt haben, dass sie nicht glauben, es könne ihnen ohne Ketten besser gehen.) Alle Nettigkeit muss weggesprengt werden. Le rappel à l’ordre. Alle Pseudo-Organisation muss zerschlagen werden. Und wenn der Wind von Greenwich Village sein Werk getan hat, wenn die Illusion aufgebrochen ist, dringen die Bruchstücke vielleicht ins entfernte Universum vor, wo der Tod weder Antwort ist noch Fazit. Jedes Mal, wenn am Broadway der Vorhang aufgeht, fass ich mir mit der flachen Hand an den Kopf: Das soll 100.000 Dollar kosten? Harold Rosenberg. Ein Bühnenbild, das „Ordnung“ behauptet, dessen „Ordnung“ aber die tatsächliche Ordnung verleugnet und dessen fortschrittlichste Variante nicht mehr als pikante Kontraste wagt, eine empfindsame Farbe. Sentiment ist in Wahrheit nur ein Ersatz für falsche Gefühle (wenn man sonst nichts fühlt). Exzellente Form ist eine Lüge. Zu viel Perfektion am Broadway. Sie erschaffen den Götzen und alle, alle sind eitel; und ihre köstlichen Dinge sollen nichts nützen; und sie sind ihre eigenen Zeugen; sie sehen und wissen es nicht; dass sie sich schämen sollten. Es schmiedet einer das Eisen in der Zange, arbeitet in der Glut, und bereitet’s mit Hämmern, und arbeitet dran mit ganzer Kraft seines Arms; leidet auch Hunger, bis er nimmer kann, trinket auch nicht Wasser, bis er matt wird. Jener fällt die Zedern, siehe, da macht er einen Gott von und betet’s an, er macht einen Götzen daraus und kniet davor nieder. Sie wissen nichts und verstehen nichts, denn sie sind verblendet. Er hat Lust an Asche, sein getäuschtes Herz verführt ihn und er wird seine Seele nicht erretten, dass er dächte, ist das nicht Trügerei in meiner rechten Hand? Jesaja „Besserungstheater. Etwas Nützliches tun.“ Judith. 32


Etwas Nützliches tun. Nur das ist interessant. Nur das ist für das Publikum interessant, das große Publikum. Dem Publikum dienen, es unterweisen, Staub aufwirbeln, Erfahrungen anregen, Aufmerksamkeit wecken, das Herz klopfen lassen, das Blut kreisen, die Tränen fließen, die Stimme schreien, und den Altar umrunden, die Muskeln bebend vor Lachen, und den Körper spüren, vom Schrecken des Todes erlöst sein, erlöst von der Verwahrlosung durch die Bequemlichkeit. Die nützliche Veranstaltung, die uns helfen kann. Hilfe. Ich ergehe mich in dieser Polemik, weil dies das Einzige ist, was wirklich gesagt werden muss. Der Weg zur Liebe ist nicht romantisch. Aus meiner Negation wird der Pfad der unaufhörlichen positiven Schöpfung hervorgehen. Hilfe.

8 MEDITATION I. 1963. NEW YORK CITY Traum von einer freien Gesellschaft. In dieser freien Gesellschaft der Traum von einem nützlichen Theater. Der Traum von nützlichen Dingen in einer Epoche voller nutzloser Dinge. Wenn man genug Zeit hat, ist alles interessant. Vorausgesetzt, es ist interessant. John Cage. Aber es ist nicht genug Zeit. Nutzlose Produktion, nutzlose Gesetze, sinnlose Formen. Das weltweite Geldgefängnis, Gehaltsgefängnis, ein Leben lang nutzlose Dinge kaufen, nutzlose Dinge herstellen, Einnehmen und Ausgeben, unsere Kräfte verschwenden. Interessant, aber nicht interessant genug. Mein Lied. Nutzloses Theater. Schau dir zuerst die Architektur an. Ist das ein Ort für Menschen, diese Andeutung von Plüsch und Gold, dieses Treppengedöns, diese aufgesetzte Kronleuchter-Grandezza, dieses moderne Theaterkunst Design? Oh Architektur der Potentaten! Oh Gestank nach Geld! Hat sich der Goldene Vogel wirklich hierher verirrt? Und wo sind die Hafenarbeiter, die Textilarbeiter, die Mechaniker? Hier sind keine Bauern, niemand von denen, die das Gebäude errichtet haben, niemand, der Getreide anbaut, keine Schwarzen sind hier und kein Kanalarbeiter, niemand, der Nähte näht. Für wen also ist das Gebäude erbaut? Wo sind diese Menschen? Und warum spricht das, was hier passiert, sie nicht an? Der Teppich ist für bleiche Patrizierfüße gemacht, die Sitze sind zum Aufstehen viel zu bequem, sie verhindern Partizipation, verwöhnen den passiven Körper. Trennwände!

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Oh brächte doch unsere Klage die Wände zum Zittern und Fallen, fallt, Gefängnisse, fallt, ihr Festungen einer falschen Industrie, fallt, ihr Häuser der Abgrenzung! Einheit. Wenn die Menschen zusammen sind, einander nicht gegenübergestellt, dann entsteht der Gleichklang, der die Verzweiflung austreibt, das Dasein verlängert, der Gleichklang, der all die unmöglichen Hoffnungen möglich erscheinen lässt. Wenn jemand aufschreit, wenn jemand stirbt – in meinem Samtsitz umgeben von Kunstseide – stört mich das nur. Ich bin nicht bereit, auf das Leben zu reagieren. Ich schaue nur zu. Von kalten Nachbarn umgeben in einer Atmosphäre des Trugs, sitze ich im Gedöns. Bin ich hergekommen, um zu erstarren und zu sterben? Wie kann ich zum Gefühl vordringen? Ich bin doch die kunstseidene Tantieme, wie soll ich in dieser samtenen Umgebung transzendieren, wie den Schlüssel finden in diesem dunklen Raum? Das geht nur, indem ich träume. Aber der Traum ist eine Lüge, denn ich fühle nichts. Alles hier ist Lüge, blutleer und zutiefst geschlechtslos. Und indem ich dabei bin, geht es weiter so. Staaten machen dem Künstler und allen anderen Vorschriften. Gut schlecht so aber so nicht. Die Demokratie gibt vor, das zu ächten; aber auch das kapitalistische Theater wird kontrolliert. Die Fuchtel des Geldes, die Vorschriften der Investoren, die Meinung des konformen Zuschauers. Wenn wir ein freies Theater wollen, müssen wir es befreien. Als Erstes muss es für das Publikum frei werden, Zutritt ohne Geld, weg mit dem Maß des Mammons, endlich Leben. Das Theater der Ausgrenzung, das Schwarze Menschen nicht besuchen, Kammer der weißen Gedanken und erstarrtes Gefühl. Ich weiß, dass ich auch nicht besser bin, aber so schaffen wir eine Erfahrung, die die Armen ausgrenzt, und wir reden uns ein, die Armen wollten sowieso nicht kommen. Ich gehe ins Theater und bin von den Armen abgeschnitten. Etwas stimmt nicht, wenn ich im Theater, dessen Domäne die Welt ist, von der Welt abgeschnitten bin, anstatt ihr näher zu kommen. Wir sind ein fühlloses Volk. Wenn wir fühlten, wäre der Schmerz so groß, dass wir dem Leiden ein Ende setzen würden. Wenn wir fühlten, dass alle sechs Sekunden ein Mensch an Hunger stirbt (und während ich hier lese und schreibe verhungert jemand), wir würden es verhindern. Wenn wir es in unserem Innersten, im Unterleib, der Kehle, der Brust fühlten, würden wir auf die Straße gehen, den Krieg abschaffen, die Sklaverei, die Gefängnisse, das Morden, die Zerstörung. Ach, dann wüsste ich vielleicht, was Liebe ist. Freude. Geschätzte Tugend der heiligen Theresa. Freude. Im Theater könnten wir uns gemeinsam mit anderen freuen. Meine Stücke handelten nicht mehr von Kummer, Problemen, einer anderen Haltung, sondern von 34


Freude, Vergnügen, Lachen, Jubel, aber es wäre kein grausames Gelächter, keine Satire, nur Freude. Aber Freude empfinden ist schwer, schwer zu wissen, was Freude ist, wenn man blass ist und die Welt draußen im Sterben liegt. Ein anderes Theater wollen, das uns wirklich entspricht, darauf warten, dass das Theater sich ändert, und dabei wollen wir eigentlich uns ändern, wollen anders werden, indem wir uns miteinander verbinden, und indem wir uns verändern, verändern wir die Welt.

9 MEDITATION II. 1963. NEW YORK CITY was geschieht, geschieht in unserem Theater, weil es die Muster einer mörderischen Gesellschaft akzeptiert und sie als bewundernswert darstellt es zeigt viel Triviales in einem Leben voller Drangsal stellt das Unerträgliche als erträglich dar lässt das Leben als unterhaltsamen Zeitvertreib erscheinen und gibt simple Antworten und wenn ich frage, warum die Zuschauer das mitmachen sehe ich leider, dass es so ist, weil das Leben, wie wir es leben, nicht mehr zu ertragen ist und die Falschheit auf den Bühnen ein Trost ist obwohl niemand dran glaubt aber die Leute tun so, als wäre es wahr, weil dann alles vielleicht doch nicht so schlecht ist und so ist unser Theater ein Ort des Betrügens und der Entstellung auf eigenen Wunsch wird die Mittelklasse hinters Licht geführt und die Aristokratie wenn du Wahrheit sehen willst, musst du verrückt sein, verrückt genug, dem Schrecken ins Auge zu sehn Erfahrungen, Autobiografie. Willst du mich kennen lernen, komm und lebe mit mir. Mit zwanzig oder einundzwanzig bereits erste Pläne für ein Theater. Desinteressiert am Theater, wie es damals war, es stellte nicht menschliche Menschen dar und war dazu patriotisch, dabei ist Patriotismus etwas für Idioten, abgesehen vielleicht von der Leidenschaft für Land und Leute.

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Deshalb reicht das bloße Bild des heutigen Theaters aus, eine Revolution vom Zaun zu brechen. Wir begannen im Zorn. Die normalen Theater der damaligen Zeit waren erwachsener Frauen und starker Männer nicht würdig. Was dem Zuschauer gebührte, war dagegen immer auf eine bestimmte Art verrückt, das waren Gesten, die direkt aus den Gedärmen des Schauspielers kamen, unbewusst wie die Reflexe der Heuschrecken, das waren zuckende Glieder, als wenn die Nadeln ihren Thorax durchstächen, das waren die Hände der Ertrinkenden, ähnlich den anonymen Botschaften, die man im Schlaf empfängt. Wir suchten nach allem, was uns half, die Sicherungen der Fantasie durchzubrennen, bis es mit ihr durchging und sie entwischen konnte. Das waren die einzigen Blinkzeichen, die uns erreichten, aus dem Reich der Unsterblichen. Aufs Stichwort warten. Ins Irrenhaus gehen und die Wahrheit sehen: in der schiefen Ordnung der Dinge, in der Perversion echter Liebe, den berstenden Furunkeln des Verstands. Keine Täuschung mehr. Wenn du klarsehen willst, musst du irre sein, in der Lage, dem Horror entgegenzutreten. Judith und ich gingen ständig ins Theater. Alles war interessant und brachte uns zum Verzweifeln. Zwei drei vier Mal die Woche. Im Jahr 1946 wusste Judith also, dass sie in einem solchen Theater nicht arbeiten wollte. Damals malte ich noch, brauchte sechs Monate, um mich durchzuringen, und wir sagten, wir würden ein Theater erfinden, das anders funktioniert. Jetzt, fünfzehn Jahre später, wissen wir, dass wir das nicht geschafft haben. Wir glaubten auch, das Theater würde sich mit soziologischer Verzögerung entwickeln. Wir lasen also Joyce und Pound, Breton, Lorca, Proust, Patchen, Goodman, Cummings, Stein, Rilke, Cocteau und so weiter. 1944: Die Malerei von Pollock und de Kooning wies auf ein Leben hin, von dem das Theater noch nichts wusste, ein Level an Bewusstheit und Unbewusstheit, das es selten auf die Bühne schaffte. Judith studierte bei Piscator, und er wusste, dass es um radikale Politik und gesellschaftliches Handeln ging. Wir sprachen von Anarchismus, Marxismus, von griechischen Mythen und Metren, von Träumen und Freud, es waren jugendliche Gespräche und wir wanderten durch die Wälder entlang The Palisades, oft gingen wir ans Meer, die Schönheit des Strandes. Unsere wichtigste Erkenntnis war vielleicht, dass die 1940er Jahre zwar nicht der Höhepunkt menschlicher Errungenschaften waren, dennoch enthielt dieses Jahrzehnt, wenn auch versprengt, alle Ehren, die es auf der Welt geben konnte. Das Problem des Findens, Sortierens, des neu Zusammensetzens, des Fühlen und des Seins. Wir wollten ein Theater für all das. Du bist was du isst und was du nicht mehr essen wirst.

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Mit sechs habe ich während einer Vorstellung von Hänsel und Gretel in der Metropolitan Opera ein Taschentuch aufgegessen. In der Oper geht es um Essen, es gibt Lebkuchenhäuser, hungrige Kinder und Brotkrumen, Hänsel und Gretel werden gemästet, die kannibalische Hexe frisst Kinder. Mein Vater dachte, ich esse aus Nervosität, und das stimmte, aber ich aß auch, weil ich mich mit Hänsel identifizierte, ich aß dieses schreckliche Taschentuch, das nach nichts schmeckte, bis ich aufhören konnte, weil alle Kinder frei waren, aus dem Ofen entlassen, nicht gefressen, sie lebten und durften groß werden. Alles, was ich je im Theater versucht habe, war, den Freiheitswillen zu entfesseln, den ich am Beispiel des Hexengefängnisses bei Hänsel und Gretel erlebt hatte. Ich hatte gelernt, dass es drei Dinge braucht für die totale Erfahrung im Theater: körperliche Teilnahme des partizipierenden Zuschauers, die Erzählung und die Transzendenz, die Revolution ist. Die Erzählung ist wichtig im Theater, denn wenn das Theater die Welt darstellen soll, muss es wissen, was vorgeht, wissen, wie ein Moment in den nächsten übergeht. Wenn man einen Schwamm mit blauer Tinte auf grünes Glas wirft, ist das zwar ein faszinierender Anblick, aber die Person, die den Schwamm wirft, ist immer interessanter als die spritzende Tinte. Wir müssen ein Theater schaffen, in dem das klar ist. Deine Hand, die die vertraute Kaffeetasse an die Lippen führt, ist wichtiger als der rote Streif am Abendhimmel: Was jemand tut, schlägt jede Kulisse, das muss klar sein. Wenn wir die Landschaft überleben wollen. Als wir 1947 Robert Edmond Jones besuchten und ihm von unserem Theater erzählten, war er freudig erregt und wollte, dass wir wiederkämen. Beim nächsten Mal hatte ich meine Bühnenentwürfe dabei und wir redeten über Stücke, die wir machen wollten. Wir redeten viel, er wurde traurig und wir sprachen ihn darauf an. Zuerst dachte ich, sagte er, ihr hättet die Antwort und würdet tatsächlich ein neues Theater schaffen, aber jetzt sehe ich, dass ihr nur Fragen stellt. Wie viel Geld habt ihr eigentlich? Sechstausend Dollar, sagte ich. Schade, sagte er, hättet ihr kein Geld, wirklich gar keins, dann könntet ihr vielleicht das neue Theater erfinden, euer eigenes Theater aus Seil und Sofakissen, ihr könntet in Ateliers und Wohnzimmern spielen. Vergesst die große Bühne, sagte er, vergesst das Eintrittsgeld, dort passiert nichts, was nicht stupide ist, und es wird nie zu etwas führen. Los, wenn ihr wollt, sagte er, nehmt diesen Raum, er bot uns sein Atelier an, ihr könnt gleich hier anfangen. Erst vier Jahre später, nachdem wir kein Theater für unsere Arbeit gefunden hatten, entschieden wir uns, in unserem Wohnzimmer zu spielen und dafür weder einen Cent zu verlangen noch auszugeben. Er hatte recht gehabt, es funktionierte. Trotzdem hatten wir es immer noch nicht richtig 37


verstanden. Wir arbeiteten immer noch in Theatern, die kommerziell Werbung schalteten, Eintritt nahmen und Steuern zahlten, als ob das etwas brächte, la gloire vielleicht. Reingefallen. Jetzt, wo wir es verstanden haben, dass wir drin sind, fangen wir immerhin an, Strategien zu diskutieren, wie wir wieder rauskommen. irgendetwas ist schief wenn picassos gemälde und schönbergs musik auf den wappen der macht elite prangen rockefeller sammelt de kooning in der wall street wird allen ginsberg gelesen jacqueline kennedy verehrt manet sie nehmen alles weg Malraux und Frost verkauften sich an den Staat unter dem Vorwand, nationale Kunst populärer machen zu wollen. Der Staat braucht Diamanten für seine Krone, er hat kein Interesse daran, den Menschen Kunst zu bringen. Wenn der Élysée-Palast einen Hummer nach Claudel benennt, dann wird Kunst gestohlen, kastriert und als Schokolade serviert. Neuerdings lockt Spanien Touristen mit den Bildern seiner großen Künstler, z. B. Picasso, aber nicht mit Guernica, nicht mit Traum und Lüge Francos; mit Lorca, aber nicht mit seinem Werk und seinem Körper. Der revolutionäre Künstler wird zuerst ignoriert, dann verachtet, sagt Cocteau, und wenn das nicht hilft, wird er unterdrückt, indem man ihn mit Ehrungen überhäuft. theoretisch dürfte es unmöglich sein de kooning zu verehren und bunker zu bauen (wie rockefeller) man kann nicht jewtuschenko gutheißen und bomben horten (wie chruschtschow) kunst muss sich dem staat entgegenstellen, sonst zersetzt sie die eigene kraft wenn der staat die kunst mit ehrungen überhäuft, sagt er, diese kunst tut der regierenden klasse nicht weh vorsicht vor anerkennung und offizieller unterstützung dorothy day vom catholic worker lebt seit dreißig jahren in freiwilliger armut, sie nährte, kleidete und beherbergte die armen und als die stiftung für die republik, eine abteilung der ford stiftung, ihr 10.000 dollar anbot, vielleicht stimmt die summe nicht, und es war eher mehr als weniger lehnte der catholic worker ab weil sie kein blutgeld annehmen wollten das heißt sie wollten kein geld nehmen das leuten abgepresst wurde durch zinsen investition kriegsproduktion und grausame fabrikarbeit und solches geld für die speisung der armen verwenden denn solches geld annehmen hieße die schuld zu entschulden des systems das uns 38


umbringt und das elend produziert und das die katholischen arbeiter zu mildern versuchen in unserer harten gesellschaft in diesen harten zeiten fällt es leuten schwer das zu verstehen ich kannte sogar leute die wütend wurden, als ob dorothy day (und nicht die gemeine natur des geldes) die armen ums brot gebracht hätte, weil der catholic worker das blutgeld verweigerte leute denken immer das naheliegende und wissen nicht, dass man gutes nicht mit schlechtem erreicht, und deshalb denken die leute, dass ein theater das ihnen etwas zu denken gibt, wie das heute so beliebte intellektuelle theater eine gute sache sei, aber ein theater das unterstützung von einer gesellschaft annimmt, die sich wehrt gegen veränderung, das theater von versagern, ist ein mechanismus die schlechten dinge zu stärken; der patient stirbt und wir kleben pflaster auf die wunden. die leute machen vieles mit, bis sie nicht mehr mitmachen, was zu viel ist im theater nähern wir uns diesem stadium dem stadium, in dem zu viel nicht mehr geduldet wird, und etwas neues passieren muss.

10 FRAGEN. 1963 ich lande bei den fragen weil ich keine antworten habe. von den drei sendungen die wbai new york city [eine populäre liberale radiostation] über das theaterleben brachte war dies die dritte. was ist der unterschied zwischen fragen und antworten stellt hamlet seine ehre oder sein schicksal in frage warum gehst du ins theater ist es wichtig ins theater zu gehen ist es wichtig zu lesen

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unterscheiden sich leute die ins theater gehen von denen die nicht ins theater gehen was passiert mit dir wenn du ins theater gehst wenn du das theater verlässt bist du dann anders natürlich verändert dich jeder moment erfahrung und drei stunden später bist du also anders aber ich meine hast du dich aktiv verändert willst du dich aktiv verändern bist du zufrieden ist es gut, sich zu verändern kann etwas unverändert bleiben worüber rede ich suchst du im theater antworten hast du überhaupt fragen wie lang ist lebenslänglich ist es wichtig was passiert ist es wichtig wie lange wir leben ist es wichtig wie wir leben warum stelle ich diese simplen fragen die sich jeder ständig stellt denke ich vielleicht du stellst diese fragen nicht was passiert mit uns was passiert im theater gehst du ins theater um das leben zu verstehen was ist einfacher, das leben im theater zu beobachten oder auf der straße hast du im theater schon mal freude empfunden hast du auf der straße schon mal freude empfunden 40


woran hast du freude erlebst du sinnlichkeit im theater gehst du ins theater um sexuell stimuliert zu werden reibst du dich gern an der person neben dir gehst du ins theater um den intellekt zu schulen gehst du ins theater um zu sehen ob es versteht was los ist gehst du ins theater weil es dir vielleicht die wahrheit sagt gibt es so etwas wie wahrheit sagen zeitungen die wahrheit erfassen stückeschreiber die wahrheit besser als redakteure lügen die zeitungen, lügen die stückeschreiber, lügen die schauspieler lügen stückeschreiber oder redakteure oder schauspieler absichtlich gehst du ins theater um zu sehen wie gut sich ein schauspieler als jemand anders ausgeben kann denkst du die aufgabe des schauspielers ist es das richtige sein zu verkörpern was ist das richtige sein kann ein schauspieler dir das richtige sein zeigen zeigt der schauspieler richtiges sein indem er faust spielt was ist einsicht machst du gebrauch von deiner einsicht ist es einfach fragen zu stellen was hat aristoteles über katharsis gesagt gehst du ins theater um gereinigt zu werden 41


kannst du dich erinnern ob das theater dich je gereinigt hat gehst du erwartungsvoll ins theater und voller hoffnung ist das theater ein weg dinge zu lernen die du nicht weißt wofür ist lernen gut bist du dir irgendwelcher antworten sicher sind alle dinge gleich ist irgendetwas von wert ist töten unter umständen in ordnung was ist der unterschied zwischen einem elefanten und einem taschentuch darfst du jemanden töten um deinen besitz zu verteidigen darfst du leute ins gefängnis werfen machst du dich über homosexuelle lustig meinst du die schwarzen sind ein klein bisschen unterlegen meinst du die weißen sind körperlich und geistig verwahrlost lügst du macht es etwas aus ob du lügst wie oft lügst du am tag findest du lügen notwendig um in der welt zurechtzukommen ich frage nochmal ob du zufrieden bist bist du mit irgendetwas zufrieden hast du befriedigenden sex ich meine gefällt es dir wenn du sex hast hast du genug sex 42


weißt du wie man liebt liebst du wirst du geliebt weißt du wie man hasst und hasst du warum finde ich verstörendes theater besser als gefälliges theater obwohl ich gerne gefalle woher kommen wir wer sind wir wohin gehen wir. gauguin wer sind die könige die mit diamanten vor den augen zwischen unseren schatten fratzen schneiden. barker wir müssen einander lieben oder sterben. auden wie lautet die frage. shakespeare. stein. weißt du dass ich in meine eingeweide gegriffen und sie als fragen auf der bühne verstreut habe weißt du dass ich nicht weiß was ich sonst tun soll weißt du dass ich dich brauche dass ich sterbe und sterben werde ohne dich was ist nützlich was ist eine gute frage wie findet man antworten was bringt die gefängnismauern zum einsturz wo geht es lang wie ist das verhältnis zwischen dem schauspieler und dem zuschauer was ist rede was muss dringend untersucht werden

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haben wir zeit alle fragen zu stellen welche willst du stellen wirst du sie jetzt stellen was brauchen wir wie können wir es bekommen wie können wir einander berühren was können wir tun damit es passiert wie können wir theater machen das aus liebe liebe macht und zwar sofort wie können wir ein theater machen das dem leben der zuschauer gerecht wird wie können wir ein theater machen wenn wir keine antworten haben sondern nur eine vage idee wie man fragen stellt ich lande bei den fragen weil ich keine antworten habe aber ich will die antworten

11 FRAGEN. 1968 wie alle menschen satt machen wie alle kriege verhindern wie alle gefängnistore öffnen wie gewalttätigkeit abschaffen wie rassismus ausmerzen wie das geld loswerden (kapitalismus)

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wie den zu frühen tod verhindern wie militarismus beenden wie autoritäre systeme abschaffen wie das klassensystem abschaffen wie antworten finden auf all diese fragen wie machen wir das jetzt?

12 Ai. Aiee. Vordringen. Schlitzen. Jeden Tag Stacheldraht, jede Stunde eine Mauer, unnatürliche Barrieren, Gefängnis Welt, alle sind abgeschottet – geografisch, wirtschaftlich, psychologisch, abgeschottet durch Klasse, Privatbesitz, Benachteiligung, die Gesellschaft der Türen, gefangen in fehlendem Bewusstsein, abgeschottet vom Wissen und all seinen Lügen, abgeschottet, weil Wissen und alles, was dazugehört, begrenzt ist oder fehlt, abgeschottet von Flüssen, Schwerkraft, Einwanderungsbeamten . . . Jeden Tag müsste ich mich bei meinen besten Freunden melden, aber ich scheitere an der Aufgabe. Jemand stellt mir eine Frage, aber eine Antwort hervorzupressen strengt zu sehr an, ich sage irgendwas, hilflos, ein Lächeln flattert auf meinen Lippen, und wir sind beide enttäuscht. Ich bin eingesperrt in meinem Ich, in dem, was ich geworden bin und weiter sein werde, wenn ich nicht entkomme. Und ich leide nicht mal Hunger. Ich bin in Privilegien gehüllt. Warum leide ich? Vordringen. Zu dir. Wir kämpfen darum, die Todesmaschine zu zerlegen. Die Todesmaschine ist der Kapitalismus. Wir kämpfen darum, die Tore des Gefängnis Welt zu öffnen. Das Gefängnis Welt ist die gesellschaftliche Struktur. Wir kämpfen darum, zur Möglichkeit eines Daseins vorzudringen. Nichts ist natürlicher als Veränderung. Darum geht es im Anarchismus. Anarchismus entspringt der einfachen Erkenntnis dieser Tatsache, wie sich der Körper von Sekunde zu Sekunde verändert, die Jahreszeiten, die Geschichte der Menschheit und des Planeten von der Frühgeschichte über die Marxsche Frühgeschichte bis heute, und immer weiter bis zur

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nächsten Stufe. Dinosaurier und Dodos kommen und gehen, und wir? Der Anarchist will Verhältnisse schaffen, in denen dieser Prozess, dieses Werden des Universums, so passiert, dass sich Leben und Freude bestmöglich entfalten. Ein Prinzip des Anarcho-Kommunismus: Wenn man die Wirtschaft verändert, verändert sich auch die Mentalität; wenn wir in einer Gemeinschaft leben, werden wir uns verändern. Der Kampf: wegkommen von den Orten, wo Bücher sind, aber kein Licht, etwas zu sehen, wo es Essen gibt, aber keine Maschinen, um effizient Getreide anzubauen. Mein ganzes Leben habe ich nach Mitteln gesucht, die uns ausreichend mit Essen und Gedanken versorgen, damit wir gut genährt sind, Frucht. Noch vor zehn Jahren waren wir eingesperrt, wir hatten maximale Sicherheit. Dies ist ein Film über den Ausbruch aus dem Gefängnis, dieses Theaterleben. Der Revolutionär wandelt auf Messers Schneide. Buber. Stücke und Aktionen als Wegmarken meines Lebens, das Theaterleben ist der Prozess, durch den ich vom einen zum anderen gelange, der halbe Lebensweg, verloren im dunklen Wald, im brennenden Wald der Nacht, im Ofen, in der Grube, dem Abgrund, da heraustanzen. Dieses Buch ist ein Film, der über zehn Jahre entsteht. Es handelt davon, wie wir Barrieren überwanden, die uns vor zehn Jahren blockierten, wie da herauskommen und immer weitergehen, das ist der Code, in dem es geschrieben ist. Der wandernde Körper, der wandernde Geist. Die großen herrlichen schrecklichen Kämpfe sind unsere Ehre. Vordringen, den Sturm überleben, das Festland erreichen, raus aus dem Tod im Leben, hin zu dir. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 27. Februar 1970

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13 DREI MEDITATIONEN ÜBER STRATEGIE Eins. Zerfall der Sprache ist gleichbedeutend dem Zerfall von Werten, von Denkweisen, der kranken Ratio. Der Zerfall der Sprache bedeutet, dass neue Formen der Verständigung gefunden werden. Zerfall der Sprache bedeutet Ausfall der Computer. Zerlege die Sprache der kontrollierenden Mächte und du greifst ihre müde Logik an, ihre straffen Strukturen. Die Dinge durchschütteln, verändern, uns dem überlassen, was wir nicht verstehen, denn was wir zu verstehen glauben, verstehen wir sowieso nicht, unsere Logik ist falsch, steif und systematisch, brecht sie auf. Atmet durch. Die Sprache (Gedanken) befreien von den Fesseln der sokratischen Logik, das starke Geschütz der herrschenden imperialistischen Demokratie. Wir nehmen der regierenden Klasse die Sprache weg und unterwerfen sie der Fantasie, den Turbulenzen des Verstandes. Breton. Was man in den Zwanzigern Wortrevolution nannte, bleibt heute nicht auf die Literatur beschränkt. Freie Assoziation wendet sich, wie die künftige Ordnung, gegen die uniforme Assoziation jener Gesellschaftsstruktur, die heute Körper und Geist beherrscht. ‚Kill the Pig‘ [68er-Anti-Polizei-Slogan in den USA], die Paraphrase für ‚Tod dem Tyrannen‘, ist die Umkehrung von ‚Lang lebe der Zar‘. Der Sklavenhandel ist inzwischen gut getarnt. Die Länge des Pfeils. Wenn der Pfeil zu lang ist, bricht der Schaft. Der Prozentsatz wird in Zahlen angegeben. Die Pfeile fliegen mit dem Wind. Ruhe. Der Geist bläst aus Nordosten mit 20 Prozent. Aus W 1 Prozent. Aus S bis SSO 18 Prozent. Wege vorbei an vergangenen Jahren. Mittagszeit. Grauen. Positionen werden angezeigt und Profite, die blau gestrichelten Linien für die Verluste, Annäherungen, zu erwartende Gezeitenstrudel, Annäherungen. Schwach, dehnbar, der feste Schaft. Der Gezeitenhub ist enorm. Das Netz der Gewässer. Der Einfluss des Festlands. Die Pfeile mit dem festen Schaft. Der unruhige Geist dämmert über dieser Tabelle weg. Bewegung des Wassers. Genitalien, deren Erträge im Verborgenen sind, über die Schichten verteilt. Die Biologen verstehen die Schallstreuung der Schwimmblase noch nicht ganz.

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Wir brauchen bessere Methoden, unsere Ziele auszumachen. Die möglichen Schichten auseinanderzuhalten. Proben und Vorräte mitzunehmen, nichtexistente Untiefen zu umschiffen und die akustische Energie der neuen Sprache auszumessen. Vielleicht werden auch die Schichten eines Tages erfasst. Wenn wir andere Instrumente haben und freie Köpfe. Bis wir gar nicht mehr daran denken, nicht mit diesem Kopf, dem jüdischen Verstand, auch nicht mit diesem Ozean Auge, dem verirrten Organ, mit winzigen piepsenden Raupen, nicht mit elektrischen Drähten und Messungen, sondern mit Tonbandgerät und Video, weil die es sich für uns merken und wir nicht alles in unserem Rückenmark abspeichern müssen; die Schichten selbst werden eines Tages erfasst, wahrscheinlich unter besseren Umständen, mit freien Köpfen, aber nicht mit diesen Worten, mit dieser Dichtung, sondern einer neuen Art, die eines Tages der Erfassung dient. Ich heule. Aber du, Achmed, musst aufhören zu grübeln. Wo ein „O“ steht, können Winde aufkommen und offenbaren, wie sinnlos die gebrechliche Gangart ist, Iliana stakst. Denk nicht so viel darüber nach. Geh weiter zum nächsten Chakra, meditiere, handle. Jede größere Abweichung vom normalen Druck kann Unruhe auslösen und eine Schwingung, die weder bei dir noch bei mir eine Spur von Depression hinterlässt, du, der du dich für so klug hältst, so gut wie unsterblich, warum weißt du so wenig über Navigationsgeräte und konstruktive Vitalität? Ertrinken ist nicht ungewöhnlich, besonders an der Luft. Erstickung. Die Arbeit unserer Beobachtungsposten ist hochgeschätzt. Am Froschaufkommen hat sich wenig verändert. Heute schon eine Gruppe entdeckt. Wenn du dich für Wind interessiert, lass dir einen frischen um die Nase wehen. Wenn das Netz angeht, zieh neue Schlussfolgerungen. Schnitt. Neue Information setzt sich durch. Vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren hat es angefangen, aber im letzten Juli . . . sie setzt sich durch. Kreaturen sind sehr empfindlich und haben eine hohe Sterberate. Fühlst du dich nicht schon besser mit dem Wind um deine Nase? Atme, vergiss nicht zu atmen. Rio de Janeiro, 20. Oktober 1970

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Zwei. MEDITATION ÜBER AKTION. 1967 in unserer zeit brauchen wir unbedingt die realität eine generation wütet: geh nicht wählen zahl keine steuern wehr dich gegen die polizei verbrenne dein geld schlitz reifen auf aufstand zerstöre die kultur gib die vergangenheit auf scheiß auf alles besonders auf den sterilen superreiniger iss weniger zieh weniger an arbeite weniger tu nichts was nicht unmittelbar der poesie des wandels nützt breche jedes gesetz stemm die bürgersteige auf geh auf der erde find ein anderes leben nimm deine kinder aus der schule mach aus fahnen mehlsäcke zerstöre die ganze regierung die zeitverschwendung schluss mit den stechuhren streik streik schlage heiligen terror in unsere herzen kehre die peristaltik um vertreibe die geldwechsler stürme die banken verbanne die bomben und alles was damit zu tun hat weg damit schau hin lös es auf lass dir flossen wachsen fliege fokussier dich gib zu fressen schick licht aus den augen schönheit aus den ohren nächtliche euphorie ist ein weg hin zur erlösung schlage krach schrei blinzel wälze fick kriech krabbel kotz saug mach das dach auf für den regen mach die lunge auf für das blut die zellen für die pflanzen hoch fünffingrige cannabis weißes coca der träge mohn die geheimnisse des kaktus die magischen formeln der erde sind unsere chemischen waffen gegen die mörder mach alles neu vertausch rechts und links in diesem gehirn das tötet pfeif den erbarmungslosen modernen verstand zurück setz diese liste fort mit allen arten von aktion bis jedes fühlende lebewesen zu essen hat rechts und links zertrümmert das liebeshindernis und streift seine wut ab seine sexuelle rache rache auf alles und jeden macht alles platt fang nochmal an düsseldorf nach hamburg parma nach perugia, märz 1967

Drei. ich klage an die institutionen und die struktur und die oft schlimme unterdrückung sie treibt die fantasie in die deckung und schafft so großen frust solchen

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frust dass der welt krebs enormen raum fordert. ich klage uns an revolutionen vom zaun zu brechen die alle menschen satt machen aber uns zu sklaven der industriellen tech nokratie die unnütze materielle impulse befriedigt und nicht versteht was gebraucht wird anders als das alte sprichwort: nicht vom brot allein die totale revolution: von wollen und bedarf. keine zeit für streit: die menschen satt machen sofort und sichergehen dass wir keinen plan verfolgen der den verstand austrocknet. porto alegre nach são paulo, brasilien, 13. – 14. februar 1971

14 Pause machen und von vorn anfangen. Patchen ATMEN: Notizen für die erste Lektion „Ohne ausreichend Sauerstoffzufuhr sind die Funktionen des Nervengewebes gestört, das betrifft besonders die Zellen des oberen zentralen Nervensystems.“ K. M. Bykow, Lehrbuch der Physiologie. Die steife Haltung von Rückgrat und Brustkorb: die militärische Haltung eines stolzen und halsstarrigen Volkes: rausgestreckte Brust, die schmale Taille, künstlich erzeugt und tödlich, indem man die Bauchmuskeln nach innen saugt und die Luft anhält. Wie die Luft in die Luftröhre gelangt und von da in die Bronchien. Wie wir nicht genug Luft einatmen, um die ganze Lunge zu füllen. Und deshalb bekommen die Zellen nicht ausreichend Sauerstoff, um sich zu regenerieren. Wie der Körper erstickt. Wie das Gehirn verfault.

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Wie wir Angst haben, Luft zu holen. Wie wir in Steifheit und Angst gefangen sind. Angst, einen Muskel, das Zwerchfell, zu bewegen. Wie wir trainieren müssen, um das Atmen zu wagen. Prana Yoga. Übungen, die Lungen zu füllen, ein Bewusstsein für den körperlichen Apparat zu entwickeln, das Bewusstsein einsetzen, um die psycho-physische Unterdrückung zu überwinden. Atmen: Der Revolutionär setzt es ein, ohne dass die herrschenden Kräfte es ihm nehmen könnten: weil es den Verstand aus den niederen Regionen holt, emporkommen lässt, es befreit Fantasie und das Verstehen, Vision, Hoffnung, Erfindungskraft, Esprit, Stärke, physische Kraft, es verlängert die Lebenszeit, es ist männlich und weiblich, dieses Einatmen und Ausatmen, es nimmt die sexuelle Scheu, und das befreite Bewusstsein, das folgt, ist unbrauchbar geworden für die Autoritäten, die wollen, dass wir steif bleiben, ängstlich, dumm und weitermachen. Ritus: Weihe des Körpers: die Wiederholung bestimmter Handlungen um das Verständnis der heiligen Essenz zu erhöhen vertiefen auszudehnen: sich das Heilige bewusst machen: das Atmen zu einem bewussten Ritual machen: an der Lebenskraft festhalten. Über Meditation: Kombination von gesteigertem körperlichen Bewusstsein und intensivierter Aufmerksamkeit: der Körper ruht, wir atmen sorgfältig, die Zellen versorgen und reinigen, damit sie produktiv arbeiten, und der Verstand überwindet die Grenzen, die ihm die Herren unseres Unglücks gesetzt haben.

15 MEDITATION. 1966 Notstand! die reiter reiten über uns hinweg! wir fressen uns selbst! auszehrung! wenn wir einander berühren, gehen die bomben hoch, pest, pest, die verhungerten beine können nicht tanzen, die geschwollenen bäuche, die kinder, die aufgegebenen hoffnungen, die ausgeplünderten menschen, denen die systeme das leben ausgequetscht haben, das system ist die pest, hilfe, hilfe, ich rufe nach euch, aber ihr seid in eurem versteck, ich rufe nach euch und sehe in euren augen angst, ich könnte euch wahnsinnige entbehrungen aufhalsen, die pest der schlacht, die pest der veränderung, ich bin der apokalyptische irre, die pest im endstadium, epidemie der verzweiflung, dicke stinkende luft, sterbend blicken wir in den spiegel, faules fleisch, und wir wissen, wir sterben ungeliebt ohne zu

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lieben, die pest, dass wir unfähig sind, unsere liebe zu zeigen, schrecklicher knoten unausgedrückter liebe, die steinhart wird in meinen lenden, bis ich mich kaum mehr auf die straße schleppen kann, lähmung, pest, das unausgelebte fleisch frisst sich selbst, krebs, versteck dich, halts maul, lösch das licht, polizei, feinde, zielscheiben, kriegspest, die folterwerkzeuge des imperialismus, entzündete wunden, plutokratie, dynastien, pest der macht, wasser pest, fabrik pest, notstand, notstand, pest der selbstzufriedenheit, der komplizenschaft, der aristokratischen manieren, pest der sauberkeit, scheiße, placebo theater, gift theater, u-boot schlegel, angriff durch partygeplauder, lackierter intellekt, pest für den schwarzen mann, ausbeutung, herablassung, verachtung, debilität, debakel, armut, fehltritt, es ist die plage der selbstsucht, leute sind abgeschottet, eingefangen, köpfe in kapuzen, hälse mit stricken, abgeführt, verschleppt, gestoßen, ein leben lang stolpern, bis wir endgültig fallen, verhungert, erschossen, verrottet, zu jung, tot im bett von der pest ausgezehrt, früher geschmeidig jetzt brüchig, unfertig, verbogen, wie alte planken, ungenutzt, zersplittert, tot. Elend! Wir wissen das alles. Das ist das tägliche Leben. Wir sehen es nicht und können es nicht sehen, so wie wir sind: Deshalb handelt es sich um einen Notstand. Mit dem Wort Notstand bezeichnen wir Zeiten, in denen das Tempo anzieht. In so einer Zeit sind wir jetzt. All das wissen wir, aber wir fühlen es nicht. Deshalb ist 1966 das Theater des Notstands das einzig mögliche Theater. Egal, was ich mache, ich bin neuerdings Arzt. Mein Fachgebiet ist es, die Dinge zu erkennen, wie sie sind. Ich sehe die herrliche Landschaft, das Sonnenlicht, ich spüre den Impuls zu lieben, ich sehe Venedigs architektonische Pracht, ich habe Euklid studiert und die Sätze gelesen, die Sonette, die mystischen Lehren der Chassidim, die Exzellenz der chinesischen Kalligrafie, chinesischer Faltwände, Brückenbögen, Carpaccios visuelle Errungenschaften, das Gamelan, den Parthenon, die Farben, ich habe den Sprachen der Menschen aufmerksam zugehört, mexikanische Haut betrachtet, jüdische Brüste, ich habe Männer und Frauen überall geleckt, ich habe die Sierra Nevada erkundet, ich habe den Ort gesehen, an dem Aischylos den Felsen in Worte spaltete, Regen, Regenbogen, Schnee in Schweden, den Atlantik, die See, Schicksal, Glas, Kunstgewerbe, Massen, Prozessionen, Gebräuche, Gewänder, Akrobaten, Filme, Erfindungen, Schiffe, ich erkenne jeden Ruhm an, Schönheit entkommt mir nicht, ich bin immer wachsam, ich 52


messe Freiheit, wo immer ich bin, die Länge des Feldes, das ein Mensch ablaufen kann, wie weit einer denken kann, wie weit man gehen kann mit körperlichem Spiel. Ich sehe alle Gefahren, die Auflösung, ich bin nicht zufrieden, ich sehe den Notstand in jedem Haus, an jedem Ort. 1966. Es geht nicht um das, was wir nicht wissen, sondern um das, was wir nicht fühlen. Das Theater des Notstands ist das Theater des Gefühls. Gefühl, für eine fühllose Gesellschaft. Vereinigung, für ein zerrissenes Volk. Umsetzung. Das Volk als eins, einig. Nicht Theater für Menschen, sondern im Einklang mit ihnen. Die Kluft zwischen menschlicher Natur und dem menschlichen Verstand schließen. Stein. Wir wissen, was Klassenhass und Rassenhass ist, aber wir bringen nichts als mickrige liberale Gesten zustande, weil wir nicht fühlen, was wir glauben. Die Welt verändern. Das Theater der Veränderung. Des Notstands. Des Gefühls. Wenn wir spüren, spüren wir den Notstand: wenn wir ihn spüren, werden wir handeln: wenn wir handeln, werden wir die Welt verändern. Ein Theater des Handelns. Meine Berufung ist das Theater, mein Leben ist in der Welt, also ein Theater des Handelns in der Welt. Kunst ist kein Beruf, für den Macher wie für den Zuschauer ist sie ein Weg zur Wahrheit und Bewusstwerdung. Ajit Mookerjee. Tantra-Kunst. Man darf sich nicht mehr abgrenzen. Das ist vorbei. Die Pest der Abgrenzung. Man darf nicht von Veränderung sprechen und unverändert bleiben. Was man auf der Bühne zeigt, muss man auch leben. Sonst ist alles ungültig. Die Pest der Lügen. Kunst als Anti-Lüge. Vielleicht die einzig gültige Funktion, die sie in diesem Notstand noch hat.

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Das Theater des Notstands, Gefühls, Wandels, Handelns widerlegt die Lüge, die Zuschauer wären tot, indem es beweist, dass sie teilhaben. Der Zuschauer wird zum Performer, das Theater wird zum Leben, der Notstand ist die Wahrheit. Taormina, Sizilien, 13. März 1966

16 DIE STRUKTUR ZERLEGEN. POLIZEI THEATER I Wenn wir die Struktur zerlegen wollen, müssen wir sie von allen Seiten angreifen, von allen zehntausend Seiten. Für die Polizei: Stücke, die den Zweifel befeuern, die Ordnung zeigen, ohne Gesetz, Stücke, die zu Klassenbewusstsein anregen, sexuelle Stücke, sexuelle Krise, prise sexuelle, Stücke in zehntausend Formen. Das Projekt heißt Sich Durchbeißen. Ohne brutale Reaktionen hervorzurufen, ein Stück, das sie [die Polizei] endgültig von ihrer Autorität befreit. Nicht, um sie wie Haifische aus dem Meer zu ziehen und im Sand verenden zu lassen, nicht, um ihnen Kastration anzudrohen, sondern ein Stück, das sie endgültig von ihrer Autorität befreit, das heilige Instinkte weckt, das sadistische Chemie in menschliches Fleisch übersetzt.

17 Vertikal sein, sich aufrichten, Homo erectus: Dieser Akt des Aufstehens, sich Erhebens, ist ein Akt gegen die Natur: sich aus den Tiefen des Natürlichen ins Übernatürliche erheben. Die Arbeit der Welt formt die Natur und löst die Probleme der Existenz, die das Universum der Menschheit auferlegt hat. Sich nicht beugen, nicht der Hierarchie der Elemente, des Mangels, des Todes unterwerfen, nicht zum erbärmlichen Subjekt der Naturgesetze werden, nicht zum Subjekt ihrer Gewalt. Die Arbeit der Welt transformiert die natürliche Energie, die in ihrem natürlichen Stadium gewalttätig ist, wenn sie obenauf ist auf dem

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Gipfel des Lebens, schöpferisch, wenn die Menschheit zum Schöpfer wird. Niedergestreckt ist jeder ein Opfer, Bewohner der Unterwelt, Höhlenmensch; aufgerichtet fliegen wir ins Licht, überwinden das erdrückende Gewicht der Schatten, wir heben ab.

18 Wenn die sexuelle Energie der Menschen befreit ist, werden sie die Ketten sprengen. Wenn ihre Fantasie frei ist, werden die Menschen und nicht etwa der Künstler oder Anführer oder Sprecher wissen, wo es langgeht, und es schaffen. Wenn ihre Seelen befreit sind, werden sie mit einer Kraft handeln, die alle Technokratie in den Schatten stellt. Nicht der Künstler muss den Plan für die Zukunft entwerfen. Das Volk gibt das Zeichen. Nur die Masse kann tun, was zu tun ist. Strategisch ist das die wichtigste Entdeckung unserer Zeit. Sie macht klar, worin die Rolle der Kunst besteht. Die Sozialisten und Kommunisten, die das seit einem halben Jahrhundert verkünden, haben es so gedreht, dass der Künstler Werke schaffen soll, die den bürokratischen Staat stützen. Lügen liegt in der Natur des Herrschers.

19 Kleinliche Zusammenstöße, gefolgt von kleinlichen Szenen vor Gericht. Eine Probe von Die Zofen in unserem Hotelzimmer in Paris im Oktober 1964. Das Hotel Normandie, Rue de la Huchette, ist eine Absteige; jeden Morgen, wenn ich die Treppe runterkomme, verlangt der Manager vierzehn Francs von mir, sieben Francs pro Tag und Person. Ich muss nach Berlin, Judith probt mit Bill Shari, Luke Theodore und Tom Lillard. Der Manager klopft an, „Madame, violation de domicile! Vous ne pouvez pas rester dans la chambre avec des inconnus sans que votre mari soit présent! Si ces messieurs ne quittent pas la chambre tout de suite, je serai constraint d’appeler la police!“ Niemand verlässt das Zimmer, er holt die Polizei, alle werden verhaftet. Mehrere Stunden, Ohrfeigen und Schläge später werden sie freigelassen. Gegenüber der Gendarmerie liegt die Hongkong Bar, die Genet in den Zofen erwähnt, als Monsieur Madame anruft, gerade aus dem Gefängnis entlassen. In Stockholm wollen wir nach der Vorstellung essen gehen. Aber nach 21 Uhr sind alle Restaurants geschlossen. Chester Kallman hatte uns am Abend vor unserer Abreise vorgewarnt. Er sagte: „Ihr müsst wissen, nach

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21 Uhr bekommt ihr in Stockholm nichts mehr zu essen.“ Wir fanden dann doch ein Restaurant, das abends geöffnet hat, das Röde Rummet ist für Leute, die nachts arbeiten. In der Dezemberkälte standen wir Schlange, um eingelassen zu werden. (Wir essen immer nach der Vorstellung.) Endlich waren wir dran. „Sie können hier nicht rein“, sagte der Manager. „Aber wir arbeiten. Wir arbeiten im Theater“, erklären wir. „Nein, sie können hier nicht rein.“ Wir weigern uns zu gehen. Also ruft er die Polizei. Die kommen schwingend an. Sie fassen uns an die Kehlen, die schwedische Methode, und zerren uns weg. Erst am nächsten Abend werden wir aus dem Gefängnis entlassen. In Rotterdam hatten wir ein Hotel reserviert, und als wir dort ankamen, waren die versprochenen Zimmer doch nicht frei, und als wir gingen, sagte der Manager, „Ihr seid viel zu schmutzig für mein Hotel!“ Als wir gingen, nahm jemand ein Handtuch mit, er rief die Polizei, die uns alle verhaftete. Das Handtuch wurde zurückgegeben, aber der Manager wollte nicht, dass die Polizei uns laufen ließ; er wollte seine Rechtsmittel voll ausschöpfen und mehrere Frauen mussten auf der Wache weinen, bis er uns in Ruhe ließ. In Triest blieb während eines tableau vivant bei einer Aufführung der Mysterien ein Schauspieler für drei flüchtige Sekunden nackt, sein wunderschönes Geschlechtsorgan glänzte vor 2000 Augen im Licht. Die tableaux vivants bestehen aus 72 Schlaglichtern: Das Licht geht an: Vier Leute in vier Positionen vor vier Kästen: Das Licht ist für vier Sekunden aus, dann wieder für drei Sekunden an, die vier Leute in anderen Positionen, Licht aus Licht an, Licht aus Licht an. Jemand „meinte“, er hätte einen nackten Mann gesehen, die Polizei wurde gerufen, sie stürmte das Theater und versuchte, die Vorstellung abzubrechen, aber wir haben weitergemacht, weil who the fuck are they, und wir spielten unser Stück und wurden nach der Vorstellung verhaftet und durften am nächsten Tag nicht spielen. Einige von vielen Zusammenstößen. Die Bourgeoisie hat es so eingerichtet, dass sie die Polizei rufen kann, wenn ihr danach ist. Die Polizei ist ihr zu Diensten. Strindberg lesen: Die Diener wissen, wie ihre dekadenten Herren zu beherrschen sind. Sie machen es wie die Vampire. Aber sie bleiben in Strindbergs Schreckenshaus. Diener identifizieren sich mit ihren Herrschaften. Genet. Das ist ihr Problem. Die Polizei ist nicht uns zu Diensten. Sie dient nicht dem Volk, sondern der privilegierten Klasse. Sie sind unsere Brüder, aber sie wissen es nicht und auch wir wissen es nicht.

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20 Die große Fliegenklatsche. Der große Ertränker. Wer ertränkt uns in seinen Flüssigkeiten. Der große Anführer. Die großen Zerteiler. Die großen Eigentümer. Ihr gestohlenes Blut. Flügel. Sie schlagen auf meinen Rücken. Was kann ich tun? Ich öffne die Tür. Ich lasse sie ein. Ich Armer. Ich habe mich verkauft. Ich bin ein Ding geworden. Marx. Und sie, die großen Ertränker, haben uns. Wir haben unsere Paranoia, von der aus wir unser Theater erfinden gegen sie, gegen die großen Käufer. Das Theater als Zeremonie, die Dämonen auszutreiben. Praktisch. Denn wenn die Zeremonie vorbei ist, spielen die Teilnehmer das große Volk. Als sein Bewusstsein einschlief, schnitt Gautama sich die Lider ab. Dieser Planet hat Augen und Lider. Nicht handeln wollen bedeutet nicht atmen wollen. Rom, Juni 1967. Cefalù, Sizilien, April 1968

21 POLIZEI THEATER II Paris, Februar 1970. Gedanken im Streifenwagen: Voll auf den Mund, mit der rechten Faust, dieser Hand der freien Bourgeoisie: die Faust des Polizisten. Wir sind in Frankreich, aber ich denke an den Irak, wo sie letzte Woche vierzehn Drogenschmuggler hängten! Ich denke an deine Ehre, o Herr, und des Menschen Ehre, und die Schande unserer Pfuscherei, die unmoralischen Verfehlungen, die Löcher, in die das Leben fällt, so wie die Gehängten fallen. Der Polizeistaat. In diesem Land können sie dich zwölf Tage festhalten, wegen nichts, zur „Feststellung deiner Identität“, zur „Untersuchung“: Mehr als drei oder vier Leute zusammen auf der Straße (oder in der Metro) sind eine Versammlung und können wegen Teilnahme an einer illegalen Demonstration verhaftet werden. Deshalb hat die Masse in Frankreich keine Stimme; aber der Bourgeoisie – sogar den Armen – wird eingeredet, Frankreich wäre frei. Aber wir erkennen dich als das, was du bist, Frankreich und all deine Schwestern, verdeckte Neo-Faschisten seid ihr.

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Paris, 2. Februar 1970. Die Geschichte: Die Metropreise steigen wieder, neunzig Prozent mehr in zwei Jahren! Wer zahlt das? Wer verdient daran? Ein Arbeiter fährt jeden Tag mit der Metro zur Arbeit, hin und zurück, zwölf Mal die Woche, zwölf Stunden die Woche, 600 Stunden im Jahr, macht über dreißig Jahre 18 000 Stunden Metro! Wie viele im ganzen Leben? 750 Vierundzwanzig-Stunden-Tage, zwei ganze Jahre in unterirdischen Schächten, zwei Jahre seines/ihres Lebens in Höhlen, diese Höhlenfahrer, der Unterwelt! Vor drei Tagen fuhr die Aktionszelle des Living Theatre zur Universität in Vincennes, um zu unterrichten. Unterricht? Das war einmal. Wir schlagen vor: Anstatt in einer Diskussion Ideen auszutauschen (die beste Methode, um alles abzuwürgen), nutzen wir die Zeit und erfinden zusammen ein Stück. Und so machen wir es. 1.) „Wir brauchen keine Stücke, wir brauchen Aktion.“ Einverstanden. „Die Leute lernen durch handeln.“ Einverstanden. 2.) Welches Thema brennt euch auf den Nägeln? Antwort: „Die Erhöhung der Metropreise.“ 3.) Was ist das Ziel? Sollen die Leute sich erheben und nicht bezahlen? Sollen sie verstehen, dass das System sie ständig zwingt, gegen ihr Interesse zu handeln? Wird die Revolution kommen? Was ist das Ziel? Ziel ist, die Schlafenden zu wecken. Das Volk, das sind die Schlafenden. Das Leben ein Traum. Nur wer die Welt beiseiteschiebt, wird erwachen. Das Ziel ist, den schlummernden Geist der Revolution zu wecken, dann folgen Morgenlicht, revolutionäre Erleuchtung, und dann (bald) revolutionäres Handeln. Unruhe stiften, kritische Haltung. Das erste Ziel ist erreicht, wenn die Leute selbst Vorkehrungen treffen. Student: „Sie können in diesem Raum nicht sprechen, zu viele Spione. Wir können nur das Allgemeine besprechen.“ „Dann teilen wir uns in Gruppen auf und sprechen konkret?“ Einverstanden. Aber ich weiß jetzt, dass es zu spät ist. Die Spione sind hier und überall. POLIZEISTAAT. Die Operation am Montag wird sorgfältig beobachtet und kontrolliert werden. Aber daraus lernen wir. Die Zellen haben sich formiert. Jede Zelle hat ihre eigene Aufgabe. Die Living Theatre Action Zelle hat ihre Aufgabe. Sie plant das U-Bahn Stück: Tod in der Metro. 58


Wir arbeiten zwei Tage daran. Das Stück dauert ungefähr vierzig Sekunden. Wenn alles gut geht, können wir es den ganzen Montag über 20, 30 Mal an 20, 30 Stationen spielen . . . Dann planen wir, wie wir es machen. Stellen uns vor, was alles passieren könnte. Am Montagmorgen sehen sich zwei von uns, bevor wir Tod in der Metro spielen, eine andere Aktionsgruppe an. Wir stehen für Tickets an. 7 Uhr morgens. Ich sehe Gesichter, die ich in einem Theater niemals sehen würde. Welches Recht habe ich zu denken, sie alle könnten sich für Theater interessieren? Es interessieren sich die, die so geprägt sind, dass sie sich für Theater interessieren. Aber das alte Theater dürfte für diese Leute nicht interessant sein. Warum sollen sie sich für die Leiden Fausts oder Phädras interessieren? Was die bürgerliche Intellektuellenaristokratie für universell hält, ist höchstens für sie selbst universell, und trotzdem suggeriert uns die gesellschaftliche Ordnung, es könne außerhalb ihres Einflussbereichs kein Theater geben. Sie hält sich für das absolute Eden, eine Selbsttäuschung, die dem allgemeinen Bewusstsein gewaltsam eingeimpft wurde. Die Tänze und Riten primitiver Gesellschaften widerlegen diese Impertinenz. Eine andere Ästhetik ist die Antwort. Die Aristokratie definiert Schönheit nach ihrem eigenen Bild. Sexualität wird offen unterdrückt. Forschungen (Kinsey) über sexuelle Vorlieben in verschiedenen Klassen legen nahe, dass Proletarier ein eher kurzes Vorspiel haben. Steuern sie direkt aufs ChakraZentrum zu? Haben sie es eilig? Haben sie keine Veranlagung dazu? Sind sie zu müde? Sieht ihre Schönheit anders aus, hat sie andere Farben, ist vielleicht das ganze Bezugsfeld anders? „Vielleicht hat der Prozess der Zivilisation, der intellektuelle Fortschritt und seine Errungenschaften, uns auf jenes abschüssige Feld der Möglichkeiten geführt, von dem aus wir Gott nicht mehr erfahren können. Unsere Zivilisation hat uns gottlos gemacht. Man kann nicht zivilisiert sein, wie wir es sind, und an Gott glauben.“ R. D. Laing. Was für ein Theater wollen Menschen, die 700 bis 1000 Tage ihres Lebens in Tunneln verbringen? Sie . . . Wir gehen zum Treffpunkt Nummer 1, nehmen die Metro zum Treffpunkt Nummer 2. Warten. Wir sind schon zu lange hier. Nervös. Zum Treffpunkt Nummer 3. Wir hängen zu lange herum. Die Genossen Q und R stoßen dazu. Das ist das Zeichen. Q und R machen sich auf den Weg zum Stationshäuschen, um den Lautsprecher zu kapern. Die anderen verteilen 59


Flugblätter. Die Bullen! Sich zerstreuen. Pierre B. und ich gehen langsam, um nicht verdächtig zu wirken. Schließlich sind wir nur Beobachter „en passage“. Ein Bulle packt mich am linken Ellbogen, dreht mich herum, Becks Blut befleckt friedliche Demonstration. Damit die Leute es wissen. Alles Wissen den Menschen. „Die Trennung zwischen Arbeit und Wissen abschaffen.“ Aktionskomitee des 13. Arrondissements, das Politische Programm entspricht dem der Generalversammlung am 25. Mai 1968. Wie kann sich die Masse in etwas verwandeln, das mehr ist als eine amorphe Masse? „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion.“ Marx, zitiert von Daniel und Gabriel Cohn-Bendit. „Dem russischen Proletariat hat deshalb ein Jahr der Revolution jene ‚Schulung‘ gegeben, welche dem deutschen Proletariat 30 Jahre parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampfes nicht künstlich geben können.“ Rosa Luxemburg, zitiert von den Cohn-Bendit-Brüdern. Zwölf Leute werden verhaftet. Im Polizeiwagen kotzt der Bulle, der mir ins Gesicht geschlagen hat, Beleidigungen über uns aus: „Wenn ich euch sehe, tut es mir leid, dass ich nicht in der SS war und mich nicht um euch und euresgleichen gekümmert habe. Das Volk hasst euch! Die wollen euren Scheiß nicht! Ihr macht nur Ärger! Deshalb müssen wir uns um euch kümmern!“ Ein junger Arbeiter, der mit uns verhaftet wurde, entgegnet: „Deshalb müssen wir uns um euch kümmern!“ Große Faust: „Du bist zu jung, um dir die Zähne einschlagen zu lassen. Du bist zu jung für ein Gebiss. Mit Gebiss essen ist schwer.“ Arbeiter-Aktivist-Anarcho-Syndikalist: „So viel zu essen ist eh nicht da.“ Nach vier Stunden lassen sie uns gehen. Laut Radio wurden „zwölf Demonstranten zur Feststellung ihrer Identität festgehalten“. Unter dieser 60


dünnen Decke versteckt die französische Polizei, dass sie Straßentheater verbietet. Guerilla Theater. Wo? Wie? Und es ist nicht mehr viel Zeit. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 3. Februar 1970

22 „Gegenüber Studenten gibt es keinen Pardon, man kann draufhauen, es sind schließlich feine Bürgersöhnchen. Die Polizisten mit ihrer faschistischen Mentalität erleben den Klassenkampf auf ihre eigene Weise.“ Gabriel und Daniel Cohn-Bendit: Linksradikalismus POLIZEI THEATER III Sie machen immer ihr eigenes. Allein ihre Anwesenheit erhöht die Spannung des Moments. Auch wenn sie in Zivil sind, tragen sie immer ein Kostüm. In Zivil spielen sie wirklich eine Rolle, ganz nach den Regeln des klassischen Theatervokabulars: Sie nehmen einen anderen Charakter an, verkleiden sich, legen eine Maske an, ahmen Gewohnheiten und Eigenschaften nach, suchen einen Rahmen, einen Hintergrund für ihre Figur. Charles Demmerle, ein Rechter, stand für ungefähr vier Jahre auf dem Gehaltszettel des FBI, kooperierte mit linken Aktivisten, legte sogar Bomben – United Fruit Company, General Motors Gebäude, Chase Manhattan Gebäude, 69th Street Armory in N.Y.C. 1969 – seine aufsehenerregenden Bombenanschläge erschütterten das internationale Gleichgewicht. Alles im Kostüm eines verrückten Linken. Dann informierte er das FBI, Leute wurden verhaftet,* die Öffentlichkeit zufriedengestellt. Er spielte sein Stück, die Rolle des Spions, des Lockvogels, Provokateurs, des Rechten, des Rächers. Interessant ist, dass seine linken Freunde ihn in diesen vier Jahren nicht wachrütteln konnten: Weder mit der Kraft ihrer Liebe noch mit der Schönheit ihres Glaubens, auch mit ihrer Leidenschaft konnten sie ihn nicht dazu bringen, die Seite zu wechseln, und den Verräter gegenüber der Klasse der Polizei zu spielen, sich zu rächen, das zu werden, was er spielte, ein Revolutionär. Wie weit er bei der Herstellung und beim Anbringen der Bomben half, wissen wir nicht: Womöglich spielte er eine besondere Rolle, die des Schizophrenen, in der es heißt: „Leckt mich, Terroristen, leck mich, Bourgeoisie – (Ich sprenge eure wahnsinnigen Gebäude) – leck

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mich, Polizei – (Ich helfe den Linken), und leck mich ewige Seele – ich press euch alle aus!“ Was lernen wir Performer daraus? Mit solcher Überzeugung zu spielen, dass alle anderen Performer, die mit uns auf der Bühne stehen, der Kraft der Wahrheit und der Kraft der Liebe und der Kraft des Lebens nicht widerstehen können, dass wir sie hineinziehen in das magische Ritual, das Rad zurückdrehen, und die Erde zurückholen in den freudvollen Zustand kreativer Veränderung. Die Polizei ist immer im Zustand des Dramas. Ständig spielt sie den heroischen Beschützer der herrschenden Klasse, den sogar diese Klasse fürchtet. (Die Vorstellung ins Gefängnis zu kommen ist für die Reichen weitaus schrecklicher, als sie für die Armen ist oder für den Revolutionär, der jederzeit damit rechnet.) „Natürlich ist Mr. Antrobus ein sehr feiner Mensch, ein ausgezeichneter Ehemann und Vater, eine Säule der Kirche, und nur das Wohl der Gemeinschaft liegt ihm am Herzen. Natürlich verspannt sich jedes Mal jeder Muskel, wenn er an einem Polizisten vorbeikommt.“ Thornton Wilder. Nach jeder Vorstellung von Paradise Now passte uns die Polizei an der Pforte ab und wollte uns nicht auf die Straße lassen. Sie machten uns deutlich, dass sich der Feind der Freiheit im Körper des Polizisten manifestiert. Die Straße befreien: Das geht so lange nicht, bis die Macht der Polizei nicht zerschlagen ist, verwelkt, transformiert. Wie gelingt das? Das meine ich, wenn ich von Polizei Theater rede. Wir brauchen ein Szenario, einen Weg, der zur Polizei durchdringt und sie dazu bringt, zu desertieren, wie die Soldaten, wie die Armee. Das sind Tagträume. Leer, nutzlos. Denn sie begreifen das Leben nur in Form von Grausamkeit, als eine Formel, die immer auf Strafe hinausläuft. Die Schlüssel zum Szenario: ihre Träume ansprechen, ihre unterdrückten Hoffnungen, ihre echten Sehnsüchte. (Feindseligkeit und Steine greifen ihr Bewusstsein an, beides zwingt sie, Verteidigung auszubauen.) Wir brauchen den unsichtbaren Strahl, der um die Ecken geht, eine Gegenkultur, die in den Schwanz fährt. Eine Strategie, die den Verstand befreit. Ziel ist es, der Polizei Rollen anzubieten, die viel mehr Spaß machen als die des Polizisten. Ein Spiel erfinden, das seinem Ego und seinem sehnsüchtigen Schwanz gefällt. * Sam Melville wurde im September 1971 während des Aufstands in der Attica-Strafanstalt, den er angeführt haben soll, von der Nationalgarde getötet.

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23 POLIZEI THEATER IV Wie ein Blutbad verhindern, wenn die Reaktion mit ihrem Militär, ihrer Polizei aufmarschiert? Die herrliche gewaltlose Revolution? Wie kann sie gelingen? Stellen wir uns vor, die Arbeiter übernehmen die Fabrik, sie gehen zum Boss und sagen: „Die Dinge liegen jetzt anders. Wenn du bei uns mitmachen willst, dann tu das, arbeite mit uns, aber nicht als Boss, sondern als einer von uns, als einer, der in der Produktion mitarbeitet, und wenn es so weit ist, trete dem Arbeiterrat bei – wir wählen alle sechs Monate einen neuen und treffen die Entscheidungen; früher oder später ist jeder mal dran mitzuentscheiden.“ Und der Boss sagt, „Nein! Die Fabrik gehört euch nicht!“ Und ruft die Polizei (oder das Militär oder die Marine). Und die Polizei kommt. Aber in der Polizei arbeiten die Söhne und Töchter der Arbeiterklasse und des Lumpenproletariats, sie sind selbst Arbeiter, die Arbeit der Revolution wird ihnen das über die Jahre klarer machen . . . Und die Polizei trifft ein vor der Fabrik und die Arbeiter sagen, „Brüder, schießt nicht auf uns!“ Und die Polizei antwortet, „Brüder!“ und schießt nicht . . . Das ist die gewaltlose Revolution.

24 Der Liberale sagt: „Ihr könnt doch nicht allen den Dialog verweigern, deshalb müsst ihr mit mir reden. In meinem Theater.“ Liberale Besserwisserei. Polemik. Die Liberalen wollen auf dem Grat zwischen zwei Welten leben, zwischen der Welt der Reaktion und der Welt der Revolution. Deshalb traut ihnen natürlich niemand. Was sie am Tag gewebt haben, trennen sie in der Nacht wieder auf. Manchmal zahlen sie Kaution, um dich aus dem Gefängnis zu holen. Manchmal verstecken sie dich, wenn die Polizei kommt. Manchmal bezahlen sie den Drucker für die Flugblätter. Sie gehen wählen. Sie bezahlen ihre Steuern. Sie machen eine sanfte Aktion. Sie versuchen, das System zu reformieren, anstatt es umzubauen. Sie hoffen auf einen langsamen Wandel, der ihre Häuser verschont. Politik

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der kleinen Schritte. Wenn die Revolution da ist, werden sich manche Liberale der einen Seite zuschlagen, andere der anderen Seite. Zeit, die Linie zu ziehen. Tag der Entscheidung. Für sie Theater zu spielen ist nicht vergebens, aber es wird nicht zu jener Revolution führen, ohne die Kunst und Magie und Philosophie und Religion, ohne die Wissenschaften und alle technologischen Fortschritte nichts sind als sinnlose spastische Zuckungen eines verlöschenden Monsterplaneten.

25 MEDITATION. 1969 das buch handelt von der rolle des künstlers in der revolution: es reicht nicht zur aufklärung der intellektuellen, gedichte zu schreiben: seit 400 jahren arbeitete ich unter der trügerischen prämisse, man könne das bewusstsein der bourgeoisie oder aristokratie durch kunst revolutionieren, und dann würden sie die ganze welt verändern . . . Die spirituellen Philosophen machen immer denselben Fehler. Die Vorstellung, dass es Wissen, „hohe“ Kunst und „tiefsinniges“ Denken nur für die privilegierten Kreise gibt – und nicht für das Volk – negiert/entwertet die Bedeutung von Kunst und Wissenschaft als heilige Schönheit. Warum haben wir das nicht erkannt? Wurden wir (die Künstler der Elite) ebenso betrogen, wie das Volk betrogen wurde? Der Kapitalismus und der Staat bauen große Theater, um die theatrale Kultur einzuhegen. An solchen Orten befreit die Kunst zwar das Bewusstsein, aber die Dämonen greifen fester zu. Was nützen Strindbergs, Tolstois, oder Aischylos’ gesammelte Werke, wenn der Zuschauer, während er sie betrachtet, immer enger an die Sklaverei des Systems gefesselt wird. Was nützen lyrische Orgasmen, wenn man dafür bezahlen muss mit . . . seinem Blut . . . seinem Tod . . . einer auf Eis gelegten Seele . . . Wenn man dafür bezahlen muss, wer prostituiert sich dann?

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Ich prostituiere mich, bin auf Speed, zahl von deinem Eintritt meine Droge, steckts mir in den Arsch. Wenn ich die Hure bin, welche Rolle spielst dann du, Charlie? Und glaubst du, das wird ewig so weitergehen? Wir, die Spieler, werden uns nicht mehr in dieses türkische indisch lila hüllen, um dich in den duftenden Palast der Sicherheit zu locken. Wir erklären die Unabhängigkeit des Performers. Wir heben die Degradierung des Arbeiter-Performers auf. Raus aus den schicken Huren-Gefängnissen. Auf die Straßen. In die Welt. Wir verlassen die Arena der Dirnen. Oh, Zauber der Dirnen, maskierte Meister haben den Besitz pervertiert. Oh, nein. – Komitee zur Befreiung der Performer Erst wenn wir dem geschmückten Knastkasten, dem Goldenen Gefängnis entkommen sind, entscheiden wir, was wir als Nächstes spielen. Auch Gefangene wissen nicht, was sie tun werden, wenn sie entlassen sind. Sie träumen nur. Ich bin angespornt vom Irrsinn meines klaren Verstands. Seit fünfundvierzig Jahren bilde ich mich zum Künstler aus, um die Fähigkeiten des Künstlers in den Dienst der Kultur zu stellen. Ich verändere das, was sonst Schicksal gewesen wäre. Sie behaupten, draußen auf der Straße käme ich nicht zurecht. Das werden wir ja sehen. Fünfundzwanzig Jahre als prächtige Kurtisane. Jetzt Straßenmädchen. Wir werden ja sehen. Das Theater der Veränderungen. An die Spitze berufen, unter die Narren und Helden, da, wo Ekstase ist, da will ich hin und da komme ich zurecht. Mir gefällt es da, wo etwas los ist. Und wenn es hilfreich ist . . . Ich rede immer davon, alle Menschen satt zu machen. Ich, der nie jemanden satt gemacht hat. Nur Steine. Wenn ich in der Öffentlichkeit improvisiere, sehe ich, nicht jeder ist ein Exhibitionist oder extrovertiert (Zurückhaltung ist auch schön), aber jeder ist ein Künstler. Die Repression verdeckt das. Der Zweck, das Theater auf die Straße zu bringen, liegt in der Zerschlagung der Repression. Die Kunst, den Künstler und die Öffentlichkeit (das Volk) von den unterdrückerischen zivilisierten Künsten abkoppeln, von jenen 65


Künsten, die der repressiven Gesellschaft dienen und für sie sprechen. Es geht um Befreiung. Wer nicht genug zu essen hat, ist nicht befreit. Habe ich eine Karte? Nein. Es ist das Jahr 1969. Noch ein paar Jahre Geduld. Auf der Straße, wo Brot der allerwichtigste Spieler ist, ist Nützlichkeit das übergeordnete Ziel des Schauspielers/Künstlers/Aktivisten. Aber ich bestehe darauf, dass es immer um große Kunst geht. Judith. Große Kunst heißt, dass du wie von einem Wind (von unsichtbaren Kräften), raus aus den Isolationszellen der Gefängnisse gefegt wirst, in denen du leidest. Große Kunst als Schlüssel für den Ausbruch. Große Kunst nicht als Schöpfung, sondern als Schlüssel zur Schöpfung. Große Kunst bedeutet eine Art der Befreiung. Es ist immer die schöne Antwort, die eine noch schönere Frage stellt. Cummings Wie kann Theater alle Menschen satt machen, ohne zu töten? Immer dieselbe schöne Frage. 1969. Wie nehmen wir dem Tod seine Macht? Gutkind. Wie die schöne gewaltlose anarchistische Revolution in Gang setzen? Immer dieselbe schöne Frage. Urbino, Italien, 22. November 1969

26 MEDITATION ÜBER SCHAUSPIEL UND ANARCHISMUS Das Problem der autoritären Position des Regisseurs. In der freien Gesellschaft soll keine Funktion wichtiger als die andere sein. Weil ein Lebewesen aus der Summe seiner Funktionen besteht. Bin ich noch lebendig ohne einen Finger? Ohne ein Herz? Bei Mysteries arbeiteten wir ohne Regisseur. Wir schufen es in weniger als vier Wochen, während der folgenden Monate änderten wir immer

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wieder etwas. Manche Mitglieder der Kompanie trugen mehr bei als andere. Was heißt das?

„In eine kollektive Schöpfung fließen unterschiedliche Beiträge ein von unterschiedlichem Gewicht & unterschiedlicher Bedeutung: aber das bedeutet nicht, dass sie nicht gleichwertig sind oder das Werk nicht kollektiv.“ Joe Chaikin Sao Paulo, 9. August 1970

Judith und ich haben noch immer leitende Positionen. Und es fühlt sich nicht gut an. Fast ohne dass es jemand merkt, treten wir zurück. Schön. Bei Frankenstein ging es hin und her. Judith und Julian greifen immer zuerst ein. Wenn wir müde wurden, griffen die anderen ein. Totale Kollaboration: Regie Dramaturgie Schauspiel Licht Bühne Kostüme alle Elemente. Es geht darum, in den anderen den Geist des jeweils eigenen Selbst anzufeuern, im Selbst erkennen wir den Genius der anderen und geben das weiter, das ist Kommunikation. Der Moment der Apotheose, wenn ein Kollektiv von Individuen zu sich findet. Wo ist der Regisseur? Er/Sie als glühender Teilnehmer, der von den Performern nicht mehr getrennt ist und die Performer nicht vom Regisseur. Frankenstein wollte nicht in den Rahmen passen, der sich aus den Grenzen eines Regieplans ergibt. Frankenstein drohte uns zu verschlingen. Oft gelang es ihm. Das Publikum in Venedig und Berlin im Jahr 65, in Cassis 1966, applaudierte den Ertrunkenen. Wir ertranken und kamen wieder hoch. Ich berauschte mich, um leben zu können. Irgendwann funktioniert das nicht mehr, du willst nicht mehr schlafen gehen, Erschöpfung beherrscht dich, dazu die durchgeknallte Geliebte Mistral, Erschöpfung ist der allerheftigste Rausch. Michaux. In Reggio Emilia haben wir, als wir Frankenstein probten, alle Diskussionen eingestellt.

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Wir mussten ein Projekt in den Griff kriegen, dessen Dynamik wir nicht absehen konnten. Es nahm sein Schicksal selbst in die Hand. Für die Talente der Kompanie, die ihnen alle vertraut waren, bauten die Regisseure J & J das Schauspiel zusammen. Der Regisseur war das Medium, durch das die Performer sich selbst führten. Nordheim, Deutschland, 19. August 1966

27 Und dann wurde Mogador unsicher, und die ganze Welt war in jeder Minute unsicher. Und man arbeitet dagegen an. Manchmal bedeutet das, dass man ein neues Konzept erfinden muss, um zu überleben. Es ist ein Wettlauf. Schau dir das Terrain an, auf dem er stattfindet: Schwertklingen, ein paar Mohnsamen, Ungeziefer, Schatten, wenn die Hälfte der Menschen sich verhält als stecke sie bis zur Taille in Zement, wie kann man sie in Bewegung bringen? Ruhig Blut, Verzweiflung bringt nichts, es sei denn, du willst verlieren. Für Sicherheit gibt es keine Garantie. Der Tod ist ein Bastard. Übe Versöhnung. Entscheide dich für das Leben. Trag Schuhe mit silbernen Flügeln. Renn los. Ich habe den Luxus, dass ich vom Rennen reden kann, weil mir das System meine Überlebenschancen und Vorteile garantiert. Bis zu einem gewissen Grad werde ich von meiner Klasse geschützt. Was mache ich damit? Was bedeutet für mich Schuld? Damit kann ich nicht leben. Schuld, das sind die Furien. Mein ganzes Leben, und deins, müssen wir sie beschwichtigen. Anders geht es nicht. Wenn wir genug Revolutionäre sind. Wir versuchen, es so einzurichten, dass durch die pure Menge schließlich ein bewusster Akt entsteht. Er folgt dem Faden, den eine sich ausdehnende Zellenstruktur absondert. Geh es von allen Seiten an. Ich bin getrennt von dir und du von mir bis in den Tod, es gibt keine Vereinigung. Warum sollte es anders sein? Was wäre der Vorteil, wenn keine Kluft zwischen uns läge? Aber du kennst die Trauer in meinem stolpernden Herzen. Jeder für sich. Falsch. Alle sind verschieden, alle Individuen, aber aufeinander bezogen oder abhängig voneinander. Ohne dich existiere ich nicht.

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Beweise: Extreme Strafe: vom Leben abgeschnitten sein. Im Jemen werden Homosexuelle hingerichtet, indem man sie von einer Klippe stößt. Ein uraltes Gesetz. Heutzutage wirft man sie aus Flugzeugen. In Kalifornien heute wurde Caryl Chessman aufgrund von „unnatürlichen geschlechtlichen Handlungen“ in der Gaskammer hingerichtet. Extreme Strafe: Einzelhaft. Der Mensch BRAUCHT, obwohl er sich schäbig und maulfaul ausdrückt, obwohl seine Verständigungsversuche scheitern, obwohl er an so unsagbar vielem scheitert, er braucht die metaphysische Gegenwart, die Nähe anderer Lebewesen. Ein Hund. Eine Katze. Ein Vogel. Eine Ameise. Eine Ratte. Ein Mann. Eine Frau. (Im Gefängnis ist das Erste, dass man keinen Sex mehr hat. Heterosexuelle Kontakte sind automatisch unmöglich, homosexuelle werden verfolgt, aufgespürt, verboten, streng verfolgt, entdeckt, bestraft.) Ich brauche dich. Du bist mein Arzt, Agent meiner Heilung. Der Feind ist: Abwesenheit von Harmonie: Das System unterdrückt Harmonie: Frieden heißt nicht, dass die Welt keine Konflikte mehr kennt, er bedeutet das Ende der Gewalt. Danilo Dolci. Leben in Harmonie ist nicht ohne Konflikte, aber Lösungen folgen aufeinander wie Jahreszeiten. Brescia, Italien, 24. Oktober 1969 Weiter. Geh es von allen Seiten an, du weißt doch, wie das geht. Wer baut meine Lebensmittel an, wer pflückt meine Kaffeebohnen, wer macht Musik für mich, wer legt das Kabel in den Atlantik, wer reinigt meinen Abfluss, wer bringt den Stamm der Blackfoot dazu, von Gemeinschaft zu träumen, wer erfindet China, wer die chinesische Sprache, wer macht Schuhe für meine Füße, wer hält seinen arabischen Arsch hin für meine Lust. Ich bin auf die anderen angewiesen. Wer ist auf mich angewiesen? Was bin ich für den, der in Peru Wolle kämmt, die Frau, die in Hongkong Furzpuppen bemalt, für den japanischen Fischer, der Seegras trocknet, für den, der auf den Straßen von Bombay schläft, den, der am felsigen Hügel hackt. Ich trinke ihren Honig und mein Lohn sind die Ratten, die sie bei lebendigem Leib auffressen. Und was für ein Spagat ist das? Es ist die Gauklerkarte. Spiel.

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Die Landschaft als primitiver Zug, die britische Eisenbahngesellschaft hat ihn im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert gebaut, Lateinamerika, Armut. Kraftlose Babys, vom Tod gezeichnet. Die alten, wunden Frauen, die beißend kalte Nacht, starker Uringeruch, ein sauberes Volk, in den Dreck getreten, seine Bänke sind aus Holz und der Zug ruckelt, überall Spitzel, Hunger. Da, ein Mann bietet Käsebrote und Schinkenbrote feil, Essen aus Nordamerika, ab und zu kommt er durch den Gang, aber niemand hat Geld. Der Zug hält nie an, endloser Nachtzug nach Mogador. Gefahr ist es meistens nicht wert. In diesem Fall schon. Kommt sich hier jemand heilig vor? Kein Vorwurf. Aber ich sage mir selbst: Etwas schmerzt, was ist es und was können wir tun, damit es heil wird. Wer ist auf mich angewiesen. Ich bin auf alle angewiesen. Wie kann ich es schaffen, dass das Verhältnis wechselseitig ist. Was biete ich dem Textilarbeiter im Tausch an? Meine Kunst? Abhängig vom Grad, in dem sich ein wechselseitiges Verhältnis der Teile einlöst: Harmonie, Gleichgewicht, ökologischer Friede, entweder erreicht der Organismus, der unsere Welt ist, den Zustand kreativer Ausdehnung oder er zerstört sich und versinkt. Mailand, Italien, 28. Oktober 1969 Ohne die Ärzte, die mir Luft aus meiner kaputten Lunge pumpten (nachdem ich während einer Demonstration gegen Präsident Kennedys Entscheidung für weitere Atombombentests von Polizisten auf dem Times Square verprügelt worden war), hätte ich das Jahr 1962 nicht überlebt. Ich bin auf Ärzte angewiesen. Sie sind Arzt? Der Planet stirbt. Es ist Selbstmord . . . Wenn ich von dir getrennt bin. Ich gestehe meine große auf dich angewiesene Liebe. Ich bin ein Wasserträger aus Hindustan ich bin ein Sack Reis auf dem Rücken des mexikanischen Esels ich bin eine lybische Dattel ich bin russische Intoleranz ich bin amerikanischer Stolz ich bin islamische Unterdrückung ich bin Oase ich bin Schauspieler und Zuschauer. Ich arbeite im Theater, um die Tore der Getreidesilos zu öffnen, ich schärfe das Bewusstsein, ich zerschneide die Vorhänge, die Vorhänge der Illusion, so schön, damit wir zusammen durchkommen, wo niemand alleine durchkommt. Mailand, 31. Oktober 1969

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Geh es von jedem Winkel aus an. Das ist das Theater des Entkommens. Dem Tod entkommen. Die Vampire saugen unsere Energie und Hingebung aus, bis wir nicht mehr zu gebrauchen sind: Ich prophezeie ein Museum des Planeten Erde, Forscher aus einer anderen Galaxie werden es eines Tages entdecken und besuchen, so wie wir uns für Yukatán interessieren, oder den alten Nil. Mailand, 1. November 1969 Die Vergangenheit muss immer im Gegensatz zur Gegenwart stehen. Der anhaltende Kampf, uns von der Vergangenheit zu befreien, bringt das neue Leben der Zukunft. Damit es fortdauern und lebendig bleiben kann, muss sich das Leben ändern. An der Vergangenheit festhalten – versuch mal, dich an einer Welle festzuhalten – ist Nekrophilie und es nährt Korruption und Tod. Eine solche Liebesgeschichte ist steril, unsicher und sie spielt dem Tod in die Hände. Jetzt, am Ende des Jahrhunderts, nimmt die Geschwindigkeit zu, mehr Menschen, mehr Bewusstsein und mehr Chemiker, Physiker, Ingenieure, Dichter, Visionäre und Revolutionäre, mehr Ideen, immer mehr Löcher in dieser Hülle, die uns umgibt, Whitehead, mehr Widerstand, mehr Strenge. Wir müssen mithalten. Machen wir. Aber wir sind nicht schnell genug. Endzeitvisionen lauern. Die nordamerikanischen Indianer haben das Ende ihrer Zivilisation, ihres Volkes erlebt. Und sie führten ihre Vision von Tod und Wiederauferstehung auf, in den Great Plains, im Schnee, in Decken gehüllt, kalt und verzweifelt, tanzten sie den Tanz der Geister, tanzten die Vision, wie sie die Weißen ausrotten, wie die Edlen Wilden und ihre Büffelherden auferstehen, ihr roter, schwarzer und gelber Mais. Wir sehen etwas anderes schimmern, sehen, wie unsere verstümmelten Seelen sich erheben, sich erfreuen an der Fülle und Schönheit des Ortes, an seinem spirituellen Glanz, der heute in Form von amputierten Gliedmaßen in der Landschaft verstreut ist. Ist das Bein des Stuhls, auf dem du da sitzt, vielleicht das Bein des Holzfällers, der das Holz geschlagen hat? Ich wiederhole: Wenn wir fühlen könnten, würden wir den Schmerz fühlen, und er wäre so stark, dass wir ihn stillen müssten. Artaud. Wir sind wahnsinnig, weil wir unsere Gefühle unterdrücken, deshalb ist Mogador unsicher geworden.

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Hebt die Trennung auf. Stillt den Schmerz. Das führt zum Anarchismus. Mailand, 1. November 1969

28 „Revolutionen kommen wie Diebe in der Nacht. Sie entstehen durch die Wucht der Dinge. Lange werden sie in den Tiefen des instinktiven Bewusstseins der Volksmassen vorbereitet – dann brechen sie aus, oft aus scheinbar nichtigen Gründen.“ Bakunin.

29 Das Leben der Nomaden ist kürzer, aber das breite Spektrum ihrer Erfahrungen macht das wett. In die Theater rein und wieder raus, Autos beladen und entladen, rein in Hotels und wieder raus, Schnee, Regen, Eis, kein Basislager, als wäre man ein Briefträger, eine Karawane oder eine Versorgungsstraße. In einer Zeit, in der Chauvinismus die Leute fest im Griff hat, ist es eine Freude und lebensnotwendig, Grenzen zu überqueren, wenn die Zollbeamten auch gern unsere Taschen, Arschlöcher und Bucheinbände nach Subversivem durchsuchen. Sie liegen falsch, aber auch wieder richtig, weil ich dieses Gefängnis einreißen will. Aber mein Atem wird flach, meine Muskeln verkrampfen, ich zittere und meinen Angstdrüsen arbeiten wie verrückt. Für ihre Suche nehmen sie mir ein, zwei Stunden meines Lebens, eigentlich Jahre, und während meine Wut anschwillt, unbezähmbare Wut, stehlen sie noch mehr von meiner Lebenszeit. Sie verurteilen mich zum früheren Tod. Wegen der Veränderung, die sie mir zumuten. Dafür sind Grenzposten da. Und deshalb, Genossen, muss nach dem Sonnenaufgang der Nationalismus als Erstes dran glauben. Sie wollen nicht, dass Männer mit langen Haaren von hier nach dort reisen. Manche Länder, z. B. Mexiko, lassen einen mit langen Haaren überhaupt nicht einreisen; andere Länder, wie Marokko, wollen, dass man sein Haar an der Grenze abschneidet. Sie sind auf der Jagd nach Literatur: Wenn sie das Wort „Anarchismus“ irgendwo lesen, ob es nun in den Läden des Landes

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verkauft wird, in das du reisen willst, oder nicht, bringt sie das in Rage. Sie glauben, sie könnten den Verstand davon abhalten zu atmen und sich zu entfalten, sie rasten aus. Aber der heilige Körper des Menschen gehört weder dem Staat noch dem Immobilienhandel. Ich wurde auf diesem Planeten geboren, er gehört uns, wir werden auf dem Planeten geboren und nicht in diesem oder jenem Land; Einwanderungsgesetze, Visa, Pässe, künstliche Linien, Besitz und Kontrolle, all dies gehört ins Jenseits, in die Welt der Dinge. Weltherrschaft ist Weltillusion. Aus Krieg wird Bürgerkrieg, ein Präsident regiert mit der Macht, die jetzt auf 150 verteilt ist, das Gesetz wird allmächtig bleiben, alle Dämonen, Besitz, Geld, Polizei, Ausweispapiere, Pässe und Untersuchungsbeamte dienen der Sicherheitskontrolle. Ich schlage vor, dass wir das Theater dafür einsetzen, die Identifikation der Bürger und Polizei mit dem Nationalismus abzubauen, denn er entspringt einer habgierigen, sadistischen Perversion. Ich schlage vor, dass wir das Theater dafür einsetzen, kosmische Erfahrungen auszusäen, dass wir unsere toten Gedanken wie welke Blätter ins Universum pusten und unsere Wiedergeburt beschleunigen. Ich schlage vor, dass wir Theater dafür einsetzen, Abgrenzung aufzuheben, die perversen Grenzposten zu zerstören, mit denen die Länder Besitz abstecken und die Erde, unsere Mutter, zerteilen, und mit denen sie den reibungslosen Austausch von Nahrung verhindern, und den zwischen Mir und Dir. Croissy-sur-Seine, Rio de Janeiro, Ouro Preto, 10. März 1970 – 21. Mai 1971

30 NOTIZEN ZUR ERKLÄRUNG VON ANARCHISMUS UND THEATER Der Zweck des Theaters ist es, den Bedürfnissen der Menschen zu dienen. Die Menschen haben keine Diener. Die Menschen dienen sich selbst. Die Menschen brauchen eine Revolution, um die Welt zu verändern und das Leben. Weil die Art, wie wir leben, zu viel Schmerz auslöst Und Unzufriedenheit. Tödlichen Schmerz für zu viele Menschen. Für uns alle.

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Dies ist die Zeit des Notstands. Das Theater des Notstands ist ein Theater der Bewusstheit. Zuerst müssen alle satt werden, wir müssen die Gewalt beenden, und uns alle befreien. Das ist die heutige Rolle des Anarchismus. Das Theater des Anarchismus ist das Theater der Aktion. Die Sklaverei des Geldes muss aufhören. Das heißt, dass das ganze Geldsystem wegmuss. Eine Gesellschaft mit Gütern, die frei produziert werden und frei verteilt. Du nimmst was du brauchst und gibst was du kannst. Die Welt gehört dir, liebe sie und arbeite für sie. Kein Staat, keine Polizei, kein Geld, kein Tauschhandel, keine Grenzen, kein Besitz. Zeit und Bereitschaft, das Gute zu suchen, einander zu suchen, zu erkunden bis in die Tiefen des Geistes, zu fühlen, herausfinden, was es bedeutet, einen Körper zu haben, ihn als Quelle von Freude zu sehen. Das Theater muss mit den Menschen arbeiten und jene Systeme der Zivilisation zerstören, die verhindern, dass Körper und Gehirn wachsen. Für die meiste Fabrikarbeit muss man den Verstand am Denken hindern sonst stirbt er vor lauter Schmerz und Wunden. Und den Körper am Fühlen sonst windet er sich bei vollem Bewusstsein durch den Tag. Darin besteht die Arbeit des Theaters. Theater darf kein Produkt mehr sein gekauft und bezahlt vom Bürgertum. Das Zeitalter von Kauf und Verkauf muss zu Ende gehen. Das Theater darf dem System nicht mehr dienen, in dem nur die ins Theater gehen, die es bezahlen können. Die Armen sind enterbt. Gut, Künstleraktivisten werden auf den Straßen spielen, wir sagen, was los ist, wie schlecht es um uns steht, und was die Leute tun können, für Veränderung, auch worin das Ziel – die Idee der Revolution – besteht und wie man es erreicht: Wie man die Revolution plant, sie ins Leben ruft, und was zu tun ist, ist sie erst da, wie man sie dann weitertreibt. Der revolutionäre Künstler sucht den Weg, die Menschen in Schönheit zu baden, so dass sie Fahnen von den Masten reißen, das Militär unterwandern, Kommunen und Zellen bilden, eine Gesellschaft, in der es sich leben lässt. Denn die bourgeoise Gesellschaft sagt den Menschen nicht, was schön ist. Die Reichen sitzen auf ihren Geheimnissen Mit all ihrer exklusiven Bildung und Gier, 74


die Menschen vergiften sich derweil am Quecksilber der Massenmedien. Die Arbeiter werden die Produktionsmittel übernehmen, die Industrieanlagen besetzen und dort Nahrung Kleidung Wohnung Heizung Liebe herstellen und einen erweiterten Verstand. So wird es kommen. Wir werden das schaffen, indem wir alle Gewalt austreiben, und ihre Ursachen, Bedarf an Gewalt, Gewalt in all ihren Formen, Gewalt durch Hände, Zähne, Bomben, Polizei, Armee, Staat, Gesetz, Land, Immobilien, Besitz, Bildung, gesellschaftliche, politische, moralische und sexuelle Gewalt. Das ist die Arbeit der Welt. Und diese Arbeit der Welt ist die einzige Aufgabe des Theaters: denn das Theater ist vor allem die Tanzfläche der Menschen und also Tanzfläche der Götter, die nur so ekstatisch tanzen wenn sie unter Menschen sind Und deshalb zielen wir mit diesem Theater auf Gott und die Menschen, denn sie sind das Ziel der heiligsten der heiligen heiligen Revolution Avignon, Frankreich, 7. Juni 1968

31 SCHAUSPIEL-ÜBUNGEN: NOTIZEN FÜR DIE ERSTEN LEKTIONEN (1) Keinen Schauspielunterricht nehmen, wenn dir der Zweck nicht klar vor Augen steht. Wenn der Körper nicht von einem inspirierenden Impuls stimuliert wird, reagiert er gelangweilt. Seine Bewegungen und entsprechend sein Ausdruck bleiben leer, weil ihr Sinn leer ist. Das Living Theatre arbeitet ungefähr so: Wir stoßen auf eine Idee, die wir körperlich ausdrücken wollen. Dann bereiten wir vor, was notwendig ist, sie umzusetzen. Wenn besondere Übungen nötig sind, machen wir sie. Immer wenn wir körperlich arbeiten, stoßen wir auf Dinge, auf die wir durch pures Nachdenken nie gestoßen wären. Wir haben selten die Zeit, einfach nur zu trainieren. Die Zeit reicht kaum für das Notwendige. Notstand.

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Im ständigen Bewusstsein, dass auch die Kraft des Verstandes schwindet, wenn man nicht körperlich lebt. Deshalb macht jeder von uns Yoga; während wir am Tag andere Dinge tun, beobachten wir unsere Atmung, unsere Haltung, unsere Bewegungen. Beobachten, wie der Körper seine Umgebung und den Raum wahrnimmt. Den Körper trainieren, um seine Fähigkeiten auszubauen, die Fantasie und den Verstand. Körpertraining sollte nicht benutzt werden, um etwas Banales darzustellen. Wir suchen nach Dingen, die unserem kontrollierten Bewusstsein, das uns ruiniert, noch unbekannt sind. Wenn das Training unsere Sensibilität nicht schult und wir nur Banales tun, bleiben wir, was wir sind, frustriert, unerfüllt, behindert. Zielloses Training stärkt höchstens den Zugang zum Banalen. Gleichzeitig ist es wichtig, den Körper zu versorgen, indem man etwas Nützliches tut. Der Körper versteht das; Übungen ohne ein Ziel verwirren den Verstand.

SCHAUSPIEL-ÜBUNGEN: NOTIZEN FÜR DIE ERSTEN LEKTIONEN (2) Joe Chaikin: „Es gibt zwei Arten von Gruppen: 1. Begegnung: Entdecken, herausfordern, einander kennenlernen, dieses Ziel kommt an kein Ende, kein Ende, einander zu kennen, sich zu reiben. 2. Arbeitsgruppe: Eine Zusammenarbeit: Etwas bewirken, durchstoßen, bauen, erschaffen.

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Diese Gruppe braucht Übereinstimmung aber eine ganz andere als sie die erste Gruppe braucht. Übereinstimmung: wenn wir uns intensiv anblicken einander umarmen einander liebend berühren bedeutet das noch nicht, dass wir übereinstimmen. Wir brauchen dazu: etwas anderes. Ziele unterscheiden: Manche Gruppen sind psychologisch und manche Gruppen haben ein bestimmtes Ziel: etwas zu erschaffen. Improvisation braucht Voraussetzungen, unabhängig von dir Wenn du nicht steuerst, wirst du getrieben. Übung: Du bahnst einen Weg wo keiner ist und dieser Weg ist nur dazu da dich an dein Ziel zu bringen. Nur dieses eine Mal. Das Prinzip der Erfindung: Ein einziger Weg. Zuerst das Ziel: du findest den Weg dorthin: Das ist es. Der Versuch. Einzigartig. Nur dieses Eine Mal. Das Prinzip der Erfindung.“ São Paulo, Brasilien, 9. August 1970

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32 KÖRPER Im überholten Theater von heute ist der Körper noch mehr in Dinghaftigheit verfangen. Wir müssen aufbegehren, weil wir um unser Leben kämpfen. Bewegungslos und still im Dunkeln zu sitzen, wie im überholten Theater, das verstärkt den Prozess der Atrophie. Das Theater der nächsten Stufe der Menschheit muss Bedingungen schaffen, unter denen das Publikum die eigene Physis erlebt, sein eigenes Sein untersucht, das körperliche Sein, den heiligen Körper, jeder für sich und alle zusammen. „Jeder authentische Körper ist immer Gefäß des Heiligen. Nur was rein ist, kann Körper werden. Der Körper ist kein ‚Feind‘, sondern ein ethisches Wesen (das Reine ist Kaschar – das, was fokussiert ist). Der unreine Körper hat keinen Bestand; er verfällt. Er spiegelt Leben vor, denn Unreines zehrt das Reine teilweise auf und kann sich so eine Weile behaupten.“ Gutkind, The Absolute Collective. Artaud sah in der berühmten Schönheit des orientalischen Theaters eine Bewegung, die seine Vorstellungskraft vor Neid erblassen ließ. Aber Artaud war von BILDERN besessen, dem großen Tabu der Juden, die in transzendentem Verstehen wissen, dass die Verführung des Auges so stark und durchdringend ist, dass es die Menschheit ins Verderben stürzen könnte; Artaud, der sich selbst nach der Großen Befreiung sehnte, wusste noch nicht, dass das Auge nicht der wichtigste Wahrnehmer des Körpers ist. Ungefähr dreißig Jahre später wissen wir das. Ein Theater Jenseits des Auges. Das Theater Des Körpers Der Nicht Nur Sieht Sondern . . . Das Theater der Bewegung. Passt auf. Bewegt euch. Nur zuschauen, nicht spielen: reduziert sein auf weniger als das Leben: die linear lesende Gesellschaft tendiert natürlich dahin. Höchste Zeit, dass wir weiterkommen. Das dionysische Theater, das die Menschen zum Tanz verleitet, zur wilden Jagd (oder zur Reise durch die Welt, auf der Suche nach dem, was uns gebührt) und zum Ficken, zeigt uns, worauf es ankommt. Es reicht nicht, uns nur auf diese Idee aus der Menschheitsgeschichte zu beziehen; wir müssen durch sie hindurchgehen, ihr Double finden: andere Facetten des Körpertheaters, eine andere Idee, anderen Gebrauch des Heiligen.

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Es ist schwer, über etwas zu sprechen, was wir nicht kennen. Der verlorene Kontinent, der Körper, eine andere Galaxie. Ich habe den Mut, mich auf den Weg zu machen, weil ich immer wieder Botschaften erhalte, Hinweise, dass mein Körper sich nach etwas anderem sehnt. Vierzig Mal am Tag. Es sind Funken. Lichtblicke. So flüchtig. Deshalb brauchen wir dieses neue Theater, in dem Schauspieler und Zuschauer in kollektiver Schöpfung ineinander aufgehen. Körperlich. Den verlorenen Körper wiederentdecken. Den von der Industriegesellschaft betäubten Körper. Abgeklemmt von kapitalistischer Moral, von Armut gefickt. Den Körper, der befreit wird durch die Nahrung und die Poesie der Revolution. Der Körper, der im Handeln auflebt. Als stellten wir uns im Verlauf dieses Stückes dem sozialen Problem, das die Gemeinschaft in der post-revolutionären Welt quält: Wie herauskommen aus dieser Hülle, die uns umschließt, wie ins nächste finden? Uns dem Fluss des Prozesses anvertrauen, das Leben ständig erweitern. Schwimmen, spüren, dass wir Schönheit sind und heilig. Bodenlose Bewegung. Nackte körper in diesem theater das die welt ist beweglich empfindlich jenseits von gut und böse jenseits von metapher jenseits von leben und tod „was ist tod?“ Ist eine blöde Frage für den körper der frau im wagen der dritten klasse lebloser körper ihres babys hatte nichts zu essen seit drei tagen. gib ihr all dein geld, weine, aber die frau und der tod gehen nie weg bis der körper seine schuldigkeit bekommt: Revolution.

33 Den Widerstand von Zuschauer und Schauspieler zu brechen, das ist in Grotowskis Theorie zentral. Vor allem den Widerstand gegen Veränderung? Vor allem den. Wenn der Arbeitsprozess sich zuspitzt und sich gegen uns verschwört. Akzeptiert das kollektive Unterbewusstsein nicht auch die gegenwärtige Herrschaftsform, das Patriarchat? Sind wir nicht alle versteinert von der

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Familie, der Wirtschaft, dem Gesetz, mit all ihren vorgefertigten Werten, die scheinbar ewig gelten? Ewig für uns, weil wir sterben, bevor sie sich ändern. Jetzt, da sich das ändert, was lebt: Das, was unorganisch ist, Stein, kann nur verändert werden, es kann sich selbst nicht ändern. Bleibt starr: Widerstand gegen die Alchemie. Der Prozess, in dem das Vorstellbare (das, was beschränkt ist) möglich wird und das Vorgestellte (das, was möglich ist) abgelehnt wird, aber nicht aufgrund eines stichhaltigen Realitätssinns (dem Wissen um das Mögliche), sondern aus Widerstand gegen Veränderung. Die Fantasie ausdehnen, das ist die wichtigste Rolle der Poesie. Poesie als Zaubertrank: Die Zuschauer stellen sich das Unvorstellbare vor (erste Hürde des Widerstands), spüren ihre Sehnsucht am ganzen Körper (zweite Hürde des Widerstands), schöpfen Hoffnung, legen ihre Verzweiflung ab (dritte Hürde des Widerstands), sind beseelt von ihrem Tun (vierte Hürde des Widerstands), erheben ihre Hände (fünfte Hürde des Widerstands), sprengen die Ketten.

34 Der Performer ist immer im Zustand der Trance. Der Trancezustand des Performers. Das gilt für das konventionelle Theater, für Tanz, Jazz, Rock, Oper, Varieté, für alle Genres. Es gilt auf der Straße, beim Straßentheater, bei Demonstrationen und Zusammenstößen. Es gilt auch für den Revolutionär während der Revolution. Die Methode von Stanislawski ist eine pratique, um Trance zu erzeugen. Ähnlich wie der Teilnehmer eines primitiven Rituals den Geist eines anderen Wesens empfängt und dessen Charakter annimmt, hat Stanislawski eine ausgefeilte Theorie für die Technik entworfen, die es dem Schauspieler erlaubt – durch rationale Prozesse von akkumuliertem Wissen, Einfühlung, Sinneswahrnehmung, Erinnerung, Studium, Beobachtung, physische und psychische Identifikation –, die Identität und Charakteristik eines anderen anzunehmen, mystisch, fiktional, meist die Kreation der Imagination eines Schriftstellers. So erreicht der Schauspieler den Punkt, an dem er/sie „die Rolle lebt.“ Es handelt sich dabei um eine rational erzeugte Trance. Jeder Auftritt in der Öffentlichkeit führt automatisch zu einer Trance, weil er die Körperchemie verändert. Um solche Situationen zu meistern, braucht man besondere Kräfte. Man „verliert“ die Kontrolle, eine geheimnisvolle Kraft meldet sich zu Wort, die sich vom Normalzustand unterscheidet,

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andere Persönlichkeitsaspekte des Schauspielers treten zutage, er wird ein anderer, offenbart einen selten gezeigten Aspekt seines Selbst. Trance bedeutet: unbewusstes Bewusstsein, jener Zustand, in dem man von einem anderen Wesen „besessen“ ist. Im klassischen Theater ist der Schauspieler von Elektra „besessen“, manchmal sagen wir sogar, er ist Elektra. Wenn in Brasilien Medien von Geistern und Dämonen besessen sind, werden sie physisch, spirituell und stimmlich zu deren Ausdrucksmedium: Sie nehmen ihre Gesten an, verkleiden sich als sie, benutzen spezifische Requisiten der Geister oder Dämonen. Sie sind in Trance, weil sie wie von einem Dibbuk besessen sind. Im politischen Theater zum Beispiel ermöglicht mir die Trance, das Publikum direkt anzusprechen (mit Liebe), egal ob es zur unterdrückten oder zur herrschenden Klasse gehört. Normalerweise kann ich das nicht. Gerade weil ich „nicht“ ich selbst bin, kann ich mich mit Menschen austauschen, mit denen ich das in meinem gewöhnlichen versiegelten, entfremdeten, gehemmten Zustand nicht könnte. Man könnte in heutiger Sprache auch sagen, ich bin in meinen Performer Rausch. Im Rausch überfliegt man manches Hindernis. Deshalb spiele ich, deshalb bin im Rausch. Es ist ein Weg aus den engen Grenzen meiner sozialen Klasse. Wenn die Leute das Theater der Revolution spielen, geraten sie in Trance, sind vom Geist der Revolution beflügelt, vom Schöpfergeist besessen, heben ab und entschweben den engen Grenzen ihrer sozialen Klasse. Rio de Janeiro, 11. November 1970

35 REFLEXIONEN ÜBER AUFFÜHRUNGEN Paradise Now: Wut und Gewalt. Oder Leidenschaft. Die Wut und der Zorn tragen den Performer in Regionen von Poesie und Kreativität, sie entfesseln jene Kräfte, sie kennen die Passwörter zu den versperrten Wegen, ihnen gelingt der psychische Wandel, sie durchstoßen den Panzer des Verstands. Mehr als alles andere ist die Aufführung ein Trip, ein Daseinszustand. The Brig (1963) erreichte folgende Veränderung: Fiktion wird jetzt als Parenthese betrachtet in der Geschichte der Kunst: das Ende der Darstellung. Wenn er Paradise Now spielt, tritt der Schauspieler sich selbst

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gegenüber. Auf den höchsten und niedrigsten Ebenen. Setzt alle Hebel in Bewegung, um durchzudringen. Gleichzeitig versuche ich, zu mir selbst durchzudringen. Ich stemme mich gegen den Spiegel. Ich dringe nicht vor. Ich will nicht auf die andere Seite des Spiegels. Zu mir selbst will ich vordringen. Ich stemme mich gegen mein eigenes Bild. Nicht gut. Nichts geht. Ich will in dich dringen. Ich rede hier über Schauspielmethoden. Ich rufe, weil du nicht hören kannst, ich schreie, es ist der kollektive Schrei der Leidenden und Zornigen, ich bin das Medium für die Wut der stummen Unterdrückten. Ich schreie in deiner Anwesenheit, um zu dir durchzudringen: Schrei! Etwas passiert, die Gemütsruhe weicht. Lauter! Ich kann dich schon hören. Die Säfte fließen. Befruchtung. Vorsicht vor der Ratio. Die uns ständig betrügt. Die Könige der Ratio haben Metall in ihren Köpfen, die Generäle der Ratio pumpen Schrapnell in unsere Leiber, auf dem Konferenztisch der Ratio stapeln sich die zu Tode entfremdeten und gefolterten Arbeiter, die ausgesaugten Körper der Bananenpflücker, von denen das Kapital und der Staat leben. Rational. Ruhig. Es gibt keinen Grund, heute Abend ruhig zu bleiben. Ich wüte: schleudere meine Arme empor: das metaphysische Warnsignal: Ich performe: Wutausbruch, Anfall, Ausraster, Agonie, Geschimpfe, Beleidigung, Tirade, ich mache Anleihen bei Senecas und Racines alten Techniken, ich bin von Sinnen, ich glühe wie Kohlen, ich bin heiß: Ich brenne mich in dich hinein: Das ist mein Akt. Lear und Kriemhild hatten keinen wirklichen Grund, wütend zu sein. Der Landarbeiter ohne Boden hat einen Grund, wütend zu sein. Es gibt vieles, worüber man wütend sein kann. Soll man den Menschen den Kampf um Leben und Tod aus den großen Dramen vorenthalten, all den Wahnsinn, die Tiraden, die Versöhnungen, die Verzückung? Wir reden hier vom Theater der Wut, von Wut als Ausdruck echten Gefühls. Worin unterscheidet sich die Gewalttat, jemanden verhungern zu lassen, von der Gewalttat, jemanden deswegen anzuschreien? In Paradise Now lernten wir, die Gewalt der kühlen, unpersönlichen Menschen mit ihren guten Manieren, die andere ausbeuten . . . würgen . . . aushungern . . ., von der Gewalt derjenigen zu unterscheiden, die schreien. Trotzdem sagten wir: „Es ist das System, es sind nicht die Menschen.“

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Der Performer muss Formen finden, die zu uns durchdringen, die uns entwaffnen: Es ist zum Verzweifeln: Wir müssen durchdringen. Die große Kunst des Ich und Du. Ich bin ein Liebender und das ist meine Leidenschaft. The Mysteries: Paris im Jahr 1964, wir spielten keine Figuren mehr, sondern uns selbst. In den Zeremonien in Brasilien, bei den Ritualen der Umbanda sind die Medien zum Beispiel von den Geistern der alten schwarzen Sklaven, der „Pretos Velhos“, besessen. Die Medien winden sich in heftigen Spasmen, wenn der Geist eines „Alten Schwarzen“ in sie eindringt, und sie, von harter Arbeit gebeugt, stöhnend vor Rückenschmerzen, bringen deren Charakter zum Ausdruck; aber die Geister der alten Sklaven verleihen ihnen wundersame Kräfte: mit ihrer großen Weisheit, der Fähigkeit, Fragen zu beantworten und hilfreichen Rat zu geben, sind sie der Kultur und dem Wissen der weißen Kolonisten überlegen. Das „Spielen“ einer Figur transzendiert das „kultiviertere“ theatralische Gegenmodell, wo aus dem Schauspieler nur die aufgeschriebene Weisheit des großen Dichters spricht, der beim Schreiben vom Schöpfergeist besessen war. Dieser Vorgang aber ist einen Schritt vom Leben entfernt. Diese Welt ist nicht real. Stanislawskis Obsession mit dem Realismus, der Illusion des Realen, war Teil des Versuchs, die Kraft dieser Realität zurückzuerobern. Den Stammesleuten Afrikas mit ihren Ritualen ist die Wichtigkeit der Realität klarer als den Darstellern des klassischen Theaters, die schon ihren Alltag in der nicht realen Welt verbringen, fern von Erde und der Produktion des Lebensnotwendigen. Wir bewegen uns schnell auf eine Zivilisation zu, in der uns Technologie, Bevölkerung, Wissenschaft und die Täuschungen der Repression immer weiter von der Realität der nährenden und fruchtbaren Erde entfernen. Das Ritual, in dem Medien von anderen Merkmalen als ihren eigenen besessen sind, könnte ein Weg sein, an jener Realität festzuhalten, die aus unserer Existenz schwindet. Mysteries lehrte uns die Freude, wir selbst zu sein. Aber wie die meisten Menschen hatten auch die Performer Angst, sie selbst zu sein. Immer noch. Das Establishment fürchtet, dass die Wirklichkeit enthüllt wird, sie will, dass die Menschen etwas anderes sind als sie selbst. Marx. Mysteries enthüllte etwas, Mysteries öffnete das Tor zu einer subversiven Methode: zum Mut, keine Rolle zu spielen. Frankenstein: Das Theater der Figur ist vorbei: Als wir im II. Akt die legendären Figuren der griechischen Mythen spielten (Daedalus, Ikarus, Pasiphae, Ariadne, Theseus), als wir das Leben von Siddhartha Gautama 83


und Yasodhara spielten oder die vier Reiter der Apokalypse (Krieg, Hungersnot, Pest und Tod), erkannten wir, dass wir uns in eine unehrliche Welt zwängten, in der Geist und Körper die erdrückenden Mythen einer Figur übernahmen. Diese Mythen berauben uns mit all ihren Verlockungen der universalen Erfahrung, sie halten uns davon ab, wir selbst zu sein. Wir leben in Bildern. Auch der Zuschauer soll keine Maske tragen, wenn er in die Handlung eintritt: Die Kraft und Schönheit der Masken, ihre bezaubernde Täuschung, lässt er weg und spielt sich selbst, unmaskiert, als Liebender oder Held, als Versorger oder Erfinder, als Novize oder Anführer, und er ist besessen, ja, besessen vom Schöpfergeist; auf dass uns Reben aus den Fingern wachsen, auf dass Korn aus unseren Samen sprießt. Iowa City (Iowa), Rio de Janeiro, 21. Januar 1969 – 11. Oktober 1970

36 Fernsehen. Wie gut auch immer es uns informiert, es schwächt die Menschen, es nimmt ihnen die Kraft, macht sie zu passiven Zuschauern, führt sie in kein anderes Leben, zu keiner anderen Wahrnehmung, es zeigt zum Beispiel nicht alles gepunktet, stattdessen schwächt es die Aufmerksamkeit, es sagt: Ich bin die große Maschine, wie von Geisterhand transportiere ich Bilder durch die Luft, ich bin ein Wunder und deshalb glaubst du an mich (ohne Glaube kein Wunder). Ich bin stark und du bist schwach, ich bin Macht und du bist Fleisch, ich bin intelligent und du bist dumm, ich spreche und du hörst zu, ich bin und du schaust zu, ich sehe dich nicht, ich höre dich nicht, du bist mir egal, du bist ein nasser Sack, der mich empfängt, ich mache aus dir die Konsumgesellschaft, konsumiere meine Botschaft, du bist ein Ding, das kauft, ein Beutel für meine geistlose Information, ich will dich nicht berühren, ich will dich nicht einbeziehen, ich will, dass du da sitzt, konditioniert von deiner eigenen Passivität, mach Schulden, um mich zu kaufen, spüre deine Schwäche, spüre meine Kraft, bete mich an, sei mein Sklave. Das Publikum einbeziehen als Gegenmittel, damit die Menschen den Helden und Heldinnen nicht nur zuschauen, sondern selbst handeln, selbst zu Helden werden. Denn das Stück/Ereignis funktioniert erst dann – die Auflösung dessen, was sonst eine Tragödie wäre, tritt dann hervor –, wenn die Menschen nicht mehr Sklaven der Bilderparade sind, wenn sie selbst vom Schöpfergeist besessen sind und ihren kreativen Impulsen folgen.

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Wenn das Theater die künstlich erzeugte Fiktion umschifft, erlebt das alte System einen Kurzschluss: Blitz, Schock, Offenbarung. Neue Zustände. Der Verhaltenskodex im Museum würgt jegliche Kunsterfahrung ab. Sei still, sei artig ausdruckslos, wohlerzogen, flüstere, trete leise, respektiere, was in diesem Fremden da vorgeht, zügle dich, frohlocke nicht über den Wahnsinn und den Glanz, der zu deinen Sinnen spricht, behalt es für dich, töte es. Damit das Geldsystem aufrechterhalten wird, muss nicht mal der Einzelne geldgierig sein. Unpersönliche Unternehmen übernehmen das. Sie tun so, als hätten sie alles im Griff, und dafür verlangen sie Geld. Das Unternehmen und sein Symbol haben Prestige. Das Logo, die schreckliche Signatur, das Markenzeichen. Viele Todesboten kündigen sich an . . . Tod durch Technologie, Unternehmen, Museen, Fernsehen. Und doch ist Anarchismus mit Technologie leichter umzusetzen. Anders als Demokratie. In der Demokratie hat die Technologie das Sagen. In der Anarchie ist die Technologie untergeordnet. Denn die Menschen sind wach geworden. Indem sie Macht delegiert, unterminiert die Demokratie die Entwicklung des Bewusstseins. Boston (Massachusetts), Granville (Ohio), Rio de Janeiro November 1968 – 11. Oktober 1970

37 Stars? Es geht um Helden und ihre Anbetung: Hauptrollen/Nebenrollen: Persönlichkeitskult. Mehr ist über das Star-System nicht zu sagen. Die Galaxien sind wie weiße punkte auf einem ballon den man schnell aufgeblasen hat. es ist das sich ausdehnende universum. das historische böse verschwindet nach und nach wenn der revolutionäre vorgang beginnt. der vorgang der emanzipation des selbst. wird der ballon irgendwann explodieren ? „sie sagen die sonne verglüht

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in zwei millionen jahren und die erde wird zu eis, miss hayes“, sagte einer meiner 8-jährigen klassenkameraden in der dritten klasse. „Das betrifft uns nicht; denn wir alle sind dann tot,“ sagte miss hayes, und die ganze klasse lachte. bis vor vierzig jahren dachten die astronomen dass nichts außerhalb unserer galaxie existiert. es ist eine fantastische reise. ich gehe die nächste aufgabe an nicht weil ich vergesse dass ich energie bin sondern weil ich an die sinnliche freude denke diese fantastische reise soll die ganze nacht dauern für immer aber das passiert nicht außer wir berechnen wie geht wenn es dafür

es

weiter

nicht

zu spät ist.

In haiti beträgt die durchschnittliche lebensdauer 38. hundert jahre sind nichts für miss hayes. stell dir nicht vor dass der historische prozess in zeitlupe vorwärts marschiert und dass du dann tot bist es kann viel schneller kommen wenn du revolution besser findest als flugzeuge oder kühlschrank evolution zwei nützliche objekte die gerade jetzt produziert werden von einem quälenden system wir finden wege um dinge zu ändern und wenn nicht leiden wir und kämpfen weiter die dinge zu ändern: „je mehr du kämpfst, um so intensiver ist das leben, umso fantastischer die reise.“ Kropotkin seit tausenden von jahren arbeiten wir an diesem Gedicht. jetzt ist es leben und wir arbeiten weiter daran. das 86


leiden behindert nicht die schönheit und die schönheit be hindert nicht das leiden es ist die antwort auf zerstörung. rexroth. das leidende fleisch das sprudelnde leben je intensiver der kampf um so intensiver das leben. intensität als verdichtung/ausdehnung der zeit der ballon platzt wenn er zu steif ist São Paulo, Brasilien, 18. Januar 1971: wie überall ist die situation hier kritisch, apokalyptische aussicht in erwartung des jahres 2000. die lebenserwartung ist nicht allzu hoch. die geburtenrate schon. notstand im himmel. In den schäbigen hütten, im militärgebiet, im kessel. im regenbogen bad, der regenbogen aufgabe, der Regenbogen Bewegung, viele farben, weißes licht. dunkle länder, dunkle zeit, auch zeit der schönheit. schönheit die das leben besser macht, den notstand aber nicht aufhält, starker blutverlust. berstende wunden, berstende sterne. São Paulo, Brasilien, 22. Januar 1971: Trotzdem willst du dein Leben so leben, dass Poesie daraus wird. Diese Generation merkt, dass die wirkliche Arbeit nicht im Kommerz besteht, in Kunst, Wissenschaft oder in freier Liebe: Sie besteht darin, alles zu ändern: Befreiung: Das ist unsere Berufung, unsere fantastische Reise, wie Sterne über den Sternen.

38 Man darf den Performern nicht sagen, geh nach rechts oder mach einen Schritt nach vorne. Sie müssen etwas zu tun haben. Man darf keine rein technische Anweisung geben. Es muss einen Anlass geben, der bedeutsamer ist, als Platz zu machen oder einen bestimmten Platz einzunehmen. Was auch immer die Performer tun, wenn sie nicht selbst etwas erschaffen, vergeuden sie ihr Leben. Der Staat und das Kapital sagen den Leuten, wohin sie gehen sollen, welchen Platz sie einnehmen sollen, aber ihre Anweisungen haben nichts mit Schöpfung zu tun und es gibt keinen Performer im großen Weltendrama,

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der sein/ihr Leben nicht verschwendet. Deshalb müssen wir die Mise en Scène ändern. Paris, Granville (Ohio), Oktober 1967 – Dezember 1968

39 Die Heldenreise der Performer. Wie man dem Labyrinth des niedrigeren Bewusstseins entkommt. Wenn die Teilnehmer (fälschlich Publikum genannt) Helden und Heldinnen in jenem Leben werden, das die Performer mit ihrer Kunst verkünden, und wenn die Performer sich auf die Heldenreise begeben, von der ihre Kunst spricht . . . und wenn die Menschen . . . aus dem Labyrinth der Kunst entkommen . . . aus den Kellergewölben . . . an die Luft . . . ins Leben . . . dann wird es passieren . . . Die Reise der Performer in andere Figuren: Sie demonstrieren den Zuschauern die menschliche Fähigkeit, Menschen und Erfahrungen außerhalb der eigenen Person zu verstehen. Um das zu erleben, gehen wir ins Theater, hören wir dem zu, der den Schrei der Hungrigen empfängt, das Leid der Menschen, den Schmerz der Schwarzen. Der empfängliche Performer, dessen Muskeln empfinden, wie es ist, wenn sich der Schwarze unter den weißen Füßen krümmt, dessen feinfühlige Seele wie Lackmus auf den Ekel und die Kraft der Schwarzen reagiert, er/sie ist der erste Beweis, dass der Kampf der Landarbeiterklasse und der Armen aus dem Ghetto die Klassenschranken überwinden kann. Es ist der Beweis, dass Vereinigung, die Integration der Rassen, die Bündelung verschiedener Kräfte möglich ist: Es ist die schwarze Magie des Performers. Wenn wir davon reden, wie die Menschen erweckt werden, damit sie ins Theater des Lebens eintreten, als Spieler des großen Dramas, geht es auch darum, es der weißen/herrschenden/Rasse möglich zu machen, das Elend und den Glanz der Ausgebeuteten auf der Straße zu verstehen, und es in all seinen Facetten nachzuspielen. Die Revolution von unten wird die Weißen wahrscheinlich sowieso dazu zwingen. Sie müssen eine innere Revolution durchlaufen. Das historische Problem: Fragen im Jahr 1971: Wie kann die herrschende Klasse diese innere Revolution durchlaufen, bevor das Volk sich erhebt und eingreift?

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An welcher Stelle ihrer Prioritätenliste steht das? Paris, Rio de Janeiro, Ouro Preto, Oktober 1967 – Mai 1971

40 DIE SIEBEN IMPERATIVE DES ZEITGENÖSSISCHEN THEATERS 1.

uf der Straße: außerhalb der kulturellen und wirtschaftlichen A Beschränkungen des institutionalisierten Theaters.

2.

rei: Vorstellungen für das Proletariat, das Lumpenproletariat, F die Armen, die Ärmsten der Armen, kein Eintrittsgeld.

3.

Offene Teilnahme: Vorstoß, Vereinigung: Kollektive Erfindung.

4.

Spontane Schöpfung: Improvisation: Freiheit.

5.

Physisches Leben: Körper: Sexuelle Befreiung.

6.

eränderung: Stärkung von Bewusster Wahrnehmung: Permanente V Revolution: Bewegliche (Flexible, Freie) Ideologie

7.

Spielen als Aktion.

1970/71

41 Bühnenbild. Früher hielt ich es für sehr wichtig. Viele Jahre meines Lebens war ich auf Bühnenbild festgenagelt. Die Kunst des Bühnenbilds. Die Augen nutzen, um besser zu verstehen. Die Geheimnisse des Dramas visualisieren, tausend Augenpaare begeistern mit der mysteriösen Welt des Anblicks und der Sinne, dem Zuschauer Botschaften senden, den ‚Zuschauer‘ buchstäblich verstehen. Ich schulte mich, indem ich die Welt betrachtete, die Perspektive der Städte, die Harmonie aller Dinge, die Ornamente, ich sammelte mentale Bilder, hatte ein Archiv in meinem Kopf, sammelte alte Holzstücke, Plastiktrophäen

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aus Mülltonnen und lagerte sie in meinem Atelier für den richtigen Moment, das richtige Stück. Jeder Regisseur hat das ideale Tschechow-Tischtuch im Schrank, sagte John Boyt. Für den Bühnenraum wollte ich Skulpturen schaffen, die von Augen und Schauspielern erkundet würden, der Regisseur sollte darin arbeiten wie ein Schriftsteller, er sollte die Figuren anordnen und dann zitterten sie vor der Pracht, kröchen davor wie Ungeziefer, der Zuschauer würde wie ein Träumer zusehen, wie die Dinge zueinander gehören, wie sie sich von Bild zu Bild neu vor ihm ausbreiten. Diese Arbeit hat mir Freude bereitet. Zuerst arbeitete ich langsam und am Ende schnell. Ich arbeitete direkt auf der Bühne, bezog mich wie ein Bildhauer oder Maler auf den Raum. Oft baute ich ein ganzes Bühnenbild, riss es wieder ab und begann von vorn, wieder und wieder und wieder, ich saß still im Theater, betrachtete die Bühne und suchte nach der Lösung: Wie konnte das Bühnenbild genau das sagen, was das Stück verlangte. Der Prozess machte mich irre, ich hatte glasige Augen, warf mich in die Arbeit wie in einen Ozean, schwamm um mein Leben, Tage und Wochen, manchmal Monate ohne Schlaf, die Erschöpfung trieb mich vor sich her, versorgte mich mit dem unsichtbaren Brennstoff Adrenalin, Ideen zündeten, gegen Ende zog das Tempo an, Zeitdruck und Geldnöte pressten mir die Augen aus dem Kopf, quetschten Lösungen hervor, wie im Delirium ließ ich mich von den Dämonen jagen, dachte sie mir aus, rief sie, ich raste und wurde wie SacherMasoch zum Höhepunkt gepeitscht, wie bei einem heidnischen Ritual erschien schließlich die Göttin und das Stück feierte Premiere. Was wusste ich damals schon vom Tod? Damals wählte er noch keine Partner in meinem Spiel, ich war noch jung. Damals verfolgte ich das Ziel, kein Geld auszugeben, sondern mit objets trouvés zu arbeiten – altes Holz, Papierdrachen, Fahrradreifen, Glas, Autoteile, egal was –, sie als magische Komponenten des Bühnenbilds einzusetzen. Weggeworfene Dinge wieder benutzen. Wiederauferstehung. Ich glaubte, mein Kampf um Wahrheit könnte die Haltung jenes kommerziellen Theaters zerschlagen, das sein Publikum statt mit Fantasie mit kostspieligen Extravaganzen blendet. Damit die Öffentlichkeit etwas bekommt für ihr Geld. Ich habe mich körperlich abgearbeitet. Damit der Zuschauer sieht, dass man nicht unbedingt Mengen an Geld ausgeben muss, um ein Spektakel zu schaffen. Es wäre besser gewesen, man hätte . . . Es gab gewisse Richtlinien:

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a. Wenn die leere Bühne dem Zuschauer mehr erzählt als ein Bühnenbild, lass das Bühnenbild weg: überflüssige Ornamente lenken die Konzentration vom Wesentlichen ab, die Angewohnheiten und Sitten der Mittelklasse sind Ornamente und dienen dazu, die Konzentration vom Wesentlichem abzulenken. b. Entwerfe das Bühnenbild immer als Skulptur: Baue es auf der Bühne, damit die räumlichen Verhältnisse dem menschlichen Maß entsprechen. c. Vermeide die Konventionen des künstlichen Bühnenbilds: gemalte Kulissen, Hintergrund. d. Dekor ist nur dann interessant, wenn es das Double dessen ist, was passiert. Es wäre besser gewesen, man hätte . . . Nichts Hübsches mehr, nur das Schöne kann uns aus unserer Situation leiten. Es wäre besser gewesen, man hätte . . . Wir müssen mit kargen Mitteln arbeiten, nur so können wir den etablierten Kräften entgegentreten, wir stürzen sie mit unserer genialen Erfindungskraft, mit unserer überlegenen Intelligenz, unserer überzeugenden Schönheit. Es wäre besser gewesen man hätte . . . nicht Illusion praktiziert.

42 Ramakrishna: Wenn ein Mensch als Diener Gottes handelt, tut er niemandem weh. Aber wir müssen aufhören, uns wie Diener zu benehmen. Meister Eckhart. Plotinus. Traherne: So natürlich es für die Sonne ist, zu scheinen, so natürlich ist es für den Menschen zu lieben. Niebuhr spricht vom moralischen Menschen in einer unmoralischen Gesellschaft. „Mensch“ ist hier ein allgemeiner Begriff, der sich auf ein „Ideal“ bezieht. Der Begriff meint aber nicht das Volk, auch Frauen bezieht er kaum ein.

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Der „Mensch“ macht die Gesellschaft. Wenn sie unmoralisch ist, so Niebuhr, hat der „Mensch“ diese Entwicklung erlaubt. Der moralische Mensch ist der bewusste Mensch. Wenn er zulässt, dass die Welt verkommt, muss er sich dessen bewusst sein. Ohne ein Bewusstsein von der alltäglichen Wirklichkeit bleibt Moral abstrakt und bedeutungslos. Heiligkeit, Gott, die Seele, Liebe, Frieden, das Gute: Als könnten wir – wenn alle möglichst heilig sind – all unsere Probleme lösen. Aber wenn alle Verhältnisse Herrschaftsverhältnisse sind, kann es keine heiligen Verhältnisse zwischen den Menschen geben. Geld bedeutet Zwang zur Arbeit. Wir leben in einer Pyramidenstruktur, wo jeder entweder dient oder bedient wird, bis auf die Unteren, die niemand bedient, und die Oberen, die niemandem dienen. Außer Gott: So entstand das Konzept, Ihm (maskulin) zu dienen. Es ist schwer, heilig zu sein, wenn sexuelle Unterdrückung Wut, Gewalt und verdorbene Gefühle erzeugt. Es ist schwer, heilig zu sein, wenn man in Gesetze eingesperrt ist, die das Denken und Handeln beschränken. („9/10tel des Gesetzes handeln von Besitz.“) Die unaufhörliche Propaganda von Kapital und Staat verzerrt die Psyche und konditioniert alle Denkprozesse. Was tun? Die spirituelle Revolution wird vom Regime unterbunden, es sei denn, das Regime revolutioniert sich gleichzeitig mit der spirituellen Revolution. Diese zwei Bewegungen müssen simultan verlaufen. Lenin sagt: „Wir wollen die (sozialistische) Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, [den Menschen, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne ‚Aufseher und Buchhalter‘ nicht auskommen.]“ Diese dringende, zwingende Aussage war das Nervenzentrum all seiner Gedanken: zuerst die politische/soziale Revolution; die spirituelle (moralische) Veränderung, der Charakterwandel, kommt später. Aber, Wladimir Iljitsch, warum geht nicht beides gleichzeitig? Die äußere/ anarchistische/kommunistische Revolution und die innere/spirituelle/ sexuelle Revolution. Wir müssen jeden revolutionären Grundsatz im Kontext unserer Zeit betrachten. Und heute geht es gleichzeitig. Die politisch aktivistische Revolution wird von moralischen Überlegungen begleitet. Ohne jede Doktrin stehen die Leute aus der Liga Livestyle Psychedelische Liebe da, sie stehen an der Schwelle zur Politisierung. Passt auf.

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Die Menschen werden einer Revolution erst dann vertrauen, wenn nichts mehr außen vor bleibt. Die Menschen wissen, dass das Leben alle Elemente beinhaltet. Und der Revolutionär weiß es auch. Air London nach Paris, 27. März 1970

43 BRIEF ÜBER REVOLUTION. JUDITH MALINA AN CARL EINHORN Croissy-sur-Seine Samstag, 28. März 1970 Mein lieber Carl, Komme gerade von London zurück & dies ist wirklich die erste Minute, in der ich dazu komme, Dir zu schreiben . . . Ich will alle lästigen Aufgaben loswerden & mit der Arbeit beginnen. Ich habe die Abhandlung noch nicht gelesen, die Du für wichtig hältst – sie nur angeschaut –, werde sie sorgfältig lesen, aber ich weiß genau, während unsere Leute diese Richtung einschlagen, dürfen wir nicht ruhen, nicht aufhören, müssen darüber reden, wie wir den Wandel vorantreiben. . . . Wir müssen Hoffnung & konkrete Pläne & nützliche Vorschläge bringen, wie wir die Menschen satt machen werden, so dass sie nicht mehr versklavt werden von den Cliquen mit ihren Gewehren und Bomben. Setz bitte SOFORT deine praktischen Vorschläge auf & bring sie in eine leserliche Form – Wir müssen unsere konstruktivsten Ideen sammeln: Wenn wir keine haben – dann beginnen wir eben bei der Frage, warum das so ist. Es genügt nicht, „Mitteilungen“ unter „Revolutionären“ vorzubereiten, denn das sind keine revolutionären Vorschläge, sondern . . . ein Weg in dieselbe alte autoritäre Welt. Wir müssen den Menschen sinnvolle Alternativen bieten . . . natürlich arbeiten wir „mit dem, was da ist“ & WIR WERDEN AUCH SCHAFFEN WAS „NOCH NICHT DA IST“ & „WAS NIEMALS GEWESEN IST“ (DIE ALTEN FORMELN SIND SCHAL UND TOT) & „WAS RELEVANT IST“. Das ist aber nur „relevant“, wenn es uns zu etwas Menschlicherem führt, als „Diktatoren“ zu werden in einer „Diktatur des Proletariats“. Ich spreche mit allen und frage sie, was ihrer Meinung nach zu tun ist & alle rennen gegen die gleiche Wand & stehen auf dem Schlauch.

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Ein nützlicher Plan, dem sich die Menschen hoffnungsvoll zuwenden können, der Energie freisetzt – Das ist das Einzige, was zählt – Wir müssen einen wegweisenden Standard setzen. Er muss wirtschaftlich seriös sein, umsetzbar, er muss menschliches Scheitern & Verhalten mitdenken, es darf kein utopischer Traum sein – sondern es muss Schritt für Schritt nachvollziehbar sein. Du hast gesagt, dass die alten amerikanischen und französischen Revolutionen ohne ein Parteiprogramm auskamen – und was ist passiert! Die amerikanische Revolution mündete in Amerika & die französische in der Kaiserkrönung Napoleons – die russische plante den „Interim Sozialismus“, an den du so glaubst, sie mündete in Stalin – Bleiben noch Kuba und China – aber was wird nach Castro & Mao geschehen – gibt es ein System, das den Tod des großen „Philosophenkönigs“ überlebt, den idealen platonischen Herrscher, den diese beiden Männer voller Weisheit & Talent darstellen? Wir können die Geschichte in Schutz nehmen, sagen, dass die Dinge heute anders liegen, ihre Lehren aber dürfen wir nicht ignorieren. Patrick Henry würde sagen: „Jesus hatte seinen Paul & Lenin einen Stalin, und Mao und Castro . . . („Verrat, Verrat!“) . . . können von ihrem Beispiel lernen.“ Mach das Beste draus. Wir brauchen eine neue Form. Sie finden, das können andere besser als ich. Aber sie tun die Arbeit nicht. Sie muss getan werden. Hillel: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und wenn nur ich für mich bin, was bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann dann?“ Ich werde dem folgen, der mir das Ziel vor Augen stellt – aber wenn es keiner tut, bitte ich sie mich anzuhören & werde das klarmachen – oder ich decke die Schwächen der Ideologien auf, die jetzt gängig sind, werde die Illusionen zerstören & lasse nur übrig, was wirklich ist, menschlich, bedeutungsvoll, praktisch & schön. Und wenn jemand sagt, das wird nichts, entgegne ich „Quatsch“ & beweise es. Auf welcher Seite stehst du? Ich bin auf der Seite derer, die dir glauben, wenn du sagst: 1 plus 2   oder  2 plus 1 „(1) Hört auf zu töten   (2) Macht die Menschen satt.“ Den zweiten Teil beherzigen die Maoisten, aber was Teil 1 angeht, haben sie völlig versagt. Die Pazifisten liegen bei Teil 1 richtig, wissen aber nicht, wie man beide Teile umsetzt.

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Und wenn man die Sätze vertauscht oder die Reihenfolge ändert, wie du es tun willst, mein lieber Carl, erreichst du nichts, du vertagst es nur – vielleicht traust du dir ja nicht mehr zu. Aber ich bin auf der Seite derer, die es besser können. Que Faire? Lass uns rausfinden, wie wir es schaffen. Mit kameradschaftlicher Umarmung und schwesterlicher Liebe ALLE MACHT DEM VOLK! KRIEG IST SCHMERZ! ES GIBT STÄRKERE WERKZEUGE ALS WAFFEN UM EINE NEUE WELT ZU SCHAFFEN! FINDE SIE!   LOVE Judith Hinter dem Haus blüht die Forsythie in herrlichem Gelb, ein Kirschbaum blüht auf der anderen Straßenseite – Brecht aber sagte, „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.“ In Liebe. Postscriptum: Ich habe das kleine Manifest der Detroiter Arbeiter inzwischen sorgfältig gelesen. Du hast recht, es ist interessant. Wir müssen diese Entwicklungen sehr aufmerksam verfolgen. Der Autor bringt mehrere wichtige Punkte zur Sprache. Die Emotionalität, mit der er die strategische Verwundbarkeit der Städte beschreibt, oder seine Hymne auf den heroischen „Häuserkampf“ sind nicht zu leugnen. Diese Aufwiegelei ist jedoch pseudo-politisch. Wenn Häuserkampf heißt, einen Mann mit einem Bajonett aufzuschlitzen, finde ich es fragwürdig, davon mit „großer Freude“ zu sprechen. Aber die Rhetorik des Autors geht auch darauf ein: „Glorreiche Volksarmee“ oder wie es in seiner Abhandlung heißt, „Volkskrieg zur Rettung der Nation . . .“ allmählich verstehe ich, wozu dieser merkwürdige Jargon da ist. Werte werden hier semantisch verkehrt, der Autor hat alles gut durchdacht, aber sein Leser nicht, intellektuelle Schwächen und das Abstumpfen durch soziale Entbehrungen spielen diesem Jargon in die Hände – Ich rede vom intellektuellen Hunger der Armen – ihr suchender, wandernder Geist verschlingt gierig, was ihm vorgesetzt wird – und dieser Jargon ist der Zuckerguss! Wir müssen all die künstlichen Farben abkratzen, ob rot, schwarz oder gold & uns anschauen, was das heißt: „die Partei führt das Gewehr . . .“, der Autor verknüpft Anarchismus und Nihilismus mit „Guerillataktik“ (einige nennen es „Guevaraismus“); der Autor offenbart den düsteren Hauch einer Ahnung seiner post-revolutionären Welt, wenn er den Kontrollstaat der Armee/Partei beschreibt. Auf diese deprimierende Beschreibung folgt

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schnell ein mitreißender Absatz über verwundbare Städte & dann bringt er das Blut zum Kochen, indem er die US-Bourgeoisie beschreibt . . . Die Abhandlung ist nicht das Ergebnis eines Komitees, sondern das gute Handwerk eines klugen Einzelnen. Er spricht für eine wachsende Bewegung, die mit Recht sagt: „‚Ja zur Politik, Nein zum Krieg‘, diese reaktionäre Linie müssen wir zerschlagen & wir zerschlagen die opportunistische Linie, die sagt ‚Ja zum Krieg, Nein zur Politik.‘“ Aber ich füge hinzu: „Zerschlagt den ‚Staat, der aus den Körpern von bewaffneten Männern besteht‘.“ Wir machen uns bereit. Ich wollte, wir könnten reden. Judith

44 DIE DRINGENDE ARBEIT Ein Fröhlicher Vorschlag für eine Gewaltlose Anarchistische Revolution. Ein Praktischer Vorschlag: Anleitung: Wie Gewaltloser Anarchistischer Kommunismus funktioniert. Ein Lehrbuch Technischer Formeln und unterstützender Fakten, die den Fröhlichen und Praktischen Vorschlägen förderlich sind. Eine Auswahl an Techniken, wie diese Information unter die Leute zu bringen ist. Ein Netzwerk aus Zellen und Kadern, die diese Techniken umsetzen und die notwendige Vorarbeit leisten. Den Rest macht das Volk. Wir alle werden das Volk sein. Cefalu, Sizilien, März 1968

45 Improvisation hat mit Ehrlichkeit zu tun und Ehrlichkeit hat mit Freiheit zu tun und Freiheit hat mit Essen zu tun. Improvisation: Einige Vorgänger: 1912: Duchamp: Objets trouvés

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1916: Arp: Collage von Papierstücken arrangiert nach aleatorischen Gesetzen 1924: Breton: Erstes Manifest des Surrealismus: Das Prinzip der automatischen Komposition 1942: New York School of Action Painting 1951: John Cage: Music of Changes 1962: Allan Kaprow: Happenings Pirandellos Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt: Das Living Theatre führte das Stück 1955 erstmals auf, fünfundzwanzig Jahre, nachdem es geschrieben wurde. Tatsächlich wird in diesem Stück wenig improvisiert; Pirandello schrieb alle ‚Improvisationen‘; aber es war so inszeniert, dass die Zuschauer meist dachten, es wäre wirklich improvisiert worden. William Carlos Williams probierte in Many Loves ähnliche Tricks aus. Ebenso Jack Gelber in The Connection und The Apple. Geschichte: Als wir diese Stücke im Repertoire hatten, ließen wir immer durchblicken, was sich da abspielte. Wir weigerten uns, das Publikum zu belügen. Ehrlichkeit. Wir haben nicht wirklich improvisiert. In der freien Atmosphäre von Judiths Inszenierung von The Connection gab es Momente, in denen die Performer sich bewegen konnten, in denen sie hin und wieder etwas einwarfen, besonders während der Jazz-Szenen bewegten sie sich frei. Jazz. Jazz ist der Held, Jazz war ein Vorreiter in puncto echte Improvisation. Das automatische Schreiben der Surrealisten hatte damit zu tun. Chronologisch betrachtet gingen die improvisierten Läufe der Jazzmusiker den Dada-Experimenten und dem Surrealismus voraus. Fassungslos lauschten wir Charlie Parker: Er trieb die Jazz-Improvisation voran. Er komponierte direkt in unseren Ohren. Wie David Tudor, wenn er Music of Changes spielte. Er inspirierte uns, er zeigte uns, dass sich, wenn man sich in etwas vergräbt und dann loslässt, der Vogel in die Lüfte schwingt. Mit The Brig gelang dem Living Theatre zum ersten Mal eine wichtige Entdeckung in Sachen Schauspielkunst. Kenneth Brown hatte ein Stück geschrieben, dessen Handlung von Regeln dominiert war, innerhalb des Regelwerks jedoch durfte nur improvisiert werden. Er stellte eine Situation her, die Improvisation verlangte. Sie war echt. Die Schauspieler in The Brig erzählten, dass auf der Bühne, im „Käfig“, etwas Besonderes passierte. Seit Jahren schon erklärten Performer, jeder Moment müsse neu erfunden werden (all die Beweise und Übungen, die Stanislawski und seine Schule zusammengetragen haben); aber wir hatten uns etwas vorgemacht. Wahrhaftigkeit: die echte Reise, die wir körperlich 97


durchlaufen und von einem Moment zum anderen erfinden, Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die sich beständig verändert und neu erschafft, der Drang nach Wirklichkeit (Leben) in einer Zeit der Entfremdung; die Improvisation ist der Atem, der die Wirklichkeit auf die Bühne holt. Heute kommen wir nicht mehr ohne Improvisation aus. Wir müssen Stücke entwickeln, deren Formen offen sind für die Suche, wie kann das gehen, wie können wir Leben nicht nur wiederholen, sondern erschaffen. Zentimeter um Zentimeter, Schritt für Schritt durchs Labyrinth in die Wirklichkeit vordringen. Mysteries, 1964: (1) Improvisation in festen Grenzen (wie in The Brig) (2) den Körper und die Stimme mit Übungen von den Schranken befreien (den Ausdruck gestalten), die das System Sprache den Ideen noch setzt. Improvisation, Wirklichkeit, Freiheit: hatte mit essen zu tun: damals (1963/64) predigten wir auf den Friedenskundgebungen: „Alle sechs Sekunden stirbt jemand an Hunger, das ist ÖKONOMISCHE GEWALT“; aber wir verknüpften das noch nicht eng genug mit der Suche des Künstlers nach Freiheit, und heute, im Jahr 1970, stirbt alle zwei oder drei Sekunden jemand an Hunger, die Unterdrückung nimmt mit jeder Sekunde zu, und die Kunst wird immer freier. Aber stimmt das auch? Mühsame Reise. Der Prozess der Umsetzung hat zu lange gedauert. Kennt das Establishment die subversive Verbindung zwischen Improvisation und Freiheit und Lebensmittelversorgung? Wie war es möglich, dass die Grenzen des Verstehens den Weg zur Wahrheit so lange blockierten? Man ist nicht frei, solange man in einer Fiktion gefangen ist. Die Wirklichkeit ist abgeschafft worden; wir leben den Mythos unseres Selbst: Wir müssen die Wirklichkeit erschaffen. Das revolutionäre Streben nach Freiheit, Freiheit des Ausdrucks, Freiheit des Körpers, Freiheit der Möglichkeiten: Aber das sind die Freiheiten, die die Intellektuellen einklagen. Erst einmal sind andere Freiheiten dran, sagt Genet: von körperlicher Unterdrückung befreit sein, die Freiheiten, die die Schwarzen in den USA und an anderen Orten einfordern. Prioritätenliste nennt er das. Und natürlich hat er recht. Zuerst alle Menschen sattmachen. Zuerst mit dem Morden aufhören. Gibt es eine Verbindung zwischen dem Kampf gegen körperliche Unterdrückung und dem Kampf gegen sexuelle und intellektuelle Unterdrückung? Und wenn ja, worin besteht sie? Wirklichkeit: der Drang, frei zu sein, den alles kennt, was lebt: Instinktiv wissen wir, dass Leben in Freiheit aufblüht, dass es in Freiheit Mittel findet, sich zu erhalten und zu entwickeln. 98


An Überwachungskameras vorbei, über Wände, an Wachen vorbeischlüpfen, im Jahr 1964 war das möglich, und ich stelle fest, wie die Zeit vergeht, was sich von wo nach wo verschiebt, wie die Zeit Arithmetik betreibt, wie sie sich vervielfacht und teilt, wie sie die Geschichte lehrt, das Lernen vermehrt, die Wahrnehmung stärkt, 1964 gelang uns zum ersten Mal das Freie Theater, das letzte Stück von Mysteries. Freies Theater: keine Regeln, kein Schluss. Es ist vorbei, wenn alle gegangen sind, wenn niemand mehr mitmachen will. Aber damals, im Jahr 1964, waren wir noch unsicher, als wir Freies Theater spielten. Wir schlossen Mysteries mit der Pest ab, danach machten wir Freies Theater erst wieder in Mailand, das war im Juni 1966. Freies Theater bedeutet, dass jeder tun kann, was er will. Es bedeutet: „Alles, was man tut, ist richtig.“ Wir wurden um einen Beitrag zu einer Benefiz-Vorstellung für die italienische Theaterzeitschrift Sipario gebeten. Wir waren völlig frei, hätten beispielsweise Ausschnitte aus Mysteries zeigen können, es war vollkommen egal. Judith schlug Freies Theater vor. Sie schrieb etwas auf, was ans Publikum verteilt werden sollte, damit es wüsste, was wir da machen. Auf dem Flyer stand: Freies Theater Dies ist Freies Theater. Freies Theater wird von den Schauspielern beim Spielen erfunden. Freies Theater wurde nie geprobt. Wir haben Freies Theater versucht. Manchmal gelingt es nicht. Nichts ist immer das Gleiche. The Living Theatre

Die Benefiz-Veranstaltung fand während einer Party im kleinen eleganten Theater im Palazzo Durini statt. Es war eine Acid-Rock-Party, unpolitisch und babylonisch.

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Freies Theater: Als es losgehen sollte, versammelten wir uns auf der Bühne. Die Gäste schauten gar nicht richtig hin. Sie befanden sich selbst auf der Bühne. Wir standen da. Wir nahmen die Vibrationen und die Situation in uns auf. Meditierten über alles. Jeder suchte nach etwas, was als Aktion bedeutsam sein könnte. Ohne zu sprechen fügten wir unsere Körper zu einem dichten Nukleus. Schweigen. Wir bildeten einen engen Kreis, sprachen nicht, keine Bewegung. John Cage hat uns gelehrt, die Stille zu hören, und auch Wagner hat mit Stille gespielt, aber in Form von Drama; Cages Stille war Metaphysik und Klangforschung. Die Spannung stieg. Das italienische Auge betrachtet alles ein bisschen wie ein potenzielles Foto in einem Skandalblatt: So schauten sie uns an, diese Anhäufung von Fotzen und Lippen, Schwänzen und Fingern in diesem Körpergewühl. Erst waren die Gäste bedrückt, dann ärgerlich. „Macht was!“, schrien sie. Sie begannen uns zu schubsen, zu pieken, zu begrapschen, sie spielten Freies Theater. Unsere Antwort auf ihre Hysterie ertrugen sie nicht. Wir blieben bewegungslos und still. Sie wurden immer wütender, fingen an, sich zu prügeln. Die Polizei war unterwegs, wir wussten es und verstreuten uns, die Polizei traf ein. Das nächste Mal spielten wir Freies Theater mit Paradise Now. Dass Freies Theater ein Bestandteil der Paradise-Struktur werden sollte, war klar. Aber das „Wie“ blieb während der Stückentwicklung lange im Dunkeln. Es war unmöglich, ein Stück mit dem Titel Paradise Now zu machen ohne (1) frei zu sein, (2) jeden zu befreien, der eventuell nicht frei war. (Bis zu dem Punkt, an dem man eine Grenze zieht, wo eine Grenze gezogen wird.) Wie das erreichen: In Paradise Now setzten wir geheimnisvolle Kräfte ein: Wirkung der Farben, die Weisheit des I Ging (Buch der Wandlungen), die physisch-spirituelle Reise des Kundalini, wir zapften die Energie an, die in den Chakren sitzt, nutzten das heilige Gesicht der Chassidim, die exaltierte Vision der Kabbala, luden den Körper Stück für Stück mit Energie auf, nutzten Rituale, Bewegungen, Laute, Visionen und Kadenzen, um die Schauspieler (die Anführer) und das Publikum in Trance zu versetzen. Mit der Trance, einem entrückten Zustand, gelangen wir vielleicht zum Freien Theater. Paradise Now war eine Reise hin zu freieren Formen, bis wir die nächste Stufe erreichten, wir kehrten auf die Straße zurück, ins Gefängnis Welt. Das Freie Theater ist von seinen Misserfolgen hell erleuchtet. Wo man frei ist, wird das Scheitern hinnehmbar, es nimmt andere Qualitäten an und außerdem hat die Lust des Freiseins – „Nichts tun, Alles tun. Sein.“ – alles aufgewogen.

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Die Situation in Paradise Now war hermetisch, schon weil es im Theater stattfand, und egal, ob wir mit oder ohne Eintritt spielten, bedrohte das Geld jeden von uns in jeder Minute, denn die Polizei war ständig im Theater, das Militär vor der Tür, der Hausmeister im Keller. Freies Theater: ultimativ freies Theater ist entfesselte Improvisation. Freies Theater: eine Situation, in der Performer und Publikum den Geschmack von Freiheit im Mund haben . . . Freies Theater: freies Handeln: solange wir im Gefängnis Welt festsitzen, gibt es kein Freies Theater. Freies Theater wird davon abhängen, ob wir es ins Leben hineintragen . . . Freies Theater: kein Geld . . . Freies Theater als Geheimwaffe des militanten Künstlers . . .

46 Kollektive Schöpfung: Die ersten Mysteries im Oktober 1964 in Paris waren unsere erste Erfahrung mit dieser Art von Arbeitsprozess. Es geschah ganz natürlich, ohne Anstrengung. Alle darauffolgenden Erfahrungen waren langwierig und zermürbend und anstrengend. In Paris wussten wir kaum, was wir taten. Wir sind hineingestolpert. Später haben wir verstanden. „Jedes Bild entsteht auf eigene Art; erst wenn es fertig ist, weiß ich, was es darstellt.“ William Baziotes Es war eine mysteriöse Kraft am Werk, etwas, das stärker war als unsere bewussten Absichten. Und diese Kraft schuf ein logisches und geordnetes Werk. Judith nannte den Abend Mysteries and Smaller Pieces. Damit war der Sinn etwas klarer.

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Wir hatten Mysterien geschaffen, ohne mehr darüber zu wissen. Ohne es zu wissen, hatten wir unser erstes Experiment in kollektiver Schöpfung absolviert. Die Arbeitsweise fühlte sich organisch an. Kollektive Schöpfung. Eine Gruppe von Leuten kommt zusammen. Kein Autor, auf den man sich stützt, der einem den kreativen Impuls abnimmt. Die Vorherrschaft des Verstandes wird zerstört. Die Wirklichkeit kommt. Wir sitzen monatelang zusammen und reden, nehmen auf, verwerfen, schaffen eine Atmosphäre, in der wir uns gegenseitig inspirieren, in der jeder frei ist zu sagen, was sie oder er sagen will. Großer Sumpf Dschungel, Landschaft aus Konzepten, Seelen, Geräuschen, Bewegungen, Theorien, poetischen Gewächsen, Wildheit, Wildnis, Wanderung. Dann sammelt man und arrangiert. Während des Prozesses drängt sich eine Form auf. Vielleicht inspiriert der Schweigsame die Gesprächige. Am Ende weiß keiner mehr, wer für was verantwortlich ist, das individuelle Ego verschwindet im Dunkeln, alle sind zufrieden, ihre Zufriedenheit ist größer als die des einsamen ‚Ich‘. Hat man einmal erlebt, wie künstlerische Schöpfung im Kollektiv entsteht, kommt einem die Rückkehr zur alten Ordnung als Rückschritt vor. Kollektive Schöpfung ist ein Beispiel für den Anarcho-Kommunistischen selbstorganisierten Arbeitsprozess, der für die Menschen einen höheren Wert hat als ein Stück. Kollektive Schöpfung als Geheimwaffe des Volkes. Im Kollektiv schöpft man aus sich selbst und aus den anderen heraus: Inter-Inspiration. Superblitz. Aber der Prozess ist langwierig, langweilig, harte Arbeit. Man muss Langeweile durchstehen. Die Langeweile, die Schwierigkeiten, das sind die Hebel. Her mit der Langeweile. Her mit den Schwierigkeiten. Wir schaffen einen Raum, in dem wir derart an unsere Grenzen geraten, dass wir die Tür, den Ausweg finden müssen. Das ist eine Technik. Die Langeweile so intensiv erleben, dass man woanders wieder herausfindet. Cage. Langeweile, Erniedrigung, Unterdrückung, Monotonie, Entbehrung: zur Zeit erleben die Massen diese Langeweile, dieses Leid. Eine Umgebung schaffen, die Inspiration anzieht. Die Muse. Manchmal geht es auch ganz leicht, wie bei Mysteries. Wie in Kronstadt. Dies sind die Techniken des kollektiven Schöpfens. 102


47 Auf Inspiration ist kein Verlass. Auf etwas so Unzuverlässiges kann man keine Strategie für die künstlerische Praxis bauen. Judith. Ouro Preto, Brasilien. 5. Dezember 1970

48 Die Chemie des Körpers ist die Substanz des alchemistischen Theaters. Seine Alchemie besteht aus mysteriösen Verwandlungen, sie ist metabolisch, elektro-chemisch, drüsengesteuert, neurologisch, fließendes Blut. Paradise Now: Suche nach der alchemistischen Formel: zusätzlich zu den Beschwörungsformeln: wissenschaftlich vorgehen: dialektisch. Crowley: Meister Therion: „Es gibt keine Gnade: es gibt keine Schuld: TU WAS DU WILLST, soll sein das ganze Gesetz.“ „Der Magier sollte für sich selbst eine eindeutige Technik der Vernichtung des ‚Bösen‘ entwickeln. Kern einer solchen Praktik wird die Schulung von Geist und Körper sein, sich jenen Dingen zu stellen, die Furcht, Schmerz, Ekel, Scham und ähnliches auslösen. Er muß erst lernen, sie zu ertragen; dann, ihnen indifferent zu begegnen; als nächstes, sie so lange zu analysieren, bis sie ihm Freude bereiten und er aus ihnen zu lernen vermag; und schließlich, sie um ihrer selbst willen zu schätzen, nämlich als Aspekte der Wahrheit. Hat er dies getan, sollte er sie ablegen, sofern sie wirklich schädlich für Gesundheit und Bequemlichkeit sind. [. . .] Ebenso kann man eine Liaison mit einer häßlichen alten Frau haben, bis man den Stern, der sie ist, erkennen und lieben gelernt hat; dagegen wäre es zu gefährlich, die eigene Abneigung gegen Unehrlichkeit zu überwinden, indem man sich zum Taschendiebstahl zwingt. Die Liebe ist eine Tugend, sie wird stärker und reiner und weniger selbstsüchtig, wenn man sie auf das richtet, was sie verabscheut; Diebstahl dagegen ist ein Laster, das auf der Sklavenvorstellung beruht, unser Nächster stünde über uns.“ Welcher Zauber, welche unverhofften alchemistischen Verwandlungen, die dem Menschen bisher noch unbekannt sind, können den Zustand von Freiheit in einer Gesellschaft beschwören, in dem keiner von uns frei sein kann, solange wir nicht alle frei sind?

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In Paradise Now suchten wir nach alogischen Katalysatoren, um das Zeitalter der Freiheit vorwegzunehmen. Wir befragten die Orakel, nutzten unsere Körper als Lichtbogen, unseren taumelnden Verstand, Beschwörung, steigende und fallende Körpertemperatur, Atem, Wind, menschlichen Kontakt, Lichtmuster, Zaubersprüche, Rituale, Visionen, Träume. Das Double dessen, was wir „Magie“ nennen und das „Theater der Illusion“, in dem das Unmögliche geschieht. Die Veränderungen, die nötig sind, um uns in einen Zustand des Wohlgefühls zu versetzen (Freiheit – frei sein bedeutet, genug zu essen haben), haben Kennzeichen des Unmöglichen. In unserer Welt kann es noch keine Freiheit geben: darauf zielen wir hin, so wie wir auf die Einheit mit Gott hinzielen, dem Allmächtigen, Ewigen, der Alles, der Alles in Allem, das Singen, das Tanzen. Weil wir nur entfernt ahnten, wie dieser Zustand erreicht werden kann, nenne ich die Formel, auf die wir mit Paradise Now gestoßen sind, „Zauber“ oder „Alchemie“; es war unser Versuch (1968), ein alchemistisches Theater zu schaffen. Das Theater wird oft als Ort der Illusion bezeichnet – das ist es immer gewesen. Die Wirksamkeit seines Zaubers lässt sich daran messen, inwieweit die Illusion des Theaters Wirklichkeit wird. Die Wirksamkeit seiner Alchemie lässt sich daran messen, inwieweit es Körperschlacke in Energie verwandelt. Alchemistische Formeln, Revolution, die Gold in Brot verwandelt, das Eisen des Herzens in unwiderstehliches Fleisch und den apathischen Geist der Männer und Frauen (die Massen) in kraftvolle Quellen der Schöpfung.

49 „Die alten Theater sind nichts als die Lockmittel der bürgerlichen Werte.“ Judith, in einem Gespräch. „Kunst ist entbehrlich. Das Ziel der Kunst ist es, ihre Notwendigkeit zu zerstören, das Ziel der Kunst ist die Abschaffung der Kunst.“ Piscator, von Judith zitiert. „Künstler tragen ihre eigene Moral in ihre Kunst. Kunstliebhaber tun das Gleiche. Ihr Standard für die Kunst ist hoch. Aber sie haben keinen Standard für das Leben. In der Kunst können sie zwischen gut und schlecht, richtig und falsch, Liebe und Hass unterscheiden; in der Kunst erkennen

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sie Heiliges, Bedeutungsvolles und die Wahrheit. Im Leben sind sie kalt und dumm.“ JM (Judith Malina) bei der Probe. Aufklärung: Wie notwendig ist eine weltliche Moral? Die Bourgeoisie ist mir gegenwärtig, ständig fordert sie mich heraus, weil ich sie bin, ich bin mittendrin, ich gehöre dazu, kenne sie, weil es meine ist, und ich singe ihr ihr eigenes Lied vor. Weil ich mich mit einem Messer in der Hand aus ihr heraussinge. Die ersten fünfundvierzig Jahre meines Lebens habe ich die Bourgeoisie angesprochen. Heute kann man die Leute der Mittelklasse, die intellektuelle Ambitionen haben, davon überzeugen, dass die Schwarzen und die Kinder der Dritten Welt befreit werden müssen. Im Prinzip können sie Anarchisten werden oder Marxisten oder Demokraten nach Jeffersons Lehre, man kann ihnen sogar – mit ausreichend Beweisen – erklären, dass es weder Gesetze geben sollte noch Geld und auch keine Polizei. Man kann ihre Vorbehalte abbauen. Intellektuell sind sie zu allem bereit. Nur nicht dazu, von den Rücken der Arbeiter und der Armen herunterzusteigen. Warum ist das so? Weil Macht korrumpiert, weil materielle Stärke korrumpiert. Sogar von der Schönheit des revolutionären Handelns lässt sich die Bourgeoisie überzeugen, wenn sie es sieht. Sie wird es akzeptieren, anstatt es zu bekämpfen, sie wird nachgeben; aber den Staat wird sie nicht stürzen, das Kapital wird sie nicht aufgeben, denn es hat sich in ihrem Blut und in ihrem Gehirn festgesetzt. Das Notwendige kann sie nicht tun. Das Wichtigste ist: Sie kann es nicht, weil sie dafür kein Werkzeug hat, sie kann die Produktionsmittel nicht übernehmen, weil sie sich damit nicht auskennt, weil ihr der Zugang fehlt und der Impetus, weil sie Angst hat, ihren Besitz zu verlieren. Ihr Bewusstsein ist das einer gierigen Kultur, einer gierigmachenden Kultur. Die Proletarier dagegen, und die Lumpenproletarier, können, wenn sie zum Handeln animiert werden, das Notwendige tun; sie haben das Wissen, sie haben den Zugang, sie haben nichts zu verlieren, nur ihre Ketten. Jetzt kommt es darauf an, die Menschen zum Handeln zu animieren. Bevor das große Oppositionslager sie in noch schwerere Ketten legt, sie mit Drogen oder mit Zuckerbrot verführt. Denn der moderne Industriestaat weiß, dass ein unzufriedenes Proletariat die Arbeit verweigert, die die Struktur aufrechterhält, diese Maschine, die die Güter liefert. Bevor das Proletariat mit all dem schlechten Essen, mit Uhren und Fernsehgeräten ferngesteuert wird, müssen wir zu ihm vordringen, bevor es einschläft und erst nach dem Aufwachen merkt, es hat seine Seele verkauft. Das Theater, das die Bourgeoisie anspricht und sich vom Volk, von den unterdrückten Massen abwendet, von denen, die sich abrackern, damit die 105


Bourgeoisie ihre Theaterkarten kaufen kann, verrät seine oft gutgemeinten Absichten. Vielleicht ist das gemeint, wenn Artaud verlangt, „Verbrennt die Texte!“ Damit der Bourgeoisie die Freude der Befreiung aus ihrer eigenen tragischen Existenz zuteilwird, schaffen wir ein Theater für die Armen, denen neben Essen und Freiheit und Kultur auch die Wahrheit verwehrt ist. Darauf zielen wir ab, wenn wir auf der Straße Theater machen. Obwohl der Staat und das Kapital die bewusstseinsverändernden Massenmedien kontrollieren. „Wie bitte“, sagen der Rote und der Schwarze Kämpfer, wenn wir sagen, dass wir Theater für die Arbeiter machen, „und ihr glaubt, die hören euch zu? Die lesen nicht einmal unsere Flugblätter!“ „Genosse, Theater fängt da an, wo es interessant wird . . .“

Notizen:

Mao Tse-tung: „Alle mit den Imperialisten im Bunde Stehenden – die Militärmachthaber, die Bürokraten, die Kompradorenklasse und die Klasse der großen Grundherren sowie der ihnen zugehörige reaktionäre Teil der Intelligenz – sind unsere Feinde. Das Industrieproletariat ist die führende Kraft unserer Revolution. Das ganze Halbproletariat und Kleinbürgertum sind unsere engsten Freunde. Was die schwankende mittlere Bourgeoisie betrifft – deren rechter Flügel unser Feind und deren linker Flügel unser Freund sein kann –, so müssen wir stets auf der Hut vor ihr sein und dürfen ihr nicht erlauben, an unserer Front Verwirrung zu stiften.“ („Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft“, März 1926) [Ausgewählte Werke Mao Tse-tungs, Bd. I] „Wer auf der Seite des revolutionären Volkes steht, der ist ein Revolutionär; wer auf der Seite des Imperialismus, des Feudalismus, und des bürokratischen Kapitalismus steht, der ist ein Konterrevolutionär. Wer nur mit einem Lippenbekenntnis auf der Seite des revolutionären Volkes steht, jedoch nicht mit seinen Taten, der ist ein Revolutionär in Worten; wer nicht

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nur in Worten, sondern auch mit Taten auf der Seite des revolutionären Volkes steht, der ist ein vollwertiger Revolutionär.“

(Schlussansprache aus der 2. Tagung des 2. National Komitees der politischen Ratskonferenz des chinesischen Volkes, 23. Juni 1950)

Kommentar: Dem breitestmöglichen Spektrum Gelegenheit zur Revolution geben.

Wilhelm Reich: „Revolutionäre Politik in Inhalt und Sprache ist entweder ein Ausdruck des primitiven, ungebildeten, auf das Leben bezogenen Charakters der breiten Masse, oder sie nennt sich nur revolutionär, und ist tatsächlich nichts als reaktionär und steril.“ („Was ist Klassenbewusstsein?“) Kommentar: Ist dieses Buch (meine Schrift, Das Theater leben) ein Lockmittel für die bürgerlichen Werte, spricht es die Elite an (in der Sprache der gebildeten Elite)? Grenzen wir uns vom Volk ab, wenn wir in derart chiffrierten Symbolen miteinander sprechen? Ist es dann reaktionär und steril? An der Beantwortung dieser Fragen hängt der Erfolg oder das Scheitern meines Lebens.

50 KANN KUNST DIE WELT VERÄNDERN? DIE ELEMENTE DES STURMS Beginne: 1. Der Donner: Die herrschenden Klassen haben Form und Substanz der Kunst zu etwas Geheimem gemacht: SIE HABEN AUS KUNST GEHEIME SYMBOLE GEMACHT die Wenigen dienen (und die nur Wenige verstehen) Sie haben Kunst zu einem Privileg der kultivierten Wenigen gemacht.

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2. Der Wind: Die Kultur entsteht aus den Produktionsmitteln. Deshalb kannst du nicht zuerst die Kultur ändern und dann die Produktionsmittel. Du musst die Produktionsmittel ändern: das heißt Den Kapitalismus: Dann wird die Kultur sich ändern. 3. Die Wolken: Was der Künstler über Revolution sagt vor allem über gewaltfreie Revolution sind nur Worthülsen: (ästhetische) Masturbation: (Auch zum Ficken braucht man einen gewissen Mut!) Das Handeln zählt. „Wenn der Anarchist keine Idee hat“, sagt Marx über Proudhon, „hat er immer noch etwas zu sagen“. 4. Die Statik: Schlüssel. Schlüssel herzustellen ist die Aufgabe des Künstlers. Die Schlüssel zu verstecken ist die Aufgabe der Gefängniswärter. Die Tore öffnen – allein das Volk kann sie öffnen. Öffnet die Tore. Eigentum ist Diebstahl. Die Gefängniswärter sind die Diebe. 5. Der Blitz: Kunst für die Menschen? Die Menschen, deren ungeheurer Einsatz uns das Licht bringt (die Kohle das Öl Turbinen Dynamos Schalter Drähte Installationen), die Lichter, die im Dunkeln scheinen, die Lichter, von denen Propheten und Poeten singen, sind selbst zu müde, zuzuschauen. Die Arbeit in der Zeche bringt dem brasilianischen Arbeiter umgerechnet circa 40 Dollar netto pro Monat; in den USA bekommt ein Bergarbeiter das Zwanzigfache oder mehr; beide verrichten Arbeit, die so schmerzhaft und schwer ist, dass man dabei nicht denken kann, nicht denken darf. In der Fabrik werden Leute, die zu viel denken, verrückt – oder sie zetteln die verbotene Revolte an: Revolution. Die Arbeit in den Zechen, den Schmelzwerken, 108


der Fabrik unterbindet das Gefühl: sonst verlöre man den Verstand. Wenn man sich verkauft (Arbeit wird verkauft) wird man ein Ding und fühlt nichts. Die, die Macht in sich tragen, wissen nicht, wie man sie freisetzt. Die Theaterarbeit besteht darin, Menschen zu aktivieren, indem man ihr freies Denken und Fühlen wiederherstellt, ihnen Stimuli gibt, die ihre Körper, ihre Fantasie und vor allem ihre Macht freisetzen. Das ist der heilige Terror, den wir im Ärmel haben. Brescia (Italien), Saramenha (Brasilien), 23. Oktober 1969 – 3. Juni 1971 LUFTSTROM Neue Formen. Die Polizei geht immer davon aus, dass die Geschichte sich wiederholt. Wenn du eine revolutionäre Taktik angewendet hast, erwarten sie, dass du es wieder tust, und sie unternehmen die notwendigen Schritte dagegen. Unsere Arbeit besteht darin, diejenigen zu überlisten, die den Leuten Information vorenthalten; deshalb ist die Idee des Guerillatheaters so attraktiv. Es setzt Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit voraus. Und einen Mut, den wir alle brauchen, in dieser Gesellschaft, die den Körper vom Geist trennt, die Feiglinge aus uns macht. Die Guerilleros schenken den Niedergeschlagenen Mut. Dafür brauchen sie selbst Mut. Schauspieler-Notiz: Zugang zum Mut zu finden, darin besteht die wesentliche Vorbereitung. Mut wird dazu führen, dass Stücke entstehen, dass sie gespielt werden. Paris, 22. Februar 1970 „Jetzt scheint mir, ich sehe, und es trübt meine Sicht . . .“ Antigone.

WOLKEN Der ununterbrochene Strom repressiver Kritik: a. „Kunst hat die Aufgabe, die Dinge zu präsentieren, die nur der Kontemplation dienen.“

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b. „Der Künstler ist neutral; die Öffentlichkeit muss ‚frei‘ sein zu entscheiden, ‚wie‘ sie denkt.“ DIE SCHLEUSEN DES KOMMENDEN STURMS Die Anmaßung besteht darin, dass Kunst die Öffentlichkeit so ansprechen soll, als wäre die Öffentlichkeit in ihren Reaktionen frei. Sie unterstellt, die Öffentlichkeit werde frei, indem ihr weisgemacht wird, dass sie frei ist. Aber das ist sie nicht. Reaktionäre Kritik: sähe es gern, dass Kunst jenseits „der profanen Angelegenheiten der Wirtschaft“ existiert. Sähe es gern, dass Kunst nicht heiß ist, sondern kühl, eine Stütze der Zufriedenheit. Sie möchte nicht, dass Kunst führt, sie soll einfach da sein, das so schmutzige und schwierige Leben schmücken, ein Ornament, das sinnlos seine Weisheit verströmt, lehrreich, falls man aufnahmebereit ist, sie soll sich keinesfalls an die Massen (gefährlich) wenden, sondern an das isolierte Individuum. Aber die Kunst sprengt ihre Ketten. Ich verwende die Sprache der Sprichworte, weil sie stark ist und wahr. Kunst wird nicht mehr einer Sache dienen, an die sie nicht glaubt. Falls doch, hört sie auf, Kunst zu sein. Nicht mehr wahrhaftig und deshalb keine Kunst. Kunst als Wahrheit. Wenn die Wahrheitsvision der Kunst die Öffentlichkeit dazu bringt, die Orte der Unterdrückung niederzureißen, jene Industrieanlagen zu besetzen, die den Dieben von Leben und Zeit gehörten, wenn sie die Öffentlichkeit dazu bringt, die Strukturen niederzubrennen, sie zu ersetzen durch freie Gemeinschaften, die für unseren Bedarf produzieren, die uns unsere Träume leben lassen, wenn Kunst hilft, die Gehirnstruktur und die physische Struktur unseres unterdrückten Selbst abzuschaffen, anstatt uns höchstens ins goldene Gefängnis der Kontemplation vorzulassen, wo wir ahnungslos und schwach ruhen und verrotten: dann dient die Kunst einer Funktion; sonst dient sie der herrschenden Klasse, die große kontemplative Kunst immer schon bewundert hat, tiefgründiges Nachdenken aber nicht. Das Tiefgründige war nur den Eremiten, Philosophen, Predigern oder Ästhetikern erlaubt, weil es zu jenem Wahrheitssinn führt, der dem Herrscher im Weg steht, der an seinem Reich festhält. Kunst die nicht zum Handeln führt ist Handlanger der Unterdrückung. Die Macht der Kunst ist die Macht der Wahrheit. Der schrille Schrei ängstlicher Gelehrter: „Übt keinen Einfluss aus! Lasst das sein!“ Aber die Wahrheit ist einflussreich, sie ist mächtig, sie dringt in die innersten Winkel 110


der Seele vor. Man kann nicht von ihr erwarten, dass sie ihre Macht verbirgt. Die Wahrheit ist eines der wichtigsten Instrumente im Kampf des Volkes um Nahrung und Freiheit. Wir setzen die geheimen Kräfte der Wahrheit ein. Ahimsa, die Macht der Wahrheit: Wer kann ihr widerstehen? Und wie lange noch? Croissy-sur-Seine, Frankreich. 2. April 1970 HAGEL Breton spricht vom Surrealismus als einem Mechanismus, die Fantasie zu befreien, die derart eingepfercht ist, derart unterdrückt, dass wir uns etwas anderes nicht mal vorstellen können. Wir bleiben, wo wir sind, und verrotten. Hatten Künstler nicht von jeher geglaubt, ihre Arbeit würde helfen, die Tore zu öffnen, die Fantasie herauszulassen, damit wir das Ende unseres Elends herbeitanzen? Durch die Wolken erkennen wir jetzt, dass die Kunst den überwältigenden Angriff, den die Kultur des Klassensystems verübt, nicht allein abwehren kann. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 2. Mai 1970 WINDE Kunst ist ein Anzeichen für den spirituellen Gehalt im alltäglichen Leben . . . Kunst zeugt davon, aber dieser Gehalt bleibt eingesperrt, er wartet darauf, befreit zu werden. JM Paris, 18. Juli 1970 WIND (SÜD) – „Eine Revolution geht mit Strukturveränderung einher; ein veränderter Stil ist noch keine Revolution.“ – „Eine Revolution der Poesie oder der Malerei oder der Musik ist Teil eines umfassenden revolutionären Musters. (Moderne) Kunst ist von Grund auf subversiv. Sie drängt in die Richtung der nie endenden (andauernden) Revolution.“ Jerome Rothenberg/Revolutionary Propositions Aber das genügt nicht: ohne zusätzliche revolutionäre Aktionen bleibt ihre „Revolution“ nicht subversiv. Sie verändert höchstens die Metaphysik der Atmosphäre. Und hilft der oberen Klasse, ihren Vorteil zu wahren.

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– „Die Konfrontation zwischen Dichter & politischem Revolutionär bewegt sich auf einen Machtkampf zu, den der Dichter verlieren muss. Könnten sie sich dauerhaft vereinen, wäre das ein Zeichen für die Umkehrung der Geschichte & die Rückkehr des Menschen ins Paradies.“ J.R. (op.cit.) Second Series. WOLKEN (CUMULUS) „Le théâtre est une révolte contre l’ordre établi.“ Jean Duvignaud Kunst ist Revolte. Sie ist die Revolte, die scheitert. WOLKEN Der Kritiker ist der Berater im Supermarkt der Kultur. Er berät die Käufer und Verkäufer. Er dividiert die Künstler auseinander und stellt sich der Bündelung der Kräfte in den Weg. Die Kritik nährt sich von der Rivalität, sie ist auf Wettbewerb fixiert (Prinzip des Kapitalismus), sie ist ein Anti-Körper in der gemeinschaftlichen Gesellschaft: denn der Kritiker macht sich fremd, setzt sich ab; in unserer Kultur spaltet die Kritik. Selbstkritik dagegen vereint, sie ist weder mörderisch noch selbstmörderisch. WOLKEN (CUMULO NIMBUS) Wenn man Performer und Künstler fragt, worum es ihnen geht, warum sie malen oder warum sie heute, im Jahr 1971, im Theater arbeiten, dann antworten sie: um die Kommunikation zu stärken. Wenn diese Kommunikation sich auf die schon privilegierten Klassen beschränkt, auf die Intellektuellen, die Reichen, und solche, die es gern wären, dann ist es keine Kommunikation, sondern Abschottung, zusätzliche Entfremdung.

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DIE RUHE VOR DEM STURM Form: Pierre Biner: „Ach ja, die Form, . . . Nein, das Buch (Procès du Festival d’Avignon, supermarché de la culture von Jean-Jacques Lebel) wird kein großes Aufsehen erregen. Über die Vorgänge vom Mai 68 gibt es an die dreihundert Bücher; wer so etwas liest, schaut vielleicht mal rein, aber den Leuten hängt die Form zum Hals raus.“ Stimmt genau, auch den Revolutionären geht es so. Den Leuten, mit denen wir uns bei Demonstrationen und Begegnungen austauschen wollen, die beiläufigen Zuschauer, denen hängt sie sogar noch schneller zum Hals raus, weil sie nur zuschauen. Neuheit. Moderne Maler erfinden ständig neue Stile, das ist ihr Weg, die intellektuelle Mittelklasse und die Reichen mit intensiven Sinneserfahrungen zu versorgen. „Die veränderten Lebensumstände verlangen neue Formen, wenn man weiter kommunizieren will“. Ernst Fischer. Wir müssen also neue Formen für die revolutionäre Aktion finden. Wir wissen noch nicht, welcher Liebesschocker die dämonischen Mächte in himmlische verzaubern wird. Aber wir wissen, dass er eine andere Form haben wird. DONNER UND BLITZ Die Zuschauer, die dem Kapitalismus hörig sind, sträuben sich gegen die revolutionäre Hydra des Lichts, indem sie zwar ihre Form bewundern, ihre wahre Schönheit aber übersehen: den Anteil der Hydra, der blendet und Angst macht. Sie sperren sie in die Kiste mit der Aufschrift „experimentelle Kunst“ und schmücken ihre Häuser damit. Deshalb muss das Handeln Teil der Lösung sein, der heilige Ritus, den wir vollziehen, um den Widerstand gegen Veränderung zu brechen. Dies ist der Abgrund. Er streift das alte Wollen ab. Der Körper will anders arbeiten, er baut sich um, das Nervensystem übernimmt neue Funktionen, die Fantasie hat Feuer gelegt, Sprache, Medizin, all das entscheidet sich für eine neue Art, in der Welt zu sein, zu kommunizieren, zu heilen, sogar sich zu entscheiden. Die Vorstellungskraft der Menschen zu befreien . . . Deshalb will der Performer nicht nachspielen, er ist auf der Suche nach Zuständen, die zur Nachahmung einladen. Aristoteles. Der splitternackte 113


Charakter, ohne die Attribute der Sozialgeschichte, ist das neue revolutionäre Wesen, und seine Welt fußt auf dem, was der Mensch zum Leben braucht: Brot, Schönheit, Weisheit, Liebe, Einigkeit. Seit zehntausend Jahren leben wir mit dem Mangel, haben von allem zu wenig und wir tun zu wenig. Wir können erst mehr tun, wenn wir unsere Fähigkeiten ausbauen. Die Fähigkeit der Menschen, ein Volk zu werden. Erst dann tanzen sie um den Altar, nackt, satt, bis der Hoffnung Kraft Aus ihren Trümmern das Ersehnte schafft (Shelley). Wenn das passiert, dann kommt die Revolution, unser Messias, weil wir sie wollen, und weil wir sie wollen, müssen wir sie erschaffen. Rom, 8. Februar 1968 DAS LETZTE BLAU AM HORIZONT Früher konnte ich mich für Mozart und Vermeer begeistern. Das ist zwanzig Jahre her. Heute gelingt mir das nicht mehr. Denn etwas stimmt nicht mit diesem Licht. Mit diesen Perlen. Diesen Ellipsen des Verstands. Dem Geschmack nach tragischem Blut. Ich weiß genau, das kann nicht alles sein. Man verabreicht ihnen eine Dosis Mozart, und weil es so schön ist, denken die Privilegierten: „Jeder sollte Mozart hören. Her mit den Transistorradios, Tonbandgeräten, her mit Millionen von Schallplatten!“ Und was passiert? Mozart wird entweder ein Produkt der Warenwelt oder ein Statussymbol und beides unterstützt das reaktionäre Prinzip. Totaler Angriff auf die Kultur. Ed Sanders. Verbrennt die Texte. Artaud. Will die totale Revolution Brücken bauen für das Vor und Zurück in der Zeit? Nach der Revolution ist auch die Zeit anders. Racine brauche ich jetzt nicht zu lesen, aber wenn ich Plotin studiere, die Zivilisation der Vandalen, afrikanische Fossilien, die Gesänge der toten Navajos oder den Europäer Bakunin, dann beseelt das mein Leben und meine Arbeit. Lesen: Wozu eigentlich? Lateine mir das, mein geradliniger Gelehrter, aus deinem Kapitalismus in die totale Anarchie. Aus dem Paternalismus in die Mutterschaft. Aus den Kämpfen und dem Wettstreit der Geschlechter in eine neue nicht-arische Zeit.

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Wir, die wir Texte verbrennen wollen, und sie trotzdem lesen. Der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens. Von denen, die sich vor langer Zeit aufgemacht haben, deren Ideen und Worte heute von Fakten beschmutzt sind, deren Licht schwindet, die für uns lebten; aus ihren Händen nehme ich das Licht der Kabbala entgegen, des Böhme, des Epiktet, vom gekrümmten Politiker Seneca, von den Erleuchtungen des Tao Te King übernehme ich das Licht, ziehe an den Strahlen, als seien es Gummibänder, denn ich will wissen, ob ihr Licht das Dunkel unserer Tage erreicht. Damit wir den Weg hier herausfinden. Vergiftetes Licht? Aus dem Land der Toten? Das in uns einsickert? Über die Zeiten hinweg erleuchtet es die Gegenwart (und führt weiter, was tot ist); aber stecken wir uns, wenn das alte Licht sich bis zu uns ausbreitet, auch mit seiner Krankheit an? Wäre das Licht des Freudenfeuers nützlicher? Und obwohl ich die alten Bücher lese, kann ich mir vorstellen, dass das Interesse daran schwindet. Es fällt mir inzwischen schwer, Malerei anzuschauen. Bilder. Diese Kunstform ist für mich passé, und auch die Vögel vielerlei Poesie scheinen mir kaum noch lebensfähig, kaum noch sehenswert, ihr Flug nur noch ein Vogelflug am dämmrigen Himmel, und die vier Reiter reiten in Panzern und Jets und Limousinen heran. All das verschwindet vielleicht, wie meine heiligen Geliebten, wie die Vögel am dämmrigen Himmel, wie die Jungen, mit deren Körpern ich vor zwanzig oder dreißig Jahren spielte. Wie auch das Gefallen daran schwindet. Alter? Das Theater leben. Meine Kultur ist unter Beschuss, und diese Reflexion, Meditation, dieses Zwielicht, all das ist der lebendige Beweis. Rio de Janeiro, 7. – 14. November 1970 FINSTERNIS Ich gebe zu: Manchmal werde ich nostalgisch, wenn ich an Gérard de Nerval denke . . . und das Meer . . . JM: „Nostalgie ist reaktionär. Die derrière-garde blickt immer auf die Vergangenheit und schwärmt. ‚Die guten alten Zeiten.‘“

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FLAMMEN All diese Künstler: sie sind paternalistisch, patriarchalisch, sadomasochistisch, kapitalistisch orientiert: Die Kultur umarmt mich, verführt mich, durch die Künstler dringt sie in meinen offenen schwanzlutschenden Verstand, sie ist sado-masochistisch, sie sickert in mich ein, quetscht mir die Eier ab, bis ich die klapprige Idee fallen lasse die der Vergangenheit dient aus der sie kommt ja verbrennt die texte das haben mir endlich die meister gesagt das hat der größte der großen geflüstert das hat das flackernde licht nur zögernd preisgegeben spring wir sind das feuer hinter dir selbstverbrennung die brennenden körper der verdammten KULCHUR die fackel die götterdämmerung. São Paulo, Brasilien, August 1970 WOLKENBRUCH: REGEN:  REINEMACHEN:  DAS WASSER DES LEBENS Kunst beginnt im Künstler als Ausdruck unerfüllter Sehnsüchte. Freud erklärt, dass unerfüllte Sehnsüchte auf unterdrückte Sexualität zurückgehen. Sexualität ist die konkrete Verwirklichung von Liebe. Aber die Leute haben weder die Zeit noch die Kraft, ihre Sehnsüchte auszudrücken, sie wissen nicht, wie das heftig Unterdrückte in fruchtbare Erfahrung zu verwandeln ist. Im Verlauf der Zivilisation hat die Aristokratie die Künstler dafür bezahlt. Oder die Kirche, der geistliche Herrscher, hat den Künstler beauftragt. Dann hat die Bourgeoisie übernommen. Und immer drücken die Künstler unerfüllte Sehnsüchte aus, weil das befreiend ist. Zu dieser Arbeit gedrängt, erarbeiten die Künstler hochfliegende Konzepte und Ideen. Ihr kreativer Akt ist ein Liebesakt. Energie wird frei bei diesem Liebesakt, und die Aristokratie und die Kirche und die Bourgeoisie laden sich damit auf. Aber wir wissen, dass wir in der von uns geforderten Welt nicht alle bourgeoise Schleimscheißer werden, nein, es ist nämlich nicht die Welt des Mittelklasse-Wohlstands und seiner Sitten. Weil sie dafür bezahlt werden, 116


haben sich die Künstler vor kurzem daran gemacht, die Bourgeoisie zu reformieren. Sogar die göttlichen Dichter machen mit. Weh mir! Aber damit ist es nun vorbei. Denn die Architekten hören auf, Häuser für die bürgerliche Kultur zu entwerfen, und die Maler werden ihre Kenntnis von Farben und Formen kanalisieren, um Millionen weit geöffneter Augen zu stimulieren, sie weiten nicht länger die Pupillen der Reichen und Klugen. Seit einem Jahrhundert reden wir davon, den Massen diese Energie einzuspeisen. Wir wussten nicht, wie es geht. Das Establishment meinte, wir würden unsere Kunst degradieren. Sie haben gelogen. Für das geschulte Auge, für die privilegierte Seele zu arbeiten, ist so leicht, wie über Fett zu schliddern. (Jene Tage sind vorbei, denn inzwischen wissen wir, wie man Anti-Kunst macht.) Die Musiker, Mathematiker, Bildhauer und Sänger werden Dinge schaffen, die nicht mehr die bürgerlichen Sehnsüchte behandeln, sondern das große kräftige transzendente revolutionäre Stöhnen und Ächzen, das Ficken und Lecken. In der Kunst des Rock und Folk passiert das längst, aber mehr und mehr und immer mehr davon wird kommen, Legionen, bedeckt von Blütenblättern aus Licht hauchen sie den Atem des Lebens in die Hütten der Verdammten; und wie der Wind wird das Theater die erdrückende Hitze zerfetzen, es wird die Tore nach Kiew und nach Jerusalem aufstoßen: die Befreier kommen, die Wahnsinnigen und die Künstler: das Volk: voll großer Schönheit beginnt Blatt für Blatt, Blütenblatt für Blütenblatt, das Blühen. Ein Volk zu schaffen ist der Auftrag der Kunst, der Auftrag von allem anderen, und das meinen wir, wenn wir von Revolution sprechen. Rio de Janeiro, 20. Oktober 1970 STURM WARNUNG: GEGENWINDE „Fantasie ist die Notausrüstung des Gehirns . . . “ Die Fantasie hebt auch ohne Wind ab. Kunst ist starker Wind. Gegenwind. Die Lebensbedingung der Sklaven ist Mangel. Der täuschende liberale Begriff dafür lautet „unterprivilegiert“. Der Sklave bekommt weniger zu essen, weniger Kultur, das Erbe seines Mangels ist die letzte Härte, der vorzeitige Tod: Tod schon im Leben: Tod des Geistes: Tod des Geistes führt zu: Tod des Fleisches. Wenn Künstler ihre Kunst und Energie nicht dem Kampf der Sklaven zur Verfügung stellen, stehen sie den Herren bei, dann kollaborieren sie 117


mit denen, die Essen verbrennen und die Armen foltern, und sie müssen abgesetzt werden. Wie soll das große Tier den Weg aus der Falle finden, wenn die Fantasie nicht angeregt wird und der Verstand sich nicht entfaltet? DIE ZÄHNE DES ORKANS (WESTWIND) (1) Geh einfach hinaus. So wie Gautama aus dem Palast der Lüste (seinem goldenen Gefängnis) in die Welt hinaus ging. Das kann nur ein Buddha? Dann sind wir alle Buddhas. (2) Die Bürgerliche Kultur ist unser Palast der Unterdrückung. Ausbruch aus dem Gefängnis. (3) Kunst als Aktion. São Paulo, Brasilien, 3. Januar 1971

51 „Das Jahr 1968 markiert den Tod einer Kultur. Ihr Tod ist nicht außerhalb von uns. Er steckt in uns allen. Hier drin ist diese Kultur gestorben.“ Georges Lapassade, sich auf die Brust klopfend. Rio de Janeiro, September 1970

52 MEDITATION I. 1970 Der Prozess: einen Fuß vor den andern setzen, schonungslos, sich ans Eis klammern, abrutschen, wieder hochklettern, es bleibt nichts anderes übrig. Wenn wir Mittel fänden, den Tod zu besiegen, müssten wir ihn dann erfinden, um den Planeten vor unheilvoller Überbevölkerung zu bewahren? Wir würden einen Weg finden. Tod ist Korruption und gehört nicht zum Leben . . . Wir sind über die Natur hinaus: Das ist die Triebkraft unserer Zeit. Gutkind.

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Je ne m’intéresse plus au théâtre. Je ne m’intéresse qu’à la politique. Genet. São Paulo, August 1970. Vierzig Mal am Tag ermahne ich mich, zu atmen. Ich beschwatze die Venen und Arterien. Ich bin verwirrt, verblüfft, jeden Tag die meiste Zeit voller Verzweiflung, ich bin die Hoffnung. Wenn ich meditiere, denke ich irgendwann an meine übereinandergeschlagenen Füße und dann fällt mir der Schuster ein, der mich seit meinem ersten Paar verfolgt, sein Hämmern hat mich vor sich hergetrieben, seinetwegen können meine Füße über den bloßen Boden gehen. Er bringt mich weiter. Ich zahle ihm 75 Cent. Wir alle kommen in unaufhaltsamer Bewegung voran, wie ein großer Gletscher. Wie können wir uns davon abhalten, uns selbst zu zerstören: Unfall, Katastrophe, Kollision mit der unendlichen Nacht des Todes. Wir sind der Gletscher, wir sind obenauf und in ihm drin, wir sind die Geschichte, sie ist nicht außerhalb von uns, wir lassen sie ausbluten, und noch während das Boot unter Segeln ist, gehen wir unter. Der Revolutionär erhebt sich aus der Eishöhle, er macht Feuer auf dem Eis, er schliddert; wenn die Menschen aufstehen, wenn der Aufstand da ist, bricht das Eis, der Gletscher schmilzt, aber die Menschen stehen darüber, hoch. Was wir heute sind, werden wir morgen nicht sein. „Wir sind über die Natur hinaus!“ Unsere Ehre! Wir müssen herausfinden, was zu tun ist. Dann einen Weg finden, es zu tun. Und dann tun wir’s. Der Prozess. São Paulo, Brasilien, 24. August 1970

53 Auf der Suche nach unserem verlorenen Stammesbewusstsein: ein neues Stammesbewusstsein erschaffen: ein Kollektiv, in dem das Individuum nicht dem Kollektiv geopfert wird und das Kollektiv nicht dem Individuum. Das Absolute Kollektiv. Essaouira, Marokko, 24. Juli 1969

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54 Der Stamm hat sein eigenes Charisma. Der Stamm ist eine Gruppe von Menschen, die von Liebe zusammengehalten wird. Deshalb kann er überleben, und deshalb hat er eine besondere Faszination in einer mehr oder weniger lieblosen Gesellschaft. Widerstrebend toleriert die Gesellschaft die Gypsies, weil sie weiß, sie bewahren Geheimnisse, nämlich die schwarzen Künste. Die Gesellschaft toleriert experimentelle Kommunen, solange sie davon ausgeht, dass diese nur undurchführbare utopische Vorschläge für die Lösung unserer Probleme erarbeiten. Finden sie keine Lösungen, gehen sie von selbst unter. Finden sie Lösungen, versucht die Gesellschaft sie sich einzuverleiben oder zu beseitigen. Das ist das düstere Geheimnis aus der Waffenkammer des gesellschaftlichen Hirns. Dieses Ding mit dem Tod. Im Unterschied zum geschlossenen, blutverbundenen, hierarchischen Clan mit seinen selbstauferlegten Gesetzen wächst ein Stamm, wenn er gesund ist. Das Wort Stamm wird heute für Gruppen genutzt, die wie ethnische Gruppen Verbindung zu Erde Sonne Mond Wasser Feuer Fleisch halten. Die ursprünglichen Dinge. Deren Existenz eine natürliche, also nicht-künstliche Zärtlichkeit für das unverdorbene Leben bezeugt, Leben im Einklang mit der Natur der Dinge, und also jenseits der üblichen Konflikte mit der Natur. Ein Stamm zu sein, heißt, im Gleichklang zu sein. Jedes Mitglied kümmert sich um den Vorteil und das Wohlergehen aller. Der Stamm bildet eine Gemeinschaft, in der die Individuen nicht entfremdet voneinander sind. Bewegt er sich durch eine Gesellschaft, die an Einsamkeit zugrunde geht (künstliche Liebe, früher Tod, Tod durch Rivalität und Feindseligkeit, Tod durch Geld, Tod durch Maschinen und Mord, Tod durch das Recht des Stärkeren, Tod durch giftiges industrielles Gas, Tod durch Tabak, Tod durch Aluminiumoxid), berührt der Stamm – wie die Tiere, die Kropotkin beschreibt, die ihre Feinde seit Urzeiten abwehren, indem sie sich gegenseitig helfen – alles, womit er in Kontakt kommt, mit seiner geheimnisvollen Kraft und Melodie; er ist das lebendige Symbol für nützliches Verhalten, für den Ton, den ewigen Rhythmus. Der Stamm kommt vorbei; und der kalte, angstvolle Zuschauer, der in seiner Einsamkeit vergeht, sieht die Gypsies, sieht die Juden, sieht die Karawane der Schauspielerinnen und Schauspieler, verhöhnt sie wegen ihrer Ausdünstungen, beneidet sie für das, was sie sind und können, er hasst sie, aber er hofft auch, dass sie seinen Hass transzendieren werden, er weiß, dass sie es tun. Erst im Jahr 1964 begann mein Leben, das Living Theatre, seine Stammesnatur umzusetzen; und als wir uns im Januar 1970 aufteilten, gaben 120


wir nicht etwa auf, wir unterzogen uns einer selbstauferlegten Feuerprobe, um unseren Stamm intensiver und bewusster neu zusammenzufügen, wir überlisteten jene Kräfte, die alle Stämme für immer zerschlagen wollen. Denn der moderne Staat duldet keine Gruppe, deren Gefühle stärker sind als die Abhängigkeit von seiner entfremdeten/entfremdenden gefährlichen verhängnisvollen Struktur. In solch einer Umgebung kämpft der Stamm ums Überleben. Auch wir kämpfen. Wenn die Leute (hinter ihren Fenstern) zusehen, wie wir die Straße entlangschlendern, erkennen sie uns, sie erkennen den archetypischen Gang, sie wissen, dass wir Feinde ihres Staates sind, sie wissen, wir sind die heimlichen Geliebten ihrer Körper, die sie nachts besuchen, wir sind die Dämonen ihres Unterbewusstseins, das Fleisch ihrer Träume, wir lecken ihren Geist, wir ringen mit ihrer immateriellen Gestalt, sie wissen, wie Stark und Groß und Brüchig ihr Staat ist, und sie wissen, der Stamm ist schwach und klein und unzerstörbar. Die Liebe hält ihn zusammen. Wie mein ganzes Leben kündet dieses Buch, der Bericht meines Lebens, davon, wie ich darum gerungen habe, Teil einer Kommune zu werden. Dieses Ringen ist das Living Theatre. Mein eines, einzigartiges Leben. Das Living Theatre kann innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft niemals eine Gemeinschaft sein. Etwas anderes zu glauben wäre eine Illusion. Solange wir vom Kapitalismus umzingelt sind, der in uns einsickert, haben wir keine Chance. Innerhalb dieser Schranken können wir arbeiten, bis die Mauern fallen. Die Mauern werden fallen. Spielt die Musik, die sie zum Fallen bringt. Der Einfluss der verrottenden Struktur ist stark und wir sind schwach. Die Schwachen werden diese Schlacht gewinnen, denn die Starken sind starr und verrotten. Die Schwachen sind biegsam und lebendig. Rio de Janeiro, Oktober 1970

55 Wenn das authentische Ritual beginnt, wenn die Gnawas auf den Hof kommen und spielen und tanzen und in Trance geraten, wird man hineingezogen, man öffnet die Fenster, tritt auf den Balkon, man öffnet sich, wissend, dass dies nicht nur abstrakte Musik ist, wissend, dass die Dämonen aus dem Haus vertrieben werden, wissend, dass nun das Glück, der Geist der Freude eintreten kann. Wenn das Weinglas erhoben wird und die hebräischen Worte ausgesprochen werden, baruch, sei gesegnet, erinnert sich dein tiefstes Ich an das physikalische/chemische/biologische/

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metaphysische Wunder/Leben: Es tilgt die stumme und blinde Erfahrung: Es heiligt das Sein: Es macht es leichter, etwas zu erschaffen, und schwerer zu töten. Ein Ritual aufzuführen, indem man es mechanisch wiederholt, ist nichts anderes als gelebte Konter-Revolution. Aus Mattigkeit: Was wir leisten müssen, um in diesem System den Alltag zu bestehen, lässt uns zu wenig Energie übrig, als dass wir aufmerksam sein könnten. Nicht das Wesen des Rituals ist problematisch, sondern das Leben, in dem es passiert. Gleichzeitig muss das Ritual derart ans Leben gekoppelt sein, dass es in der Lage ist, dieses Leben zu beleben. Ein Ritual darf nicht institutionalisiert werden. Institutionen thronen über dem Leben und erdrücken es. Hier eine Warnung an die Schöpfer ritueller Theaterformen: Echtes Ritual belebt; falsches Ritual ist tödlich: Alle Techniken sind leer, wenn die Handlung den Körper nicht mit ihrem Sinn erfüllt. Das heißt aber nicht, dass der Sinn nicht derart verhüllt sein darf, fruchtbar oder geheimnisvoll, dass ihn nur das Unbewusste angemessen versteht. ritual Verständigung verbessern  ekstase erreichen  den heiligen geist beschwören  uns zum revolutionären handeln vorbereiten  den geist öffnen  den körper beleben  angst mindern dämonen austreiben  vertrauen stärken  zweifel vertreiben übel verwandeln  das herz befreien  sexuelle energie anregen  härte erweichen  träume freilassen  alle gefangenen befreien  hände losbinden  die herrschaft des todes mindern ein ritual die alte kultur aus dem kopf zu vertreiben  die kräfte bündeln  hoffnung schüren „Das Ritual ist etwas, das auf den Körper abzielt. Der Körper ist keinesfalls ein Leichnam, der die Seele gefangen hält. Ohne den Körper wäre die Seele nur ein Geist ohne den letzten unentrinnbaren Ernst, den tödlichen Ernst des Ja und des Nein. Der Körper ist unser passives Element, der friedliche Boden, in dem unser Dasein wurzelt. Er ist das, was wir für selbstverständlich halten, die Konstitution, die uns das Schicksal zugeteilt hat. Er lebt in der Gegenwart, frei von der Spannung fremder Beziehungen, gradlinig, selbstsicher, seiner Instinkte sicher; seine Fehler nennt man Krankheiten. Stumm und unbewusst sind im Körper alle Erfahrungen unserer Väter aufbewahrt. Nicht nur diese, sondern auch Erinnerungen an verschwundene Epochen der Erdgeschichte, an das Leben auf tierischen und pflanzlichen Ebenen, ja an die Tiefen der Sternenwelt – all dies lagert geheimnisvoll im Körper, still, aber stark . . . Die Seele ist seine Freiheit . . . Im Ritual denken wir nicht mit dem Kortex, sondern mit dem Herzen. 122


Besser gesagt, wir werden zum Vehikel für Gedanken . . . Im Ritual lebt alles ganz in der Gegenwart, ganz im Körper.“ Gutkind. The Absolute Collective. Wenn der Geist verdorben ist, steckt er den Körper an. JM. Revolution als rituelle Handlungen: Reinigung: Einigung: die Schaffung des Volkskörpers: Aufklärung, Ende des spaltenden Tötens. Rituale der Befreiung: Ende des Nationalismus, der die Menschen an Besitz und Hass fesselt: „Nationalismus unterdrückt den Menschen a priori. Zwischen Nationen kann es keinen Frieden geben, denn die Biologie kennt nur Krieg, Wachstum und brutale Ausbreitung. Aber alle Nationen können und müssen abgeschafft werden. Die Menschen wollen sich von ihrem dämonischen Element befreien, ihre ethnischen Eigenschaften sind dann nur noch Charakteristika des Absoluten Kollektivs. Alle Bindungen zur Unterwelt sind relativ, alles Nationale und Rassistische gilt als dämonisch . . . Die Welt, die sich vom Götzendienst abgewendet und vom Besitz befreit hat, kennt keine Todesangst mehr . . . Im Volk werden Gott, Mensch und Welt in unauflöslicher Einheit zusammengeführt. Alle Wesen, von den Sternen bis zur Menschheit, sind darin enthalten und auch alles andere, von den Kräften der Natur bis zur menschlichen Rede.“ Gutkind, op. cit. Rituelles Opfer, ritueller Mord, Rituale, die auf den Tod zielen: Das sind die finsteren Produkte von Kulturen, die sich am Tod orientieren, die von ihm dominiert werden. Krieg ist ein solches Ritual. Das Kapital (Gold, Geld, als Tauschmittel und als Symbol von Besitz) ist ein solches Ritual. Der Staat und das Klassensystem sind solche Rituale, sie sind hierarchisch und entscheiden über Leben und Tod, über und gegen den Volkskörper. Die Revolution, die das Volk erschafft: ein ritueller Akt, der die Herrschaft des Todes stürzt. Die rituelle Form ist eine Disziplin, eine effiziente Form, eine wiederholte Handlung, ein Weg, Dinge umzusetzen.

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56 23. Januar 1971, São Paulo, Brasilien Centro Espírita de Pai Jerônimo, Rua Mucuri 107. (Bairro do Jabaquara): Eine Candomblé-Zeremonie im Außenbezirk von São Paulo, das Terreiro befindet sich irgendwo zwischen den ungepflasterten Straßen eines Arbeiterbezirks. Die Leute gehören der Arbeiterklasse an, sie haben viel Geld und Mühe in ihren kleinen Tempel gesteckt. Rechts und links vom Altar stehen zwei Gipsstatuen, die eine zeigt einen „Alten Schwarzen“ Sklaven, die andere einen Caboclo. Die Gemeinde besteht größtenteils aus beider Nachkommen. Der Caboclo trägt einen großen Kopfschmuck aus Federn im Stil der nordamerikanischen Indianer der Plains. Der „Alte Schwarze“ trägt viele schwere Halsketten, wie es im Schwarz geprägten Bahia üblich ist. Überall weiße Gladiolen (gelb und blau gefärbt) und Rosen (ungefärbt). Der Hintergrund des Altars ist mit knittrigem Goldpapier geschmückt. Die Statuen der Heiligen und das Kruzifix fallen hier größer aus als in den ärmeren Terreiros, aber die Größe der beiden Vorfahren und deren dominante Position künden von einem kulturellen Konflikt. Für die Zeremonie heute Abend stehen ungefähr fünfunddreißig Menschen als Medien bereit, davon fünfundzwanzig Frauen, die meisten sind älter als dreißig. Sie tragen kunstvolle Baiana-Kostüme. Jetzt verstehe ich die Krepppapier-Schlangen an den Decken aller Terreiros: Hier ist das Krepppapier nicht himmelblau, wie so oft, sondern weiß und grün. Es stellt Laub dar. Grünes Laub ist am Boden verstreut. Wir sind nicht nur „draußen,“ sondern befinden uns wie unter einem großen Baum. Die Medien gehen im Kreis und singen. Sie tanzen: Während sie im Kreis gehen, bücken sie sich manchmal, als würden sie etwas ernten, manchmal sieht es aus als hackten sie mit einer Machete, oder als grüben sie die Erde um, manchmal recken sie sich nach rechts oder links und sammeln etwas aus der Luft, und sie tanzen unaufhörlich. Trommeln begleiten sie und hören nicht auf. Bis jemand besessen ist. Heute Abend ist eine nach der andern besessen. Der Schamane sitzt hochmütig und königlich auf einem weißen Thron und herrscht über seinen Hof. Er entscheidet, wer als Nächste besessen sein soll. Die Besessenheit kommt: Der Tanz wird unterbrochen, alle lassen sich im Kreis nieder, die weiten Röcke bilden einen farbigen Zauberring, in dessen Mitte die Besessene tanzt. Sie ist vom Gott besessen. Der Gott ist in ihrem Körper. Der Gott manifestiert sich in

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der Gemeinschaft. Der Gott tanzt. DER GOTTES TANZ: Theater ist der Tanzplatz der Götter. Dieser Abend fand während der Festa de São Sebastião statt. Er kommt. Sein Geist wird (bestimmt) in die Gemeinschaft eindringen. Er wird tanzen.

57 Religiöses Theater. Populäre Rituale mögen Wahrheit und Glanz enthalten, aber sie haben einen entscheidenden Fehler: Sie verschwenden Energie; sie dienen dazu, die Menschen zu befrieden. Sie führen dazu, dass die Apathie zunimmt, sind Opium fürs Volk. Die entscheidende Frage ist: Wie können wir das Ritual so eng mit der Realität verflechten, dass es nicht unterwandert und neu belebt wird, dass es nicht in den Dienst dessen gezwungen wird, was zerstören soll? Die Antwort: Wir müssen das Ritual vom Zwang trennen. Das Gesetz, die Prinzipien, nach denen wir unser moralisches Sein verschlüsseln, kann nicht erzwungen werden, es kann höchstens studiert, verstanden, gefühlt oder gebrochen werden. Das Ritual geht unter, wenn es erstarrt. Es verfällt und tötet. Starre ist der Tod.

58 Faschistisches Theater. Als wir Mysteries 1965 in Berlin spielten, protestierte das deutsche Publikum: „Ihr benutzt die gleichen Techniken wie die Nazis! Die gleiche Massenhypnose! Es ist derselbe Appell an Emotionen, das ist gefährlich! Ihr müsst rational sein! Wenn Julian Beck mitten auf der Bühne sitzt, wenn das Scheinwerferlicht seinen Kopf anleuchtet und er uns mit seiner anziehenden Stimme hypnotisiert, wenn ihr uns mit Slogans bearbeitet, bis wir sie als Echo wiederholen, wenn ihr uns verführt, auf die Bühne zu kommen und unsere Kehlen in einem Schwall von Ekstase zu öffnen, wenn ihr uns mit euren stummen Körperverrenkungen verrückt macht, mit Kreischen und Seelenqual, bis wir schreien wollen, dann nehmt ihr uns jegliche rationale Fähigkeit, die Welt zu betrachten, sie zu bewerten und

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entsprechend zu handeln. Ihr macht uns zu hirnlosen Tieren. Wir wollen nicht fühlen, wir wollen denken.“ „Die rituelle Form zerstört die Fähigkeit, rational zu denken, die rituelle Form erschafft die Masse, sie zerstört das Individuum, schwemmt es fort, es verliert die Kontrolle, es folgt einfach, und dann ist alles verloren, die Masse wird zum Subjekt des Faschismus, und der Faschismus benutzt diese Rituale, um die Massen zu versklaven.“ Das sagten sie. Was ist der Unterschied zwischen den Techniken, die wir in Mysteries angewendet haben, und den Zeremonien des Dritten Reiches? Rituale haben ihre eigene Magie, die sich in der Art verbirgt, wie sie die Psyche ansprechen. Die Psyche hasst und die Psyche liebt. Neigen wir nun mehr zum einen als zum andern? Das Ritual weckt Gefühle, und Töten entspringt dem Gefühl der Gefühlsstarre, und die neue Welt wird aus dem Gefühl entstehen. Nationalistisches Ritual, erst erweitert es das Gefühl und beschränkt es dann wieder, das Ritual, das sich nach innen wendet und nicht nach außen geht, wirkt wie ein tödliches Gift. In Mysteries formen wir einen Kreis und laden die Öffentlichkeit ein, sich uns anzuschließen, aber sie müssen nicht . . . Wir appellieren an den freien Willen . . . Wir wecken ihn.

59 SEXUELLES THEATER Zeremonien der Besessenheit. Kimbanda. Das verbotene Ritual beginnt um Mitternacht. Es ist der Schrei der Menschen nach dem Geist der Revolution. Es ist die Beschwörung der dunklen Mächte der Anti-Unterdrückung, die Zeremonie, mit der die Leute Satan anrufen, denn er führt die Revolte an im Himmel der herrschenden Klasse. Sie entspringt der Erkenntnis, wie weit das Übel verbreitet ist, dem Entschluss, es zu besiegen, den Menschen zu helfen, sie vom ewigen Elend zu befreien, es ist die Anrufung des böses Genius Beelzebub, dass er die Welt neu ordne, sie entstammt der befreiten Anti-Moral, sucht eine Wirklichkeit, die erträglicher ist als die, die uns umklammert. Die Zeremonie hat ihre eigene Magie, die Schwarze Magie genannt wird. Es ist die Kehrseite der Macumba. Macumba: „Ich schreibe über etwas, über das man nicht schreiben kann.“ Georges Lapassade. Das Macumba hat zwei Seiten: (1) das Umbanda: Ritual der Reinigung, ganz in weiß dringen die Geister der afrikanischen Götter, Xango oder

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Die Mitglieder des Ensembles in der Reihenfolge der Fotografien: Julian Beck Maria Nora Raaja Fischer Isha Beck Stephan Schulberg Helga Jeske und Tochter Rain House Tom Walker Serena Urbani Bernd Uhlig, Antonia Masulli Dirk Szuszies Ilion Troya Mina Lande Annick Pierce Christian Vollmer, Henriette Lüthi Horacio Palacios Catherine Marchand Hanon Reznikov Judith Malina Der Fotograf Bernd Uhlig fotografierte die internationale freie Theaterszene während der 1980er Jahre und besuchte auch mehrmals das Living Theatre in Frankreich. In Nantes probte das Ensemble das Stück „L’Archéologie de la sommeil“ (Die Archäologie des Schlafs), das am 1. Juni 1983 Premiere hatte. Bernd Uhlig bat alle Mitglieder des Ensembles, sich in ihrer Lieblingsschlafhaltung porträtieren zu lassen. Es war die letzte Produktion, an der Julian Beck beteiligt war. Als Bühnenfotograf begleitete und begleitet Bernd Uhlig bis heute Regisseure und Choreografen wie Andrea Breth, Peter Palitzsch, Heiner Müller, Johann Kresnik, Peter Stein, Ursel und Karl-Ernst Herrmann, Christoph Marthaler, Frank Castorf, Sasha Waltz, Krzysztof Warlikowski oder Romeo Castellucci.


Ogum, die Geister der verehrten Indianer (Caboclos), der Alten Schwarzen Sklaven (Pretos Velhos) oder des Orients (Mohammed, Prophet des Ostens) in den Körper ein und geben den Besessenen jene Weisheit, die ihnen hilft, ihre täglichen Sorgen zu tragen, die ihre Krankheiten heilt: Das Umbanda ist eine Zeremonie des Lichts; und (2) das Kimbanda: Ritual, das bis tief in den dunklen Brunnen der Erde vordringt, in den Geist, in die Geschlechtsorgane, dieses Ritual kennt die Formel, die dabei hilft, zu entkommen, zu siegen. Sich aufzulehnen. Schwarz und Magisch und Weiß. Es ist die Zeremonie der Unterdrückten. Es ist der Plan für ihre Revolution. Der wahrhaftige Ausdruck eines verbreiteten Traums: ein verzweifeltes Theater, das voller Hoffnung ist. Trommeln, Tanz, und Gesang führen während der Zeremonie so weit, dass man irgendwann von Satan (Exú) besessen ist. Wenn er sein Medium erfasst, trifft seine Phalanx aus Licht nicht etwa den Kopf oder den Rücken des Mediums (wie im Umbanda), sondern zielt auf das Becken, die Genitalien, es ist eine sexuelle Besessenheit. Die Besessene wird von körperlichen Krämpfen geschüttelt. Mit dem Gesicht zur offenen Tür fallen die Frauen auf die Knie, strecken sich so weit nach hinten, dass ihre Köpfe den Boden berühren, spreizen ihre Oberschenkel, stöhnen, ächzen, kreischen, zittern, pochen, röcheln, kreisen um den schwarzroten Herrscher der Hölle. Mit hängenden Augenlidern, lasziv kreisenden Hüften erheben sie sich, sie sind Pomba-Gira, des Teufels Geliebte, seine Frau, besessen vom Wissen des Bösen, sie wissen, wie man einen Rivalen loswird, wie man stiehlt, kontrolliert, dominiert, tötet. Alles, was der kapitalistische Herrscher tut oder die Polizei, alles, wogegen die Herrscher angeblich Abscheu hegen, beherrschen sie. Exú ist rot. Seine Farben sind schwarz und rot. Manchmal ist er schwarz und wird als schwarze Gipsstatue dargestellt, Götzenbilder sind in Brasilien beliebt. Sein Begleiter Tranca-rua ist mit Mistgabel und Messer bewaffnet. Diese schwarzrote Statuette, die sexy Hure Pomba-Gira und Exú selbst sind in Schreinen ausgestellt, sie befinden sich außerhalb des Terreiro, wo die Zeremonie stattfindet. Schwarze und rote Kerzen brennen ihnen zu Ehren. Besessen von Schwarzer Macht. Die Schwarze Sexuelle Macht. Die Dunkle Macht des Bösen. Das Sexuelle Böse. „Weil das Böse in der Welt existiert.“ Die Menschen in Brasilien werden vom Teufel gefickt und bekommen im Gegenzug nichts als Knechtschaft, sie übergeben sich dem „Bösen“, um es zu besitzen, um es zu beherrschen, aber eigentlich werden sie beherrscht. Die Zeremonie ist ekstatisch. Mit dem sexuellen/spirituellen Akt kommt ein exaltierter Zustand auf: „Exú ist Freiheit“, schrie der

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Schamane eines Nachts. Befreite Sexualität bedeutet Freiheit. Sie macht frei. Der ungehemmte Mensch wird überleben. Rio de Janeiro, 17. Oktober 1970

60 Jugend und Alter sind im Volk vermischt. Im Griechischen Theater gibt es den interessanten Kniff, den Chor in Bevölkerungssegmente zu unterteilen: den Chor der Ältesten, den Chor der Frauen, den Chor der Archonten. Die Homogenität gibt den Menschen Verlässlichkeit. Wie eine Pflanze am Licht richte ich mich daran aus: dass gerade die Vielfalt, die in der Dichte der Masse enthalten ist, ihre Stabilität verbürgt und ihren Sieg. Eine wichtige Aufgabe von Theater könnte sein, dass es der Masse hilft, sich an die Impulse ihrer Jugend und Kindheit zu erinnern, die frühen Kinderjahre, die Lust, nach dem Paradies zu greifen, jugendliche Impulse von sexueller Brüderlichkeit, sublimer Liebe, die Impulse einander zu keinem anderen Zweck zu treffen, als Liebe zu erschaffen, Körper der Liebe werden, Gewässer, wie Seen, Ozeane, Wellen, aus denen das neue Leben an den Strand zurückkriechen kann. Ouro Preto, Brasilien, 11. März 1971

61 rinne aus fleisch im fleisch: dank für ein unvollständiges leben. Carl Einhorn

El que no comprende el amor no sabe nada sobre el pueblo. Oswaldo de la Vega

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62 POPULÄRES THEATER Eins. Ich war überrascht über die Heiterkeit der Menschen, die in Brasilien und Marokko Besessenheitskulte aufführen. Wellen der Angst überliefen mich, die Propaganda der weißen Kultur fing mich ein, und ich näherte mich diesem Theater mit dem gleichen falschen Ernst, mit dem ich in New York eine Synagoge oder eine Kirche betrete. Die Rituale dort werden von schmallippigen Leuten mit steifen Rücken institutionalisiert und Angst sitzt in jeder Ritze. Im Macumba oder den Gnawa-Praktiken, wo sehr seltsame Dinge passieren, gibt es dagegen keine Angst. Freudig gehen die Menschen dorthin. Auf dem Djemaa el Fna [Platz der Gehängten, auch Platz der Gaukler genannt] in Marrakesch herrscht tosendes Vergnügen. Menschen, die im Elend leben, haben diese Rituale entwickelt. In New York dagegen, wo das Leben immer oberflächlicher wird, machen uns die religiösen Riten schwermütig. Die revolutionäre Kultur wird das umkehren. In Marokko und Brasilien nehmen an solchen Zeremonien hauptsächlich die Marginalisierten teil, die zerlumpten Armen, die Arbeiter, und in diesen Riten transzendieren sie ihre tägliche Ohnmacht, erleben die Kraft des Mysteriösen, ohne „Gelehrtenweisheit“: Es ist ein Austausch mit dem Unbekannten, mit den Toten, wenn nötig mit dem Teufel, Austausch mit jenen Kräften, die Mut spenden und die Kraft, die es braucht, um festzuhalten an diesem schweren Leben. Den Klang der Musik auf der Straße verwandeln, singen, tanzen, rufen, bis wir von so viel Kraft (Energie) besessen sind, dass wir uns dem täglichen Leben stellen können, es ändern. Der Djemaa el Fna: Das Leben in Marrakesch wechselt jeden Tag um 18 Uhr die Farben, die Langeweile hebt sich und mit einem Mal sehen die Menschen, wie es wäre, anders zu leben. In diesem ausgehungerten Land nährt ein visionäres Theater den Geist der Menschen, das Theater der Trance: Seine Arbeit besteht darin, die Visionen der Menschen zu verwirklichen. Nüchternheit: ein Mittel der etablierten Kräfte, die Massen und sich selbst zu blenden. Die Feierlichkeit der Kirche, ägyptische Architektur: der ganze Stolz der Privilegierten, mit ihrer schwer zugänglichen Literatur, ihrer Philosophie. Als könnten nur abstrakte Gedanken Gottes Antlitz enthüllen. Weil sie vom Leben entfremdet sind, reagieren diese Kräfte nur auf tote 149


Manierismen, Kontemplation, auf passive Meditation; an dieser Krankheit leiden auch die Brahmanen und die buddhistische Aristokratie. Wenn das Arschloch eng wird, der Kopf hochmütig und das Herz kalt, schwindet die Freude, und das Leben erstarrt. Aua! Das Theater der Revolution ist das Theater der Freude.

Zwei. Der offizielle Karneval in Rio ist ein degeneriertes Spektakel. Der Staat, das Ministerium für Tourismus und die vagen Kräfte einer nationalen Psychose haben es zu jenem Kitsch pervertiert, den man auf den Farbfotos sieht. Was noch an die ursprüngliche Idee erinnert, inspiriert noch immer. Denn es ist die prachtvolle Umsetzung des Rituals, Umsetzung von Kunst und Träumen der Armen. Dieses Phänomen ist nicht bemerkenswert. Der Staat hat die Impulse des Volkes pervertiert, seit er seine Aufgabe darin sieht, dem Reichtum zu dienen und den Klassenkampf zu beherrschen. Der Samba geht auf afrikanische Ursprünge zurück, er wird nur mit Schlaginstrumenten gespielt, zwanzig bis fünfzig oder mehr Instrumentalisten sitzen an den baterias, den 2/4-Takt bauen sie zu einem komplizierten Rhythmus aus, der die Atmosphäre beherrscht und den Luftstrom verändert. Er schließt alles andere aus. Er gibt den Takt für das Pulsieren des Blutes und die Bewegungen der Muskeln. Begleitet von einer Stimme, die über den Trommeln schwebt und ein Lied mit einfachen Texten singt, es ist echte Poesie. Der Tanz ist vom Rhythmus angetrieben. Er konzentriert sich auf die unteren Körperregionen, Füße und Becken, aber die von dort ausstrahlende Kraft pumpt das Blut durch den Körper. In einem Rhythmus – den der Verstand nicht kennt – pulst es ins Gehirn, in die Gesichtsmuskulatur. Erregung greift um sich. Den Samba kann man allein tanzen oder zusammen, alle tanzen, tauschen untereinander Energie und Inspiration. Reihen bilden sich, Schlangenlinien und komplizierte Muster, das ganze Volk tanzt, Freude ist das klarste Zeichen, dass Gott da ist. Léon Bloy. Die Armen, die Favelados, die in den Slums wohnen, haben diese Form genommen und auf eine hochtheatralische Art weiterentwickelt. Ihre Verse wurden zum Thema eines Festzugs, der einer komplizierten und genau festgelegten Dramaturgie folgt. Die Form wurde im 19. Jahrhundert von den Schwarzen erfunden und weiterentwickelt. Die Schwarzen in ihren 150


Gemeinden arbeiteten kollektiv schöpferisch an der Verwirklichung ihre Träume: Gilden, genannt blocos, wurden gebildet, in denen man sich schon Monate vor dem Karneval vorbereitete, mit eigenem Geld unterstützte man seine Organisation, nähte die Kostüme selbst. Jedes Jahr erfanden sie ein Thema für den Festzug. Die Texte, die Musik, die Wagen, der Stil, die Choreografie, die ganze Inszenierung dachten die Menschen sich aus, und sie waren auch die Akteure. Alles war selbst gemacht, ohne einen Leiter. Wenn es an der Zeit war, strömten sie aufgeputzt aus ihren Bruchbuden und paradierten durch die Straßen, verwandelten die Stadt für ein paar Tage in ein elysisches Feld der Ekstase und Heiterkeit. Um danach wieder in das einjährige Ritual ihres schweigenden Leidens zurückzukehren. Die brasilianischen Samba-Gilden waren authentische Beispiele der emanzipatorischen Praxis der Selbstermächtigung. Was früher schön war und echt, ist jetzt hässlich und falsch, eine Perversion des Ursprungs. Ein Organ der Unterdrückung. Der Samen dazu war vielleicht von Anfang an da, in der Atmosphäre einer Gesellschaft, die auf dem Modell Herr und Sklave fußt. Denn der ganze Aspekt der Verkleidung und der Illusion zielte auf die Nachahmung der Eigenschaften ihrer Herren durch die Armen. Die weißen Perücken und französischen Hofgewänder aus Satin. Aus Liebe ist Hollywood geworden, aus Heldentum Chauvinismus. Sie spielten den Traum eines Sklaven, den schlichten Traum von Ehre und rachsüchtiger Verwandlung. Dann pumpte der Staat das Spektakel auf mit seiner faulen Luft, Geschäftsleute spendeten an die Gilden und konnten damit natürlich auch Kontrolle ausüben über die Themen und ihre Umsetzung. Als die Sache institutionalisiert war, verabschiedete der Staat unter Vargas ein Gesetz, das festlegte, die Themen hätten patriotisch zu sein. So wurden aus Ruhmesträumen Träume mit pervertiertem Gehalt. Dann kamen die Profis, die Kostümbildner, die Komponisten und Choreografen, und die Festzüge waren nicht mehr die lebendige Hoffnung des Volkes, sie drifteten ab in Richtung Folies Bergère. Heute ist das Gefolge nur noch ein groteskes Double für den Trauermarsch. Das Volk wird zu Grabe getragen. Im Karneval verschwenden sie ihre Kraft und ihre Träume.

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Aber ich kann sehen, dass die Kraft noch da ist; und sicher schlummern irgendwo in ihrem Geist noch die unverdorbenen Träume. Nutzt diese Information. Ich sehe dich, Papst Clemens VII., du alter Hund, und deinen ganzen Hof, der bis zu den Medici zurückreicht, Präsident Emílio Garrastazu Médici von Brasilien 1969 – 19. . ., der Gottes Kinder bis heute mit Brot und Spielen beschwichtigen will. Sie sind nicht beschwichtigt. Ouro Preto, Brasilien, 10. Mai 1971

63 „Wir haben unser Ich, das echt ist, und das Du, das echt ist. Und wir haben den Grundzustand der Liebe, den Ursprung von allem. Erst danach kommt alles andere, was dazwischenfunkt und alles verdirbt: Wirtschaft, soziale Systeme, falsche Werte. Zu den Ursprüngen zurückfinden. Darin liegt die Bedeutung des Rituals: Es ist seine wichtigste Funktion, die Charakteristik der Ursprünge zu ergründen, unsere ursprüngliche Natur.“ JM. Das Ziel des Rituals: der Körper, der Ursprung von allem, Liebe: Körper der Liebe: das Volk.

64 FRAGEN. 1969 Was hat es gebracht, Paradise Now für die Mittelklasse zu spielen? „Dass sie nicht gleich die Polizei ruft, wenn die Revolutionäre auf die Straße gehen.“ Mel Clay. wie machen wir die revolution wie kann sie funktionieren wie machen wir die menschen satt wie beenden wir all das töten wie machen wir das paradies jetzt

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Beim Spielen von Paradise Now ist der Performer zwischen den Vorstellungen direkt mit diesen Fragen konfrontiert: mit ihrer Hilfe bereitet er sich darauf vor, Paradise Now zu spielen. Ethik. Warum haben weder Pascal noch Kant die Natur des ethischen Standpunkts innerhalb des kapitalistischen autoritären Schemas diskutiert? Weil sie noch nicht wussten, was die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts aufdecken sollten. Die Dimension der Zeit; man kann nur so weit sehen, wie es die eigene Zeit erlaubt. Wir haben den Punkt erreicht – die Zivilisation hat uns so weit gebracht –, wo es um nichts anderes mehr geht als um Fragen. Nichts anderes ist mehr interessant. Egal was man tut, andere Fragen sind immer präsent. Fragen: der Anfang von Antworten. Das Theater macht Angst, weil es sich mit Geheimnissen und geheimen Fragen befasst. Seit Jahrhunderten fragt das Theater: wer sind wir woher kommen wir wohin gehen wir. Jetzt fragt es: was ist los wohin geht das was tun was stelle ich mit meinem einzigartigen Leben an in diesem Moment, wenn der kollektive Genius der Menschheit die Frage beantworten muss: Wie kann unser Planet überleben? Torino, Italien, 19. Oktober 1969

65 EINTRÄGE IM ARBEITSBUCH Antigone:  Berlin:  27. August 1966: Ich bin einundvierzig Jahre alt und bezweifle, dass ich den Mut und das Talent habe für diese Reise, auf die mich Antigone schickt. So weit zu fahren ohne zu wissen, wie viel Benzin im Tank ist. Antigone:  Kiel:  5. März 1967: nach der Antigone Reise sehe ich, dass der anfängliche Zweifel die Leere war nicht da wo ich hinwollte

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sondern die in meinem Innern: ich habe mich leer gemacht um es neu zu machen Paradise Now:  Neapel:  24. Mai 1967: Der erste starre Blick: Wieder diese Leere. Ich sehe nichts. Ich kann nichts erkennen. Nur die Entschlossenheit, irgendwo hinzukommen, wo ich nicht bin. Alles ist falsch, was ich sonst bewusst weiß. Logiker lassen unbewusstes Wissen weg und sagen nur, was sie bewusst wissen. Deshalb klingen sie immer falsch. Weil ich die Revolution mit Logik nicht schnell genug vorantreiben kann, treibe ich etwas an, das ich nicht bewusst kontrolliere, lasse den Wind durchpusten, lasse die Revolution kommen. Schau nicht mehr aufs Armaturenbrett. Paradise Now:  Paris:  17. Dezember 1967: das publikum in so viel freude baden bis das unmögliche möglich scheint Paradise Now:  New York City:  Dezember 1968: Die ursprüngliche Absicht: „das publikum in so viel freude baden bis das unmögliche möglich scheint“ deshalb wurde paradise now die schöpfung einer dialektik für die aktion die die schöne gewaltlose anarchistische revolution herbeiführt was könnte sonst „so viel freude“ wecken?

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66 Im Jahr 1967 spielten wir Antigone sodass: antigones beispiel nach dem 2500 jahre nichts gelang vielleicht endlich ein intellektuelles zahlendes publikum zur aktion bewegt bevor es zu spät ist. („Aber die alles sah / Konnte nur noch helfen dem Feind.“ Brecht wirft Antigone vor, dass sie „zu spät“ aufwachte.) und wir sind: zu spät: wenn wir glauben, dass stil zu politischer erleuchtung führt. paul goodman: „nach einer aufführung von Die Troerinnen sind die athener trauriger und weiser.“ UND SIE STÜRZEN TROTZDEM WEITER! IN DIE NIEDERTRACHT!  IN KRIEG UND SKLAVEREI! „indem es uns mit einem bedeutungsvolleren universum konfrontiert, verleiht es (Das Stück Die Troerinnen) uns eine gesündere ganzheitliche philosophie (dem pazifismus näher soweit pazifismus die wahrheit ist).“ p. g.

ABER WIR STÜRZEN WEITER!

und all dies weil kunst und schönheit nicht ausreichen Schau dort! dort! im wasser! es erhebt sich! Die gischt! sie spritzt! 155


jenseits von kunst: die herausfordernde tat der antigone – die tat! die die struktur zerlegt! nicht zu spät. vergesst die boote, vergesst das theater. aufstand

67 BRIEF AN EINE WUNDE Eine Kunst, die das entsetzliche Problem der Unterteilung der Welt in Klassen nicht behandelt, steigert die allgegenwärtige Qual. Solange das Geldsystem existiert, existieren die Klassen. Das Schwere zuerst, das Unmögliche kommt später. (Piscator zitiert ein altes Sprichwort) Zuerst befreien wir uns vom Joch des wirtschaftlichen Systems. Das Bewusstsein fördern, das zu verstehen, das so deutlich zu empfinden, dass du handeln musst. Tu nichts anderes mehr. Alles andere ist Verschwendung. Beeil dich. Brüssel, 14. Dezember 1969

68 KURZ VOR BEGINN EINER NEUEN PRODUKTION. BRÜSSEL. 17. DEZEMBER 1969 Wovon hat all das Zurückliegende gehandelt?

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Von der kollektiven Schöpfung. Vom Konzept einer Theatertruppe, einer Arbeitsgruppe,


die eine anarchistische Kommune ist. Von Freiem Theater. Und Improvisation: vor Ort erfinden. Von der wandernden Theatertruppe als planende Einheit, als Weg, weiter am Rand zu leben, außerhalb des engen Zentrums. Von Anti-Gewalt-Theater. Theater als Fürsprecher für Anarchie, für gewaltlose Revolution, für Revolution. Warum bin ich heute Abend so erledigt? Bin ich schlecht gelaunt? Bin ich unterzuckert? Die Haut unter meinem Auge ist wie die einer Schildkröte, wie trockenes Laub? Brennt der Wald? Sind Boote unwichtig? Schrumpfen meine Eier? Vergehen die Zeit, die Hoffnung, die Menschen? Vergeht das, wie alles verblasst? Fragen. 1969. Weil du bist, was du isst Und du mit dem arbeitest, was du hast. Libido Blues, Ego Blues, das ist mein Problem: Bourgeoiser Blues: Wir dürfen sie nicht gewinnen lassen, wir dürfen nicht aufhören, daran zu arbeiten, auch wenn sie das wollen: Gefahr: Denn wir haben diese Launen, diesen bourgeoisen Blues: Bis wir das System ändern, das die Launen mit sich bringt und das Essen, das es uns gibt, das uns nicht satt machen kann.

69 Das Living Theatre funktioniert so, sagt Judith, dass jedes Mitglied eine andere Idee davon hat. Dann lassen wir einander tun, was wir tun wollen, um diese Vision zu entwickeln. Bis zu diesem Grad ist das Living Theatre so, wie es meiner Auffassung nach sein soll, auch nach der Auffassung von Roy Harris und Carl Einhorn. Und wenn wir diese Vision nicht mehr mögen, gehen wir, egal ob sie erfolgreich ist oder nicht. Ich lege alles in diese Vision hinein. Ich stelle mir vor, dass es jeder so macht. Und wenn es so läuft, bin ich nicht autoritärer, habe ich nicht mehr Autorität als die anderen.

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In der Gemeinschaft gibt es ständig Probleme, Konflikte und Gebrechen. Die Gemeinschaft ist durch eine Liebe vereint (verwoben), die sich ständig zeigt in herzlicher Zuneigung und Körperkontakt. Wir haben an unseren sexuellen Hemmungen gearbeitet, versuchten sie zu mildern. Aber wir sind eher ein Symbol für sexuelle Freiheit als ihr lebendiges Beispiel. Aber auch die Kraft dieses Ziels überträgt die Botschaft. Die Arbeit ist das Zentrum. Solange sie erledigt wird. Alles andere ist sekundär. In der Arbeit liegt die Souveränität. Aber die Arbeit darf jederzeit einem anderen Bedürfnis geopfert werden, das sich womöglich in den Vordergrund drängt: Wahnsinn, Eifersucht, Krankheit, Konflikt: vorausgesetzt, die Gruppe überlebt. Wenn nicht, muss sie sich auflösen oder transformieren. Vor langer Zeit stellte Judith die Frage: Kann es Gesetz ohne Zwang geben? Sind Gesetze auch denkbar als Prinzipien, von denen man abweichen kann, wenn jemand es für notwendig hält, ohne dass dabei der Sinn für die Ordnung zerstört wird. In einer gemeinschaftlichen Situation wäre das möglich, vorausgesetzt, Charakter und Verhalten entwickeln sich in die Richtung, die eine anarchistisch-kommunistische Kultur erwarten lässt.

70 MEDITATIONEN ÜBER THEATER I leute gehen ins theater wegen omars licht wo sonst würden sie es finden leute gehen ins theater um zu sehen wie der drachen überlistet wird leute gehen ins theater um sich zu vergessen leute gehen ins theater weil sie erlösung suchen leute gehen ins theater um atmen zu lernen leute gehen ins theater um sexuell und geistig frei zu werden und wegen der manifeste leute gehen nicht aus niederem grund ins theater das theater, das wir auslöschen ist jenes, das sich anstatt zu befreien der klassenkultur verschreibt, der entfremdung der mangelernährung Avignon, Frankreich, 16. Mai 1970

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wir sind eine bewegung die kritiker wollen uns spalten spielen uns gegeneinander aus wollen unsere bewegung verhindern aber wir sind eine bewegung São Paulo, Brasilien, 23. Januar 1971 Schließlich ist dein ganzes Leben ein Stück. Stellt sich die Frage: Welches Genre? Der Kampf um den Bruch der Form muss alles andere überragen. Sonst sind wir gefangen in Formen, die uns die Möglichkeit verwehren, eine Form (Technik) zu realisieren, mit der wir dem Feuer entkommen, das uns verbrennt. Rio de Janeiro, 14. Oktober 1970 Das Polnische Teatr Laboratorium und das Living Theatre verbrachten im Juli 1967 einen Abend lebhafter Gespräche auf dem Dach eines kleinen Hotels in der Nähe der Piazza di Spagna in Rom. Wir diskutierten die jeweiligen Methoden: Grotowskis Methode ist autoritär und separiert die Individuen voneinander, wir dagegen versuchen gemeinschaftlich zu arbeiten. Das ist Kompensation, sagt Grotowski, und redet von den unterschiedlichen politischen Systemen, in denen wir leben. Sofort betreibt er Psychoanalyse, kommt zu einem bestimmten Ergebnis, alles nach seinem Konzept. Im Theater sollen die Dinge nicht einfacher werden, sondern noch viel komplizierter. Genet. Wenn wir die Mentalität der Masse formen wollen, müssen wir den Kult ums Individuum zerstören. Mao. Aus bewussten Individuen entsteht eine lebendige Masse, weil es zwischen den Zellen zum Dialog kommt. Eine Masse, die das Individuum erdrückt, schafft totes Fleisch.

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Die Kultur des Individualismus fragmentiert uns – schneidet uns in kleine Stücke – und begeht Selbstmord. Ouro Preto, Brasilien, 29. November 1970 primitives theater (ursprüngliches theater) riten des volkes und ihm nahe, spricht in symbolen, parabeln; das theater des realismus ist die erfindung des Herzog von Sachsen-Meiningen ein Herzog von der aristokratie für die aristokratie; realismus ist die sprache der aristokratie weil aristokraten weit weg sind vom leben. Kompensation. Rio de Janeiro, 23. Oktober 1970

71 Repressive Architektur nimmt überhand. „Gefrorene Musik.“ Ja, sie ist kalt. Und die „Musik“ ist eine, die den Hof erfreute. Die Priester. Den Kaiser. Die prätentiösen Geschäftsleute. Den Aufsichtsrat. Und das Parthenon? Was ist mit seiner Geometrie? Seiner Pracht? Schönheit und Philosophie genügen nicht. Wer hat die Felsbrocken herbeigeschleppt? (Brecht) Wer hat die Bronze geschmolzen für Mies van der Rohes Whiskey-Gebäude? Als ich siebzehn war, erfüllte uns die moderne Architektur mit Stolz: endlich, so glaubten wir, orientiert sich die Architektur, nach einem Jahrhundert der Orientierung am kleinbürgerlichen Geschmack, wieder an den Prinzipien der Kunst. Die Architektur wird nicht mehr auf dem Altar des Kommerzes geopfert. Wie naiv wir waren!

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Es gibt eigentlich keinen Unterschied zwischen Mies van der Rohes Whiskey-Gebäude und Versailles. Auch nicht zwischen der Millionärsarchitektur von Frank Lloyd Wright und den Burgen und Schlössern, die Europas Landschaften dominieren. Der Geschmack, den wir bewundern (?), ist der Geschmack der Sklavenherren, ihm dienten sich Wright und Mies van der Rohe an. Folgerichtig entwarfen Wright und Mies van der Rohe zuletzt auch Justizgebäude und Gefängnisse. Buckminster Fuller baut fürs Militär. Aufgepasst. Der Prozess um die Chicago Seven, die Verschwörer (1970), fand neben tausend anderen Gerichtsverfahren in Mies van der Rohes Palast der Unterdrückung statt, einem majestätischen Gebäude, einer Fabrik für Gefängnisstrafen, die die marode Majestät des Gesetzes vertreten. Die Gestalt des Gebäudes ist starr, erbarmungslos. Die Unterdrücker bewundern das: wie sich die grausame Funktion im kalten Formalismus spiegelt. Richter Julius Hoffman zu William Kunstler, dem Verteidiger der Chicago Seven: „Herr Kunstler, kennen Sie den großen Architekten Mies van der Rohe, der vor kurzem von uns ging. Er hat dieses Pult und das Gebäude entworfen, und es ist kein Geländer, sondern ein Pult. Ich bitte Sie erneut, sich dahinter zu stellen, wenn Sie einen Zeugen befragen.“ Bombastisch, unflexibel, allgegenwärtig sind diese geraden, starren Hochhäuser mit all den aufrechten stolzen Männern, ihren stocksteifen Rücken, die nicht von Arbeit gebeugt sind, mit ihren höflichen Tonlagen, das alles ist darauf ausgerichtet, das Herz außen vor zu lassen. Architektur formt die Kultur und wird von ihr geformt. Die Theater spiegeln dieselbe Kultur, die Sterilität, den Bombast, das Urteil. Brennt die Theater nieder. Gebt uns eine Architektur mit menschlichen Werten. Die Sieben Leuchter der Baukunst: Das Licht der menschlichen Werte. Das Öl, das Schluss macht mit dem isolierten Leben, das wir abgeschottet voneinander und eingesperrt in unseren Häusern führen. Der Leuchter, der sich weigert, gegen Bezahlung zu brennen. Aber Architekten arbeiten gegen Bezahlung, sie haben ihre Menschlichkeit eingebüßt, Steine. 161


Der Leuchter, der nicht für die herrschende Klasse brennt: keine Häuser mehr für Kapitalisten und Minister. Der Leuchter der Armen: für die Armen alles herausholen, das Licht teilen. Der Leuchter, der die Revolution erfindet und sich an der Frage entzündet: „Wer bezahlt uns, wenn wir für die Armen bauen? Wer bezahlt das Material?“ Der Leuchter, der das Gebäude gemäß dem göttlichen Geschmack der Sklaven beleuchtet, der ihnen Theater baut, Orte, an denen sie zusammenkommen können, um Dämonen auszutreiben und ihre Pracht zu feiern, um den Geist und die Sinne zu weiten, den Körper der Liebe zu erschaffen . . . Ich jedenfalls will nicht mehr in diesen hierarchischen Theatern arbeiten, in denen es aussieht wie in einem Gerichtssaal. Damit meine ich auch die Theater in Delphi und Syrakus, Taormina und Epidaurus, wo Glanz und Sinnesfreude das Auge der Wahrheit blenden. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 18. April 1970

72 Der bürgerliche Instinkt schreckt vor der Terminologie des sozial bewussten Künstlers zurück. Die Bourgeoisie zuckt zusammen, wenn von DEN MASSEN die Rede ist. Als seien die Massen etwas Grobes, Furchteinflößendes, ohne Identität, ohne Ego. Die Bourgeoisie findet es geschmacklos, von proletarischer Literatur zu sprechen. Sie will ihre eigene Literatur. Sie hält die Moralisten für krank. „Moral stört die Kunst; die Kunst darf nicht urteilen.“ In den Augen der Bourgeoisie können die Bedürfnisse der Kunst sogar wichtiger sein als die Bedürfnisse der Menschen.

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73 Die Philosophie des klassischen Theaters schlug den lebendigen Frauen und Männern ins Gesicht. Immer wieder. Schon das Konzept Schicksal, diese fächerförmige Hand des Schicksals, hat uns davon abgehalten zu tun, was notwendig gewesen wäre. Die Ästhetik der fünf Akte wurde hochgehalten, damit es sich anfühlte, als wären wir der Willkür der Reichen und dem Tod ausgeliefert. Die Dichter trüben alle ihr Gewässer, dass es tief scheine, sagt Zarathustra. Und ich stimme dir zu, Zarathustra, das gilt für geschriebene Poesie, aber nicht für das Leben als Poesie, weder für deins noch für meins. Ich dachte, du seist der Größte an Schuld und Ruhm, dabei bist du ein Zwerg, und auch du, James Joyce, mit deiner zweifelhaften Theorie der wiederkehrenden Geschichte, bist nichts als ein Zwerg. Literatur und ihre Auszeichnungen und Bibliotheken: Teil des Versuchs, Spiele zu erfinden, die den Tod kaschieren. Alle großen Stücke endeten damit, dass jemand stirbt. Lobpreisung des Todes. Weil die Sterbenden auf das fokussiert sind, was passiert. In diesen Stücken ist der Tod der Weg eines Einzelnen. Sobald Theaterstücke sich aber an der Gesellschaft orientierten (19. Jahrhundert), endeten sie nicht mehr nur mit dem Tod. Während der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert ging es nicht mehr um den Kampf des Individuums zwischen Tugend und Laster. Im Fall von Strindberg war das Leben sogar noch tragischer als der Tod. Bei Strindberg ist die Ehre stets zur Stelle, die Reise kann jederzeit angetreten werden, aber wir ignorieren diese Möglichkeit, klammern uns an den Wahnsinn, an unsere Jämmerlichkeiten, an das niedrige Niveau der Verständigung, für das wir uns in unserem täglichen Leben entscheiden. Mit unseren selbstgewählten psychischen Mustern. Der Tod ist nicht das Hauptthema des modernen Theaters, aber Tod und Arbeit beschäftigen uns sehr, in ihrem Schatten lieben wir. Was tun in einer Gesellschaft, einer Zivilisation, die den Totentanz aufführt, wie wir es gerade tun? Das Theater des sozialen Bewusstseins (es gibt kein Bewusstsein ohne soziales Bewusstsein) sollte sich mehr dafür interessieren, wie man lebt, weniger dafür, wie man stirbt.

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74 MEDITATION II. 1970 os homens perderam o ritmo da natureza e o poema ajuda os homens a reencontrar esse ritmo. arlindo castro. wenn die menschen den rhythmus der natur verlieren, hilft ihnen die poesie, ihn wiederzufinden. unter diesem rhythmus sind urteilsvermögen und handeln weniger gefährdet, auch weniger in der Lage, gefährlich zu werden. jazz, er biegt den verstand. damit man anders denken kann. er verändert die auffassung von realität, er projiziert andere bilder, er hat nichts mit politik zu tun, aber er verändert die politik. wir befinden uns in einer revolution. vor ein paar hundert jahren begann dieser lotus zu sprießen. jazz ist eins seiner blütenblätter. psychoanalyse. pazifismus. blütenblätter blütenblätter. trotzki. louise michel. 18. Jahrhundert. die kämpfe für die freiheit der rede, der meinung, freie religionsausübung, versammlungsfreiheit, pressefreiheit. blütenblätter. die bergleute. les phalanstères. nestor machno. 10 000 blütenblätter. 10 000 elemente. sieh nur . . . sie stirbt . . . während sie heranreift . . . kann man noch warten? . . . wie lange noch? entweder man entscheidet sich dafür, teil des kampfes zu sein (ein lotus ist ein kampf), oder man wird von ihm behelligt, ist seinen launen, siegen und den niederlagen unterworfen, schlamm am meeresboden, ein wrack. ich esse, ich schnorre geld, ich komme irgendwie zurecht. die weiße bourgeoise intellektuelle gemeinde wird mich unterstützen. diese sicherheit habe ich. ich kämpfe, weil meine seele unzufrieden ist: ich sehne mich nach dingen, die es nicht gibt, in meinen ohren der betäubende lärm derer, die ins gefängnis gesperrt werden: das getöse von zweihundert stimmen im stahl beton glas ziegel käfig der Tombs – dieses barbarische gefängnis in der new yorker white street – alle gefängnisse sind barbarisch – ich höre das klappern der blechteller wie eine zu laut aufgedrehte stereoanlage, viel zu laut. dieses geräusch. ich werde es nicht los, bis das letzte gefängnis fällt, es fesselt mich an die realität, weil mein leben schön ist, muss

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ich dieses geräusch in mir wachhalten, weil ich sonst an meinem kopfgeld ersticke. ich muss künstliche stimuli (spirituelle impulse) finden, damit ich den bilderstürmer, den befreier, den genossen spielen kann. wenn wir delirieren, sprechen wir davon, dass wir das antlitz gottes sehen. Ist das antlitz gottes das antlitz der menschen? jeden augenblick muss ich vorkehrungen treffen gegen die dekadenz. ich muss die pumpe mit flammender rhetorik, mit hyperbolischer poesie anwerfen, damit ich nicht schwach werde und dem garten der lüste nicht verfalle. deswegen halte ich das geräusch der tombs in meinen ohren wach, und sehe neben mir, immer wenn ich in meiner tasche nach geld suche, die entzündeten augen des bettelnden jungen in taxco, im jahr 1949. weil ich nicht schwarz bin, keine kreatur der dritten welt, nicht arbeiterklasse, nicht lumpen(proletariat), weil ich keine unterdrückte frau bin. ich bin ein kluger jüdischer aristokratischer polnischer ungarischer französischer deutscher amerikanischer surrealistischer vegetarischer homosexueller mittelklasse boheme beat hippie zippie freier und geliebter. dichter kommunist anarchist revolutionär. schleuder und pfeile der straßenjungen, die polizei, das gesetz, sind brennstoff für die maschine, die ich bin. und für meine sklavenmentalität. ich bekämpfe den schmerz, denn er gefällt mir. ich habe die ersten sieben jahre meines lebens gut gegessen. die entwicklung des gehirns hängt zu einem guten teil von der ernährung in den ersten sieben jahren ab. den kindern der armut wird also nicht nur ein voller warmer bauch vorenthalten, sondern auch der reichtum des verstands, mit dem sie geboren sind. der antrieb der schwarzen menschen ist ihre lebenswirklichkeit. ich glühe, aber sie stehen in flammen. ich kann mein öl dazuschütten, mein feuer dem ihren hinzufügen, aber das thema ihres theaters ist viel wichtiger als meine (ewige) seele, wichtiger, als dass meine vision eines anderen stadiums der menschheit realisiert wird. weil sie das wissen, können sie mich und meine angebote in ehren abweisen, obwohl wir alle wissen, dass wir uns früher oder später zusammentun müssen gegen die großen angriffe, die kommen werden, für eine lange harte zeit, unseren langen marsch. wenn ich mit leuten spreche, habe ich das gefühl, dass die leute die revolution wollen, sie wollen die schöne gewaltlose anarchistische 165


revolution, aber sie hätten gern, dass jemand anderes das für sie macht. das hat nichts mit faulheit zu tun, sondern mit furcht und zittern vor dem großen moment. das studium muss eine lektion enthalten, wie man freudig die aktion wählt. So wie in der al f’tah die initiierten lernen, lebendigen hühnern den kopf abzubeißen, hinkemann, unterwerfung, das studium muss eine lektion enthalten, wie man freudig die aktion wählt. der übergang vom passiven zum aktiven leben. danach kann man passive lebensformen genießen, anstatt sie nur zu ertragen. wenn wir sagen, wir wollen kein urteil fällen, oder wenn menschen, mit denen ich auf der straße spreche, angst davor haben, etwas zu tun, was sie in eine aktion hineinzieht, liegt das daran, dass wir nicht schuld sein wollen, nicht verantwortlich sein, keine fehler machen, und wir wollen niemand und nichts schuldig sprechen. dieses zögern ist eigentlich eine anarchistische haltung. sie ist kein zeichen eines schwachen verstands und keine mangelnde entschlusskraft, sondern die weigerung, selbst zu herrschen. ich bekomme nie alle informationen, die ich brauche. ich will die intuition hinter mir lassen: ich bin zum studium gezwungen. simon vinkenoog: „du und ich, wir sollten die schule nie verlassen.“ aber es gibt noch andere antriebe: den antrieb, gut ausgerüstet in den kampf zu gehen, genosse, die angst, unvorbereitet zu sein. das drahtseil, auf dem wir tanzen müssen. apokalypse: nicht genug zeit, das studium abzuschließen, das meint bobby seale, wenn er mao zitiert und sagt, ob wir recht haben oder nicht, wir müssen handeln, den moment nutzen. die toten und die in der ferne lebenden können mir mit ihren geordneten aufzeichnungen nicht alle antworten geben, egal wie viele nächte ich mich dem studium widme und nicht der liebe. man kommt immer an den punkt, an dem man selbst entscheiden muss. als kind hatte ich angst vor dem tag, an dem ich selbstständig sein würde. die bücher, mein vater und die autoritäten hatten mir sicherheit gewährt: wie die bibel, der talmud, marx oder mao. der moment, in dem du alleine zurechtkommen musst, ohne das kleine rote buch, aus dem herzen deiner eigenen erfahrung, mit der seele des großhirns: in den moment eintreten: alles auf eine karte setzen: das existenzielle erblühen: lebendig sein. Über einen langen zeitraum auf das übergeordnete ziel hinarbeiten. das ziel bestimmt alle kurzfristigen aktionen und beschleunigt so die totale revolution.

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wenn es nur das kurzfristige ziel gibt und keinen sinn für die langfristigen ziele, fallen die besten absichten an den reformismus, sie stärken den status quo und dienen ausgerechnet der sache, die für die schlechten verhältnisse verantwortlich ist, weil sie wesentlich ist für (1) den staat: schlechte verhältnisse sind ihm raison d‘être, denn er muss sie kontrollieren und ordnen, und (2) den kapitalismus: weil er sklaven braucht, schafft er elend. gefängnisse existieren wegen des menschlichen charakters, sagt das system. der zweck des theaters ist es, alle gefängnistore zu öffnen. das system will engagement beschränken, indem es den intellekt begrenzt, den körper betäubt, den geist ächtet und die fantasie verhöhnt: entfremdung. das theater ist ein populärer weg, jene masse zu bilden, die ihre waffen erhebt und die permanente revolution betreibt. deshalb sollte alles theater sein. eine flotte von booten, die uns trägt, bis wir stark genug sind zu fliegen und den abwärtsdrall des himmels, die bedrückende atmosphäre, umzukehren. wir müssen unser eigenes wetter machen. im rhythmus des lebens. und doch, noch während ich danach suche, verliere ich den rhythmus des lebens, alles wird unwirklich, wird mir ein gedicht helfen, ihn wiederzufinden? betrachten sie sich ihr leben lang im spiegel, und sie sehen dem tod bei der arbeit zu. Cocteau. schau den geschlechtsorganen des revolutionärs in die augen und du siehst dem leben bei der arbeit zu. schau den geschlechtsorganen des mörders in die augen und du siehst dem leben zu, wie es nach arbeit lechzt. schau den geschlechtsorganen der armen in die augen und du siehst gott bei der arbeit zu. dieses buch, das nie fertig wird. weil es teil eines prozesses ist, der niemals enden soll: das prinzip der permanenten revolution. São Paulo, Rio de Janeiro, Ouro Preto, 1970

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75 Dämmerlicht. Letzter Blick zurück. Ein Teil meines direkten Erbes ist lesen, schreiben, aufgepfropft von meiner Familie, Jüdisch. Das Judentum (entsprechend auch die Jüdische Familie) verleiht dem Geheimnis des Schreibens und Lesens sakrales Gewicht, das heilige Wort, die Verbindung zur göttlich inspirierten Vergangenheit, das Wort ist Botschaft an die ebenso göttliche Gegenwart und Zukunft, das Wort, gesprochen, geschrieben, gelesen und vertieft, war das magnetische Zentrum meiner Kindheit und Jugend, meiner frühen Jahre. Später lernte ich, was die Tat bedeutet. Wir Juden, die wir uns so stark am Kollektiv ausrichten, suchen Verwirklichung durch das Kollektiv, streben nach kollektivem Austausch durch Schreiben und Lesen. Wir suchen Gemeinschaft durch gemeinsames Studium. Das hat mit dem Sieg über den Tod zu tun. Ein neunzehnjähriger Junge mit schönem langem Haar sagt im Januar 1969, Niemand liest mehr richtig, wir haben einen Berg Bücher und lesen darin, aber niemand liest mehr ein Buch von Anfang bis Ende, so denken wir nicht. Im Jahr 1969. Das gesprochene Wort und das menschliche Gesicht: das Höchste an Erfahrung. Gutkind. Alphabetisierung. Lesen: Ritus des Studiums. „Lesen verdirbt den Charakter.“ Mao, der hungrige Leser, er beschreibt Berge von Papier, der Dichtergeneral. Lesen ohne zu handeln ist Vampirismus: aufnehmen und nichts abgeben. In Wichita sollte man wissen, was in Bogotá geschieht. In Chicago sollte man denken können, was Malatesta in Neapel gedacht hat. Pounds Huldigung an den Übersetzer: Über den Styx bringt er die toten Worte zurück. Orpheus. Der Chor. Man sollte lesen, was der Feind schreibt, damit man ihn damit vernichten kann. Man sollte Lorcas Geheimnisse lesen, weil sie die Magengrube öffnen, während so viel andere Sprache und Taten alles enger machen. Alles, was ich lese, kommt in mein Arsenal, meinen Garten, meine Fabrik, mein Weizenfeld, auf meinen Kompost.

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Alphabetisierung. Geheimnisse entschlüsseln. Schlüssel. Die quietschende Angel. Warum fördern moderne Regierungen, die das noch vor fünfzig Jahren für unwichtig hielten, inzwischen die Lesefähigkeit? Weil der moderne technokratische Staat entdeckt hat, dass Intelligenz die wichtigste Ressource einer Nation ist. Einen Aufriss zeichnen. Judith: „Ich lese zum Beispiel anarchistische Literatur, aber ich bin nicht Anarchistin geworden, weil ich so viel drüber gelesen habe, ich habe einen bestimmten Artikel gelesen, der mir durch Zufall in die Hände gefallen ist. Als ich Emile Armands Artikel über Individualistischen Anarchismus in der Anarchistischen Enzyklopädie las, ist es passiert, Julian ging es genauso mit dem Text; manchmal findet man etwas, was man schon lange gefühlt und gedacht hat, in einem Text, dann geht man in der Geschichte zurück, sucht nach Antworten auf die Fragen, die sich im Kopf verheddert haben, das kann beim Lesen passieren, aber jetzt, im Jahr 1970, lese ich hauptsächlich Zeitungen, besonders die radikale Underground Presse.“ Croissy-sur-Seine, Frankreich, 13. März 1970 Beim Lesen etwas verstehen, das über das hinausgeht, was man gerade liest. Wenn man lesen lernt, schult das den Verstand auch für andere Dinge . . . nachdenken . . . entziffern . . . Worte kombinieren . . . Dinge schnell verbinden . . . sich etwas vorstellen . . . herausfinden . . . herausfinden, wie man die Gesellschaft nach dem Mangel in eine anarchistische Gesellschaft nach dem Mangel verwandelt. Die Schönheit der Information. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 14. März 1970 Die Bücher unseres Lebens, das französische Fernsehen will mit uns über Literatur reden. So machen die das. Sie lesen nicht . . . die Reichen, die sich (Scott Fitzgerald) für etwas Besseres halten – sie schauen fern und wollen jemanden sehen, der in ihrem Haus sitzt und über Literatur spricht und ihnen, den Reichen, das Gefühl gibt, sie seien kultiviert. Du, diese bestimmte Person, erzählst ihnen dann, welche Bücher dich so smart und berühmt gemacht haben.

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Du sollst über Dichtung sprechen. Das würde heißen, dass man Neruda, Wordsworth und Breton entwürdigt. Das lehnen wir ab. Wir sprechen über Anarchismus. Wir sprechen darüber, dass Literatur – Verständigung – gar nichts bedeutet, wenn sie nicht in Taten mündet. Immer dasselbe. Blake, Brecht, Rimbaud haben uns geholfen, an den Punkt zu kommen, das zu tun, was wir jetzt tun: die Welt mit militanter Hartnäckigkeit verändern. Rimbaud im Kontext der letzten hundert Jahre. Bis vor kurzem konnte er, der changer la vie sagte, dich noch dazu bringen, dass du es versuchst. 1970 gefällt Rimbaud auch Herrn Herzenskalt und Frau Geldgier. Ob sie ihn lesen? Egal. Sie zählen ihn, wie sie auch Gold und Aktien und Bonds und Bergwerke und Immobilien zählen. Sie zählen ihn zu ihren Schätzen und Errungenschaften: Sie gehen mit Lorca um, indem sie eine Mauer um ihn errichten. Lorca, der uns an diesen Punkt gebracht hat und uns jetzt nicht mehr weiterbringen kann. Wir müssen über Rimbaud und Lorca hinaus, wir müssen über Marx und Bakunin hinaus. Über Breton und Trotzki. Buber und Gutkind. Über Gandhi. So weit haben sie uns gebracht. Das war gestern. Es funktioniert nicht mehr. Die Grausamkeit unserer Zeit ist derart, dass ein Gespräch über Bäume (Brecht) sich wie ein Verbrechen anfühlt. Wenn Worte die Revolution nicht in Gang setzen, arbeiten sie gegen unsere Interessen. Sich von Sprache nur zum privaten Vergnügen unterhalten zu lassen (während das Blut knapp wird): in diesem Sinn dienen Kunst und Literatur dem Interesse der Mörder, egal wie sehr sie das Bewusstsein erweitern. In Frankreich darf Tricontinental, die Zeitschrift, die die lateinamerikani­ sche(n) revolutionäre(n) Bewegung(en) dokumentiert, nicht verkauft werden. In Frankreich wurde gerade Carlos Marighellas Pour la Libération du Brésil verboten. Rimbaud kann man in Frankreich und Brasilien kaufen. Gebt acht.

76 SELBSTZERSTÖRUNG I Roy Harris: „Das System ist sehr stark und wirkt auf jedes Leben ein: aber es funktioniert nicht wirklich: es zerstört sich selbst:

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es bedient weder die Bedürfnisse der Gesellschaft noch die der Menschen: Nervengas! sie versenken es im Meer! sie wissen nicht, wie sie es sonst loswerden! allmählich wird allen klar: das System erhalten bedeutet das Ende des Planeten. Das System ist im freien Fall: und wir helfen dabei, dass es schneller fällt: wir stoßen.“ Selbstzerstörung: unsere sinne sind so abgeschnitten (Entfremdung) Wir sehen nicht gut wir hören nicht was geschieht riechen nicht nichts fühlen wir schmecken nicht die realität: und deshalb ist all die information, mit der wir unsere gehirne computer füttern, falsche information. Ergo: die produkte des gehirns, die gedanken, die vernunft: gründen auf fehlinformation: lüge: ergo: das gehirn selbst ist der lügengenerator: die große lüge. II Als er die Ford-Arbeiter malte und die Geschichte der Erde in seinen großen Wandmalereien in Detroit, wusste Rivera, dass die Autos nicht besser werden, nicht mit Solarenergie fahren, nicht unmanipuliert sind (frei von geplanter Obsoleszenz und kommerzieller Gier), bis der Stern der Revolution aufgeht. Rivera starb, bevor der Stern aufging und die Menschen durchatmeten. III Im Pantheon der Befreier: Gandhi, Fourier, Godwin, Proudhon, Buber, Rudolf Rocker, mit Äpfeln für die Menschen, die mit Liebknecht und Luxemburg das Ende verhasster Arbeit voraussahen: Chief Joseph, Winstanley, Alexander Berkman, mit organisierter Liebe,

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Proudhon und Marx ineinander verkrallt, um die Wahrheit zu finden, Bakunin verkündet, es darf keine Anführer geben, Emma Goldman, Simone Weil, Tolstoi, Joe Hill, Frankensteins Kreatur Thomas Merton, Éluard, Lorca, mit rückenflosse lohfarbener schwanz schwarzes schamhaar und worte geformt in seinen automatischen eiern, den feinen pflaumen. Und die Unbekannten: Richard Wei, George O’Connor, Wesley Roberts: Gesichter am berühmten Fließband von Ford: All die Gesichter von Rivera im Jahr 1934 gemalt: All die toten namenlosen Schönen: Die sich verzweifelt abrackern: Jeden Morgen in Erwartung des schwarzen Sterns: (unsere schwarze Sonne am roten Himmel) Der Morgen der schönen gewaltlosen anarchistischen Revolution: Sie alle und Rivera tot, bevor der Stern aufging. IV Möglichkeiten prüfen. Inmitten der Selbstzerstörung: Vermag das Theater der Revolution Wahrnehmung wiederzubeleben Sodass die dem Hirn verabreichte Information Nicht mehr falsch ist? Sodass schlechtes Brot (das weiß gebleichte Mehl für den aristokratischen Geschmack) nicht mehr hergestellt wird? Weil die Arbeiter sich weigern es zu tun und sagen: „Keine Selbstzerstörung mehr!“ Wenn es so weit ist, dann fällt das System. Stoßt zu. „Keine Anführer mehr!“ Wenn es so weit ist, geht Riveras Stern auf: Stoßt. Stoßt zu. Erie (Pennsylvania), USA, 15. Dezember 1968

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77 Wenn die Menschen die Rolle der heroischen Befreier spielen, spielen sie das große Theater unserer Zeit. Nichts anderes kann großes Theater sein, denn die Größe bemisst sich daran, wie sehr es den Anforderungen und dem Potenzial seiner Zeit entspricht. Der Schauspieler spielt nicht den Befreier von seinen/ihren kleinen persönlichen Problemen, wie Hamlet das tut, in einer hermetischen Umgebung, sondern auf der Bühne der Welt: die Befreiung. David gegen Goliath: das Volk gegen die Polizei: Da wurde das große Theater gespielt, und in den Südstaaten der USA, wo kleine Mädchen und alte Männer ihre schwarzen Körper vor der aufmarschierenden Masse von weißem Fleisch, weißem Gehirn in Stellung brachten und verkündeten, dass die Menschheit vom Dunkel ins Licht geht. Wir waren Zeugen, welche erbärmliche Wende die große Bewegung nahm, tragischer Fehler durch weiße bourgeoise Ansteckung, als die Anhänger des wunderbaren Luther King ihren Anteil an der bürgerlichen Produktion, dem bürgerlichen Gesetz und der bürgerlichen Ordnung forderten. Bis dahin strahlten sie vor Wahrheiten, die Hamlet sich nie erträumt hätte. In ihrer unschuldigen Schwärze strahlten sie heller als der weißhaarige Lear in seinem korrumpierten königlichen Leid. Wie korrumpiert die Theatergeschichte ist, wie sie uns getäuscht hat. Das Theater der Black Panther: sprachgewandt und anders als ihr Feind, die weiße Gesellschaft, tun sie gar nicht erst so, als wären sie gewaltlos. Sie kämpfen um das Leben und die Freiheit und für das Volk. Und die dämonischen Mächte, die vorgeben, egalitär zu sein, beweisen das Gegenteil, indem sie den Schrei des Volkes überhören. Wir kommen aus der Ära der Täuschung und merken, dass alle Demokratien ihren Betrug kaschieren, dass sie mit diesem Geldsystem nicht funktionieren können und dass Geld tatsächlich Rassismus hervorbringt. Während die Schwarzen ihre Rollen spielen und den Weißen zeigen, dass sie die Helden unserer Zeit sind, verrichten wir – die anarcho-pazifistischen Aktivisten – unsere Arbeit, wir bereiten uns vor, lernen unseren Part, trainieren, bis wir rausgehen und unseren Akt aufführen. Die Frage der Gewalt wird den anarcho-pazifistischen Kampf nicht vom Kampf der Schwarzen entfremden, zusammen machen wir das Stück, das Revolution heißt (in dessen Verlauf Rassismus, Geld und Gewalt sterben werden). Mehr

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als alle anderen Künstler-Propheten unserer Zeit zeigen die Schwarzen, wie das Stück zu spielen ist. Furchtlos. Vor allem das.

78 Der Schrei. Der Prozess. Ein zweiter Anfang: Worum es geht, wird immer klarer. Sie haben uns so wenig darüber beigebracht. Weil sie alle wirklich dachten, es sei etwas anderes. Wie schön alles ist, und wie schön wir alle sind in diesem schrecklich schönen Film des Werdens. Wie die Erfahrung von Schönheit den Schmerz rechtfertigt. Kompensation? Masochismus. So viele Irrtümer auf diesem Planeten, in den Gefängnissen unserer Gesellschaft und in unserem Verhalten, man muss einen Satz hinaus machen. Niemand zeigt dir, wie es geht. Du musst es lernen. Wie du dich dem kollektiven Denken und Fühlen öffnest. Was bringt dich endlich in die Stadt? Was bringt uns dazu, den Ausbruch zu planen, aus diesem Verlies, in das wir alle gestoßen sind. Welche vereinten Kräfte treiben uns an? Eine ganze Generation kommt in Bewegung: Wir kämpfen uns heraus. Die Kunst kann das, so habe ich vor zwanzig Jahren gedacht. Ich dachte, der praktische Einfluss der Poesie mache die Dichter zu „den nicht anerkannten Gesetzgebern der Welt“. Shelley. Ich dachte, die moralischen Kammern des Verstandes müssten nur aufgestoßen werden, so dass Fantasie und Geist des Menschen ihre Flügel ausbreiten und sich aus der Schattenwelt der materiellen Gier erheben. Bürgerliche Rationalisierung. Woher weiß ich, dass ich den Einfluss der Klasse und Kultur, in die ich geboren bin, hinter mir gelassen habe? Abspalten. Navigieren. Welle auf Welle, das Leben des Theaters. Die Hungrigen können nicht warten. Sobald jemand stirbt, ist es zu spät. Und jedes Mal, wenn eine Generation heranwächst und stirbt (im Elend), ist es zu spät. Welcher Anlass berührte den Nerv meines Innersten und ließ ihn derart zucken, dass ich aus dem Theater hinaus in die Welt getaumelt bin? Der Ödipale Drang, meinen Vater zu töten? Der blinde Bettlerjunge in Taxco? Der Versuch, mein Mittelklasse-Gewissen zu besänftigen? Wen hat der alte Marx schreien gehört? Es ist immer präsent. Das Heulen der Armseligen. Jeder kann es hören. Aber das fanatisch gesteuerte System verstopft unsere Sinne.

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Viele hören es heute Abend. Wenn wir das Geräusch hörbar machen. Welche Poesie öffnet die Ohren? Welcher heilige Akt oder Unfall? Wenn das Geräusch einmal durchdringt, wirst du es niemals vergessen, es immer hören, es lässt dich nicht los, du kannst versuchen, es abzuschütteln, aber sein Gespenst wird dich verfolgen. Das Leben ist nur zu ertragen, wenn du versuchst, diesen Schmerz zu lindern. Deshalb schreie ich im Theater, im Leben: Ich will gehört werden, ich übertrage das Geräusch, ich öffne mich und schrei die Wahrheit heraus.

79 Die Abteilung für Politische und Soziale Ordnung, Brasiliens Geheimpolizei, kümmert sich ausschließlich um zwei Dinge: „Umsturz“ (Revolution) und Drogen. Die Abteilung für Politische und Soziale Ordnung (allgemein DOPS genannt, Abkürzung für Departamento de Ordem Política e Social) ist für die Methoden berüchtigt, mit denen sie den Revolutionären Informationen abpresst. Sie haben einen handlichen Elektrogenerator, made in USA, den die US Army in Vietnam benutzte, um Feldtelefone anzuschließen, seine Drähte werden an Händen, Füßen oder dem Penis der Opfer befestigt, sie werden um Hoden oder Brüste gewickelt. Manche Opfer werden an die „Papageienschaukel“ gehängt – erst bindet man Handgelenke und Knöchel zusammen, dann steckt man eine Stange zwischen die Kniekehlen und Ellbogen und das Opfer wird zwischen zwei Schreibtische gehängt – manchmal werden die Drähte in die Vagina oder das Arschloch gesteckt. Dann wirft „der Mann“ den Generator an. Das DOPS verabreicht auch Schläge, bricht Knochen, zerquetscht Finger, steckt Gummischläuche in die Kehle oder Nasenlöcher und schüttet Wasser hinein. Manche Opfer sind so ertrunken . . . Es ist nicht uninteressant, dass diese Methoden, um an Informationen zu kommen, nicht nur bei Revolutionären angewendet werden, sie sind auch Alltagsroutine bei Leuten, die wegen Drogenbesitz verhaftet werden, auch wenn sie nur einen Joint bei sich hatten. Ich habe schon vor einer Tür gestanden, ohnmächtig, vollkommen erschöpft von meiner Unfähigkeit, etwas zu tun, während die Schreie der gefolterten Kiffer mich zerrissen. Der logische Zusammenhang zwischen Drogen-Bewusstsein und Aussteigen, zwischen Drogen-Bewusstsein und Revolte, zwischen Drogen-Bewusstsein und schwarzer Haut, zwischen Drogen-Bewusstsein und schwarzer Fahne, zwischen Drogen-Bewusstsein und roter Haut, zwischen Drogen-

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Bewusstsein und roter Fahne, zwischen Drogen-Bewusstsein und Vision, zwischen Drogen-Bewusstsein und Liebe. Sie verfolgen die Schwarzen, die Juden, die Araber, die Kommunisten, die kiffenden Studenten, die Schulkinder und die Arbeiter. Wie immer verfolgen sie viele Minderheiten – und die Mehrheit: Fünfzig Prozent der Bevölkerung Brasiliens gehören zum Lumpenproletariat. Verfolgung: der Versuch, die Gypsies auszurotten: das Kapital gegen die Generation Woodstock, Römer gegen Christen, Inquisition gegen Häretiker, Weißer Mann gegen Indianer, Bourgeoisie gegen die, die auf einem Trip sind (besonders auf einem politischen Trip), Gefängniswärter gegen Befreier. VERFOLGUNG: geistiger/materieller Völkermord: Es sind Millionen, deren Leben durch Drogen intensiviert wurde. Wofür hält sich der Staat, dass er entscheiden will, was ich mit meinem Kopf mache? Der Staat macht sich keine Sorgen um meinen Kopf, sondern um seinen. Nicht mein Staat. Problem: Psychosexuell gesehen ist die Welt in einem derart stählernen Griff aus Pervertierung und Frustration, dass der Todestrieb wie Vaseline aus allen Ritzen quillt . . . das hat Freud in unserer dunklen Kammer entdeckt . . . dieser Schublade, die man aus dem Becken zieht . . . psychosexuell haben wir uns zu einer Zivilisation entwickelt, die auf den Tod aus ist, Herr Doktor, Untergang durch Wahnsinn. Es gibt Drogen, die uns vom Todestrieb erlösen, die lebenspendende Impulse setzen: Fantasie, die Dinge zu sehen, wie sie sind, Formeln für Entwicklung auszutüfteln, Herr Doktor. Wir werden verfolgt, Herr Doktor, weil wir uns dem Tod entziehen, aber die sind zu dumm, das zu verstehen. Mit „die“ meine ich diejenigen, die alles berechnen, sie wissen nicht, wie man die Lebenslust berechnet. Wir gehen so weit, dass sie uns niemals kriegen werden. Wenn es sein muss, können wir uns an unserem Enthusiasmus berauschen. Unser Enthusiasmus, den Staat zu zerschmettern. Unser Talent, uns zu berauschen, ist unser einziger Schutz. Es lehrt uns die Geheimnisse des Lebens. Die Geheimnisse sind in unseren Liedern, während die schwere Hand des Todes die Staatsgesetze schreibt. „Es braucht viel Zeit ein Genie zu sein: man muss die ganze Zeit herumsitzen und nichts tun.“ Gertrude Stein. Damit meinte sie, dass man in den Zustand der selbst versursachten Trance gerät: Träumereien . . . im Rausch . . . Paradieskost. Das Publikum anmachen. Bewusste Wahrnehmung stärken. Den Kopf dorthin bringen, wo er noch nie war, und den Körper, indem wir die Chemie verändern. Willenskraft aussetzen. Den Willen umwandeln. Den Körper umwandeln, dem es, wie wir wissen, ihr Herren Doktores . . . nicht gut geht. 176


Wer sagt, dass wir unseren Körper schlecht behandeln, wenn wir Drogen nehmen? Wir verehren ihn und seine Fähigkeit sich zu wandeln wie der Mond, wie ein Embryo, wie ein Gedicht, ein Tag, ein Krieg. Wir können uns die Zeit vorstellen (nach dem großen Aufstand), wenn wir – befreit von den erdrückenden Verhältnissen der vorrevolutionären Welt, die uns davon abhalten, uns an Liebe zu berauschen – abheben werden, ohne Rauch einzuatmen, ohne uns Chemikalien ins Blut zu pumpen, eine Zeit, in der wir nach oben driften, hoch hinaus mit dem Auftrieb der entfesselten Fantasie und der freien Gedanken. Noch haben sie keinen Platz in der Wirklichkeit unserer Gefängniswelt. Bis dahin große Anstrengung, magische Drogen. Das Theater als Medium, um Veränderungen anzustoßen, was wir Theater der Veränderung genannt haben: Deshalb muss das Theater so high wie möglich sein: Es muss das Publikum high werden lassen: Theater als Ritual zur Befreiung des öffentlichen Bewusstseins. Horden gehen ins Theater, Herr Doktor, um high zu sein . . . frei zu sein. Weg vom Abwärtsstrudel, weg vom Untergang. Rauschhaftes Theater, wo die Menschen Ideen und Brennstoff bekommen, um über sich hinauszuwachsen. Aufstand. . . . die Verluste . . . die Drogenopfer . . . der ganze Scheiß . . . die Suchtsklaverei . . . die Höllentrips . . . die Narben . . . Jenny . . . sie sind Drogenopfer geworden, weil sie gegen alles rebellierten in dieser Welt der Trauer und des Verbots . . . freedom now . . . change life . . . Drogen als Verführung ins Leben – nicht als Rückzug, Vernichtung: das Leben muss verführerischer sein als todbringende Drogen . . . das ist die Strategie: weniger Wut, Strenge, Grausamkeit. Es gibt Drogen, die befreien, und Drogen, die versklaven. Marihuana und Haschisch befreien. Heroin und Opium versklaven. Sie werden zu Herren. Die Herren (wie Genet zeigte) werden den Sklaven zur Sucht (und Sklaven für Herren). Der Revolutionär ist gegen jede Form von Sklaverei. Das Establishment mag keine Drogen, weil es beleidigt ist, dass der Konsument den Schlüssel zum Leben ablehnt, den ihm das Establishment anbietet, er lehnt das Establishment ab. Rache. Das Establishment mag keine Drogen, weil es grausam ist. Es bestraft gern. Es jagt. Es sperrt ein. Es foltert. Seine Art zu leben (der Tod) behindert das Verstehen. Das Establishment wird niemals über die Grenzen hinausschauen, die der gefühllose Staat, in dem es existiert, seiner Sicht gesetzt hat.

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Der Staat mag die Befreier der Fantasie nicht, weil er spürt, dass die freie Fantasie den Kampf gewinnt. 1968: Das Jahr, in dem die Hubschrauber begannen, die Marihuana-Felder in Mexiko mit Chemikalien zu entlauben; das Jahr, in dem sie uns jedes Mal durchsuchten, wenn wir die Grenze passierten; das Jahr, in dem das Establishment den Krieg gegen die Drogen begann, weil sie den menschlichen Geist befreien: Pflanzen, die die Fantasie anregen, wurden ausgerottet: Fantasie, Glauben, Schönheit, Liebe, Wahrheit sind so stark wie das Atom: nach und nach entdecken wir ihre Stärke: und dann immer schneller: Wir lassen diese Kräfte frei: blühende Ekstase: die schlingernden Pflanzen: Der Traum und die Idee vom irdischen Paradies befeuern den revolutionären Aufstand. Die Struktur versucht diesen Traum zu vernichten, sie setzt ihr eigenes „Bild vom beispielhaften Leben“ dagegen. Cannabis und psychedelische Drogen zerschmettern solche Bilder und befeuern kollektive Träume. Heuchelei: Regierungen, die Drogentote beklagen, aber elektrische Drähte anlegen und Kriege führen. Die Fantasie rächt sich mit Graffitis, einer chemischen Kampagne und mit Poesie, dem höchsten Ausdruck unserer besten Gefühle und Gedanken, der banale Geist wird sich wundersam ausbreiten und die Polizei unterwandern . . . Das wird uns 20 oder 30 oder 40 Jahre kosten, was nicht lang ist, weil wir entschlossen sind: unser Leben daran zu setzen: in unserem Leben zu arbeiten, zu rauchen, aufzustehen, uns zu berauschen, aufzuschwingen, alles zu bekämpfen, was einsperrt, foltert, tötet, es zu verändern, zu verwandeln: „das ist unser Triumph“ (Vanzetti), unsere unvermeidliche Ekstase, ich bin jetzt high und ich weiß: wenn es Essen gibt und Liebe und Freiheit – post-Mangel kommunistischer Anarchismus – dieser Zustand ist einfach unwiderstehlich, unvermeidlich. Sein Spirit steckt im Gras . . . Wenn die Regierung der Vereinigten Staaten Weizen und Marihuana verbrennt, bedeutet das mehr als nur etwas Mystisches . . . Ferrara, Italien, Mai 1966 Haftzelle, Department für Politische und Soziale Ordnung (DOPS), Belo Horizonte, Brasilien, 15. August 1971

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80 DIE ZOFEN Als ich das erste Mal das schwarzseidene Höschen anzog, hatte ich sofort einen Ständer. Im Hüfthalter fühlte ich mich erniedrigt. Es fühlte sich gut an. Ich wurde zum Gefangenen in Stöckelschuhen. Es überlief mich heiß und kalt. Ich delirierte. Ich wollte buckeln und getreten werden. Ich zog die schwarze Uniform der Sklavin an, und das Gefühl der Unterwerfung warf mich völlig aus der Bahn, ich wollte, verlangte Madames Dominanz, erst das brachte mich wieder auf meine Bahn. „Es ist ein Stück über den Menschen in der Rolle der Zofe.“ Judith. „Es ist ein Stück über Klassenstruktur. Über Folter. Es ist ein Stück über die Revolte der unterdrückten Klasse, und es handelt auch von ihrem Unvermögen, die Revolte umzusetzen. Sie können nicht aufhören, Madame nachzuspielen und genau das zu wollen, selbst Madame sein.“ „Toujours l’esclave a singé le maitre.“ Proudhon. Als ich das Höschen anzog, fühlte es sich echt an, und ich gab mich dem Gefühl hin. Als hätte ich die Maske abgenommen und sie nicht angezogen. Das Vergnügen und die Erniedrigung und all die Illusionen, das spielte ich in Die Zofen: die Erniedrigung und die Illusionen der dienenden Klasse, die schäbige Grandezza der Oberschicht, die schäbige Grandezza der Illusionen, die schweinische Mimikry: die korrupte Psyche der Zofen und meine korrupte Psyche und die der Menschheit. Deshalb wollte ich Die Zofen spielen und das zeigen. Es ist ein glänzendes Stück: damit meine ich, dass es Licht abstrahlt, es ist rayonnante. Man kann es nicht mehr spielen, weil der Theaterstil, für den es konzipiert ist, die Klasse anspricht, deren Position zerstört werden muss. Die Genet zerstören will. Und wir alle. Die Klasse, für die Die Zofen geschrieben ist, die Oberschicht und ihre Intelligenzia, fasziniert die Masse mit ihren Chanel-Garderoben und ihrem intellektuellen Ballett, ihren panaches des mots, dem Wortschwall, Blendwerk, der Mystifizierung und mit der Peitsche. Meine Begeisterung für Männer, den männlichen Körper, hat mal masochistischen, mal sadistischen Charakter: bis zur Taille bin ich homosexuell. In den meisten Nächten. Und runter bis zum Hals. Meine Begeisterung für Frauen, den weiblichen Körper, ist eher erotischer Art; aber es ist selten, dass mein Körper aus purem Eros reagiert.

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Müssen wir als Nebenprodukt des Industriekapitals nicht mehrere Generationen mechanisierter, kalter, entfremdeter Väter dazuzählen? Ist das nicht auch für ein psychosoziales Phänomen verantwortlich? Menschen, die einen Vater suchen: ein Aspekt des homosexuellen Syndroms: all diese Menschen, die die entfremdete Liebe ihrer lang verlorenen Väter zurückerobern müssen: Kampf zwischen Eros und Kastensystem? Masochismus als Bindeglied zur altruistischen Liebe. Judith. Meine eigene Suche nach männlicher Liebe ist darauf aus, der industriellen Eiszeit Körperwärme abzutrotzen. Das ist Teil meiner Revolte. Wenn das Verhältnis sado-masochistisch ist, resultiert das auch aus der Gefühllosigkeit der Eiszeit; Sadismus/Masochismus sind Mechanismen, überhaupt etwas zu spüren, auch wenn es Schmerz ist. Wie Artaud vermutet hat, kann Schmerz die Tür zu anderen Gefühlen aufstoßen, und das spricht für die Verbindung zwischen Masochismus und altruistischer Liebe, von der Judith spricht. Altruismus ist revolutionär. Wie die Liebe. Weil er sich als Sklave fühlt (durch sexuelle Neigungen) identifiziert sich der Masochist mit den Sklaven und mit (ihren) Leiden: Das ruft altruistische Gefühle hervor. Der Akt der Identifikation führt dazu, dass er sich für das Wohl der Sklaven als Klasse interessiert. Er führt also zu revolutionärem Handeln, das – Genet betont das öfter – erfolgreich sein könnte, würden die Sklaven (die Zofen) ihre schizophrene Lust aufgeben, die Herrschaft zu spielen. Das ist der Trick: auf sexuellem Weg neues Vergnügen (Werte) in die Kultur (die Psyche) einspeisen.

81 MEDITATIONEN ÜBER DAS THEATER II Stanislawskis Theorie hat darauf abgezielt, dass der Schauspieler seine Erfahrung so nachbildet, dass sie beinahe existenziell ist. Indem es zum Ritual zurückkehrt, indem es sein Aktionsprogramm aufstellt, versucht das Theater unserer Zeit, Formen zu finden, in denen Entfremdung durch Integration des Lebens ersetzt wird. Ouro Preto, Brasilien, 29. November 1970 Mit meiner aktuellen Arbeitsweise rebelliere ich auch gegen mich selbst. Ich bringe die Ordnung meines Lebens auf die Straße, reiße die Mauer ein,

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hinter der die Kunst verborgen war, ich stelle mich dem Tageslicht, blicke um mich und sehe keine Kunst, noch nicht, vielleicht wird sie nie kommen, vielleicht braucht sie das nicht, und es kommt mir so vor, als ob ich etwas erschaffe, von dem ich nichts weiß, etwas, das ich erst während des Erschaffens entdecke. Der Performer hat immer Angst vor der Bühne. Dein ganzes Leben steht auf dem Spiel. Ich habe Angst vor der Straße. Dein ganzes Leben steht auf dem Spiel. Buber. Das Theater: eine Form, die wir geschaffen haben, um etwas herauszufinden, mit ihrer Hilfe reisen wir zu den unerforschten Inseln Geist, Körper und Sein. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 27. Januar 1970 „Die Poesie macht unsterblich, was in der Welt das Beste und das Schönste ist.“ Shelley. Aber Whitmans Werk ist zu fünfzig Prozent von seinem einfältigen Patriotismus unterminiert, seiner mangelnden Vision von politischem Handeln, seiner grotesken Kriegstreiberei; er ist auf eine niedrigere Bewusstseinsebene zurückgefallen. Fünfzig Prozent von Shakespeares Werk sind beschädigt von seiner Unentschlossenheit, seinem eleganten Ausgleichen in einer unausgeglichenen Welt, seinem Unvermögen, etwas gegen die Struktur zu tun, die Gefühllosigkeit, die Churchills Zeitalter ankündigt, und mit herrlicher Sprache verbreitet er Lügen, entwertet das heilige Wort durch Falschheit, kein Wunder, wenn wir rufen: „Verbrennt die Texte!“ Mein eigener Blutverlust ist mir bewusst. Fünfzig Prozent meines Lebens . . . Reggio Emilia, Italien, April 1966. Cefalù, Sizilien, März 1968 Als wir Paradise in Cefalù auf die Bühne brachten, merkten wir, es ist Teil einer Trilogie; Frankenstein ist die Hölle, Paradise Now das Purgatorium und das nächste Stück wäre vielleicht das Paradies. Wir nennen es: The Legacy of Cain (nach Sacher-Masoch). Schauspieler/Schauspielerinnen! Nieder mit Stanislawski! Er, der die Schauspielkunst als Kunst der Charakterisierung kultiviert hat: Entfremdung ist unser langsamer Tod. 181


Die Dämonen, die Furien. Hilfe. Eilt herbei. Und dieses tiefe, summende Geräusch. Die ganze Zeit. São Paulo, 7. Januar 1971 Allmählich verstehen wir, dass Konversation und das Leben als solches Kunst sind. Das Aufnahmegerät ändert unsere Auffassung von der Welt auf revolutionäre Weise, indem es einen neuen Wert bereitstellt, der die Revolution voranbringt. Ein neu erwachtes Bewusstsein davon, dass Dialog und nicht Konversation den Regeln des Esprits gehorcht. Esprit: eine Hürde. Es geht nicht mehr darum, zu gewinnen, sondern zu kommunizieren, weil Kommunikation Gewinn ist. Deshalb haben, wie McLuhan zeigt, die Medien einen entscheidenden Einfluss auf unser Verhalten. Schnappt euch die Medien: kommuniziert. Übernehmt die Medien, oder besser, erfindet sie und kontrolliert das Verhalten. Damit den Menschen klar wird, dass Leben Kunst ist, dass es über die Kunst hinausgeht, dass alle Menschen Künstler sind und würdig. Dann könnten wir diesen Genius vielleicht in unser Leben holen. Auf den Zufall können wir nicht warten. Zwischen San Francisco und Los Angeles, 23. Februar 1969 Der Künstler: Antennen der Rasse. Pound (von McLuhan zitiert). Manche Dinge muss man sein lassen, damit man etwas anderes anfangen kann. Und deshalb muss das Leben des Theaters aufhören, damit es am Leben bleiben kann. Und deshalb muss es enden, damit es anfangen kann. Genau wie ich dieses Buch beenden muss, an dem ich festhalte, wie man an alten Ideen festhält oder an Kindern. Das Leben in Besitz umwandeln, in etwas, das man hat, haben statt sein (Guy Debord), deshalb muss, um den Traum ins Leben zu rufen, dieses Buch beendet werden, dieses Leben und die Kontakte aus der Vergangenheit. São Paulo, 7. Januar 1971 Theaterarbeit als Befreiung der Träume: Ideen in aktives Handeln umwandeln. Porto Alegre, Brasilien, 14. Februar 1971

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82 MEDITATIONEN 1967–1971 (1930–1971) Hoffnung existiert nur in der Fantasie. Ohne Hoffnung können wir nicht leben, deshalb können wir nicht ohne Fantasie leben. Die Arbeit besteht darin, die Fantasie der Menschen freizusetzen. Rio de Janeiro, 13. September 1970 Dieses Gemisch aus Dunkel und Licht, das die Fantasie der Menschen ist: Das Mysterium der Fantasie ist die Erweiterung des Universums. Ist es denn möglich, sich etwas vorzustellen, was nicht wirklich ist? Das Universum ist mysteriös und insoweit es mysteriös ist, bin ich ein Mystiker . . . Ich verlasse mich nicht auf mysteriöse Mächte, die ich nicht verstehe, aber ich weiß, dass ich mit ihnen rechnen muss . . . Modane nach Saulieu, Frankreich, 4. Dezember 1969 Gibt es denn nun Dämonen? . . . Gnostizismus: Dämonologie: die Furien: Wir alle sind von ihnen besessen. Und wer ist frei? Die Furien? Nein, nicht mal sie. Das kommt obendrauf auf alle Probleme: Keiner ist frei, bis wir nicht alle unsere Dämonen losgeworden sind. Weil meine Dämonen mich vielleicht dazu bringen, auf dich einzuschlagen. Diese Dämonen des Charakters, der Persönlichkeit, der Veranlagung, des Ehrgeizes, der Macht, der Rache, des Geschlechts, Dämonen des Geschlechts und geschlechtslose Dämonen. Studiere Dämonologie. Dann den Prozess des Exorzismus. Ich will, dass sie weggehen, aber sie gehen nicht weg. Sie gehen nicht weg, weil ich sie sehe (bewusste Wahrnehmung): auch im Sonnenlicht verschwinden sie nicht. Sie bleiben, weil sie wie die Materie nicht zerstörbar sind. Wie die Materie können sie umgewandelt werden, aber nicht, weil du oder ich es erzwingen (es wollen). Sie verwandeln sich in: Engel? Engel! Das Himmlische! Wenn das Gute interessanter geworden ist als das Böse. Berdjajew. Sieh dir an, wie Exorzismus funktioniert. Brescia, Italien, 24. Oktober 1969

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Die Fantasie befreien: hohe Sprache: hier ist die Wahrheit zu finden: Coleridge! Das Bedürfnis, die Literatur in meinem Leben zu vernichten. Die Faszination am Linearen, meine Jüdischen Augen. Habgierig: vom Baum der Erkenntnis Gutes und Böses essen, und nicht, noch nicht, vom Baum des Lebens. Paris, 2. Dezember 1967 Seit mehr als zehn Jahren arbeite ich jetzt daran. Schreiben. Ich nehme die Fragmente meines Geistes und schiebe sie hin und her, bis etwas zusammenpasst. Der Dämon verlangt, dass ich zu beschäftigt bin, dieses Buch zu leben, als dass es mir gelingen könnte. Judith: Schreiben – das muss ich zwischendurch machen; Literatur – nie darf sie meine Arbeit beschneiden. São Paulo, 6. Februar 1971 Die Jugend unserer Zeit – die elektrische Generation – spielt in keinem Stück mehr mit drei Akten auf einer Guckkastenbühne. Sie schreiben ihr Leben anders auf, nicht in der Form von Figuren, denen dies und das passiert, ihr Drama sind die elektrischen Medien, es ist ihre planetarische Dimension, eingestimmt auf Zyklen und Megayzklen, der Inhalt ist neu, das Format hat nichts mit Literatur zu tun, sie kennen die ägyptischen Papyri, die griechische Anthologie, sind ihnen aber emotional nicht verpflichtet, für sie ist Literatur kein Dogma, sie vergöttern Autoren nicht so wie Genets Zofen ihre Madame vergöttern – zu ihrem eigenen Verderben; sie komponieren eine andere Art Stück, das elektrisch ist, frei; und geschriebenes Recht wird sie davon nicht abhalten. In ihrer Fantasie ist Hoffnung . . . wenn sie befreit werden kann . . . Mohammedia, Marokko, 9. Juli 1969 Wo komme ich her, und woher kommt dieses Buch? . . . Autobiografische Bezüge: 1930: Meine Mutter wollte nicht, dass wir mit Gewehren spielen? 1931: eine Vorstellung von Humperdincks Hänsel und Gretel? Frühe Rhetorik: 1936 sage ich zu meinen Freunden: „Ich kämpfe nicht mit Fäusten!“ (Hab ich trotzdem getan.) Mit sechzehn: homosexueller Verkehr mit masochistischer Fantasie. Ich verstand, dass Sex revolutionär ist, wenn er außerhalb „gesellschaftlich“ vorgeschriebener Grenzen stattfindet,

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besonders mit Jungen und Männern. Der Künstler als jemand, der mit dem eigenen Leben experimentiert und versucht, Verhaltensgrenzen zu verschieben. In folgender Form: als Bohemien 1942. 1943: Ich verließ Yale, weil ich mich, wie alle Aussteiger, einer Sache, an die ich nicht mehr glaubte, nicht unterordnen konnte, ob es mein Zuhause war, mein Vaterland oder meine Kirche. 1943: Politik: Künstler kritisieren das Leben in den USA. Pound. 1943: Kommunismus: Damals war klar, dass das demokratischkapitalistische System ein Schwindel ist. 1948: Judith zeigt mir Armands Stück über Individualistische Anarchie (neu gedruckt in „Resistance“) und es schlägt ein wie ein Blitz; Der Guru Paul Goodman sagte ständig „Anarchie! Ich bin ein Anarchist!“ und erklärte, was das hieß, 1949 übernahmen wir die politischen und sozialen Parolen des Anarchismus, die sich bis heute über den Planeten ausbreiten; in den 1930er Jahren wurde Anarchismus von den Stalinisten in Spanien ausradiert, genau wie er von Trotzki und Lenin 1921 in Kronstadt ausradiert worden war, und 1919 in der Ukraine, aber seine Prinzipien blieben erhalten, in den 1960er Jahren erlebten sie eine kraftvolle Wiedergeburt: Die Politik und der Lebensstil der neuen revolutionären Generation fand die Glut in der Asche und nährte sie mit dem Atem ihres Lebens, ihrem Kampf gegen das sozialistische und kapitalistische Establishment: für eine freie Gesellschaft mit Essen und bedingungsloser Freiheit für alle . . . Die Theaterarbeit. Was war damit? Sie war immer nur Berufung, Mittel zum Zweck. Rio de Janeiro, 17. November 1970 Brasilien, Dezember 1970 Panik: Eine Dringlichkeit, die im Bauch sitzt, Angst. Noch achtzehn Tage bis zur ersten Vorstellung von Favela Project #1: Christmas Cake for the Hot Hole and the Cold Hole: der erste Stern für The Legacy of Cain. The Legacy of Cain: konzipiert als Konstellation mit Nebel, roten Supergiganten, Massen glühender Gase, Cluster aus dutzenden Sternen (in den Hyaden, den Hörnern des Taurus: ungefähr 150 Sterne), Sterne der zweiten Ordnung, die Plejaden an der Schulter des Taurus: ein offenes Cluster von mehreren hundert Sternen, Sterne der dritten und vierten Ordnung, und blaue Zwerge, Asteroidengürtel, Planetensysteme, eine Konstellation, die in einer Stadt oder einem Dorf aufleuchtet, in den Städten anhaltender – zwei, drei Wochen und länger, vielleicht wird ein Dorf wie ein Komet für ein, zwei Tage in Licht getaucht. Über Monate ist diese Arbeit work in progress gewesen. Im letzten Winter, also vor fast einem Jahr, begannen wir in Croissy-sur-Seine damit; und 185


heute, achtzehn Tage vor der ersten Vorstellung . . . ist das Favela-Stück nicht mal halb fertig . . . Aber es steht auf einem festen Fundament. Als habe mein ganzes Leben zu diesem Punkt geführt: Das Theater ist auf der Straße. Panik, diese Dringlichkeit sitzt im Bauch. Nachdem wir fünf Monate darüber diskutiert hatten, brachten wir Antigone in siebzehn Tagen auf die Bühne, dreizehn bis vierzehn Stunden Probe am Tag. So läuft es oft. Adrenalin, die Muse. An Frankenstein haben wir elf Monate gearbeitet, das meiste passierte in den letzten zwei Monaten: Die letzten Wochen vor den Premieren in Venedig und Cassis waren die Feuerprobe. In all unseren Produktionen ging es in den letzten Wochen sehr hektisch zu. Als trete die Muse erst hervor, wenn Panik ausbricht. Versagensangst? Auch. Der Junge in Mexiko. Sein stiller Schrei. Ich arbeite fieberhaft, um ihm gerecht zu werden. 1949: Judith und ich streifen in Taxco, Mexiko, durch die Straßen. Eine Junge nähert sich uns von hinten. Er bettelt um Geld. Wir drehen uns um. Er hat keine Augen. Triefende Wunden statt Augen. Ich gebe ihm alles Kleingeld, das ich in meinen Taschen finden kann. Alles Geld habe ich ihm nicht gegeben. Nur mein Kleingeld. Und wir rannten, wir rannten weg von ihm, und rannten gleichzeitig auf ihn zu, den Millionen entgegen, die sind wie er. Judith ist bei dem geblieben, was sie damals verstanden hat: Unsere Arbeit muss darauf zielen, seinen Schmerz auszumerzen, seine Armut, seine Krankheit . . . und ihre Ursachen. Der Schwur von Taxco. Während wir jetzt, im Jahr 1970, am Favela Projekt arbeiten, wenden wir uns ihm und seinen Millionen Doubles zu. Aber wir rannten so weit weg von ihm. Im Angesicht des Ozeans seiner Leiden wird uns klar, wie klein unser Theater ist . . . Beeil dich. Ouro Preto, Brasilien, 2. Dezember 1970 Fragen 1969 (II): Dämonen: Gnostische Interpretationen: Was ist gut? Was ist schlecht? Will sagen, was ist Ethik?

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Wie können wir sie organisieren? „Dichtung und das Prinzip des Selbst, wovon Geld die sichtbare Verkörperung ist, sind der Gott und Mammon dieser Welt.“ Shelley. Was ist Geld? Artaud: „Ich bin ein Mann, der nicht ganz ich ist.“ Natürlich! Weil ich es so will: Ich will nicht Ich sein. Muss das Selbst erst umgewandelt werden, bevor wir uns von ihm befreien können, aber wie? So lange können wir nicht warten, es muss einen Punkt geben, von dem an wir ausreichend vorbereitet sind, über uns hinauszuwachsen. Wo liegt dieser Punkt? Wenn wir uns wie Adam und Eva gegen die Autoritäten zusammentun, sind wir bereit, unsere unreife Auffassung aufzugeben, dass sich im Universum Mächte bekämpfen. Haben wir genug Zeit zwischen jetzt und dann? Toulouse, Frankreich, Mai 1969 „Nein, nichts ist einfach, weder Essen finden noch es schlucken und auch nicht, es zu drinnen zu behalten.“ Judith. Was ich im Theater gemacht habe, ist mir nie leichtgefallen. Was bedeutet das? Ich will nicht sagen, dass ich mir absichtlich nur schwierige Projekte gesucht habe, sondern dass es nie leicht gewesen ist. Auf die Bühne zu gehen ist immer schwierig. Zuerst dachte ich, ich hätte Angst, den Text zu vergessen oder zu stolpern. Angst vor Demütigung. Eine zu simple Erklärung. Zuerst dachte ich, der Performer hat Angst vor dem Auftritt, weil das Publikum im Dunkeln hockt wie das Grauen, eine anonyme Brut, wie der König, der all jenen lettres de cachet schickt, die ihm missfallen, wie der Verrückte, der grundlos mordet, der Mob, der faule Eier und Tomaten wirft, das Hinrichtungskommando, der Mann in der schwarzen Robe, der unter Messingadler und Fahne thront und urteilt, der Schatten. Dann erkannte ich, dass das Publikum ein Geliebter ist, den ich nicht enttäuschen will. Dann wurden aus dem Publikum die Menschen auf der Erde, denen die Performer Botschaften aus dem All überbringen: Durften sie ihnen sagen, dass dort nichts ist? Oder dass sie nie angekommen sind? Dass dort niemand ankommen kann? Dann wurden die Hypothesen getestet: Ich spielte Stücke, in denen es keinen Text gab, das Licht im Zuschauerraum ging an und wir sprachen mit dem Publikum, aus dem Publikum wurden Menschen, Individuen, wir traten mit ihnen in einen Dialog. Dann warfen sie Eier und Tomaten: In Frankreich im Frühjahr 69 badeten uns die Rechten nach 187


den Aufführungen von Mysteries in kaputten Eiern, um ihr Missfallen an unseren Worten und Taten auszudrücken; aus Wut und Enttäuschung darüber, dass wir unsere radikalen Ideen und die schwarze Fahne der Anarchie ausgerechnet auf der Bühne einer bourgeoisen Institution zeigten, bombardierte die militante Linke die Bühne mit Tomaten und Krachern. Wir, die wir der Gesellschaft sagten: „Zerstört die Struktur, verwandelt euch, verlasst den Kokon, häutet euch“, waren noch da, in den Räumen der Theater: Die Studenten gingen uns mit der Wahrheit an: Wir mussten da raus. Es war schwierig, aber nicht unmöglich. Was getan werden muss, ist immer schwierig, aber ich wollte es noch schwieriger machen, denn je schwieriger es wird, desto leichter ist es: Es hat etwas damit zu tun, wie Energie entsteht. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 6. März 1970 „Ich bin im Wald“ (Jackson Pollock) „Ich bin im Wald und das ist die Stadt und das male ich.“ Ich bin im Theater, und ich mache das. Ich bin im Theater und das Theater findet auf der Straße statt und ich verlasse das Theater und gehe auf die Straße und das Theater ist schon da und ich gehe hin und mache es dort. Brüssel, 14. Dezember 1969 Der Widerspruch meines Lebens: der Widerspruch dieses Buches: Dieses Buch ist die dringende Bitte meines Lebens an mich selbst, ich beschwöre meine Welt, Hymne an die intellektuelle Schönheit, hör auf, immer nur uns anzusprechen, das ist Onanie, Inzucht, einsam, ab sofort zeigst du den Menschen die Schönheit, die Rätsel aufgibt und ihren Hunger nach Leben weckt. Wenn dieses Buch fertig ist, endet vielleicht das zweidimensionale Leben unter meinesgleichen auf dem Plateau, und es entsteht ein Leben in unzähligen Dimensionen . . . das Leben gegen den Tod, Einigkeit . . . Der Widerspruch dieses Buches, meines Lebens: der Versuch, eine Moral (unter anderem) zu schaffen (oder auszudrücken), die nicht bourgeois ist, obwohl ich es bin, wie mein Wissen, mein Wesen, meine Prägung. Ich bin der, der seine Klasse rücksichtslos verraten wird, weil ich den Paradiesvogel gesehen habe, wie der Sommer ist er vorübergeflogen, und ich habe sein fabelhaftes Lied gehört, es beginnt so: „Die beste Regierung ist keine Regierung. Mausert euch, mausert euch . . .“ Drain (Oregon), USA, 27. Oktober 1971

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83 In dem Jahr, in dem die Kultur starb, 1968, schufen wir in Avignon Paradise Now. Während wir im späten Winter und Frühjahr des Jahres im sizilianischen Cefalù daran arbeiteten, während wir die Dialektik einer gewaltlosen anarchistischen Revolution ausarbeiteten, waren wir schon Teil der Bewegung, die in diesem Jahr die ganze Welt erfasste, Frankreich im Mai. Zeitgeist. Das Hier und Jetzt zwang uns, uns vom Festival zurückzuziehen, wir hatten keinen Grund mitzumachen; wir erkannten, dass all diese Festivals die Konterrevolution sind. In jenem Jahr begann die Kunst zu verschwinden, all die schöne hochgeschätzte Kunst, die wir für die höchste Form der Erfahrung gehalten hatten. In jenem Jahr begannen wir, zu verstehen, dass Kunst die Struktur stützt. All diese Festivalkunst, die den privilegierten Zuschauern vormacht, Gottes Antlitz sei in den Produktionen des Festivals zugegen. Gottes Antlitz ist bekanntlich immer zugegen für den, der schaut. Aber zuschauen bedeutet auch, sich nicht zu verstecken. „Adam versteckt sich, um nicht Rechenschaft ablegen zu müssen, um der Verantwortung für sein Leben zu entgehen; so wird sein Dasein zu einem Versteckapparat ausgebaut. Und indem der Mensch sich so ‚vor dem Angesicht Gottes‘ versteckt und immer neu versteckt, verstrickt er sich immer tiefer und tiefer in die Verkehrtheit.“ Buber. Wenn man sich vor den Menschen versteckt, versteckt man sich vor dem Antlitz. Wenn du Kunst anschaust und Festivals, an denen das Volk nicht teilnehmen kann, weil es aus wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Gründen ausgeschlossen ist, ist das eine Art, sich vor Gott zu verstecken. Zwei spezifische Vorfälle dienten als Vorwände, vom Festival zurückzutreten. Erstens wurden die Vorstellungen von Paradise Now untersagt (wir sollten Antigone spielen); zweitens wurde uns untersagt, auf den Straßen von Avignon zu spielen. (Am Abend bevor wir verkündeten, dass wir nicht am Festival teilnehmen, hatten wir, als wir im Arbeiterviertel Champfleury Mysteries auf den Straßen spielen wollten, fünfundsiebzig bewaffnete Polizisten am Hals. Aber in unserer Erklärung wollten wir die wahren Gründe für unsere Entscheidung benennen. Es waren elf Punkte, und in der Mitte erklärten wir, dass wir zurücktreten, weil: 6. Man kann nicht Gott und Mammon gleichzeitig dienen, man kann nicht den Menschen und dem Staat gleichzeitig dienen, man kann nicht gleichzeitig die Wahrheit sagen und lügen . . .

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7. Für uns ist endlich die Zeit gekommen, wo wir uns weigern, denen zu dienen, die wollen, dass das Wissen und die Kraft der Kunst nur denen gehört, die dafür bezahlen und die das Volk im Dunkeln halten wollen, die für die Mächtigen arbeiten, die über das Leben des Künstlers und des Volkes bestimmen wollen. Als die Kultur nach 68 tödlich getroffen war, begann die internationale Verschwörung ihr Werk. Wir suchen andere Wege aus dem Labyrinth, wir haben keine Karte, und der Minotaurus (Mammon) lauert hinter jeder Ecke; und während wir uns durch die Gänge stehlen, haben wir jenes Mantra auf den Lippen „Venceremos . . . venceremos“ . . . kriechen irgendwann, im Oktober 1970, in Rio de Janeiro durch den Dschungel: Wo? Was? Wie? Schwierige Umstände, ungewohnte Probleme, fremdes Terrain. Ich habe Angst davor, Klassenschranken zu überwinden, ich schwitze, knete meine Hände: mich fremd fühlen unter den Arbeitern, dem Lumpenproletariat, den Bauern, den Ausgegrenzten, den Ärmsten der Armen, ich kenne sie nicht, meine Sprache stockt, wenn ich mit ihnen reden will. Ich bin schlecht ausgerüstet! Schlimmer: Nachts, beim Einschlafen, gleite ich in nostalgische Träumereien, die Jahre, als wir mit VW-Bussen durch Europa fuhren, bekifft, als wir die Landschaft betrachteten, kaum Geld hatten, es aber immer irgendwie ging, ich erinnere mich an die Theater, in denen uns freundliche Zuschauer empfingen, uns dankten. „Nostalgie ist reaktionär . . .“ All diese Sicherheit ist dahin. Nichts passt mehr zusammen, alles ist ein bisschen verschoben, sagt Joe Chaikin . . . Das ist ein Glück. Ich weiß das. Aber ich fühle es noch nicht. Ich bin jetzt des-illusioniert. Gut. Aber ich bin auch beunruhigt; diese Reise ist keine Theatertour. Die bourgeoise Struktur schenkt ihren Trost den wenigen, versorgt sie mit leiblichem Wohl und intellektuellem Trost. Um sich damit wohlzufühlen, muss man entfremdet sein. So entsteht eine entfremdende Kultur, in der man zwar alles halbwegs versteht, aber nichts tut, sich intellektuellen/kulturellen Trost verschafft, um das Unerträgliche ertragen zu können, um ein kurzes Leben zu leben und dann zu sterben. Der bequeme Weg zum Tod. Vielleicht findet man auch unter widrigen Umständen die Werkzeuge zum Leben, auch der Steinzeitmensch ist irgendwie zurechtgekommen. „Was mir gefällt“ hat damit nichts zu tun. Der Person, die den Stoff für meinen Mantel macht (Marx), „gefällt“ ihr Job auch nicht. Dem Arbeiter in der Kleiderfabrik gefällt das nicht, bis die Struktur sich ändert. Ich

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bin und bleibe privilegiert; ich tue immer, was ich will, auch wenn es mir nicht gefällt. Auf dem Bauch krieche ich durch die Favelas von Rio, durch Dreck und Scheiße, voller Angst, zögernd, unsicher, um mich weht der Wind, Nacht, ich spüre etwas, das ich nie zuvor spürte, ich frage mich, was es ist, es lässt sich schwer identifizieren, weil es so neu ist, aber mein Herzschlag stimmt es an: ein Gefühl von Stärke, und die Furcht, die ich habe, ist keine Schwäche – früher, mit meiner Sicherheit, meinem wachsenden Ruhm, ist meine Schwäche gewachsen – diese Furcht ist der Schrecken, der sich mit der Wahrnehmung von Stärke einstellt, und zum ersten Mal in meinem Leben merke ich, dass die Kultur, die Lebensweise, die früher an mir zehrte, mich geschwächt hat, obwohl sie mir zu Medaillen und zu Trost verhalf, aber jetzt erlebe ich, wie es ist, von unten nach oben zu kommen, von der Illusion zur Kraft. Rio de Janeiro, 11. Oktober 1970

84 DOKUMENT: ERIC GUTKIND ÜBER DAS WAS IST ZU TUN 1. „Heute folgt die Messianische Bewegung Marx und nicht Jesus.“ 2. „‚Der Mensch ist der Messias der Natur.‘ Novalis. Gott hat ein weltliches Schicksal.“ 3. „Gott ist abwesend, weil wir abwesend sind.“ 4. „Wirkliche Veränderung wird nicht durch Politik erreicht, sondern durch Philosophie.

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5. „Ein Ritual betreibt immer das ‚Frei-lassen‘.“ 6. „Das neue Zimzum (‚Frei-lassen‘) wurde von Gott an den Menschen delegiert. Der Mensch antwortet. Er antwortet, indem er sich von den drei ‚Nichts‘ oder den drei ‚Dingheiten ‘ (Bilder, Kräfte, Dinge) zurückzieht und zu seiner ‚Essenz‘, seinem ‚Schicksal‘ zurückkehrt. Von allem entfesselt. Jede Form von Besitz, Macht und Privileg ist die stärkste und wirkungsvollste Form der ontischen Perversion. Deshalb wäre eine echte Revolution im tiefsten Sinn ein rituelles Muster.“ 7. „Das Opferritual war ein NEIN zum ‚Haben‘, ein Akt des ‚Frei-lassens‘ (Zimzum). Das neue Frei-lassen (Zimzum), das neue Auf-brechen (Shevirah), die neue erste Wahl (Kissutz) ist die wahre Demarkationslinie. 8. „Das Ritual steigert alle unsere Fähigkeiten zum Maximum und ermöglicht uns, mit höchster Intensität zu leben. Die eingedämmte körperliche Kraft des Volkes kennt beinahe keine Grenzen. Sie konzentriert sich im Inneren.“ 9. „Im Reich der Natur gibt es keine Ethik, nur Macht. Die Natur ist gnadenlos. Ethik ist ausschließlich das Gesetz der Menschheit.“ 10. „Der Mensch ist die Freiheit des Universums, der Natur. Er kann über sich selbst hinauswachsen.“ 11. „In echter Kommunikation würde ER erscheinen. Des Menschen Furcht ist die Furcht vor SEINEM Erscheinen.“ 12. „Der Pfad – der Sprung – Da!! Die Hoffnung liegt im Plötzlichen, nicht in der Evolution.“ 192


13. „Der nächste große Schritt ist das Frei-lassen (Zimzum) des Menschen!“ 14. „‚Oben und jenseits‘ ist nicht etwa Himmel; nur der Mensch, der weiter aufsteigt.“ 15. „Das Ego-Selbst aufgeben: Kapital und Staat aufgeben.“ 16. „Heiligkeit (Kadosh) bedeutet ‚erhoben‘, ‚ins Freie entlassen‘.“

85 „Ein Gespenst geht um in Europa In der Welt Wir nennen es Genosse.“

Rafael Alberti: Spanien, 1936.

„Das verbale Delirium der Intellektuellen.“

Luis Mercier Vega: Roads zu Power in Latin America.

Utopische Rhetorik, wenn sie erst umgesetzt ist, brauchen wir sie nicht mehr. Utopische Rhetorik, utopische Poesie, der tatsächliche utopische Traum zieht uns wie das ewig Weibliche (Inspiration) ewig hinan. Solange die Wirtschaft Geldwirtschaft ist, brauchen wir autoritäre Strukturen (vom Betriebsrat über den Präsidenten der Aktiengesellschaft bis zum Präsidenten der Republik).

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Geld hat uns so gründlich korrumpiert, dass die Leute denken, autoritäre Methoden seien nötig, um Dinge gerecht zu verteilen. Die Grenzen des Geldmythos aufbrechen: die Arbeit des Revolutionärs. Ab einem bestimmten Punkt müssen Sehnsüchte und Bedürfnisse erfüllt werden, weil geistige Gesundheit und Vorstellungskraft davon abhängen. Der Wettlauf: Geld und Autoritäten werden immer stärker, aber auch die Revolutionäre werden immer mehr, immer stärker. Wir treten gegen einen mechanisierten Computer an: Das „Frankenstein-Monster“, das wir erschufen, um all unsere Probleme zu lösen, kontrolliert in Wirklichkeit uns. Aber während das Monster heranwächst, zerfällt es. Die Frage ist, ob wir seinen Tod überleben, der droht, alles mit in den Abgrund zu reißen. Utopische Rhetorik ermutigt uns, aus der Falle der industriellen Revolution auszubrechen; utopische Poesie versucht unser Bewusstsein zu ändern, damit wir den Hunger nicht vergessen, sie verlangt, dass wir mehr wollen als überleben, mehr als das, was der Sozialismus erreicht hat: totale Revolution. Im utopischen Traum sind unsere Ziele vereint. Nutzen der Übertreibung: keine neuen Formen erfinden, sondern die neue Geburt beschleunigen. Die Absicht utopischer Rhetorik: die Leute dazu bewegen, sich von ihren Ärschen zu erheben und an die Arbeit zu machen, uns von Widersprüchen und immer neuen Widersprüchen befreien: verbaler Schock: Stimulation: und der Augenblick der Überstimulation: Behandlung aussetzen: auf subtilere Mittel umsteigen: in den kommenden Jahrzehnten wird der Prozess mehrere Phasen durchlaufen: lernen, die Strategie zu variieren: schneller sein als das finstere Monster, es überlisten: erkennen, wann es Zeit ist, unterzutauchen: und wieder aufzutauchen. Bologna, Italien, 5. November 1969

86 Dieses Buch, diese Untersuchung: Ich muss wissen, ob es wahr ist, dass alles, was man in Bezug auf Theater, in Bezug auf die Bedürfnisse unserer Zeit weiß, so lange verschoben, seziert, gedreht, gedrückt und gequetscht

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werden kann, bis es im Einklang ist mit den revolutionären Ideen des Anarchismus und gewaltfreien menschlichen Beziehungen. Ich prüfe und ich sehe, wie sich die Kräfte sammeln: das Zimzum: das gewaltige Ereignis, als sich der Schöpfergeist von allen Menschen zurückzog – UNS FREILIESS – und wir frei waren, uns selbst zu erschaffen: frei, denn weil unsere Psychen pervertiert waren, haben wir uns freiwillig in Ketten gelegt; aber wenn wir frei sind, können wir uns daraus befreien. Der Schöpfergeist lässt uns frei, indem er die Kontrolle abgibt, die Rolle des Anführers, der Autorität, der Regierung. Im Beispiel dieser göttlichen Handlung liegt die Seele des Anarchismus. Und deshalb ist Anarchie (Freiheit) gleichbedeutend mit gewaltlosen (zwang-losen) menschlichen Verhältnissen. Aix-en-Provence nach Avignon, Frankreich, 16. Mai 1970

87 Aufzählung, aufzählende Poesie, das geradlinige Auge, Salomon, Whitman, Breton, Rimbaud, Pound, Lorca, Smart, Ginsberg, der geradlinige Geist, McLuhan, es summiert sich, Pascal, Stein, Guy Debord, ihre Bücher summieren sich, Numerologie, der geradlinige Fokus, die Liste, die Listen meines Lebens, lange Listen, Einkaufslisten, Listen der Aufführungen, die ich gesehen habe, Musik, die ich gehört, Bücher, die ich gelesen habe, To-do-Listen, Tag für Tag, Stunde für Stunde, so lebe ich, alles kommt in die Stücke hinein, in die Handlung, Paradise Now ist geradlinig, zehn Sprossen, eine vertikale Leiter mit horizontalen Flügeln, das Buch hier zum Beispiel reiht alles aneinander, es ist wie eine Straße, auf der man geht, durch eine Stadt, ein Labyrinth, immer wieder abbiegen, dieselbe Straße zu einer anderen Zeit in einem anderen Licht sehen und wieder raus, den Weg suchen, Block für Block, die Straße, auf der ich seit zehn Jahren unterwegs gewesen bin, dieses Buch, mein Leben lang, ich bin im Wald, ich gehe von Baum zu Baum, Stein auf Stein, Vögel, Farne, Fliegen, Gesichter, Jobs, Betten, Bettler, Radios, Wasserverkäufer, Bergwerke, Cafés, Drehbänke, Garderoben, Veranstaltungen, Leichenhallen, habe alle Details aufbewahrt, summiert. Wo es eine Form gibt, passt alles zusammen. Aber mein Leben, das in dieser Liste aus Worten steckt, in diesem Buch, ich sehe keine Form, nur eine Ansammlung, nur Anschaffungen, Gier, Dinge, Tag für Tag, von einer Erfahrung zur nächsten, so gehe ich meinen Weg von Gesicht zu Gesicht, das ist meine Realität, der Weg des Pilgers, mein Buch Numeri. Schließlich denke ich, es wird rund, sphärisch, global; also universal. Wenn ein Augenblick nicht mehr nur der Schritt von einen zum nächsten ist, wenn das Zählen aufhört und du lebst und zwischen den Dimensionen,

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wanderst und strahlst, aus der Geschichte, wenn du der Zeit entfliehst, als einer Tür, die jede Sekunde auf und zu geht. Ich sehe mich jetzt und ich bitte dich, mich als Agent des Todes zu betrachten, vom Tod geprägt, mein Leben, das ich sterbend lebe, als ein Leben, das von Ding zu Ding wandert, absorbierend und ausscheidend, wachsend, wechselnd, sich summierend und subtrahierend, wenn ich vergesse. Ich warte, dass es sich zusammenfügt, kein I., II., III. Akt, nur die gegenwärtige Handlung. Ich warte auf den Moment, wenn das Summieren kein Zwang mehr ist. Geht das erst, wenn die Probleme des Lebens sich nicht mehr arithmetisch stellen? Mathematik hört nie auf. Ich warte auf die Geometrie der Körper. Physik. Dreidimensionales Leben ist das Privileg der Privilegierten. Wo es keinen Hunger gibt, besteht das Leben nicht nur aus Mahlzeiten, das Leben treibt in alle Richtungen aus, es hamstert nicht, es hat, es produziert, es reproduziert, es überlebt, es stellt sich dem Multidimensionalen. Vielleicht zähle ich, um zu sehen, ob ich mich fortbewege oder stillstehe. In einer der chinesischen Opern der Sun Opernkompanie, die Judith und ich 1950 in einem Theater unter der Manhattan Bridge in New York sahen, öffnete sich auf der Bühne sehr langsam ein gigantischer mechanischer Papplotus; es dauerte fünfundvierzig Minuten, während derer die Schauspielerin in der Mitte kauerte, sang und sang, sich langsam erhob, ausstreckte, ihre Ärmel langsam abrollte, ihre Arme langsam ausstreckte, den Körper mithilfe der Oberschenkelmuskulatur langsam aufrichtete, sie tat keinen Schritt, während der Körper des Lotus sich entfaltete. Die Zeit verging, Note um Note, Wort um Wort, sie sang, weil sie die Goldene Blume war; und ich kann mein Leben nur als Prozess des Werdens verstehen, so sehe ich die ganze Gesellschaft, wir zählen unsere Segnungen auf, rezitieren unsere Sünden, versuchen, uns zu entfalten, Blütenblatt um Blütenblatt. Als Kind glaubte ich, Menschen leben, bis sie hundert werden, und dann sterben sie. In der Schule sah es so aus, als sei hundert die perfekte Zahl, wenn man in einem Test hundert Punkte hatte, hat man alles gewusst. Ich zähle den finsteren Verlauf der Zeit. Wenn man in Indien einen Mann fragt, wie alt er ist, sagt er, ungefähr fünfundfünfzig. Wie viele Akte hat sie, wie viele Engel können auf dem Kopf einer Nadel tanzen, wann haben wir genug Leute für die notwendige Aktion, wie viele

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brauchen wir, um den Kapitalismus und den Staat erfolgreich zu stürzen. Den Stundenschlag mitzählen, den Geschlechtsakt. Verzählen. Rio de Janeiro, Belo Horizonte, Brasilien, 11. Oktober 1970 – 19. Juli 1971

88 Ich arbeite. Nichts passiert. Ich arbeite. Nichts passiert. Was habe ich heute gegessen, wie geht es meinem Kopf, ist er erschöpft, ist er nass, bin ich abgelenkt, weil C weg ist oder weil J tot ist? Unter welchen Bedingungen entsteht das kreative Ereignis? Die Frage: Was sind die besten Bedingungen für ein kreatives Ereignis? Die Antwort: Wenn ich mich rasiere? Wenn ich scheiße? Wenn ich U-Bahn fahre? Wenn ich in einem Gespräch über den Mord an Ben Barka einschlafe, oder über The Who, oder darüber, wie man ein Stück über den Untergang Venedigs machen könnte? Oder wenn ich zum 606ten Mal die Basisinformation runterleiere, dann kommt sie geflattert, unangemeldet, geheimnisvoll, ach so war das, und die schöpferische Idee fliegt wie ein Vogel in meinen Kopf. John Cage. Kein Rezept, wie man den kreativen Durchbruch erreicht. Ein physischer Vorgang, über den man wenig weiß. Theta-Wellen? Bis es uns gelingt, die Kapazität unseres Gehirns zu vergrößern, werden wir kaum wissen, welche Kraft die Blume durch ihre grüne Zündschnur antreibt. Ich probe, ich spiele, manchmal schwingt es, manchmal nicht. Nach Formeln suchen, damit es so bleibt, so intensiv. Kennt sie jemand? Nein. Wie schön, sie nicht zu kennen: grenzenlose Grenzen: das Geheimnis des Lebens: Kreativität. Wir wissen nicht viel mehr, als dass sie von einem Zustand des Präsent-Seins abhängt. Die Suche ist immer gegenwärtig. Wie kommt es dazu, was zieht die Muse herbei, den Schöpfergeist, wie kommt es zum schöpferischen Akt, dem heroischen Moment? Gegenwärtige Konzentration auf die Suche, sodass alles, was du tust, essen, Sex haben, Comics lesen, sich auf diese Frage bezieht, mit ihr verbunden ist. Wie eine lange Schwangerschaft. Der Prozess muss nicht bewusst ablaufen. Wenn die metaphysische Obsession stark genug ist, passiert es, dann, wenn man es am wenigsten erwartet.

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Schließ das Unbekannte nicht aus. Wie können wir sonst hoffen, ein theatralisches Ereignis zu erschaffen, das die Leute dazu treibt, die Slums niederzubrennen und das Ritz zu besetzen? Alles dreht sich um diese Frage: Es gibt nur diesen einen Notstand. Es heißt, man habe in den Schulen Latein und Algebra unterrichtet, weil das den Verstand trainiert, (linear) zu denken. Dies hat etwas zu tun mit der Annahme, es gäbe eine lineare Formel, die zu einem kreativen Ergebnis führt, aber inzwischen wissen wir, es kann aus jeder Richtung kommen. Wie eine Glocke sein, im Raum hängen, offen und empfänglich sein für jeden Wind, jeden Impuls, egal wann und egal woher er kommt, bereit sein zu Läuten. Das ist der springende Punkt: Wenn der Geist bereit ist für den Impuls, den Schöpfergeist, empfängt er ihn und leitet ihn weiter. Heiliger Zustand. Wenn die Gemeinschaft als Kollektiv bereit ist, wenn sie ihn erkennt, dann greift sie danach und setzt ihn um. Wenn die Menschen bereit für die Revolution sind, wenn sie warten, hoffen, sich konzentrieren, sie beschwören, wenn sie obsessiv sind, gegenwärtig in ihrer Suche, dann wird das Ereignis eintreten. Das meinen wir Juden, wenn wir sagen, dass der Messias kommt, wenn alle weinen oder beten oder lachen. Und niemand kann mit einer linearen Formel vorhersagen, wann genau das sein wird. Niemand weiß, wann der Dieb in der Nacht (Bakunins Dieb) kommen wird. Bong, krach, wir übertreten die Linie. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 27. Januar 1970

89 TECHNIKEN FÜR KONFRONTATIONSPOLITIK NEW YORK CITY, MÄRZ 1969 Das Living Theatre  X  The Theatre of Ideas: Die Unerträglichkeit des Intellektuellen Wohlgefühls: Was ist Abschottung?  Was ist Leidenschaft?  Was ist Liebe? Was ist Passivität?  Was ist Handlung? Wo befinden wir uns?

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In der Nacht, als wir, das Living Theatre, den etablierten Pfad des politischen Diskurses verließen, platzten die Eiterbeulen. Man hätte glauben können, die innere Kuppel des Himmels wäre eingestürzt. Waren die Illusionen zerstört? Nein. Noch nicht. Nicht genug. Shirley Broughton hatte eine Serie von Foren organisiert, bei denen bestimmte Themen diskutiert werden sollten. Es lief so ab, dass eine Elite, eigentlich eine ‚Peergroup‘, für ein zweiteiliges Programm zusammengeholt wurde. Im ersten Teil gab es etwa drei Vortragende, Experten, von denen man annahm, sie seien qualifiziert, das Thema zu diskutieren, und der Vortrag sollte eine Stunde gehen. Im zweiten Teil sollte es eine Fragerunde geben. Am besagten Abend blieb das Publikum dadurch exklusiv, dass es einen hohen Eintritt (10 Dollar) für das Privileg zahlte, über ästhetische Fragen zu diskutieren. Es ging nicht um Ideologie. Auch nicht um Revolution. Aber um Reformen. Meist um die Reform der Perspektive. Zur Vergrößerung des Spielplatzes, des Areals, von dem aus der Intellekt komfortabel all jene Probleme und Fragen erörtern kann, die den schmalen Grund betreffen, auf dem der Intellektuelle steht, auf dem er lebt, spielt und isst. Unter diesen Umständen versuchten wir, die Spiele des Intellekts auszuweiten, wollten sie mit körperlichen und emotionalen BEDÜRFNISSEN konfrontierten. Die Intellektuellen sind in ihrer Klasse aufgehoben, müssen nie hungern (auch wenn sie manchmal auf einen kleinen Scheck hoffen als Honorar für ein Gedicht oder einen Artikel). Ihre Klasse schützt sie vor den übleren Formen der Ausbeutung, so dass sie abgeschnitten sind vom echten Gefühl der Dringlichkeit. Ihr Sinn für Dringlichkeit ist betäubt vom natürlichen Hang des Verstandes, abzuwarten, Skrupel zu nähren, die Tat aufzuschieben, sie sind so sehr vom Leben getrennt, dass nichts schlimmer wäre, als zu handeln. Weil sie den Baum der Erkenntnis umarmen, ihn umschlingen, den Baum des Lebens aber nicht beachten, schrecken Intellektuelle vor Gefühlen zurück und vor den zentralen Problemen, stattdessen umtänzeln sie kunstvoll Widersprüche. Kein Wunder, dass Hamlet ihr liebstes Stück ist. Sie erkennen darin sich selbst, zum Helden geadelt, „die Tragödie eines Mannes, der nicht wusste, was er wollte“. Impotenz durch Intellektualisierung: Der Körper (das Leben) wird träge. Wir versuchen, die Intelligenz und Energie des Intellektuellen in den Dienst des Volkes zu stellen. Den Intellektuellen im Volk ausfindig machen. Dort wo der Schöpfergeist wohnt. Mittendrin. Gutkind. Von passiv nach aktiv umschalten. Jetzt ist Aktivität gefragt. 199


Bis zu welchem Grad beeinflusst der Intellektuelle (Philosophie) das Volk? Das besondere an Lenin war, sagt Judith, dass er das zusammengebracht hat. Ist es überhaupt denkbar, dass staatlicher Sozialismus die freie Kunst und Meinungsäußerung nicht behindert? Ist es möglich, dass der demokratische Kapitalismus den freien Geist nicht behindert? Die Umstände: Im Theatre of Ideas [eine Theaterzeitschrift] war jener Abend als Benefiz für das Theater angekündigt. Deshalb war der Eintritt so hoch; aber es gab Whiskey; Leute haben auch schon mal zehn oder mehr Dollar bezahlt, um ein Stück des Living Theatre zu sehen, und das war schon schlecht. Es fand im Versammlungshaus der Quäker statt, einem öffentlichen Wahrzeichen in der Nähe des Gramercy Parks, und der griffige Titel lautete ‚Theater oder Therapie?‘, Nat Hentoff moderierte, es sprachen: Paul Goodman, Robert Brustein, Judith Malina und Julian Beck. Auf welcher Ebene des Lebens kommen wir voran, auf wie vielen gleichzeitig? Also sprengten wir das. Es war nicht geplant. Rufus, Jenny, Henry, Steve Israel, Steve Thompson, Pierre Biner improvisierten alles. Aber das, die Wahrheit, wurde von vielen bezweifelt. Weil die Intellektuellen sich Spontaneität nicht mal vorstellen können. Lenin hatte auch Schwierigkeit mit diesem Konzept, er wollte die Kontrolle behalten, und das System, das er einführte, ist immer noch stark kontrolliert. In einem System wie dem Kapitalismus hat der Einfluss der Intellektuellen auf die populäre Kultur einen repressiven Effekt. Paradoxerweise wirkt er nur auf den Intellekt, obwohl er eigentlich zum Handeln aufrufen müsste, aber so wird Dringlichkeit zu etwas rationalisiert, das sich mit der Zeit schon einlösen wird, wenn das Bewusstsein erst ausgereift ist; aber er scheitert daran, das Einzige zu beschleunigen, was Abhilfe schaffen könnte: dass das Volk handelt. Zum besseren Verständnis von Spontanität erteilten wir eine Lektion: sofortiges Handeln. Es war wie eine kollektive Trance. Der Lärm, wenn Leute miteinander reden, und wenn sie wütend sind, wird noch lauter geredet, immer lauter, man ereifert sich und dann fällt man in Trance. Ist besessen. Und aus den Symbolen, die sich in der Wut Bahn brechen, entströmt manchmal der große Geist. Ich machte es ihnen schwer, meine Aktion zu rechtfertigen. Ich entriss einer Frau Hut Mantel Brille und kreischte: „Weil deine Pelze so schwer sind, spürst du die Not der Menschen nicht!“ Ich warf Dinge durch den Raum, stellte unsere Beziehungen auf die Probe. „Ich bin verzweifelt, weil die Intellektuellen die echte Revolution nicht mittragen werden, wenn’s 200


mal drauf ankommt. Wir reden hier nur um den heißen Brei herum. Ich verzweifle an mir selbst.“ Uns, dem Living Theatre, wurde Faschismus vorgeworfen, was wir taten, betrachtete man als Störung des demokratischen Prozesses, als mangelnde emotionale Disziplin, als körperliche Gewalt – den Mantel einer Frau durch den Raum werfen, ihn ihr vom Leib reißen! Einer Frau! Die Brille! Die Handtasche! Ihr Eigentum! Lautstark habe ich die Wand eingerissen, die uns trennte, ich habe gegen Eigentum gewütet, meine Verzweiflung herausgeschrien, darüber, dass wir uns vielleicht nie berühren oder lieben können, uns nie verständigen werden. Aber der unentschlossene Intellektuelle verwechselt das mit Faschismus. „Ruft die Polizei!“, riefen sie, denn Intellektuelle haben keinen Hunger. Sie sind auch nicht unterdrückt. Als Vertreter der Bourgeoisie können sie immer noch auf die Polizei zurückgreifen, und, sagt Durutti, wenn sie mit dem Rücken an der Wand stehen, greifen sie auf den Faschismus zurück. Voller Elan sprechen Intellektuelle darüber, dass sie intellektuelle Freiheit brauchen, aber die werden sie wohl kaum erreichen, weil sie nicht handeln können; sie sprechen immer nur die eigene Klasse an in der schwachen Hoffnung, etwas ‚Licht‘ würde von allein durchsickern, hinunter zu den unteren Klassen. Die Intellektuellen im Theatre of Ideas verehren zwar Artaud, aber als wir ihr Symposium in ein Theater der Grausamkeit umwandelten, wo sie Wut, Lügen, Hysterie, Irrationalität, Raserei, Heftigkeit, Spucke, Grenzfälle körperlicher Gewalt erlebten und Trance, da schreckten sie davor zurück. Vielleicht müssen die institutionellen Formen zerstört werden: dann können sich die Intellektuellen ausbreiten. Vielleicht wären sie dann offener für ihre eigenen Emotionen. Der Magen, das Becken, wo das Gefühl sitzt, die Genitalien, da, wo Hunger und Schmerz sitzen, da ist die Tür nach innen, da kommt man rein. Wenn sie den Schmerz erst spüren, wenn sie ihn erst lokalisiert haben, dann ergreifen sie vielleicht Maßnahmen, die die Krankheit heilen. Diese kleine Chance ist vielleicht der einzige Weg für die Intellektuellen, ihr begrenztes Selbst, ihr begrenztes Leben von seinem begrenzten Nutzen zu befreien in die Transzendenz. Es geht hier um eine kulturelle Revolution. Wir müssen erkennen, dass niemand, wirklich niemand von der Revolution unberührt bleibt. Wir müssen uns in einen Zustand versetzen, in dem wir uns ihr hingeben, damit wir diese unvermeidliche Zeit der Verwandlung überleben, diesen wissenschaftlich unvermeidlichen Vorgang.

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Was starr ist wird splittern, dürre Zweige knacken in diesem Sturm, der über die heißen Ebenen fegt, durch die öden Wüsten, die großen Winde werden kommen. Klammert euch nicht an die verdorrten Stängel, an unsere antiquierten biologischen Formen, wie Samen müssen wir uns lösen, uns bereit machen für den elementaren Umbruch, damit der Westwind seine Arbeit tun kann. Wind: Das Rauschen der Luft füllt das Vakuum. Das Vakuum, das entsteht, wenn diejenigen Luft holen, die zu ersticken drohen, die nach Luft ringen. Rio de Janeiro, 3. November 1970

90 Die Woodstock Nation: die Hippie Love Rock Life Style Music Revolution. Das Establishment unterstützt sie: weil sie für Kaufkraft sorgt. Abbie [Hoffman] zeigt das in seinem Buch: Das Establishment unterstützt sie, um sie sich einzuverleiben und wirtschaftlich auszuschlachten. Time, Life, Newsweek preisen Dope (leichtes Zeug), preisen den Life-LoveStil, die Musik, ihre Glasperlen und Gebräuche. Die Woodstock Nation befreit die Kinder der Bourgeoisie vom bourgeoisen Leben. Aber sie befreit nicht den Arbeiter, der die Schallplatten presst, oder den, der das Marihuana erntet, oder den Bauern, der die Eier für den vielen Eiersalat einsammelt, auch nicht den, der das Malz für das Bier und die Milkshakes erntet. Und das Beispiel des Ausstiegs der bourgeoisen Tochter/Sohn aus dem bourgeoisen Käfig ist kein Ansporn. „Ohne Geld kannst du nicht leben!“ Das weiß jeder, und der Arbeiter, der auf der Straße Steine klopft, weiß, dass der alternative Lebensstil der Woodstock Nation von den Kuchenkrümeln vom Tisch des Kapitals lebt. Die Woodstock-Rebellion befreit weder die Dritte Welt noch die ungebildeten brasilianischen Bauern von der Herrschaft der Aluminum Corporation of America (ALCOA). Woodstock inspiriert sie nicht zur Revolte. Sie schauen höchstens neidisch, wenn ihre müden Augen überhaupt noch etwas sehen.

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Solange sie der politischen und sozialen Aktion abschwört, unterstützt diese Revolution das System und wird von ihm unterstützt. Bald werden die Wehklagen der Menschen den Klang dieser Musik übertönen. Aber dann ist es zu spät. Das Klagen wird lauter, während die Unterdrückung zunimmt. Und die Kriege gehen weiter, weil Protest und Sentiment das System, das beides einzudämmen versteht, nicht zu Fall bringen wird, und deshalb macht es einfach weiter, was es will. Je weiter das System innerhalb seiner geografischen Grenzen technokratisch entwickelt ist (ich spreche von Nationen als soziologischen Einheiten), und je reicher die Einheit ist, umso leichter kann sie Dinge in Schach halten und kontrollieren. Je erfolgreicher das kapitalistische System ist, umso ausgeklügelter kann es seine subtile Stärke ausspielen, auch wenn die enorme Masse Risse verursacht im Fundament. Singt. Tanzt. Liebt. Seid friedlich. Berauscht euch. Grast. Flippt aus. Geht auf einen Trip. Befreit euch. Macht, was ihr für richtig haltet. Die Revolution des individuellen Ausdrucks, die sich der bourgeoisen Attribute entledigt, aber die Staatsbürgerschaft der kapitalistischen Welt behält, hilft dem Planeten nicht. Diese Revolution, dieser Hedonismus, beutet sanft aus, wo die kapitalistische Demokratie erbarmungslos ausbeutet. Ist das euer Ernst? Woodstock Nation: Erstklassiges Produkt der bourgeoisen Kultur. Privilegien, wohin man schaut. Privileg bedeutet Klasse. Merkt euch das. An die Wand mit dir, Woodstock Nation! Die Hungrigen richten ihre Gewehre. Auf uns. Die aristokratischen Poeten der bourgeoisen Partei. Die Woodstock Nation tanzt den herrlichen Tanz des Bacchus, während Apollos Meute regiert, bis es zum Himmel stinkt. Wenn die Woodstock Nation die wirtschaftliche, soziale und politische Maschinerie nicht mit der gleichen Macht angreift, mit der sie die Produkte der Maschinerie verändert, dann ist sie nur eine Ausnahmeerscheinung, ein Genie, ein Wunderkind, wie Mozart, der ständig für den König spielte. Wie Mozart oder die Rebellen Joyce und Beardsley die Ableger und Weitermacher der Goldenen Zivilisation waren.

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Meine Aufgabe ist es, euch das zu sagen, um euch anzustacheln. Weil ich weiß, wer ich bin und wer ihr seid, und weil ich weiß, was ihr und ich ausrichten könnt. Ich bin Prophet und sehe das Goldene Verhängnis, das sprudelnde Blut, Desaster, den krassen Fick, ich erkenne das kosmische Bewusstsein, das alles über die Andromedagalaxie weiß, aber das Schluchzen in Afrika nicht hört, auch nicht das Wimmern im verkoksten Peru, weil es vor lauter Ekel vor der Welt des Geldes und dem Staat vor der revolutionären Tat zurückschreckt. Deshalb tut die Woodstock Nation dem Life Magazine nicht weh. Denn die Kräfte der Unterdrückung tolerieren den Lifestyle-Wandel: Kunstgeschichte z. B. ist die Geschichte stilistischer Revolutionen, die abgelehnt wurden, bis man sie akzeptierte. Sieh dich vor. „Ich habe deinen Vater ermordet. Ich habe deine Mutter ermordet. Also, seht euch vor.“ Sie ermorden unsere Brüder. Also, seht euch vor. Denn die Schönheit unseres wundervollen Lebensstils wird entweder weggewischt durch: 1. Die dämonische Wut des verwundeten Kapitalismus Oder durch 2. Das Blutbad, das uns erwartet, wenn das heilige Monster VOLK sich erhebt, von unseren gewaltlosen Vibrationen unberührt und von den Liedern, die wir sangen, während sie sich zur Arbeit schleppten, in den Fabriken bluteten, in den heißen, nassen Sümpfen schmorten, die voller Reis und Moskitos sind, während sie sich stritten in den zugeschissenen Ghettos im Kampf gegen Läuse, Flöhe und Ratten. Wir sind so scheißbewusst, so aufgedreht, so eingestimmt, so schön, so heilig in unseren Hoffnungen und in unserer Art. „Ich habe euch Leben und Tod vor Augen gestellt: wählt.“ Es ist doch wohl klar, was das Life Magazine ist? Avalokiteshvara: „Ich werde den Garten der Qualen nicht verlassen, bis ihm alle entkommen.“ 204


Aber keiner entkommt, bis wir nicht alle entkommen: weil der Zauber aller Dinge uns aneinanderbindet, unsere Liebe zueinander, unsere Abhängigkeit, Wechselstrom der Lebensenergie. Wenn wir ein unglückliches Volk sind, liegt das nicht nur an unseren individuellen Sorgen und Hemmungen. Zum Beweis: Schalt das Licht im kollektiven Unbewussten an. Es wird Zeit, alle Lichter anzuschalten. Schalt alle Lichter an in diesem Miniaturwelttheater, damit kein Fetzen falsches Geheimnis übrigbleibt. Und dann tanzen wie da heraus, O Nation Woodstock, im Licht unseres Handelns. Arezzo, Italien, 19. November 1969

91 DIE BESETZUNG DES ODÉON. I. TEIL Es war wichtig, das Odéon zu besetzen, weil es le Théatre de France war, wo die Regierung der Compagnie Renaud-Barrault ermöglichte, Beckett und Adamov und Ionesco und Genet zu spielen. Genet! Weil die Studenten und ihre Genossen im Mai 1968 der Regierung nicht schmeicheln wollten, indem sie sich selbst und der Öffentlichkeit weismachten, der Staat unterstütze ehrenwerte Avantgarde-Kunst contra sistemo. Jede Kunst, die das Establishment unterstützt, wird von ihm ausgebeutet, jede Kunst, die das Establishment unterstützt, ist infiziert. Die Bazillen der Korruption sind stark. Wir bekämpfen diese Pest. Die Besetzung des Odéon stand für den Versuch, wenigstens einen Mechanismus der Kooption zu besetzen. Es war wichtig, ein anschauliches Mittel zu finden, mit dem wir zeigen konnten: Wir wissen, dass jede Kunst, die als Privileg einer einzigen Klasse entsteht (die den Eintritt bezahlen kann), gegen die anderen Klassen arbeitet. Warum sollte die Bourgeoisie das Privileg genießen, ihren Geist an Genet und Beckett zu schärfen, wenn das auf Kosten der Armen geht, denen es an der Ernährung fehlt, die nötig wäre, damit sich ihre Gehirne im Kindesalter voll entwickeln, ebenso wie an der sozialen und kulturellen Grundversorgung. Es war wichtig, zu sagen, dass die Theater – auch die allerbesten – den Menschen dienen müssen, die sich dort versammeln, nicht, damit sie sich die Schicksale hervorragender mythischer Figuren anschauen, sondern

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um das Drama der Revolution durchzuspielen, bei dem jeder Zuschauer an der Planung und Umsetzung des revolutionären Wandels teilnimmt, der den Kosmos verändern kann. Ein Theater für den Menschen auf der Straße ist wichtiger als ein Theater, wo Shakespeare, Claudel, Gide und Genet zuhause sind. Alle Macht dem Volk. Was in der Nacht des 15. Mai 1968 im Odéon passierte, war das Schönste, was ich in einem Theater je gesehen habe. Die Besetzung des Odéon hatte alle Elemente großen Theaters: charakterstarke Persönlichkeiten, große poetische Tiraden, Widerstreit der Ideen, Kollision mächtiger Ideologien, eine Realität, die jeden dramatischen Einfall übertraf; das Volk trat als Held auf, und einen Monat später folgte das Ende als peinliche Tragödie, Invasion der Polizei, so tragisch wie die übrige Geschichte Frankreichs im Mai, wie in Spanien, in Kronstadt und all die anderen großen Dramen der Anarchie. Die Essenz der Tragödie: ausgerechnet in dem Moment, in dem der Held alles versteht – das Männliche und das Weibliche, das Drinnen und das Draußen, die Wahrheit –, ausgerechnet in dem Moment, in dem er bereit ist zu leben, zu handeln, stirbt er, von der Zivilisation niedergestreckt, ein unnötiges Opfer unseres künstlichen Schicksals. DIE BESETZUNG DES ODÉON. II. TEIL in einer aussteiger revolution werden die folies bergère übernommen und gezwungen ionesco zu spielen in einem faschistischen coup d’etat kann die comédie française nicht spielen antigone oder die bakchen in einer sozialistischen revolution in frankreich würden barraults experimente unterstützt werden weil sie prestige bedeuten zuhause und im ausland aber eine politische position muss immer verschleiert bleiben aber was in frankreich im mai 1968 geschah war keine revolution gegen stalinismus sondern gegen das kapital und seine wohltätigen posen

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Die französische Revolte von 68 rüttelte alle auf, weil das Idol des Westens – Frankreich –, das feinste Aushängeschild des Kapitalismus (feiner als die USA weil ‚kultivierter‘), von seinen eigenen Bürgern herausgefordert wurde, das Volk schrie auf und handelte. Sie sagten Wir wollen das Wunder: Paradise Now! Und sie träumten, es würde geschehen Und sie versuchten, den Traum zu verwirklichen . . . Elf von fünfzig Millionen im Streik, und jeder, der streikte, hatte noch zwei bis drei Sympathisanten, das halbe Land war aufgeputscht, aufgeputscht von der Idee, das Wunder der Wunder könne geschehen: Ungerechtigkeit und Erniedrigung würden bald vorbei sein und eine neue Phase der menschlichen Entwicklung könnte beginnen. Voller Trauer mussten wir einsehen, dass wir, das Volk, nicht vorbereitet waren. Aber alle, auch die Polizei und die Minister, ließen es so lang wie möglich laufen, weil jedes menschliche Unterbewusstsein das Unmögliche herbeisehnte, die Ankunft des deus ex machina; ein unvorbereitetes Frankreich, dem es plötzlich gelingt, sich vom Kapitalismus zu befreien, das die lähmenden Krankheiten des staatlichen Sozialismus vermeidet und sich in ein produktives Kollektiv verwandelt, in dem jeder entsprechend seiner Kraft und seiner Bedürfnisse etwas gibt und etwas nimmt. Das Theater jenes Frühlings war die erhebendste und berauschendste Sache, die das französische Volk in diesem Jahrhundert erlebt hatte: Sie spielten mit, sie hatten große Rollen. Im Odéon war das klar. Das Drama fand im Zuschauerraum statt und nicht auf der Bühne, die Zuschauer wurden zu Protagonisten und sie spielten das Tribunal der Revolution, ein großes Drama in dreißig Tagen. Jede schlechte Rede, der wir eine halbe Stunde gelangweilt lauschten, war von größerer Wichtigkeit in der Geschichte unserer unsterblichen Seelen und sterblichen Körper, als die so großartig vorgetragenen Tiraden Racines und Corneilles. Denn diese Dramen wurden ins Buch des Lebens eingetragen. Amen. Das Rollenspiel: Alle waren in Trance und spielten das göttliche Spiel der heiligen Urheberschaft, schwindelnd der eigenen Befreiung entgegen. Theatralische Elemente der Kultur gaben die Muster der Handlung vor, große Improvisation. Das Leben wurde wichtig, jeder Moment war lebendig, rauschhaft, kein müdes degeneriertes Drama mehr, sondern es ging nach oben, weit über das Todesritual hinaus. São Paulo, Brasilien, 19. August 1970

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92 Der Genius des Volkes. Früher dachte ich, Genius sei ein individueller Charakterzug. Selten. Der Genius des indischen Volkes: Sie bestehen darauf, dass ihr Leben ein spirituelles Abenteuer ist, so verstehen sie den Prozess. Der Genius des chinesischen Volkes: sich als Masse zusammentun, um das Leid von fünftausend Jahren zu beenden. Der Genius des jüdischen Volkes (nicht als Nation), das weiß, dass man das Leben durch Rituale heiligen muss, dass das Heilige ständig erneuert werden muss, ihr Genius, sich ständig nach Vereinigung zu sehnen, die Gottes Gegenwart beschwört. Marx & Aischylos. Marx führt Ursprung und Entwicklung der Bourgeoisie und ihrer Demokratie auf den kaufmännischen Zorn gegenüber dem Feudalismus zurück. Die Bourgeoisie hatte eine revolutionäre Funktion, aber historisch gesehen ist das vorbei. Die Macht, die sie angehäuft hat, und ihre Lebensweise hat die Bourgeoisie zugrunde gerichtet. Absorbiert von den Dingen, die sie haben wollte, ist sie selbst zum Ding geworden, sie ist nicht mehr das Volk, sie ist ein Stein, der auf dem Volk liegt, und er muss abgeworfen werden. Marx beschäftigte sich damit, wie das Volk geschaffen wird. Wie kann ich dir sagen, dass ich dir nichts Böses wünsche, oh Mittelklasse, ich liebe dich mit aller Kraft meiner Liebe, Ahimsa meines ganzen Seins. Deine Kinder (die Woodstock Nation) sagen dir, hör zu, lass deine Ängste los . . . Woher kommen wir? Wo sind wir? Die Ideale der Bourgeoisie verschwanden in der Wüste, zu der wir unser Land gemacht haben. Der verschmutzte Planet. Der Arbeiter will nicht mal mehr Freiheit. Höchstens die Freiheit, so viel Geld wie möglich zu verdienen. Das Syndrom des Goldenen Kalbs. Reste des Bourgeoisen: Man darf seine Meinung frei äußern, aber man weiß, dass die Medien von der Elite kontrolliert werden. Goodman. Die Vereinigten Staaten haben die Unabhängigkeitserklärung und die Bill of Rights: Sie dienen nur dazu, die Realität unserer Knechtschaft zu kaschieren. In einer kapitalistischen Struktur kann man kein Christ sein. Jesus hat die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben. Inzwischen wissen wir, die ganze Welt ist der Tempel. Wir wissen, dass wir uns als Volk nicht finden werden, solange das Geld uns trennt. Aischylos: Es gibt einen Chor und einen Protagonisten. Aber jedes Chormitglied ist der Protagonist im eigenen Leben, ein Drama, das auch wunderbar und schön ist, nur weniger belastet von königlicher Schuld und von Totschlag. 208


Die großen Worte im Drama spricht immer der Chor, er ist es, der die große Weisheit kennt. Aber das Stück ist so gebaut, dass der Zuschauer das nie richtig erkennt. Aischylos etabliert die Kultur des Helden und der Masse. Die Demokratie und der Faschismus propagieren sie offen. Der Sozialismus tut es unterschwellig. Angriff auf die Kultur. Bei Aischylos fehlt das Konzept des Organismus: Der Genius des Volkes ist – derselbe alte Fehler – der individuellen Macht der Aristokraten untergeordnet. Aber Heiligkeit, GOTT (der unbestreitbare Genius) wohnt im Volk. Marx wusste das. Mailand, 1. November 1969

93 Die Ansicht, dass die Menschen schlecht sind (das Konzept des Sündenfalls), weshalb wir Gesetz, Regierung und Geld brauchen, ist nicht die Ansicht der Menschen, sondern die der herrschenden Klasse, die korrupte Priesterschaft zwingt sie uns auf, um die Machtposition der Elite und ihrer Priester zu sichern. Wenn, wie Gandhi sagt, das Kapital Gier und Konkurrenz als Charakter­ eigenschaften hervorbringt, bringt dann Anarcho-Kommunismus vielleicht Großzügigkeit und Kooperation hervor? Die Theorie der Revolution basiert nicht auf der Idee, dass der Mensch „gut“ ist, sondern darauf, dass sich der Charakter ändert, wenn wir die Umstände ändern, unter denen wir leben. Haftzelle, D.O.P.S. (Department für Politische und Soziale Ordnung) Belo Horizonte, Brasilien. 16. August 1971

94 Die Um-strukturierung passiert nicht durch Führer und Grüppchen. Umstrukturierung kann nur bedeuten: von allen Menschen erschaffen. 209


Die wesentliche Arbeit: die Massenbewegung bilden. Das Wesentliche unserer Arbeit ist das Bilden einer MASSEN-Bewegung. Die wesentliche Arbeit ist es, eine Massenbewegung zu bilden. Wir müssen eine Massenbewegung bilden. Unsere Arbeit besteht darin, eine Massenbewegung zu bilden. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 15. Februar 1970

95 Wie bildet man eine Massenbewegung? Woher nimmt man die revolutionäre Vorhut? Der Widerspruch: aus der Gruppe der deklassierten Intellektuellen (normalerweise aufgeklärte Bourgeoisie), nicht aus dem Proletariat, nicht aus der Gruppe der Armen, nicht aus der Masse der Landarbeiter. Das Theater, wie wir es kennen, hat viel zur Aufklärung beigetragen. Jenen Mitgliedern der Bourgeoisie, die sich im Prozess der Aufklärung befinden, hat es geholfen zu verstehen, dass auch das transformiert werden muss, was sie aufgeklärt hat: denn der Prozess, den sie durchgemacht haben, ist zu langsam für die Masse, die wie Blutkonserven unter dem Gewicht der Struktur zu platzen droht. Eine Massenbewegung bilden: Was kann das Theater tun? Den Menschen kreative Energie einflößen. Die Atmosphäre verändern. Die moralischen Werte verändern. Die Wahrnehmung verändern. Den Modus des Denkens verändern. Die Musik verändern. Nach Ägypten ziehen. Zu den Sklaven. Was kann das Theater tun? Es kann werben, zappen, ziehen, informieren, jubeln und das Proletariat begeistern, das Lumpenproletariat, die Armen, die Ärmsten der Armen. Was kann das Theater tun? Bedürfnis und Verlangen herauskitzeln. Die unter dem Gewicht der pyramidalen Struktur erdrückte Energie

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entfesseln Ägypten damit das Untere Nach oben steigt. Der Rest passiert dann mehr oder weniger von selbst. Cannes, Frankreich, 14. Mai 1970

96 MEDITATION. 1988 Zwanzig Jahre Kampf. Die technokratische Gesellschaft konsolidiert ihre Macht. Das Hauptinteresse derjenigen, die die Wissenschaft mit Geld versorgen, sind Waffen und Methoden sozialer Kontrolle, sagt Genosse Roszak. Kontrolle: Der Geist wird schwach vor den schaurigen Geräten, der Überwachung, dem internen Aushorchen: Keine Regierung traut ihrem Volk. Düster: Das Adjektiv beschreibt alles. Gut. Dann bleibt nichts als der vertikale Stoß der Rebellion. Dunkelheit regiert von oben nach unten. Wir schicken Kontrollleuchten, schlanke Strahlen, Laserstrahlen, bis ganz nach oben. Nirgends ist mehr offener Streit möglich. Die Obrigkeit verlangt

strikte Kontrolle über den menschlichen Geist.

Die erste Arbeit des Revolutionärs: sein Geist muss frei bleiben. Der Kampf geht weiter. Wir haben unsere geheimen Methoden. Menschliche Methoden. Den Sklaven in den Bergwerken und auf den Feldern bringen wir Brot und Poesie. Können sie Brot verbieten?

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97 MEDITATION. 1998 Risse in der Tundra! Das Fundament! Der Stahlstaat bricht, knirschend kommt die Geldmaschine zum Stehen, ohrenbetäubender Lärm. Bösartige Tumore, eine Ansammlung „großer Flecken“, vor hundertfünfundzwanzig Jahren von den Doktoren Marx, Bakunin, und Freud vorhergesagt. Die Pest: Artauds „Zusammenbruch der Ordnung“. Die Masse leidet an Malthus‘ Hungersnöten. „Ein neuer Morgen“ flüstert sie: Die Wetterfahne zeigt auf Reinemachen. Die Oberschicht: eine gigantische Irrenanstalt: Spezialbehandlung erforderlich. Die Masse hortet Energie für die Liebe (Goodman) „und fickt ihre einzige Welt.“ Der Tod ist eigentlich nur eine Krankheit, lassen die Biologen aus dem Untergrund verlauten! Ein Geisteszustand! Andere Windrichtungen, andere Werte. „Hat schon mal jemand gesehen, wie aus Wasserstoff und Sauerstoff Wasser wurde?“ (Gutkinds Frage) Bis jetzt hat auch noch niemand gesehen, was aus unseren Reben, unseren Fingern sprießt, was am neuen Morgen dem Licht entgegenstrebt, la lutte continue (der Kampf geht weiter).

98 MEDITATION. 2008 ekstase ergreift die masse . . . erste phase der anarchischen zeiten . . . „Die Tatsache ist nicht mehr das Unbestreitbare, sie ist das Rätselhafte geworden.“ (E. Gutkind, Prophet) arbeite, arbeite an dem, was verdorben ist, repariere die gespaltene mentalität . . . denkst du, es wäre jetzt einfacher, als es mal gewesen ist? es ist nicht einfacher. aber weniger schmerzlich, weniger traurig, das leben ist kein schäbiges drama mehr. der kampf . . . la lucha . . . continua . . . während wir uns vorbereiten . . . wir bereiten uns vor, dass sie . . . in unsere seelen . . . in unsere mitte . . . zurückkehrt . . . die lang verbannte . . . freude . . .

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99 MEDITATION. 1970 Bah. Missmutig. Wenn persönliche Beziehungen den Körper schwächen, den Geist zerschmettern. Wir verbringen unser Leben damit, die Launen zu mildern, mit denen wir geboren sind. Stein. Wenn unsre Freunde aneinandergeraten, wie soll da Frieden sein auf der Welt? Pound. Ich rede über die Masse, über die Revolution, aber wo bleibt meine Liebe? Bah. Missmutig. Dichtung und Philosophie sagen: „Erst musst du dich finden.“ Yoga und Tantra auch. Ja, stimmt, ich muss mich finden, aber ich finde mich sicher nicht, wenn ich dich nicht finde, und ich werde dich nicht finden, wenn ich den tyrannischen Staat nicht stürze, in dem ich, der Anarchist, ein Sklave bin. Und ich werde in der freien Gesellschaft keine Freude finden, wenn ich meine Neurosen nicht loswerde, meine morbiden Anteile. In dieser blöden Gesellschaft werden wir nie (Freud) frei von neurotischen Tendenzen sein. Keiner von uns ist frei, bis wir nicht alle frei sind, alles oder nichts, das ist die einzige Realität. Utopie. Paradise now. Liebe ist Perfektion. Wer nicht leidet, fühlt nicht. Wer nicht traurig ist, ist von Lügen berauscht. Sich des Leids bewusst zu sein, hilft dabei, den Schlüssel zu drehen . . . ein Stück. Croissy-sur-Seine, Frankreich, 7. Juni 1970

100 Bomb Culture. Jeff Nuttall. 1945 ändert sich der Ton. Apokalyptische Millenniumsängste und Visionen kapern den gesunden Menschenverstand, während das Jahr 2000 näher rückt. Auszug aus dem Brazil Herald (Rio de Janeiro): „Washington (UPI) 15. Oktober 1970 – Im Abstand von nur 90 Minuten testeten gestern das kommunistische China und die Sowjetunion Multimegatonnen Atomwaffen, wie die AtomenergieKommission berichtet. Stärkste Detonation der SU seit den ‚doomsday bomb tests‘ von 1961–62.“*

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Die Töne, die wir nicht hören, sind die Töne des Mysteriösen Theaters. Die primitiveren Völker lauschen der Welt der Geister. Sie wissen, dass es sie gibt. Die Töne, die wir nicht hören: das Wehklagen der Unterdrückten (wenn wir sie hörten, könnten wir nicht schlafen), die Bombe (wir würden den Staat abschaffen), das verhungerte Stöhnen schwarzer ausgetrockneter Kehlen (wir würden Geld abschaffen), das monotone Ächzen entweichenden Lebens, während wir unser Leben verschwenden mit lauter unnützer Arbeit, die das lieblose System unterstützt. Nein. Falsch. Ich liege falsch. Es reicht nicht, den Ton zu hören, den die Kugel macht, wenn sie in den Körper eindringt, tack; damit wir die Pistole loslassen, müssen wir uns auf den Ton einstimmen, der nur zu hören ist, wenn Kundalini durch die Chakren aufsteigt. Was für ein Ton wird das sein? Om? Klingt so die Stimme nach der Revolution? Mit theatralischen Mitteln kann dieser Ton erzeugt werden. Der Alltag dringt ins Ohr durch das, was wir unmittelbar physisch hören. Theater, Ritual, Trance ändern das. Wir durchbrechen die tägliche Schallmauer. Das Theater muss einen Ton erschaffen, der das Ohr für die Natur der Dinge empfänglich macht – für ihre Ordnung –, für das Schreckliche und das Schöne, für den stummen Ton der Ausgebeuteten, denen das Stöhnen vergangen ist, für den Mond und die Körper, die im Weltall kreisen, für das Knarren des Schiffes, auf dem wir fahren, für das Dröhnen der Sklavengesellschaft, für den Klang des menschlichen Geistes nach der Revolution, dafür, wie es sich anhört, wenn die ganze Welt zu essen hat und sich der kleine Planet in Frieden dreht. Rio de Janeiro, 16. Oktober 1970 * Am 6. November 1971 sprengte die Atomenergie-Kommission eine fünf Megatonnen schwere Atombombe auf der Insel Amchitka in den Alëuten.

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101 BRIEF ÜBER DIE FRAUENBEWEGUNG. (JUDITH MALINA AN CARL EINHORN) Croissy-sur-Seine, 9. April 1970 Lieber Genosse/Geliebter/Freund: Bin gerade aufgestanden, habe Ishas Babyarm von meinem Hals losgemacht, als sie im Schlaf Mama murmelte & habe mich ans Feuer gesetzt, bevor alle aufwachen, um dir zu schreiben. Ich komme gleich zur Sache – in letzter Zeit habe ich über die „Stellung“ der Frauen sehr viel nachgedacht, gelesen, und gesprochen. Wir, die wir für die große Revolution der Linken arbeiten, sind nicht typisch, kämpfen uns aber stetig vor zu denen, die typisch sind, kämpfen für sie. Was die Sexuelle Revolution und die Frauenbefreiung angeht, ist niemand typisch. Du bist nicht typisch, und ich bin nicht typisch. Es zählt nur, dass du Sklave deiner vorprogrammierten Rolle bist wie jeder Chef, Soldat, Polizist; genau wie ich Sklavin meiner vorprogrammierten weiblichen Rolle bin wie jeder Bauer, Lohnarbeiter, Schwarze . . . (oder Soldat oder Polizist), uns geht es auch um die vielen Männer, die ihre Frauen & Freundinnen versklaven: Kinder, Küche, Kunt. Und was wir tun und lernen wirkt sich auf sie aus: Der Kern der Sache ist der: Besser gar keine sexuellen Beziehungen, als zulassen, dass sie sexistisch geprägt sind, das muss die radikale Haltung der Frauen sein! Das ist nicht radikaler, als so lange zum Streik aufzurufen (nicht zu arbeiten, seinen Dienst nicht zu tun und auch die Vorteile der Arbeit nicht zu genießen), bis der Arbeiter unter menschlichen Bedingungen arbeiten kann. Im Hinblick auf Kindererziehung und auf soziale Ökonomie gibt es ein spezifisches Problem. Aber das gilt nicht in psychologischer Hinsicht! Das ist die große Lüge! Dumme Häschen sagen: „Aber Frauen brauchen Männer“, oder: „Aber ich liebe die Männer“ & das tun sie (ich auch) – trotzdem bestehen wir darauf, dass unsere Bedürfnisse und unsere Liebe erfüllt werden ohne Erniedrigung & soziale Ungerechtigkeit. Es ist wichtig, dass dies nicht vereinfacht wird zu der Aussage: „Ich schlafe nicht mit dir, bis du mich gut behandelst“, denn das wäre immer noch eine Form von Handel und Unterwürfigkeit – auch wenn das in vielen Fällen gesagt werden muss & gesagt wurde & gesagt werden wird, jetzt und in Zukunft. – Es muss eine starke politische Haltung werden: nicht nur, weil wir persönlich davon profitieren. Wie fandest du Bobby Seales Diskussion über Frauen in seinem Interview in The Movement? Ich habe ein Zitat in The Great Speckled Bird gelesen – er hat recht! „Ohne die Befreiung der Frauen hört die weit verbreitete Unterdrückung der verschiedenen Gruppen niemals auf“ – das sagt ein Black Panther! 215


Ich trage die durchnässten Stiefel jeder Farmersfrau, die Pumps jeder Sekretärin – sie sind meine Schwestern & wir haben uns gefunden – und die jungen Frauen, die als Sexobjekte missbraucht werden, sind meine Schwestern; und der Sklave, der behauptet, ich liebe meinen Job, ich liebe meinen Meister, ist umso mehr versklavt, weil sein Herz taub ist. Reich zeigt uns in Die Sexuelle Revolution, dass in einer repressiven Gesellschaft niemand sexuell frei sein kann, in jener grauen Vorzeit, als unsere Bewegung noch keine Hoffnung machte, war er pessimistisch. Aber wir sind da und wollen all das ändern – und („Aber was kann ich tun?“) wir müssen nach folgendem Prinzip handeln: Bis die Revolutionäre Situation da ist, stecken wir alle in der alten Struktur fest. „Keiner ist frei, bevor nicht alle frei sind.“ Den Slogan fassen wir ökonomisch auf. Wir müssen nach dem Prinzip handeln: Niemand ist sexuell unschuldig, solange es sexuelle Unterdrückung gibt. In der Hölle können zwei Menschen kein kleines Eden erschaffen. Obwohl wir das versuchen, weiß Gott! Aber die, die Funken von Liebe, Funken von Glück in sich tragen, dürfen deshalb nicht glauben, wir hätten mehr getan, als nur unsere Gier zu stillen. Wir haben höchstens geholfen, „ein bisschen weiterzuleben“ und unsere Arbeit zu tun. Ich verachte Männer, die Frauen missbrauchen. Totale Revolution heißt, Weg mit den Scheißsexisten! Wenn du erkennst, und alle, die sind wie du, dass ihr erstens Ausbeuter seid, und dass euch zweitens diese Macht genommen wird, ob ihr eure männliche Überlegenheit nun verteidigt oder nicht: Dann können wir uns zusammentun – Auge in Auge & Hand in Hand – und niemand wird herrschen – weder werden Männer über Frauen herrschen noch werden die Reichen die Armen missbrauchen, die Starken werden die Schwachen nicht überrennen und die Aggressiven die Schüchternen nicht einschüchtern. Solange kein echter Hoffnungsstrahl jenen Teil der Revolution trifft, der die alte Ordnung aufbrechen will, passiert das nicht – Nein, die wischi-waschi-Friedensstifter werden es nicht tun – Auch nicht, vor effektvoll brennenden Barrikaden Steine auf die Polizei zu werfen Auch nicht die Schlachten, in denen es um die ganz großen Fische geht – Es war schwer, diese Seite zu schreiben. Ich liebe dich. Und ich komme, die Sklaven zu befreien! BEFREIE UNSERE SCHWESTERN! Befreie mich!

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Fortsetzung 10. April 1970 Zu Lenins Geburtstag lese ich lese Lenin und Krupskaja. Krupskajas Erinnerungen an Lenin – sie ist ein Knaller von einer Frau, kühn, stark, inspirierend für ihre Umgebung. Warum erfüllen mich die beiden mit Hoffnung, obwohl wir alle wissen, was passiert ist? Sogar Mao erfüllt mich zum ersten Mal mit Hoffnung – wenn er nur vom Militär nicht so besessen wäre. Ich schicke dir ein Paket mit der Kopie eines interessanten Anhangs zu L’Idiot Internationale, den Jean-Jacques (Lebel) und andere Anarchos zusammen mit den Maoisten verfasst haben. Es war ein erster Versuch zur Zusammenarbeit & J-J beschreibt höchst intensiv den Schrecken dieses Versuchs – „Es hat meine Nerven zerrieben. Es war beinahe sexuell nervenaufreibend, mit Leuten zusammenzuarbeiten, mit denen wir derart zerstritten waren.“ Das ist fein beobachtet, „sexuell nervenaufreibend“. Denk mal darüber nach. Fortsetzung 11. April 1970 THEORIE:

I Leiden kann nicht in Energie verwandelt werden. II Hass kann in Energie verwandelt werden. III Leiden kann in Hass verwandelt werden. IV Und dann: Hass in Energie.

Ursprünge dieser Theorie. A. Fanons Theorie der Unvermeidlichkeit von Gewalt der Unterdrückten. B. Die Wut der amerikanischen (reichen) weißen Jugend, die die Rolle des Unterdrückers ablehnt. C. Meine eigene Wut, wenn ich meine Rolle als Frau in einer sich wandelnden Situation betrachte. Das heißt: Ich möchte den Kampf in Stufe I – „Leiden zu Energie“ austragen. Aber das geht nicht. Als Pazifistin möchte ich Stufe III am liebsten ganz abschaffen – Aber ich weiß nicht wie.

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Totale Ablehnung der Stufen II & III scheint zu folgender Konsequenz zu führen: 1) Unterwerfung (Ende der liberalen Linie) oder 2) Enorme Verzweiflung Fragen: Muss der unvermeidliche Hass (falls er wirklich unvermeidlich ist) zu zerstörerischen Gefühlen führen: das heißt, wo ist der Unterschied zwischen dem Wunsch zu gewinnen & der Wut zu zerstören, beides verlangt Gewalt? Gautama, Jesus, Gandhi stellen eine Theorie auf, in der der Leidende zum Akteur wird & sein Leiden spendet ihm die Energie, die er braucht. Die Geschichte zeigt, dass dieser Vorgang irgendwo abbricht & wieder in Gewalt mündet oder in Unterwerfung. An welchem Punkt geschieht dieser Zusammenbruch? Wo liegen die Alternativen? Ich versuche, mir einen Weg durch den Dschungel der Wirrungen zu bahnen. Aber ich bin nicht der Meinung, es könne „nur im Prozess klar werden“. Obwohl sich da natürlich erst definitive Klarheit einstellt. Natürlich brauchen wir beispielhafte Aktionen (wie in Paris im Mai 68), auch wenn wir ohne Theorie weitermachen müssen, ohne Karte, obwohl wir genau wissen, dass Karten ungenau sind und sein müssen. Ich schätze deinen Hinweis auf den Unterschied zwischen „einer Sammlung von Theorien“ und „praktischen Plänen“. Du hast recht. Ich warte nicht darauf, dass es jemand „klar macht“. An die Arbeit. Damit wir alle, wie Lenin und Krupskaja, etwas Nützliches aus unseren kurzen Leben machen. Ich arbeite die ganze Zeit, im Wachen & Schlafen, im Traum, beim Reden, beim Lesen, im Kino, beim Essen und beim Scheißen, wenn ich Isha unterrichte. Ich arbeite dran. Und du auch. NIEDER MIT DEN SLOGANS (außer) ICH LIEBE DICH Judith 218


102 MEDITATIONEN ÜBER REVOLUTION Genossen, Wir sind in Gruppen zersplittert, aber das große Lager der Gegner, der gemeinsame Feind ist nicht zersplittert. Kein Mensch ist mein Feind. Darauf bestehe ich bis zu meinem „letzten Tag“. Aber in dem System – für das so viele arbeiten – in seiner Dinglichkeit, in seiner Bildsprache und unter seinen Idolen und Ikonen erkenne ich meinen Feind. Zerschlagt die Götzen, nicht die Menschen. Abraham. Diejenigen, die die herrschende Macht darstellen, streiten sich untereinander – Demokraten und Republikaner, Konservative und Liberale, Sozialisten und Rechte, Faschisten und Peronisten –, gegen uns aber sind sie vereint. Gegen sie sind wir vereint, aber wir, die radikalen Revolutionäre, sind entsetzt über die Fehler der Volksfronten, akzeptieren, dass unser Kampf gegen den großen weißen Wal, Symbol des Todes, zersplittert ist, wir verzehren uns nach Reinheit, wir wissen, dass ein Tropfen Reinheit, würde er raffiniert, wie Uranpecherz zu Radium raffiniert wird, genügte, den Kapitalismus zu Fall zu bringen. Wir fechten das jetzt untereinander aus, weil das erledigt sein muss, wenn wir gewinnen. Aber das wird nie passieren, weder jetzt noch später, auch nicht, wenn der Mammon gefallen ist, wenn der Messias da ist, kein Ende im Prozess des Verfeinerns und Mischens. Die Theaterkritiker werden nicht müde, uns gegeneinander auszuspielen. Sie wollen nur einen Löwen, aber wir sind alle Bestien. Gleich groß. Ich sehe die Fehler in Maos Weg, aber er macht die Menschen satt; auch Stalins Weg gefällt mir nicht; an Castro und Machno habe ich etwas auszusetzen, an Trotzki, Kropotkin und Bakunin, an jedem: Ich will keine Gewalt, ich will keinen hartherzigen Sozialismus, ich will keine verhärtete Massenkultur, ich will keine Bürokratie, ich will keinen ideologischen Imperialismus, vor allem aber will ich keinen Polizeistaat mehr, Genossen, und am allerwenigsten will ich den Dämon Kapital über uns mit seiner unmenschlichen Ausbeutung, die uns in den Tod treibt, vor allem will ich, dass die rassistische Folter aufhört. Ich bin auf der Seite derer, die ihre Arbeit verkaufen, ihre Körper, ihr Leben, um dem Hunger zu entkommen. Ich denke an die Frauen, die auf ihren Köpfen Wasser die hohen Berge Rios hinauftragen, damit in Kalifornien jemand den Wasserhahn aufdrehen kann, ich denke an die Kinder, die in Indien hungern, damit Professoren in Kansas über Freiheit 219


reden können, ich denke an die aus dem Gleichgewicht geratene Welt, den verschmutzten Planeten, das bevorstehende apokalyptische Desaster, wenn – was für ein Wahnsinn – die Welt einstürzt, das Licht ausgeht, und wir untergehen, viel zu früh. Dies ist ein Aufruf, unsere Kräfte zu sammeln, um die Struktur zu zerschlagen. In der kreativen Unordnung, die dann folgt, werden wir den richtigen Weg finden. Denkt daran, wir sind vereint in unserem gemeinsamen utopischen Traum. Rio de Janeiro, 1. November 1970 Täuscht euch nicht, die Revolution findet bereits statt; wir sehen sie heute, wir leben sie, und wir berichten einander, was passiert. Die Performer haben einen Bewusstseinsstand erreicht, an dem sie sich nicht mehr als Teil eines Prozesses betrachten, über den sie keine Kontrolle haben. Sie betrachten sich nicht als Performer in persönlichen Dramen, die von persönlichen Verlusten, Gewinnen, Tragödien und Triumphen handeln. Sie sehen sich als Performer mit einem Bewusstsein planetarischen Ausmaßes. Wir haben das Stück geändert. Es ist schon verändert. Es entsteht, während wir es aufführen, und es ist lang, es ist Episches Theater. São Paulo, Brasilien, 20. August 1970 Organisation und Spontaneität. Wie man die Masse vorbereitet. Die Masse: wird Angst haben, zögern, an der Vergangenheit festhalten, an Zwängen, an pervertierter Liebe. Aber sie müssen wissen, was sie erwartet, damit sie, wenn es passiert – wenn sie es tun –, nicht verwirrt sind, damit sie wissen, was zu tun ist, damit sie einen Rahmen haben, von dem aus sie die konterrevolutionäre Propaganda bekämpfen können, und sie brauchen Erfahrung, wenigstens eine Vorstellung, um ihre Arbeit, ihre wichtige Rolle, zu planen. All das sind notwendige Investitionen in künftiges spontanes Handeln. Zangen, um die Ketten zu zerschneiden, die das Handeln verhindern. Ideen, die nicht vorenthalten wurden, sind die Zangen. Darin besteht die Arbeit des Theaters, es ist das Medium der Information.

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Die andere Hälfte der Arbeit: jene inspirierenden und mutigen Arbeiter organisieren, die revolutionäre Vorhut jener sehnsüchtigen und glühenden Massen, die zerlumpt sind, heilig, wild, süß und dazu all diese Narren und Helden, die Heiligen, Geliebten, die Abenteurer, Poeten, Techniker, Intellektuellen, Athleten, Studenten, Wahnsinnigen, die Schönen, die sich der Produktionsmittel bemächtigen. Gruppen von 5 bis 50 Leuten, die zuerst die Fabriken unter ihre Kontrolle bringen und ihren Arbeiterkollegen zeigen: Schau dir das an! Das kannst du tun! Die Gruppen, die Radio- und Fernsehsender übernehmen und verkünden: Die Revolution ist da! Die, die die Wasserbetriebe unter ihre Kontrolle bringen und die Elektrizität, die Straßen, die Lebensmittelversorgung. Um die Güter und Dienste unter die Leute zu bringen, ohne dass dabei Geld im Weg ist. Das ist ein anderes Theater. Die Vorbereitung. Weniger öffentlich. Proben unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Keine Zuschauer, bis es losgeht. Ouro Preto, Brasilien, 27. November 1970 Die Revolution besteht nicht darin, dass die alte Struktur wiederhergestellt wird, die Rollen bleiben gleich, nur die Besetzung ist neu. Wir wollen keinen neuen König haben, wir wollen ein Volk sein, in dessen Mitte das Heilige wohnt. Detroit, 12. Dezember 1968 Ich glaube nicht, dass Sozialismus ein notwendiger Zwischenschritt ist: Ich glaube, dass Sozialismus revisionistisch ist. William Shari. Hancock, New York. April 1970. Wenn wir von Revolution sprechen, sprechen wir über das Einzige, was in unserem Zeitalter Thema sein kann. Andere Zeitalter hatten andere Drehund Angelpunkte. Unserer heißt Veränderung. Widersprüche: Es ist klar, dass diese Veränderung viele Aspekte hat, Recht auf freies Essen hat Vorrang gegenüber dem Recht auf freie Meinungsäußerung, denn erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral (Brecht). Die Totale Revolution besteht aus vielen Revolutionen, alle Menschen satt machen, das Töten stoppen, das kommt vor vielen Veränderungen, die noch ausstehen, freies Essen und die freie Meinungsäußerung hängen vielleicht sogar voneinander ab; Sklaven bekommen zu essen, weil sie arbeiten. Rio de Janeiro, 16. Oktober 1970 221


Damit die Wut nicht umsonst gewesen ist. Frauen geraten so leicht und unbewusst ins Schleppnetz des Rückzugs (Eindämmung), auch wenn sie unbewusst in die vielleicht tiefsten Bereiche der Revolution vordringen. Das ist immer so gewesen, seit sich der Planet in den Zyklus patriarchalischer Hegemonie begeben hat. Wenn sie gegen Matriarchinnen aufbegehren und in größter Angst die Hälfte aller schöpferischen Energie vernichten, wenn sie Frauen sadistisch auf die Position des Minderwertigen verbannen, halten die Patriarchen jeden kreativen weiblichen Impuls, die empfängliche Schönheit der Frauen zu befreien, für einen Witz. Wenn die Frau das Wort ergreift, schlimmer noch, wenn sie handelt, ist das ein Witz, und dieser paternalistische Muskelkrampf von einem männlichen Gehirn reduziert die Sklavin auf ein Bild, es trägt Züge einer Comicfigur. Die Frauenbewegung berührt das entscheidende physische Zentrum der Revolution unserer Zeit. Ich weiß das, weil ich zum Teil eine Frau bin. Die Frauen sagen, das Liebesabkommen sei außer Kraft gesetzt. Der Penis ist eine Keule. So wird er eingesetzt. Ficken, die übliche körperliche Form der Liebe, ist ein schmerzhafter Vorgang, es ist Dominanz und Unterwerfung, Stärke und Schwäche, Stolz und Erniedrigung, Herr sein und Sklave. Was wir sind, ist nicht das, was wir sein sollten. Was wir tun, ist nicht das, was wir weiter tun sollten. Das Muster unseres Verhaltens ist weder Schicksal noch ist es tödlich. Der Gesellschaftsvertrag zwischen Herren und Sklaven ist in kapitalistischen oder sozialistischen Nationen die Fortsetzung des Sexualvertrags. Deshalb wird die Arbeiterklasse in den neuen sozialistischen Ländern noch immer versklavt, weil unser Verständnis des gesamten Lebens seinen Ursprung hat in unserer Auffassung des Sexualvertrags. Der Vertrag (wie ihn die patriarchalische Gesellschaft aufgesetzt hat) basiert auf Dominanz und Unterwerfung, der Mann dominiert die Frau, das ist die Matrix der Vereinbarung und davon ausgehend nehmen wir alle menschlichen Verhältnisse nach dem Muster von Dominanz und Unterwerfung wahr, Besitz und Eigentum, Kapital und Arbeit; unser sexuelles Verhalten fungiert also als Modell unseres Verhaltens insgesamt. Der Arbeiter, der sich wirtschaftlich unterwirft, erlaubt dem Chef, ihn sozial zu dominieren; gleichzeitig versucht der Boss natürlich, ihn aktiv zu dominieren, die Kontrolle zu behalten (weil es sich ‚gut‘ anfühlt). Wenn wir die Komplizenschaft der Sklaven in dieser Hinsicht nicht offenlegen, werden wir, wie seit tausenden von Jahren, als Sklaven sterben. 222


Aber Achtung, Arbeiter der Welt, die Ketten werden nicht fallen, nur weil wir uns das wünschen, niemals. Erst müssen sich die Sklaven, die Frauen, erheben und ihren Herren die Waffen abnehmen. Die Frauenbewegung zielt auf die Ursache unserer Krankheit. Was erzählen uns unsere Träume und was sagt die anthropologische Forschung? Dem Mythos zufolge begann alles im Goldenen Zeitalter, als wir harmonisch und gleichberechtigt in Stämmen lebten, versorgt, angeführt von weiblicher Fruchtbarkeit, beschützt und geleitet von männlicher Stärke. Dann kam Ackerbau, das Getreide, und mit ihm das Matriarchat, eine gemeinschaftliche Gesellschaft, die reichlich gesegnet war mit Tugend und Produktivität; dass ein Geschlecht sich über das andere erhob, zog Leid nach sich und die angebetete Frau, die Göttin, wurde grausam: korrumpiert von der Macht, die ihr ihre Brüder und Schwestern vertrauensvoll übertragen hatten, hat sie das Fürchten gelernt: Furcht, an ihrer Verantwortung zu scheitern, ihre Furcht wuchs und verschleierte die Wirklichkeit, sie verwechselte die Furcht vor eigenem Unvermögen mit der Furcht, ihre Kraft zu verlieren. Ihre Macht. Und sie verwechselte die Macht, die ihr anvertraut worden war, mit der Kraft, die während des Liebesaktes ihr Innerstes durchflutete, und deshalb wurden ihre Geliebten einmal im Jahr geopfert; die Männer wurden versklavt, und dann lehnten sie sich auf, entkamen und wurden Jäger, und der Ackerbau wurde von den Jägern erobert und das Patriarchat entstand. Und noch mehr Korruption. Abel ist der Jäger. Kain ist der Bauer. Und Gottvater – der Seelenjäger (de la Vega) – zieht Abels Opfer (totes Fleisch) vor und verweigert Kains Opfer (Getreide), weil Er keine Achtung davor hat, und Kain lehnt sich auf und tötet, und er wird Mörder und Gejagter und Jäger, und der Patriarch Gottvater regiert in Sicherheit und seine Priester rechtfertigen das alles. Jetzt, da Kain auch Jäger ist – er hat Abel getötet –, bekommt er den Segen, ein Zeichen auf die Stirn, dass er beschützt wird, dass ihn niemand verletzt, denn er wird geliebt, er, der Mörder, Gottes geliebter Mörder-Jäger. Die nächste Entwicklungsstufe des Menschen. Das neue heuristische Prinzip. Lancelot Law Whyte. Heuristisch: Wege des Lernens, Wege des Denkens. Es gibt ein Rezept für körperliche Liebe, es ist weder im Kamasutra noch in einer Arabischen Liebesfibel zu finden, denn die Jünger des Tantra Yoga haben es beschrieben. Ihr seid beide berauscht. Berauscht vom Geist, vom Universum, von der Kontemplation des Körpers, berauscht von Sinneswahrnehmungen, vom Berühren, Sehen, Schmecken, Hören, berauscht vom Ganges, von der Musik, dem Weihrauch, den Gerüchen, der unsterblichen Sehnsucht, von der Zeit und voneinander. Die Welt erkunden, 223


die Welt des Körpers, seine Geografie erkunden. Mit jeder Berührung über die geheimen Inseln, die Gewässer des Mondes hinausgehen, über den Golf des Fleisches, den See des Verlangens hinaus. Es dauert lange, die Zeit dehnt sich, sie gleitet. Der Mann im Lotussitz, die Frau, yoni, hüllt das lingam ein, gleitet daran entlang, wie die Nacht an der Erde entlanggleitet, ihre Beine um seine Hüften geschlungen, ihre Arme wie Reben, wie Sternstrahlen, Körper ohne Grenzen, die Zeit hält den Atem an und atmet, sie ist die See, der Berg. Geist dringt in Geist ein, wölbt sich unendlich sich selbst entgegen, sie hält das Weltall in ihren Armen, denn das ist er, er hält den Kosmos in seinen Armen, denn das ist sie. Gegenseitiges Aufladen mit supramentalem Leben, beide sind high, Zittern, Laute, Ekstase, Orgasmus. Ohne, dass Lingam jemals Yoni schlägt, weder Aggression noch Passivität, ohne Schmerz zuzufügen oder Schmerz zu erfahren, körperlich und geistig vereint, es ist Transzendenz, die neue Welt, schwebend, unendlich, mehr als Vergnügen: Freude. Auf Hindustani heißt es: Maithuna: Einheit. Wenn der Masochist (da kenne ich mich aus, weil das mein Name, meine Natur, mein Muster ist) die Parallele zwischen seinen sexuellen Gewohnheiten und seinen täglichen Verhaltensmustern erkennt, verändert sich etwas. Wenn das Super-Ego spürt, dass es nach dem alten Muster der Libido handelt und leidet, dann verändert sich etwas. Wenn das Super-Ego blitzartig merkt, dass es sich selbst missbraucht, dass es psychologischen Schmerz, kulturelle Entbehrung, ökonomische Versklavung, politische Erniedrigung und sozialen Freiheitsentzug hinnimmt, nur weil all das ein unhinterfragtes Muster des scheinbar Normalen ist, dann verändert sich etwas. Wenn wir unsere sexuellen Gewohnheiten verstehen, verstehen wir die Welt; wenn das Super-Ego (smart, klug, superintelligent) dagegen rebelliert, sucht es einen Ausweg; und dieses Muster, dem auch die kommunistisch orientierten Revolutionen unterliegen, wird derart erschüttert, dass es in den Stahltoren nur so kracht. Das ist das Ende der ersten Spaltung: Sadismus-Masochismus. Damit wir keine Rollen mehr spielen, nie mehr sadistischer Meister sein oder masochistischer Sklave: symbolische Bilder und Markierungen sind zerrissen, die Realität erscheint, wir erscheinen: real füreinander, in einem realen Verhältnis: Ich und Du. „Nein, wir wollen die sozialistische Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, den Menschen, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne ‚Aufseher und Buchhalter‘ nicht auskommen werden . . . Wir sind keine Utopisten. Wir ‚träumen‘ nicht davon, wie man unvermittelt ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskommen könnte; diese anarchistischen Träumereien, die auf einem Verkennen der Aufgaben der Diktatur des Proletariats beruhen, sind dem Marxismus wesensfremd, sie dienen in Wirklichkeit nur dazu, die sozialistische Revolution auf die Zeit zu verschieben, da die Menschen anders geworden sein werden.“ Lenin. Staat und Revolution. 224


Die sozialistische Revolution, von der der große Lenin spricht, hängt an dem einen Widerspruch: an der Fortsetzung eines unerträglichen psychosexuellen Zustands: des Leidens, der „Unterordnung . . . Kontrolle . . . Aufseher . . . Buchhalter . . .“ Die fundamentale Revolution der Kultur befreit uns von diesem sexuellen Muster: uns befreien von dem sado-masochistischen Charakter, der uns versklavt. Das ist kein „Traum“, keine „Utopie“: sondern ein fundamentales menschliches Bedürfnis: frei sein von Qualen, frei von einer psychosexuellen Mentalität, die ununterbrochen neue Sklavensysteme gebiert. Genossen, Bruder Wladimir Iljitsch, es ist eine Illusion, dass die Revolution anders gelingen kann: Illusionen sind konterrevolutionär. Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus bleiben traurige Travestien dessen, was sie einmal gewollt haben, bis uns dieser Wandel gelingt. Rio de Janeiro, 10. November 1970. Haftzellen, D.O.P.S., Belo Horizonte, Brasilien, 27. Juli 1971 Die sexuelle Revolution ist die proletarische Revolution. Murray Bookchin. Die Sklaven befreien, indem die unausgeglichene Sklavenmentalität in eine ausgeglichene Mentalität transformiert wird: die revolutionäre Gleichberechtigung, von der wir seit zighundert Jahren reden: von Irrsinn zum Sinn: Entkommen der Sklaven: und damit dem Staat entkommen (der Herrschaft), dem Gesetz (der Peitsche), dem Geld (das Idol, vor dem wir kriechen sollen), dem Eigentum (die Last, die wir tragen), der KriegPolizei-Waffen-Gefängnis-Gewalt (dem Schmerz, dem wir uns unterordnen). Eine Studie sado-masochistischer Literatur, de Sade, Sacher-Masoch, Pauline Réage, Apollinaire, R. Crumb: Das sado-masochistische Ritual führt immer zum Tod des Masochisten. Das Entkommen des Sklaven markiert vielleicht den ersten Schritt weg vom Tod, der im sado-masochistischen Ritual das unvermeidliche Ende ist. Passt auf. Iowa City (Iowa), USA, 22. Januar 1969 Haftzellen, D.O.P.S., Belo Horizonte, Brasilien, 23. Juli 1971

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103 MEDITATIONEN ÜBER GEWALT OM SRI MAITREYA Gewalt ist das zentrale Thema des Theaters unserer Zeit. Zum ersten Mal in der Geschichte wird die Autorität der Gewalt in jedem Winkel der Welt, in jeder Kammer des Geistes in Frage gestellt. OM SRI MAITREYA „Ich wage zu behaupten – auch auf die Gefahr hin, lächerlich zu erscheinen –, dass der wahre Revolutionär von großen Gefühlen der Liebe geleitet wird.“ Che Guevara. OM SRI MAITREYA Nur eine wirkungsvollere Alternative zur Gewalt kann den Grundzweck der Revolution erfüllen. OM SRI MAITREYA Gewehre sind das Goldene Kalb der Revolution. OM SRI MAITREYA Gewalt, gewaltsame Revolution ändern die Dinge, aber die Menschen bleiben, wie sie sind. OM SRI MAITREYA „Die erste Frage ist die, wie die Massen über die Gewalt denken. Die Erfahrung lehrt, dass sie pazifistisch sind, vor der Gewalt Angst haben; die zweite Frage ist, wie sich die Frage der dennoch notwendigen Gewaltanwendung zur Stellung der Massen dazu verhält. Die Antwort auf beide Fragen lautet und kann nur lauten: Je größer die Massenbasis der revolutionären Bewegung, desto geringere Gewaltanwendung ist notwendig, desto mehr schwindet auch die Angst der Masse vor der Revolution.“ Wilhelm Reich, Was ist Klassenbewusstsein? OM SRI MAITREYA Bewaffneter Kampf darf nicht mit Revolution verwechselt werden. JM. 226


OM SRI MAITREYA Klassenkampf und Klassenkrieg. Kampf bedeutet nicht automatisch oder unvermeidlich Krieg. OM SRI MAITREYA „Jeglicher Gebrauch von Macht demoralisiert den Benutzer.“ Dühring. „So denkt ein Pastor.“ Lenin. Dass Lenin ihn abkanzelt, entkräftet nicht das Gewicht dieser einzigen Aussage Dührings, die Gegenwind standhält. OM SRI MAITREYA Gewaltsame Revolution verhilft der Partei zu Macht. Gewaltlose Revolution verhilft dem Volk zur Macht. William Shari. OM SRI MAITREYA Niemand ist frei, solange es die Polizei gibt. Es gibt keinen Kommunismus, solange es Polizei gibt, weil es keine Gemeinschaft gibt, wo Polizei ist. OM SRI MAITREYA Wenn man den tiefen Sinn der totalen Revolution versteht, wird klar, dass Teil-Revolutionen nicht akzeptabel sind, insofern sie den eigenen Zielen im Weg stehen. OM SRI MAITREYA Auf die Dauer kann der Mensch die Prinzipien von Gewalt und Autorität nicht hinnehmen. Wer Gewalt verteidigt, ist gespalten. Schizophrenie. Das Problem des Revolutionärs, der für Gewalt ist, besteht darin, dass Gewalt den Menschen von Natur aus fremd ist. Vielleicht träumen sie davon, die weiße Herrin zu vergewaltigen und zu zerfetzen, das Anwesen niederzubrennen, die Bosse und Generäle zu erschießen. Aber sie träumen auch davon, Herr zu sein, sich wie ein Herr aufzuführen, jede Menge Kronleuchter, Frauen und Lakaien zu besitzen, genau wie der Herr. Was beweist das. Auch die Träume sind von den korrumpierenden Agenten des Systems infiziert. Genauso gut könnte man sagen, dass man jeden Nachmittag um vier Uhr von Liebe träumt, von einem anderen Leben.

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OM SRI MAITREYA Der Erste Versucher (ein ehemaliger Pazifist) Macht alle Menschen satt, tötet die Reichen, wenn es sein muss, tötet die hohen Tiere, tötet auf jeden Fall das lausige Militär, tötet die scheiß Aktienhändler, Todesstrafe, denn sie haben es den Armen, den Arbeitern geraubt, tötet die Speichellecker, die die Reichen beschützen, tötet die Polizei, bringt sie um und schafft sie aus dem Weg, los, bringt es hinter euch, aber macht die Menschen satt, die Kinder, die barfüßigen, hungernden, leidenden Unterdrückten. OM SRI MAITREYA Der Zweite Versucher (ein radikaler Mystiker) Alles ist eins. Die Saat muss sterben. Den Mörder nicht töten heißt töten. Den Keim nicht töten heißt das Kind töten. Das Kind ist rein. Die Menschen sind Kinder. Den Mörder nicht töten ist unrein. Töten heißt Leben schenken. OM SRI MAITREYA Winterdale Road Hancock, NY Mitte April 1970 Lieber Julian, . . . Hier eine Meinung, besser gesagt, eine Ansammlung von Gedanken über das Problem, das wir miteinander haben, in meiner anderen Sprache ausgedrückt (nichts wirklich Neues), die vielleicht eine andere Taktik vorschlägt . . . Die Wahrheit ist, wenn du dich sorgst, sorge ich mich, wenn du unglücklich bist, bin ich unglücklich, ob es wichtig oder unwichtig ist, mach dir selbst einen Reim darauf. Anarchismus und Gewaltfreiheit sind nicht Mittel oder Zweck für das eine oder andere, es sind Synonyme. Keine Taktiken oder Strategien, sondern eine Art zu leben, deren revolutionäres Ziel, wenn es erreicht ist, die Zukunft der Menschheit sein wird. Gewalt ist der Staat. Der Staat ist Gewalt. Eine gewalttätige Revolution in Betracht ziehen heißt, einen Übergangsstaat in Betracht ziehen. Beides würde sich festsetzen. Aber was ist mit den Genossen, die zweifeln? Sich von ihnen abzuwenden ist keine Antwort. Eremiten sind völlig bescheuert. Die Arbeit der Welt ist in der Welt. Und unsere Genossen sind da draußen 228


und arbeiten. Unser Platz ist bei ihnen; mit unserem Verstand und unseren Körpern müssen wir zeigen, wie stark und klar wir mit ihnen zusammenarbeiten, dass unser Leben das Leben ALLER ist, was wir tun ist richtig. Wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten, heißt das nicht, dass wir Polizeistationen in die Luft jagen oder Karate lernen müssen; wir müssen mit ihnen korrekt alternativ agieren; wir müssen stark und furchtlos handeln, auf sie einwirken mit der Propaganda der Tat; wir müssen nachdrücklich handeln, im Einklang mit unseren Brüdern. Natürlich steht die Lebensmittelversorgung an erster Stelle, und natürlich wird eine sozialistische ‚Revolution‘ mehr Menschen satt machen (für eine Weile wenigstens), aber ‚Revolutionen‘ sind Reformbewegungen (beinahe hätte ich nur gesagt, aber den Hunger eines Menschen zu stillen ist das, was zählt. Die Vorräte des Vorsitzenden Mao und des Vorsitzenden Nixon füllen die Mägen.) Und es ist wichtig, dass unsere Brüder sie als das erkennen, was sie sind. (Wäre Verteilung durch die Guerilla beispielsweise weniger effektiv?) Wir müssen zu den Alternativen vorstoßen, in einer alternativen Gesellschaft leben, mit unseren Schwestern und Brüdern umgehen, als teilten sie unsere Ideale. Das werden sie. Das tun sie. Wir müssen sie nur mit unserem Beispiel ermutigen. Sie müssen nur umerzogen werden, weg von der tragischen und todessüchtigen Vorstellung, Gewaltfreiheit sei eine Taktik, die ihnen zynische Philister einreden. Die anarchistische Gesellschaft ist das strategische Ziel. Die Arbeit ist die Taktik. Gewaltfreiheit ist der Lebensstil, die Lebensform, der Nicht-Tod, aus dem die Waffen der Revolution geschmiedet sind. Zuversicht ist der Samen, der das Ei der Unzufriedenheit befruchtet, das warme Milieu, in dem es zum revolutionären Akt reift, die Nahrung, die es zur Ständigen Revolution anschwellen lässt. Gewalt ist Tod, bürgerlich, die brennende Kälte, endgültiges Verderben der Chromosomen. Gewaltfreiheit ist keine philosophische Idee, keine clevere Taktik/Waffe, gegen die sich das Große Lager der Opposition manchmal nicht verteidigen kann. Sie IST die Lebenskraft, die kreative Quelle. Wir müssen keine Angst um unsere ‚Ideale‘ haben oder uns in der ‚gewalttätigen Situation‘ um unser ‚Verhalten‘ sorgen. Wir werden handeln. Kritik üben wir später. Unser Handeln wird so richtig sein wie unser Glaube an das Leben, so stark wie unsere kreative Energie, so wirksam wie unser Kontakt zur Wirklichkeit. Unsere Kritik wird uns nicht hindern, sondern stärken. Sie belehrt und inspiriert uns zu noch mehr Freude, noch mehr Aktion. Sie ist die musikalische Begleitung für den Tanz der Revolution, und Tanzen ist die Simulation von Fliegen. Unser Wunsch ist unsere Losung, die einzige in dieser Zeit.

Liebe und Frieden in der Revolution

Bill (Shari)

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OM SRI MAITREYA Und was ist mit Gewalt gegen Eigentum? Das Problem mit Gewalt gegen Eigentum ist, dass die Leute damit Gewalt gegen Menschen rechtfertigen. Sie macht Angst. Die Verteidigung des Eigentums führt zu Gewalt. Wozu nutzt Gewalt gegen Eigentum? Hat sie symbolische Wirkung? Man könnte auch Waffen zerstören, Geld und Polizeiberichte verbrennen . . . Wie kann man Umstände definieren, unter denen Gewalt gegen Eigentum nicht das Leben oder seinen Geist zerstört? Und ist es nicht besser, die Wut auf diesem Weg auszudrücken, als sie an Menschen auszulassen? Ist die Annahme, dass jede Gewalt – gegen Eigentum und Leben – schlecht sei, die Scheinethik einer gewalttätigen herrschenden Klasse, die mehr Respekt vor Eigentum hat als vor dem Leben? Die auf Diebe schießt? Den Fluss zur Vernunft überqueren. OM SRI MAITREYA Ich bin gegen Gewalt, weil ich meine gewalttätige Natur erkenne. Ich bin gegen Gewalt, weil ich die Gewalttätigkeit der Struktur, des Feindes, des Theaters, meiner Genossen sehe. Ich bin gegen Gewalt, weil ich sehe, dass die Gewalttätigkeit, die wir noch nicht verworfen haben, uns an den Punkt gebracht hat, an dem die Basis der Gesellschaft auf Angst beruht. Und die Gefahren dieser weitverbreiteten Angst sind so groß (sie könnten am Ende tödlich sein), dass wir sofort Maßnahmen dagegen ergreifen müssen. Diese Angst wurzelt in der Gewalt, die wir zugeben, erlauben, entschuldigen und ermächtigen. OM SRI MAITREYA angesichts der ausbreitung nationaler befreiungskriege dem kult von bewaffneter gewalt sei es nun offensiv und defensiv der ikonografie einer heroischen guerilla angesichts der schuld des unterleibs erzeugt durch imperialismus mit kapitalistischer sauce angesichts des erfolgreichen bewaffneten kampfes der f l n in algerien von castro und guevara und der n l f in Vietnam 230


und in china hat der pazifistische anarchist diese kriege und alternativen zu analysieren und muss eine logische strategie schaffen ohne gewalt die hoffnung lässt auf die zerschlagung des imperialismus OM SRI MAITREYA Wenn mich jemand fragt, was ich über Gewalt denke, sagt Judith, würde ich sagen, dass (ich sie für unvermeidlich halte, ABER dass) ich daran arbeite, ihren diktatorischen Zugriff auf die Aktion und auf die Geschichte einzudämmen; ich betrachte meine Arbeit als Versuch, ihren Griff zu lockern. OM SRI MAITREYA Rudi Dutschke. 7. März 1968: „Revolution ist nicht ein kurzer Akt, wo mal irgendwas geschieht, und dann ist alles anders. Revolution ist ein langer, komplizierter Prozess, wo der Mensch anders werden muss, er muss sich in die Lage versetzen, die Gesellschaft so zu erneuern, dass die Revolution nicht die eine Elite durch eine andere ersetzt, sondern so, dass die Revolution eine neue anti-autoritäre Struktur hervorbringt mit anti-autoritären Menschen, die ihrerseits die Gesellschaft neu organisieren, sodass eine nicht entfremdete menschliche Gesellschaft entsteht, die frei ist von Krieg, Hunger und Ausbeutung.“ OM SRI MAITREYA Die sexuelle Revolution ist der Schlüssel zur Austreibung der Gewalt. OM SRI MAITREYA In der Revolution wird es zu Gewalt kommen. Wie könnte es anders sein? Wir können die Revolution nicht aufschieben, bis die Erde von Gewalt bereinigt ist. Aber im Verlauf der Revolution wird die Kraft der Liebe (Ahimsa) die Gewalt verdrängen, wahrscheinlich ungefähr zur gleichen Zeit, wenn die sexuelle Revolution die erste Phase ihres Exorzismus körperlicher Schuld abgeschlossen hat, wenn sie uns von dem schrecklichen Druck 231


befreit hat, verursacht von sexueller Angst und Frustration. Deshalb fangen wir bei den Kindern an. OM SRI MAITREYA gesegnet seist du o herr unser gott der du übel erschaffen hast damit wir etwas dagegen ersinnen OM SRI MAITREYA Heil dem kommenden Buddha! OM SRI MAITREYA er ist der frieden der in den menschen wohnt wenn sie einig sind OM SRI MAITREYA

104 Projekt: Ein Film: WIE MAN SICH AUFLEHNT: Film oder Video benutzen, um über die Revolution zu informieren. Mit einem Kompendium gewaltfreier Strategien. Auf Wände projiziert, auf der Straße, in Gemeindehallen, Wohnungen, Kellern, überall, wo sich Leute versammeln. Aber bis dieser Film im Leben gespielt wird . . . bis wir gewaltfreie Techniken für den Wandel zur Verfügung haben, hängt der revolutionäre Wandel an gewalttätigen Lösungen, und er wird an der unvermeidlichen Korruption kranken, die auf eine gewalttätige Revolution folgen muss. Deshalb sprechen wir von der unvermeidlichen Notwendigkeit der gewaltfreien Revolution. San Francisco, 18. November 1971

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105 MEDITATION ÜBER ANARCHIE Anarchie ist Ordnung. Regierung ist Bürgerkrieg. Anselme Bellegarrigue. 1848. Anarchismus bedeutet Organisation, mehr Organisation und noch mehr Organisation. Alexander Berkman. 1928. Ich weiß, dass mein Geist von Natur aus regellos oder anarchistisch ist, und ich nehme an, die Gesellschaft sollte es auch sein. Allen Ginsberg. 1970. anarchismus ist regellose ordnung regeln heißt zwingen Allens Geist ist „regellos“ weil er frei ist zwang ist macht macht nicht frei ist gewalt anarchismus ist keine gewalt freie organisation ist harmonie die harmonie der anarchie ist harmonie, an die wir nicht gewöhnt sind der staat zwingt immer organisation ist kooperation kooperation ist frei und kennt den zwang nicht kooperation ist organisation ist harmonie ist anarchie harmonie ist nicht chaos sondern kooperation und frei anarchie ist harmonie ist nicht chaos sondern frei anarchie ist nicht zwang ist nicht gewalt sondern organisiert und frei

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106 In Schönheit zu enden, darum geht es. Genet. Wie also kann man das Große Stück Schönheit schaffen, und Schönheit, die noch ungesehen ist? Weil die Schönheit, wie wir sie kennen und erleben, nicht genug ist. Und weil Ethik (die rechte Hand des Körpers, dessen Brust die Schönheit ist), so wie sie vom autoritären Regime und vom Kapital geformt ist, ein verkümmertes Körperteil ist. Deshalb müssen wir eine neue Ästhetik schaffen. Was also ist das, die neue Schönheit? Etwas, das regenbogen-ähnlich das Leben ohne Ablagerungen zeigt, sternenähnlich über den Sternen, etwas, das unser Herz so berührt, dass es den Takt ändert und eine Sehnsucht aufkommt, die uns die Kraft schenkt, die wir brauchen, um das Nötige zu tun. Grenoble, Frankreich, 5. Mai 1969 Das Große Stück Schönheit: Die Menschen mit so viel Schönheit überschütten, dass wir wirklich alle aus der Hässlichkeit ausbrechen, sie zerstören und ihre Energie umwandeln in Leben. Die Menschen mit so viel Schönheit überschütten, dass es uns alle aus diesem Morast des Elends zwingt, der Zivilisation, unwiderstehlich, magnetisch stemmt es uns da heraus, mit dem starken, anziehenden Ruck jener Schönheit, die wir nicht kannten, deren Bekanntschaft uns vorenthalten war. Granville (Ohio), USA, 5. Dezember 1968

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107 DAS GROSSE STÜCK SCHÖNHEIT Es ist die Demonstration der Wirksamkeit und Praktikabilität einer konter-gewalttätigen revolutionären Aktion durch eine erfolgreiche gewaltlose Kampagne. Das heißt, wir können mit einer herrlichen hochfliegenden enormen Flügelspannweite an Worten reden über Aktion ohne Gewalt, aber das Gerede bleibt Rhetorik Romantik, bis wir beweisen, dass es funktioniert:

Macht euch auf die Suche. Das müsst ihr schaffen. Jackson MacLow.

Wir müssen von der Theorie zur Aktion kommen. Das wird länger dauern als fünf Stunden: vielleicht zehn Jahre oder mehr Dieses Epos, das wir aufführen müssen: um die Strategie zu finden: die Kampagne zu planen: uns zu sammeln

die ganz große Besetzung: all die guten Anarchisten Pazifisten Performer: und dann dranbleiben.

Bis es vollendet ist.

Wenn die Revolution wie wir sie heute verstehen 30 bis 50 Jahre dauert: sollte die erste Phase innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre abgeschlossen sein. Dieses Stück spielt in der Realität: Wir müssen irgendwo ein Gelände besetzen: 235


und schaffen ENKLAVE 1: eine freie anarchische Gemeinschaft ohne Zwang hunderttausende Menschen und mehr. Und wir machen es so, dass: alle Soldaten aufgeben, alle Tore sich öffnen, alle Waffen schweigen, alle Menschen essen und alles Töten aufhört. Das ist die Szenenfolge für das einzige Stück das ich wirklich machen will. Die internationale Konterrevolution wird folgen. Die internationale Konterrevolution unterwirft wahrscheinlich die ENKLAVE 1 Aber dann haben wir sie gefunden die Techniken: die Beine, mit denen wir vorankommen. Bar-sur-Aube, Frankreich, 28. April 1969

108 MEDITATION ÜBER SELBSTVERTEIDIGUNG. FRAGEN. 1971 Erst einmal müssen wir sicher sein, dass es sich um Selbstverteidigung handelt und nicht um Aggression, die sich als Selbstverteidigung tarnt. Einen außergewöhnlichen Fall dürfen wir nicht betrachten, als sei er die Norm: Der Verrückte will das Baby töten, was tust du? Du versuchst dein Leben so zu leben, dass du in einem solchen Moment das Gute tust – (Was ist das Gute? Was ist das Richtige?) –; oder du versuchst, den Verrückten zu überwältigen, ohne ihn zu töten; vor die Wahl gestellt, den Verrückten zu töten (wer ist der Verrückte?) oder zuzulassen, dass er das Baby tötet, tust du entweder nichts oder du tötest den Verrückten. Mit einem so außergewöhnlichen Fall darf man gewalttätige Angriffe und Vergeltungsmaßnahmen aber nicht entschuldigen.

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Und was ist mit Bomben werfen? Wäre das Selbstverteidigung, wenn man bedenkt, dass die etablierten Kräfte uns umbringen? Terrorismus als Selbstverteidigung? Zögern wir, weil wir verbürgerlicht sind? Korrupte Moral der Bourgeoisie? Kreatives Handeln, das den Zyklus der Gewalt unterbricht, es immerhin versucht, ein Luxus derer, die zu essen haben? Sind wir verantwortlich für das, was wir denken? Oder ist es fraglich, inwieweit wir für unsere bourgeoisen (ausbeuterischen) Gedanken und Seelen verantwortlich sind? Wenn die Gedanken und Seelen mit Privilegien und Waffengewalt gekauft sind? Zuerst alle Menschen satt machen, dann das Töten beenden? Was, wenn man, indem man ein paar tausend, ein paar Millionen, zehn oder zwanzig Millionen tötet, Milliarden satt machen könnte . . .? Ist militärische Macht in den Händen des Kapitals dasselbe, als würde man von einem Verrückten bedroht? Beginnt das Joch der Gewalt bei wirtschaftlichem Elend, bei sexueller Frustration oder beim Prinzip Selbstverteidigung? Ist es leicht (leichter?), das Prinzip Selbstverteidigung aufzugeben, wenn es keinen Feind gibt, geht es nur dann? Wann verteidigen wir uns gegen uns selbst, gegen unsere sexuelle Frustration, gegen die moralischen Prinzipien unserer gewalttätigen Szene? Wann entkommen wir dem Unten? Ist es besser zu sterben als zu töten? Was bedeutet besser in diesem Satz? Niemals töten? Ist dies das abstrakte Philosophieren aus dem Standesbewusstsein der Oberschicht heraus? Philosophie, Moral, abstrakte Heiligkeit, das zugerichtete Denken der Privilegierten, lässt es nicht die heiligen (Lebens-) Nöte derer außer Acht, die von der Gesellschaft zu physischem Leiden verurteilt sind? 237


Dürfen Hungernde, moralisch gesehen, für Brot töten, oder für das Brot für ihre sterbenden Kinder? Niemals töten? Sollen wir ihnen das sagen? Sollen wir sagen, Ahimsa, die Kraft der Liebe, die Wahrheit, die Heiligkeit und das Leben sind sakrosankt, sterbe, aber töte nicht? Gandhi sagt, wie jeder Soldat muss auch der Satyagraha – der Krieger, der mit Wahrheit und Liebe bewaffnet ist – bereit sein zu sterben, im Unterschied zu anderen Soldaten weigert er sich aber zu töten: Er muss also noch viel mutiger sein . . . Was ist Selbstverteidigung für die Hungernden? Dürfen die Revolutionäre – die etwas zu essen haben – ich meine die Intellektuellen, die heute den größten Teil der Revolution ausmachen –, es übernehmen, für die Hungernden „in Selbstverteidigung“ zu töten, wenn die Hungernden zu schwach, apathisch, unwissend, unorganisiert etc. sind, um sich selbst (mit Gewalt) zu verteidigen? Darf der anarchistische Pazifist angesichts dieser Überlegungen „das Ende der Gewalt!“ fordern? Darf der anarchistische Pazifist „das Ende der Gewalt“ nur dann fordern, wenn er einen Aktionsplan hat, wie er das Leid der Hungernden, der Massen sofort lindern kann? Wenn wir mit unserem Plan scheitern . . . was für Folgen hätte das . . . für die Geschichte . . . Wenn wir mit unserem Plan scheitern, müssen wir Gewalt anwenden. Wenn wir Gewalt anwenden, riskieren wir, die Gewaltspirale so weit zu treiben, dass die ganze Menschheit stirbt, der hungernde Mensch? OK? Für alle? Vielleicht? OK? Ein absolutes Ende der Gewalt, des Mordens als Selbstverteidigung des Planeten, der Menschheit, der hungernden Kinder? So kehrt der Kreis zur Gewalt zurück, setzt sie außer Kraft, entwaffnet sie. 238


Gibt es eine andere Wahl als das Leben? San Francisco, 20. November 1971

109 Das Theater ist das Hölzerne Pferd, mit dem wir die Stadt erobern. Paris, 30. Oktober 1967

110 AUS 2 KONVERSATIONEN ÜBER REVOLUTIONÄRE THEORIE JM: Ist es nicht klar. Zum Beispiel, dass sich Studenten für Anarchismus begeistern weil die Poesie des Anarchismus wahrhaftig klingt. Und sie haben recht. Aber die Menschen die ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienen können die Poesie nicht fassen weil sie immer auf schwankendem Boden gehen, weil Anarchismus und seine Poesie zu riskant erscheinen. Sie wissen nicht ob sie da draußen zurechtkämen. Sie brauchen die Poesie der Sachlichkeit. Die muss ihnen jemand geben. auf eine Art, die diesen Jemand nicht Zum Anführer macht. Aber wir sind konditioniert einem Anführer zu folgen. JB:

Eine Gesellschaft, die unsicher ist schafft ein psychisch labiles Volk, das jemanden zum Anlehnen sucht.

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JM: Vielleicht kann ein Gruppe eine Zelle, früher nannten wir das Kongress, solche Klarheit schaffen. Natürlich scheuen die Anarchisten solch ein Projekt, weil sie möglichst viel Raum brauchen für Spontaneität. Die Leute sind spontan wenn sie die große Leere nicht fürchten, wenn sie sich, wie Schauspieler beim Improvisieren, über den Zweck im Klaren sind. JB: Unsre Forschung hat uns Folgendes gelehrt: Wenn wir Paradise Now als freies Theater spielten, waren wir am freiesten, wenn der Zweck vollkommen klar war und wenn wir den Zweck erfüllt hatten, war noch viel Zeit und Raum für das Spontane, das Unvorhergesehene. Lenin zitiert Karl Kautsky: „Das moderne sozialistische Bewusstsein kann sich nur auf der Basis solider wissenschaftlicher Kenntnis entwickeln. Träger der Wissenschaft ist nicht das Proletariat sondern die bürgerliche Intelligenzia. In den Köpfen dieser Schicht entstand Der moderne Sozialismus und sie waren es sie vermittelten ihn den intellektuell entwickelten Proletariern die daraus wiederum den proletarischen Klassenkampf machten . . .“ Daniel Guérin: „Der Anarchist findet sich, wie sein Bruder-Feind der Marxist, 240


in tiefem Widerspruch gefangen. Die Spontaneität der Massen ist wesentlich, hat Priorität vor allem anderen, aber sie reicht nicht aus. Um das Bewusstsein der Masse zu erreichen, braucht es die revolutionäre Minderheit, die genau weiß, dass die Revolution durch nichts zu ersetzen ist, Wie vermeiden, dass diese Elite ihre überragende Intellektualität, nutzt, die Masse damit ersetzt, ihre Initiative lähmt, und ihr am Ende neue Herrschaft auferlegt?“ Proudhon: Alle Revolutionen passieren durch die Spontaneität des Volkes . . . Revolutionen kennen keine Initiatoren: Sie passieren, wenn das Signal der Berufenen ertönt; Sie sind zu Ende, wenn die mysteriöse Kraft, die die Explosion auslöste, erloschen ist.“ JM: Der innere Widerspruch sieht so aus: La force mystérieuse wird nicht freigesetzt, bis die psychischen Blockaden, die uns hindern, Lebensmittel gerecht zu verteilen, sich lösen, und bis es wenigstens einen Plan gibt, der den Weg zeigt, wie es gelingen kann.

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JM: Das nächste theoretische Problem, dem die gewaltlosen Anarchisten begegnen müssen: Vereinigung der Klassen durch Zerstörung des Klassensystems. Die große Frage, wie wir unsre Menschengemeinschaft stärken, so dass sie die Kruste der Klasse durchdringt und an der Feindseligkeit vorbei in die Wirklichkeit vorstößt, des menschlichen Hungers nach Liebe. Paris, 30. März 1970

111 Die Theatralisierung des Lebens wird uns in ein Traum-Drama rufen, in dem wir unsere Rollen selbst wählen. Der freie Wille, den der Schöpfergeist uns dagelassen hat, als er sich von uns losriss (das Zimzum), erlaubt uns, dem dunklen Gewässer des Gefängnisses zu entsteigen. Und wenn das Selbst der Tiefe sich vom Meeresboden erhebt, erscheint es als Held, schon sein Auftauchen ist heroisch: Jedes Entkommen ist heroisch. Dies ist der unsichtbare Strahl. Aus der Revolution ein bewusstes Theater machen, diese Arbeit ist wichtig für unsere Strategie: Theater ist ein Traum, und es ist Leben. Alles hat zu diesem Moment hingeführt, zu dieser Verwirklichung: Verwirklichung des Traumes. Verwandlung ist immer Thema des Traums. Wir alle werden diese Veränderungen umsetzen. Aus dem angstvollen Traum des entfremdeten Individuums wird der Traum einer Vereinigung, in der es kein „sie“ und kein „es“ mehr gibt. Töten: Traum von der absolut entfremdenden Tat. Tod: Traum von der absoluten Vernichtung (des Selbst). Leben: Traum vom Dasein: ultimatives und bewusstes Einssein (alles und jedes: Eins.)

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112 In der Kunst, die die Menschen anspricht, wird es keine Herablassung geben. Die Bourgeoisie ist schlaff, weil ihr Lebensstil schlaff ist: und die Schlaffheit ihres Verstands, Geistes und Körpers erwartet und will, dass Kunst und alles andere herablassend ist. Das Theater des Volkes lässt sich nie herab. Auf die herabschauen, die den Schlüssel zu unserer Rettung besitzen? Die Gott am nächsten sind? Die am weitesten entfernt sind von Korruption? Die wissen, was ausharren bedeutet? Die uns alle befreien werden? Mit denen wir hoffen, Eins zu sein?

113 Der Impuls zu leben, der den Stein zum Sprechen bringt, das Meer, die Mutter aller Dinge, zum Gebären treibt, aus dem Meer an den Strand: Dieser Impuls steckt im quasi instinktiven Wunsch eines jeden, Schauspieler oder Schauspielerin zu sein, aus dem eigenen Selbst aufzubrechen, weg von der Ärmlichkeit des täglichen Lebens, dieser undankbaren Existenz, hin zum wahren Dasein. Jeder will ein Anderer werden oder den Aspekt ausleben, der so anders ist als er selbst, dass es ihm vorkommt, er wäre ein Anderer. Das ist die Basis der revolutionären Hoffnung: göttliche Rastlosigkeit. Teil dessen werden wollen, was sein könnte. Das Vorstellbare aufführen, spielen, den Wunsch erfüllen. Die Essenz der Anarchie: der Zustand, in dem jeder sich jede Lebensrolle aussuchen, sie spielen kann. Ergo: Alle Macht dem Volk. Cannes nach Aix-en-Provence, Frankreich, 16. Mai 1970

114 nach der revolution gibt es wein unter den bäumen formen der liebe in gestalt des großen bären sage ich, meine liebe ist eingeboren in einem andren land, wird es schon stimmen ich stecke meinen kopf tief in deine weindunkle fotze die feuchten

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lippen rollen wie schwappendes salzwasser um meine ohren legen sich um meinen hals und dann atme ich schwer brot wird rar sein und jeder wirds essen wenn die revolution kommt ist die romanze zu ende aber was hat begonnen nach der revolution sind wir erschöpft wie liebende ich befingere mit all meinen fingern den delikatessenmann du und ich liegen leer und hungrig die schwierige verteilung von essen tut das ihre aber der duft befreiter lenden und das herrliche herbstwetter lässt unsere schwänze stehen wenn die revolution kommt stehst du am bug und der salzwind bläst dir ins gesicht hunderte von jahren hast du vom ozean geträumt jetzt bist du nass aus „Songs of the Revolution“: New York City, 1964

115 FACTA NON VERBA Rede nicht, handle. Von da an dient die revolutionäre Rhetorik nur noch dazu, den Aufruhr zu verzetteln; zum Vorwand, nicht zu handeln. Im Jahr 1971 ist es vielleicht an der Zeit, dass wir leiser werden. Methodisch. Klar. Direkt. Und aktiv.

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116 Welche Maßnahmen können wir ergreifen 1. kinder unterrichten, die kleinen das erziehungssystem infiltrieren den kinderverstand auf den kopf stellen sie vorbereiten freie schulen gründen all unser wissen weitergeben die revolution verstehen und lehren den geist ausdehnen große Träume anzetteln 2. die industrie unterwandern mit den landarbeitern den arbeitern den armen reden ihnen helfen sich zu organisieren für den kampf gegen ihr elendes leben miete gesundheitsversorgung ausbeutung schikane ihnen helfen die realität ihrer unterdrückung zu erkennen 3. die medien unterwandern wer immer das schafft muss dran denken sie sprechen immer für das system 4. kommunen bilden wir müssen rausfinden wie wir uns versorgen mit dem was gebraucht wird wir müssen für beispiele sorgen gemeinschaftliche lösungen und soziale beziehungen die funktionieren 5. zeitungen magazine gründen plakate machen illegales radio fernseh stationen die übertragen und die hauptsender stören und mit anschaulichen mitteln den leuten sagen wofür und wogegen die revolution steht wie man sie macht ohren auf für den neuen sound der ganzen welt 6. gratis geschäfte eröffnen menschen vertraut damit machen was frei sein heißt sich selbst verschenken 245


7. die armee die polizei unterwandern 8. zellen bilden

fünfergruppen sind gut leute die man gut kennt und denen man traut bald ist es für uns vielleicht nicht mehr so leicht leute mit denen man gut zusammenarbeitet ein handwerk lernen oder ein gewerbe vielleicht müssen wir uns selbst versorgen in schwierigen zeiten die revolution zusammen erforschen einen ort für öffentliche diskussionen finden die polizei deiner stadt kennen lernen medizin studieren erste hilfe polizei und militärische taktik und wie man sie stört gefängnisse die architektur studieren die gerichte studieren öl und wissenschaft elektronik studieren und kybernetik die information verbreiten stadtpläne studieren und wie man sie manipuliert bis sie gedichte sind 9. post frei zustellen zeit finden dinge umsonst zu tun autos reparieren straßen reinigen alles umgraben denn das sägt an den krücken des systems es stellt den geist auf den kopf es lässt licht ein hebt den geist empor 10. auf die wände schreiben 11. rausfinden wie man das system übernimmt wie man lebensmittel verteilt wie man sie herstellt und alles andere was man braucht dafür sorgen dass genügend arbeiter bereit stehn und leute

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bereit für ein leben ohne geld ohne polizei militär staat ohne gefängnisse ohne alle arten von zwang und es tun 12. die zelle die menschen blitzt mit der erfahrung von schönheit damit sie wissen wo es hingeht weg von der hässlichkeit denn der sinn für schönheit ist verschwunden und mit ihm der sinn für die güte gottes und das schöpferische nur hässliche zerstörung ist da der wir unsere schönheit vorhalten überall kommt es zur gegenüberstellung nur weil wir da sind wenn wir auf den straßen sind und auf öffentlichen plätzen die kraft der liebe im gesicht immer dran denken schönheit und liebe müssen wir neu erschaffen denn die uns vertraute schönheit und liebe hat der autoritäre kapitalismus gemacht und mit seinem inhalt gefüllt 13. cluster arbeiten zusammen ein netzwerk gleichgesinnter entwickelt anarchistische theorie und praxis 14. selbstverwaltete syndikate freiwillig vereinigtes arbeiternetzwerk entwickelt anarchistische theorie und praxis 15. sei genauer wenn nötig übungen entwickeln unser denken zu schärfen die harte arbeit poesie umzuwandeln in planung und die pläne in aktion Ithaca (New York), Boston, der Atlantik (New York City nach Cherbourg), Dezember 1968 – April 1969. Paris, Juli 1970 247


16. denk dir immer neue aktionen aus solang es nötig ist San Francisco, 5. Dezember 1971

117 MEDITATION. VON NEW YORK NACH BERLIN. 1964–1970 Ich zittere davor, dass all dies eines Tages zersplittern könnte und vergehen: zarte Kreise, in denen ich mich bewege, wunderbar versorgt: Familie, Gemeinschaft, Arbeit, Theater, ich habe genug zu essen, wir fahren von Land zu Land und spielen unsere Stücke, ich steuere den VW-Bus und manchmal streift mich ein Haar aus der Mähne des fliehenden Pferdes Ruhm, draußen vor dem Fenster Bewegung, drinnen im Gehirn Bewegung, fast zu viel Glück, und während wir all diese Jahre mit den Bussen herumfahren, habe ich Sorge, eines Tages könne es einfach vergehen. Während es offenbar wird, dass unsere Privilegien nicht haltbar sind, dass die Freuden und Erfüllungen unseres Lebens illusorisch sind, und wenn unsere Studien, unsere Übungen, all unsere Aufführungen, Begegnungen, alles, was wir gelernt haben, wenn vielleicht auch die Drogen, die wir genommen haben, uns erleuchten: Satori: das Leben ist ein Traum nur der erwacht der auf die Welt verzichtet Und so haben wir beschlossen, das Theater mit all seinen Reizen zu verlassen: Als unsere Wege sich in Berlin trennten, sagte ich immer wieder Gargas Worte am Ende von Im Dickicht der Städte: „Es war die beste Zeit.“ Und wir fielen einander um den Hals und weinten. Weil das Beste nicht ausreichte. Das Ende ist immer der Anfang, wie man so sagt. Das Streben nach Mutation, also der unbedingte Versuch, die Veränderung anzustoßen, die uns auf die nächste Stufe der Menschheit trägt. Im ständigen Wissen, dass man einen solchen Wandel wahrscheinlich nicht bewusst beschleunigen kann. Wenn der Messias kommt, sagen wir alle: Ach, so geht das!

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Unaufhörliche Revolution! Am Rad drehen! Die Erfindung des Rades ist der mechanische Sieg über den Raum, das Rad weiterzudrehen, Chakra, im Kopf, im Geist, ist der psychologisch-bewusste-mechanische Sieg über den Stillstand. Der Sommer 1969: Wir sahen endlich ein, dass für das Living Theatre die Zeit gekommen war, Veränderung zu wagen. Wir müssen es tun, wir haben unser Leben so gelebt, dass wir keine Wahl haben. Als Institution (sein Los, so hat es sein Leben gelebt), als Entwurf einer anarchistischen Gemeinschaft (die es noch werden wird) muss sich das Living Theatre verändern. 1969: Die Entscheidung, sich aufzulösen und in Zellen zu re-formieren, damit wir unseren eigenen Ansprüchen und den Anforderungen der Zeit genügen. Als wir an Bord der Cristofero Colombo von Málaga nach Palermo unterwegs waren, wurde uns das bewusst. Nachdem wir für zwei Monate in Marokko an einem neuen Stück gearbeitet hatten, das wir abwechselnd The City Absolute, Saturation City und Penetration City nannten. Die Arbeit: gut, aber anstrengend. Der Idee für das Stück: In eine Stadt, eine Kleinstadt, ein Dorf gehen: abhängig von der Größe des Orts zwei bis sechs Wochen dableiben: überall spielen, auf den Straßen, auf Märkten, den Plätzen, in Fabriken, Supermärkten, Kaufhäusern, vor öffentlichen Gebäuden, Polizeiwachen, Bussen, U-Bahnen, Terminals, auf Schulhöfen, vor Schaufenstern, in Parks, auf Dächern, in Höfen, Hinterhöfen, in Zelten, Korridoren, Gassen, auf Brachen. Um die Schwingungen der Stadt zu verändern. Um auf der Straße Bewusstseinsblitze zu zünden. Um die Leute an Aktion zu gewöhnen, den ersten Schritt machen, indem wir die Leute in den Stücken zum Mitmachen bewegen . . . September 1969: Nicht unglücklich mit der Arbeit, auch nicht miteinander, aber wir wissen, dass weder die Ideen zu The City Absolute noch ihre Umsetzung gelingen können, wenn wir uns nicht ändern. Das Living Theatre ist eine Institution geworden, wir sind ungefähr vierunddreißig Erwachsene und neun Kinder: keine praktikable Situation. Erfolg schafft Institutionen, und unser Erfolg hat uns abhängig gemacht vom Einkommen, das wir als Institution bekommen. Abhängig von Eintrittsgeldern in großen Theatern. Die Gesellschaft hat uns erfolgreich gemacht und abhängig von ihrem System. Alles, was wir in den Jahren des herrlichen Exils gelernt haben, als wir von Stadt zu Stadt zogen und unsere Stücke spielten, die Karawane der Gypsies, altehrwürdiges fahrendes Volk, alles, was wir auf der Paradise Now-Tour gelernt haben, hat uns zu diesem Moment gebracht. Hatten wir bei Paradise Now das Publikum nicht an die Theatertüren geholt und gesagt: „Das Theater findet auf der Straße statt!“ Und standen wir an diesen 249


Türen nicht der Polizei gegenüber? Die Polizei, die kein Straßentheater erlaubt, die nicht will, dass das Leben in die privilegierte Position der Kunst eingreift, dass es darüber hinausgeht, die nicht will, dass die Straßen frei sind. Dort, vor den Türen der Theater haben wir verstanden, dass wir auf die Straße müssen. Um dieses neue Stück zu machen, um auf die Straßen zu gehen, brauchen wir eine bestimmte Kraft. Die Form des alten Living Theatre konnte uns die Kraft für diese Art von Kunst und Arbeit nicht geben. Das alte Living Theatre passte zu einer anderen Art von Arbeit, etwas daran hielt uns davon ab, das Notwendige zu tun. So viel war klar. Immerhin war es uns gelungen, während wir noch in unserer alten Schale als Gemeinschaft lebten, uns The City Absolute auszudenken, ein Konzept, wie wir auf der Straße spielen konnten. Also kann es uns auch als Gesellschaft gelingen, uns das Leben ohne die Zwänge des Kapitalismus und der Bürokratie vorzustellen. Uns das vorzustellen ist möglich, es zu verwirklichen ist unmöglich. Es ist unserer Gesellschaft zum Beispiel auch möglich, sich Frieden vorzustellen, ohne ihn je zu erreichen, weil das Wesen unserer Lebensform das nicht erlaubt und nie erlauben wird.

118 für judith in der hoffnung dass wir eines tages die schöne gewaltlose anarchistische revolution zusammen sehen

119 wir müssen wie man sagt organisieren wir müssen zellen bilden

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wir müssen die kräfte sammeln wir müssen voneinander lernen wir müssen einander etwas geben ich schlage vor dass wir uns versammeln wir alle deren arbeit das theater ist und wie lenin die maßnahmen studieren die zu ergreifen sind um am rad der welt zu drehen dann zerstreuen sich die zellen wie samen und befruchten die welt dies ist ein aufruf unsere Erlösung gemeinsam anzugehen weil ich dich brauche und wir alle brauchen so viel darum müssen wir einen ort finden und eine zeit 251


gebt den aufruf weiter findet das volk sammelt euch tut es Paris, 15. Dezember 1967

120 ARBEITSBUCH NOTIZEN: WÖRTLICHER BERICHT. PROBE #151 Ouro Preto, Brasilien, 4. April 1971: Andrew Nadelson: Judith, als du über Masochismus und Altruismus sprachst, hast du von Erotischer Politik gesprochen, und als wir über die Sozialstruktur sprachen, fragten wir uns, welche Alternative wir den Leuten auf der Straße bieten. Um den Leuten auf der Straße klarzumachen, wie mächtig sie sind, müssen wir uns in ihre Macht begeben: Das ist masochistisch: Ihre natürliche Reaktion wird sadistisch sein. Judith: Genau. Es geht darum: In der Aufführung muss man sie in diesem Moment packen und auf die Erotik stoßen, das ist der Trick: Wenn wir zulassen, dass die Leute Macht über uns haben, sind wir verletzlich, und darauf reagieren sie normalerweise sadistisch; an dem Punkt, an dem sie sadistisch werden, müssen wir sie zu einer erotischen Handlung verleiten. Wenn der Sklave Herr wird, wird er sadistisch und rachsüchtig. Das muss man ins Erotische wenden. Birgit Knabe: Das Wort erotisch stört mich. Steven Ben Israel: In der wahren Essenz des Wortes bedeutet Erotik, Gott nahe zu sein. Die neurotische Gesellschaft verdrängt das Erotische und pervertiert es. Birgit Knabe: Ich glaube, der Name Eros wird auf unserm Planeten falsch verwendet: War Aphrodite nicht eifersüchtig auf ihn, hat sie ihn nicht bestraft?

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Judith: Psyche war die Seele – Aphrodite, wie wir wissen, die Göttin der körperlichen Liebe. Die Liebesgöttin Aphrodite ist auf die Seele eifersüchtig, der Kampf zwischen körperlicher und seelischer Liebe beginnt hier; und Eros, das erotische Element, steht hier auf der Kippe zwischen körperlicher und seelischer Liebe. Das erotische Element Eros ist mit der Seele vermählt, und weil die Liebesgöttin eifersüchtig ist, wird hier eine Grenze gesetzt – Birgit: Aber die Grenze ist als Strafe gedacht – Psyche darf Eros nicht anschauen – Judith: Das ist eine moderne Interpretation: Dem Körper wird von der Aphrodisischen Position eine Grenze gesetzt. Psyche und Eros durften sich nur in der Nacht besuchen, Psyche aber wollte ihren Geliebten sehen, und als sie eines Nachts eine Kerze anzündete, fiel heißes Wachs auf ihn, er erwachte und es war vorbei – die Griechen wollten die Verbindung zwischen dem Erotischen und dem Spirituellen nicht hinnehmen. Weil sie aus der Sklavengesellschaft kamen, in der Frauen unterdrückt und verachtet waren; ihre Gesellschaft war ebenso degeneriert wie unsere. Genauso sahen sie das – weil sie von Aphrodite besessen waren, einer sadomasochistischen Figur –, sie erkannten, dass Aphrodite die Seele fürchtete, sie fürchtete, von Psyche gesehen zu werden. Aus ebendiesem Grund ist ihre Zivilisation untergegangen. Und wenn wir keinen Weg finden, das Licht sichtbar zu machen – jenes Licht, in dem das Erotische und das Spirituelle erotisch und geistig zueinanderfinden –, dann werden wir untergehen, können entweder sadistische oder masochistische Beziehungen haben, nur Herr sein oder Sklave. Steven Ben Israel: Das ist die Grundlage von Wilhelm Reichs Christusmord. Judith: Die Grundlage seiner gesamten Theorie. Alle Kommunikation fängt mit Eros an. Vicente: Wenn die Menschen Herren werden, vergessen sie, dass sie einmal Sklaven waren, und wenn wir aus Sklaven Herren machen, dann – Judith: Ich meine, der Sklave muss verwandelt werden, ohne dass er Herr wird. Menschen, die rebellieren, spüren in dem Moment, in dem sie nach der Macht greifen, dass sie entweder Herr werden können oder die Welt 253


verändern und nicht Herr werden, sondern ein Großer Liebhaber: im GROSSEN Sinn des Wortes. Und den heiligen Zustand, in dem man weder Sklave noch Herr ist, nenne ich erotisch. Birgit wehrt sich gegen das Wort. Sie kann auch heilig sagen. Ich ziehe das Wort erotisch vor, weil es enger mit dem Problem von Masochismus und Sadismus verbunden ist. Masochismus und Sadismus halten die Leute für erotische Formen, auf jeden Fall erregen sie uns erotisch, jeder hat geringe Anteile davon, manche sogar mehr. Aber wir wissen, dass dieses Verhaltensmuster echte menschliche Kommunikation ausschließt – es schneidet echte Gefühle ab. In unserer Begrenztheit und in unserem neurotischen Dasein sind sie dennoch manchmal die einzigen Gefühle, die wir überhaupt aufbringen können. Wenn Leute sich aus neurotischen Gründen schlagen, geschieht das, weil ihre erotischen Möglichkeiten begrenzt sind: Sie können nichts fühlen und erzeugen mit diesen Perversionen immerhin ein Gefühl. Menschen, die keine Gefühle oder Angst davor haben, können immerhin Schmerz empfinden. Das letztmögliche Gefühl. Auf der untersten Stufe des Gefühlsregisters. Wenn wir wissen, dass Masochismus und Sadismus erotische Gefühle ersetzen, dass sie der Weg sind, etwas zu fühlen, wenn man eigentlich nichts fühlen kann, dann gibt es einen Weg, Masochismus und Sadismus loszuwerden, sie zu transzendieren: man muss die echte erotische Liebe entdecken. Sozial, kulturell, sexuell und politisch ist das wahr. Vicente: Für den Masochisten ist es leichter, die sadistische Position einzunehmen . . . Judith: Klar, weil die soziale Struktur es so will, sie unterstützt den Antrieb, Sadist zu werden. Alle Sklaven wollen Herren sein. Kein Herr will Sklave sein. Das gilt für das Soziale, aber nicht für das Sexuelle. Von der politischen Warte aus nehmen wir an, dass die Sadisten in Brasilien das eine Prozent sind, das als Klasse herrscht, falls die sadistische Klasse die herrschende Klasse ist, aber sie macht nur ein Prozent der Bevölkerung aus. Nur dieses eine Prozent muss sich ändern. Es ändert sich aber nicht, weil es alle Waffen, Macht und Computer besitzt. Nur eins kann sie dazu bringen: der Druck der 99 Prozent. Ich bin also nicht für Reform, sondern für Revolution. Ich glaube nicht, dass sich die Welt ändert, indem man an das eine Prozent appelliert. Ich glaube, die 99 Prozent haben eine Chance, wenn sie sich weigern, Sklaven zu sein, wenn sie die sadistische Macht abschaffen. Andernfalls wird, wie du sagst, dieses Prozent seine Macht nicht aufgeben, denn die Struktur stützt das hierarchische System. Die Leute können sich weigern, Sklaven zu sein. Und weil sie die weitaus größere Masse sind, können sie alles ändern.

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Steve Israel: Man kann nicht behaupten, dass nur ein Prozent der Gesellschaft sadistisch ist, hundert Prozent der Gesellschaft sind sadistisch: Schon weil wir einander jeden Tag beiseitedrängen, müssen wir sadistisch sein, ob wir wollen oder nicht. Judith: Die Reichen haben es weit gebracht, weil sie die Erbarmungslosesten sind. Die Grausamsten. Steve Israel: Die am meisten Pervertierten. Ja. Ivanildo: Aber die Sklaven kollaborieren doch. Legt ihr Zustand nicht nahe, dass sie mit ihrer Rolle einverstanden sind? Judith: Ich würde es so sagen: Die organisierte Herr-Sklave-Beziehung beginnt mit einem Machttrieb, eigentlich einem sadistischen Wunsch, der mit Rücksichtslosigkeit einhergeht. Der Grausamste reißt Macht an sich und versklavt eine Gruppe von Menschen durch körperliche und wirtschaftliche Kraft. Niemand will Sklave sein. Klar. Ursprünglich stand zur Wahl: Sklaverei oder Tod. Zum Beispiel Brasilien: Die Schwarzen unterwarfen sich der Sklaverei, die Indianer wählten den Tod. Gilberto Freyre hat das aufgezeigt. Wenn man sich entschieden hat, lieber als Sklave zu leben, als zu sterben – keine masochistische, sondern eine menschliche Entscheidung – dann lautet die Frage: Wie lebt und überlebt man als Sklave? Zwei Möglichkeiten: historisch: auf den revolutionären Moment der Befreiung warten oder den Zustand akzeptieren. Wenn man den Zustand akzeptiert, ist das masochistisch. Wenn man ihn als Basis für Rebellion betrachtet, ist es das nicht. Im revolutionären Moment – und das kann jeder Moment sein – gibt es nicht mehr die Wahl zwischen Revolution oder Tod, sondern nur die zwischen Masochismus oder Freiheit. Zurzeit erheben sich Menschen überall auf der Welt gegen die Sklaverei. Unsere Aufgabe besteht darin, das revolutionäre Potenzial jedes Einzelnen zu heben, zu zeigen, dass es eine Haltung geben kann, die mit dem Masochismus bricht, dass man Sklaverei nicht hinnehmen muss. Als faschistisches Schwein bewundert Freyre die masochistische Rolle des brasilianischen Sklaven, und – intelligenter ‚Herr‘, der er ist, weiß er, wie er es drehen muss – und sagt: „Ohne Sklaven hätte sich Brasilien nie so gut entwickelt.“ Weil die Entwicklung von Brasilien eine gute Sache ist, so argumentiert er, ist es gut, dass es Sklaven gab: Das ist seine Haltung und deshalb befürwortet er die Geschichte der Sklaverei in Brasilien. Freyre veranschaulicht die Haltung des intellektuellen Herren gegenüber dem masochistischen Sklaven: „Sklaverei und Masochismus 255


sind gut.“ Wir sagen, beides ist schlecht. Bevor wir Masochismus nicht als Masochismus erkennen, gibt es keine revolutionäre Situation, denn die Leute sagen: „Natürlich will keiner Sklave sein – alle wollen frei sein –, wenn Leute Sklaven sind, muss es einen Grund geben – niemand würde es sonst akzeptieren –, es liegt also daran, dass der Herr Macht hat . . .“ Aber die Revolte gegen den Sadismus der Herren reicht nicht, sie ist nicht umfassend genug. Die Menschen müssen auch gegen die masochistische Sklaverei aufbegehren. Erst wenn sie erkennen, dass es masochistisch ist, ihre Lage hinzunehmen, können sie etwas ändern, erst dann können sie die Revolution angehen. Die Revolution: Anstelle der Politik von Sadismus und Masochismus: Erotik, erotische Politik.

121 NOTIZEN. AKTIONSPLÄNE. THEMEN FÜR STÜCKE, PAMPHLETE, DISKUSSIONEN, MATERIALIEN FÜR KOMMUNIKATION/ GESPRÄCHE/REDEN/ARBEIT MIT DEN LEUTEN AUF DER STRASSE, DEN ARBEITERN, DEN ARBEITSLOSEN Was sagt man den Leuten auf der Straße: Dass Geld nicht wesentlich ist für die natürliche Ordnung; dass wir besser ohne als mit Geld leben. Dass wir auch keinen Tauschhandel brauchen. Dass die Menschen nur das herstellen müssen, was alle brauchen, dass es verteilt werden kann ohne Geld. Dass man die Lebensmittel und Materialien auf Märkte und in Lagerhallen bringen kann, und die Leute holen sich, was sie brauchen. Dass jeder ungefähr zwei Monate im Jahr arbeiten muss, um genügend Lebensmittel, Kleidung, Häuser etc. für alle Menschen weltweit zu produzieren. Dass die übrige Zeit für Muße, Liebe, kreative Arbeit, Musik oder Ekstase genutzt werden kann, jeder wie er will. Dass wir – zusammen mit den Menschen, mit denen wir leben und arbeiten – entscheiden können, was wir brauchen: freundliche und tüchtige Einheiten. Dass die Bedarfe mithilfe von Computern berechnet werden können, und es einfache Wege gibt, die Materialien dorthin zu befördern, wo sie gewünscht/gebraucht werden.

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Dass der arbeitende Mensch die Industrie (die Fabrik) selbst leiten kann, ohne Befehle von ‚oben‘, ohne Abteilungsleiter, die ihm sagen, was zu tun ist. SELBSTVERWALTUNG. Dass wenn wir das Geld erst los sind, wir auch die Regierung, die Polizei, das Militär nicht mehr brauchen. Keine Bestrafungssysteme mehr. Kein Eigentum. Kein Privatbesitz heißt, dass sich Möglichkeiten und Herzen öffnen, dass man bekommt, was man braucht. Gegenseitige Hilfe, Überleben, Freiheit, Leben gegen Tod. Dass wir ohne Gefängnisse auskommen. Es gibt keinen Diebstahl mehr, sobald wir den Privatbesitz aufgeben. Dass wir keine Irrenanstalten (schlecht getarnte Gefängnisse) brauchen. Wir brauchen weder Metall noch Gitterstäbe, um uns um unsere Brüder und Schwestern zu kümmern. Dass es losgehen kann, wenn das Volk handelt und sich weigert, Geld zu benutzen, wenn es die Produktionsmittel beschlagnahmt – die Fabriken, die Felder – und weiterproduziert, wenn es verteilt, was es produziert und nur das Notwendige produziert, keinen Scheiß (Abfall) mehr. Der Unterschied zwischen Scheiße (Abfall) und Freuden. Freuden als Notwendigkeit. Re-Definition von Freuden als Verlangen, Verlangen, das sich auf die heiligen menschlichen körperlichen Bedürfnisse bezieht, nicht auf Geld, Prestige, Privilegien und Macht . . . Klarmachen: Dass die Arbeitskraft der Welt um das Millionenfache ansteigen wird – alle Menschen, die gegenwärtig überflüssige Arbeit leisten: alle, die zum Beispiel in Läden arbeiten und Sachen verkaufen, weil es keine Geldtransaktionen mehr geben wird, Kaufen und Verkaufen wird keine Zeit und Arbeit mehr in Anspruch nehmen – alle diese Menschen haben Zeit für andere Arbeit. All diese Menschen, die unnötige Arbeit verrichten, hören damit auf: alle Menschen, die in Büros arbeiten und über Geld schreiben, über Einnahmen und Ausgaben, alle Leute, die in Banken arbeiten, alle Bauarbeiter, die Banken und Gebäude bauen, in denen solche Arbeit gemacht wird, alle Leute, die das Eisen für diese Gebäude gewinnen, die die Steine brechen, die Ziegel brennen, sie tragen, die das Papier herstellen, auf das nutzlose Dinge geschrieben werden, und alle Menschen beim Militär, und die Polizei, und die Arbeiter, die Waffen, Panzer und Bomben bauen, die Liste ist endlos, Millionen und Abermillionen Menschen! All diese Menschen, sie werden Zeit haben, nützliche Dinge zu tun, sich auszuruhen, zu träumen, zu lieben, die Welt zu erschaffen.

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Wir müssen keine Schuhe mehr herstellen, die schnell kaputtgehen, weil es haltbare Materialien gibt und Methoden, haltbare Dinge herzustellen. Wir brauchen keine Reklame und Propaganda, die uns sagt, was wir kaufen sollen, und uns gierig nach Dingen macht, die wir weder wollen noch brauchen; eine einfache Ansage über das Angebot genügt uns. Weitere INFORMATION: Über die Bewegung: Weltweit gibt es, in fast jedem Land, eine Bewegung, die die Welt transformieren will. Darüber, dass wir uns in der ersten Phase einer Transformationsbewegung befinden, die in dreißig bis fünfzig Jahren abgeschlossen sein wird. Darüber, dass die Veränderung hin zu dem, was die Menschen wirklich wollen, durch eine Kombination aus Studium und Vorbereitung erreicht wird, dann durch Aktion. Darüber, dass die Menschen das umsetzen müssen, es gibt keinen Anführer, nur diejenigen, die wissen, wie übel es steht, die leiden, und die sehen, wie gut alles sein könnte, wenn es anders wäre. Darüber, wie wir das schaffen können – wie wir die Ziele der gewaltlosen anarchistischen Revolution erreichen –, wenn wir jetzt anfangen und daran arbeiten, mit Lust. Darüber, wie man in Harmonie mit der Erde und miteinander lebt. Über die Periode des Kampfes: Wenn die herrschenden Klasse sagt: „Nein! Wir brauchen das Geld!“, und wenn sie mit Gewehren kommen: wie man sie entwaffnet. Darüber, wie man das Militär, die Polizei und den Verstand der Menschen vorbereiten muss. Darüber, wie wir uns aufs Freisein vorbereiten, frei denken und handeln. Darüber, dass unser Geist in der Gesellschaft, in der wir jetzt leben, nicht frei ist. Über die Beziehung zwischen sexueller Freiheit und anderer Freiheit. Darüber, wie wir uns darauf vorbereiten, gewaltlos zu agieren. Wie man den Hang zur Gewalttätigkeit austreiben kann, gewalttätige Reaktion auf bestimmte Auslöser. Wie man den Zyklus der Gewalt beendet. Darüber, wie wir unsere Kinder tolerant erziehen, sodass sie sich an Freiheit gewöhnen und immer freier sein wollen. Freier, als wir es ihnen jetzt erlauben können. Damit sie den Weg weitergehen. Wie wir ihnen beibringen 258


zu lieben, die Freiheit zu lieben. In 10 oder 15 Jahren sind die Kinder die Bewegung . . . Darüber, wie wir unsere Kinder lehren, sich nicht für Sex oder ihre Körper zu schämen. Sex als Feier des Lebens und der Liebe, des Körpers, als Feier des ruhmreichen Schöpfergeistes in uns. WARNUNGEN Denkt dran: Das System – die Regierung und die Polizei und alle, die verrückt sind nach Geld, die das Geld mehr lieben als das Leben – wird sagen, dass diese Idee nicht funktionieren kann. Denkt dran: Das alte System arbeitet Tag und Nacht daran, die Menschen im Glauben zu lassen, dass Zwang notwendig sei, dass Polizei und Gesetz und Gefängnisse und Geld notwendig seien: Das alte System hat sich nie vorgestellt, dass es anders sein könnte. Denkt dran: In einer Gesellschaft, in der Sex und Liebe unterdrückt sind, in der uns Geld zum ständigen Wettbewerb zwingt, kann Liebe sich nur schwer zeigen. Erkennt, dass wir nicht in Nationen untergeteilt sein müssten. Wir sind alle auf diesem Planeten unter Sternen geboren. Wir können zusammen anstatt gegeneinander arbeiten. Erkennt, dass der Krieg ein Kind des Nationalismus ist, des Besitzes und des Geldes, Kind der Systeme, die Hass säen. Denkt daran, dass nur die Menschen die Kraft aufbringen können, die wir brauchen: Nur die Menschen können die Menschen befreien. NOTIZ ÜBER HISTORISCHE PRÄZEDENZ Was in der Ukraine in Russland zwischen 1917–1921 und in Spanien 1936/37 geschah: Für die Bauern, die Menschen, die der Erde verbunden sind, die wissen, wie man Dinge im Einklang mit der Natur macht, war es leicht, sich zusammenzufinden und Kollektive zu bilden, um die lokalen Behörden loszuwerden und das Land gemeinschaftlich zu bewirtschaften, für die eigenen Bedürfnisse zu wirtschaften und die Produktion zu steigern, sodass sie die Städte mit mehr Lebensmitteln versorgen konnten als zuvor. Manche gingen sogar so weit, dass sie in ihren Dörfern das Geld abschafften, und es wurde berichtet, dass die lang vermisste Freude in ihre Mitte zurückgefunden hat.

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122 Das maximale Glück jedes Einzelnen hängt am maximalen Glück aller. José Oiticica. Und Leben, oder was wir Leben nennen, wird immer schwerer vom Denken zu trennen sein. Artaud. In der Revolution verschmelzen diese zwei Realitäten miteinander: Das Ende der Entfremdung der Menschen: dass endlich ein heiliger Körper aus Denken und Handeln (Leben) entsteht, der nicht zu trennen ist vom Volk, der das Volk ist. Das Elend unseres Körpers und Geistes verschwindet, wenn unsere Entfremdung voneinander schwindet. Diese Einheit ist nicht zu erreichen im Zustand der Repression, in dem Bewegung und Denken unterdrückt werden. Mach dich frei. Aufstand. Wie lautet die Frage jetzt, im Jahr 1972? Die Antwort im Jahr 1972 kann nur lauten, dass wir sofort anfangen. Wie? Wir machen mobil für die totale Revolution. Um die Ecke schauen, durchblicken. Eine Vision, die ins Undurchsichtige vordringt. Aber wie können wir sicher sein? Das Ohr. Hört hin. Hört die Klänge, die die Erde umfassen. Om. Sh’ma. Hört. Klassentrennung als erste Spaltung. Zerstörung der Einheit. Das Klassensystem hat den Kosmos zertrümmert. Geschlossen. Privat: die Eigenschaft des Bourgeoisen: Schränke, Schlösser, Schlüssel, um Dinge einzuschließen anstatt sie zu öffnen. Privatbesitz: der Masse entzogen, separat gehalten: Gott wohnt in den Menschen. Nicht in Dingen. Erstens: uns unserer Lage bewusst werden, wir sind die Geiseln unserer Klasse. Zweitens: Untergang der Klassen. Drittens: Wie geht das? Aufstand. Um unsere Identität als Menschen zu finden, müssen wir die hasserfüllte Welt des Nationalismus zerstören, die uns voneinander trennt. Einigung. 260


Wir ziehen von Land zu Land, nicht von „Nation zu Nation“, um unsere Identität als Menschenvolk neu zu erschaffen: denn das Heilige ist inmitten der Menschen, nie inmitten einer Nation. Das Theater leben. Wir erwarten, dass das Leben kommt: Das Leben wird kommen, wenn wir es rufen. Liebe. Wenn wir es nicht mehr zurückweisen. Ende der Einsamkeit. Endloser Anfang. Endlich. Ein Ozean. Des Lebens. Die Sehnsucht unserer Herzen, die Gebete unserer Lippen, der Verdienst unserer Hände. Und dann darf jeder sagen: „Die Welt wurde mir zuliebe erschaffen“; und die Menschen dürfen sagen: „Die Welt wurde für uns alle erschaffen.“

123 Nacht. Träume. Meuterei. Nacht. Nacht. Arbeiten. Immer. Meuterei. Sklavenaufstand. Nacht. Meuterei. Gefängnis. Ich spreche von Leben und Tod. Sprechen. Schreiben. Nacht. Kreise. Kreisende Träume.  Gefängnis.  Im Gefängnis nehmen uns sogar unsere Träume fest. Ich träume von Flucht aber es ist immer ein Traum.  Nacht.  Arbeiten. Arbeiten. Ausbruch. Fliehe. Gefängnis. Nacht. Gefängnis. Nacht. Falle. Nacht. Meuterei. Aufstand. Aufstand. Aber wie? Einflößen.  Studieren.  Organisieren.  Mobilisieren.  Lieben.  Handeln. Ausbrechen aus dem Gefängnis, dem Theater, in die Welt. Haftzellen. D.O.P.S (Departamento de Ordem Politica e Social) Belo Horizonte, Brasilien, 1. August 1971

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FEUERTAUFEN IN BERLIN Judith Malina

Ich will Ihnen die Geschichte erzählen von meiner persönlichen Erfahrung und von der Erfahrung des Living Theatre hier in Berlin. Ich bin 1926 in Kiel geboren. Das war das Jahr, in dem Piscator angefangen hat, an der Volksbühne zu arbeiten. Mein Vater war Rabbiner, meine Mutter aber eine ganz junge Schauspielerin. Und es war ihr Traum, einmal mit Piscator zu arbeiten. Aber sie hatte sich in einen jungen Rabbiner verliebt, und man konnte 1925 nicht die Frau eines Rabbiners sein und auch eine Schauspielerin. Jetzt kann man sich das vielleicht vorstellen, damals aber noch nicht. Meine Mutter hat das Theater dann aufgegeben, mit der Idee aber, besprochen mit meinem Vater, dass sie eine Tochter haben werden, die stattdessen Schauspielerin sein wird. So bin ich aufgewachsen, mit dieser Idee. Mein Vater, der hier in Berlin Philosophie und in Ungarn das Rabbinat studiert hat, hat vieles sehr früh vorhergesehen. Auch, dass es in dieser so sehr idealisierten Weimarer Zeit mit uns Juden schlecht gehen wird. Und er hat mich und meine Mutter nach Amerika gebracht, als ich zwei Jahre alt war. Wir wohnten in New York City. Mein Vater begründete eine Synagoge, die deutsch-jüdische Kultusgemeinde in New York, und brachte eine Zeitung heraus, Der jüdische Zeitgeist. Ich bin in einem Milieu aufgewachsen, in dem die Geschichte der deutschen Juden am wichtigsten und Zentralpunkt unseres Lebens war. Und so hatte ich als ganz kleines Kind die Vorstellung, dass Berlin eine grausame Stadt ist. Die Geschichten, die wir gehört haben und die mein Vater verbreitet hat, haben mich sehr erschrocken. Der Einfluss Berlins kam aber auch aus anderen Richtungen zu mir. Denn Berlin war auch die Stadt des Widerstands, und wir fühlten uns in New York auch als ein Zentrum des Widerstands. Als Kind habe ich mitgeholfen, kleine Pakete zu packen. Wir zählten jeweils zehn Shampoo-Päckchen ab, nahmen aus dem zehnten das Shampoo heraus und legten ein kleines booklet, ein kleines Papierbuch hinein, auf dem geschrieben war: „Wissen Sie, wo Ihre jüdischen Nachbarn jetzt sind?“ Aber auch in meinem Metier, als Schauspielerin, die ich werden sollte, war ich dabei, bei den Gruppen, bei den Meetings, beim Vorlesen von 263


Gedichten, bei dem Versuch, der ganzen Welt klarzumachen, was in Deutschland vor sich ging. Und man glaubt es vielleicht immer noch nicht. Als ganz kleines Kind war ich aber auch oft mitten auf der Bühne und erzählte. Ein Gedicht beeinflusste damals auch mich, und es zeigt, warum dieser Begriff „Deutschland“ und „Berlin“ für uns tragisch war: Ich glaub, ich war wohl nie ein Kind, ein Kind wie andere Kinder sind, das keine Sorgen kannte. Ich spielte nie am Sonnenschein, ich freut’ mich nie am blumigen Rain, ich jauchzte nie im Sande. Denn wenn ich auf den Spielplatz ging, Geschrei und Lärmen mich umfing: „Geh weg, du bist ein Jude!“ Da packte mich ein wilder Zorn, ich schnitt ’nen Stecken mir von Dorn und wollt’s den Kerlen zeigen. Da rief die Mutter: „Gott bewahr, du bringst uns alle in Gefahr, mein Kind, ein Jud muss schweigen!“ Doch geschwiegen habe ich nicht. Ich habe daraus gelernt, dass ich die Verantwortung habe. Und ich glaube das auch heute noch. Ich bin während dieses Krieges Pazifistin geworden. Meine Familie hat das als grausam empfunden: „Verstehst du nicht, was los ist?“ Doch, ich habe verstanden, was los ist. Gerade deshalb bin ich Pazifistin geworden, und deshalb habe ich mir auch vorgenommen, dass ich diesen Hass nicht weiterführe, wo er sich auch befindet und wie er sich auch ausdrückt. Die Theaterarbeit, die ich heute mache, ist auch darauf begründet, dass es, wenn man den Hass weiterführt und den Krieg und des Menschen Misstrauen fortsetzt, zum Schlimmsten führt. Da habe ich mich also gegen meine Eltern gestellt und gegen die Gemeinde. Das war eine nicht sehr populäre Position – und ist es immer noch nicht. Dann bin ich bei Piscator Schülerin geworden. Meine Mutter hatte, wie schon gesagt, Piscator immer verehrt, und es war für mich ein großes Glück, dass ich zu ihm kam. Er hatte eine Schule, in der es viel strenger, viel mehr „deutsch-streng“ war als in den normalen Schauspielstudios in New York. Und Piscator hat mir zwei Dinge beigebracht: Zum einen, dass das Theater total ist. Wir können im Theater nicht nur allerlei technische Mittel gebrauchen, Filme, Bühnenbilder, die sich bewegen, 264


Durchbrüche im Szenischen. Das Theater ist vielmehr im tiefsten Sinne total. Die Straße ist Theater. In jeder Begegnung zwischen uns gibt es das Theatralische, das die Beziehung erhöht und auch die menschlichen Möglichkeiten, wenn man das Drama zwischen uns ausspielen kann. Piscator hat mir zum anderen aber auch etwas beigebracht, was für mich und für das Living Theatre immer eine Grundlage war: Wenn man auf der Bühne steht, als Schauspieler, als Bühnenbildner, als Regisseur, auch wenn man im Hintergrund eine Fahne trägt, man muss etwas sagen wollen und etwas zu sagen haben. Sich da hinzustellen und zu sagen: „Ich sehe sehr schön aus, ich kann wunderbar sprechen, sieh mal, wie gut ich das mache!“, das hat doch keinen Sinn. Auf dieser Grundlage, die Piscator uns gelehrt hat, versucht das Living Theatre immer noch, die Fragen zu stellen: Was wollen wir sagen? Was für einen Sinn hat es, das zu sagen? Was müssen wir sagen? Was für eine Beziehung wollen wir mit diesen Menschen im Zuschauerraum wirklich haben? Wer sind wir zueinander? Diese Fragen kamen aus Piscators Theater in das Living Theatre hinein, und sie sind immer noch, in dem einen oder anderen Sinn, von der einen oder anderen Seite, für jedes Living-TheatreStück bestimmend, das sich stellt und versucht, die Richtung der Antworten zu finden. Ich heiratete einen Maler, Julian Beck. Das war zu der Zeit, als ich aus Piscators Schule kam. Uns war klar, dass das Theater, zu dem Piscator uns inspiriert hat, nicht das Theater war, das in New York existierte. Piscator konnte lehren, Theater zu machen, in New York aber konnte er es nicht verwirklichen. Das Theater, das dort existiert, ist auch wirklich unmöglich: Die ganze BroadwayVergnügungsindustrie ist eine Situation, in der ein Mann wie Piscator sich nie befinden sollte. Und auch ich nicht. So haben Julian Beck und ich ganz klein angefangen – ohne Geld, aber mit viel Eifer–, ein Theater zu machen, das gerade das ist, was wir wollen, und das sagt, was wir sagen wollen. Die Mittel müssen dann eben bescheiden sein. Und das trifft für das Living Theatre heute immer noch zu. Wir arbeiten in New York in einem ganz, ganz kleinen Raum. Zu jeder Vorstellung haben nur fünfundsiebzig Zuschauer Platz. Wir sind in den ärmsten Teilen Manhattans, auf der Lower East Side, wo das Leben für die Leute wirklich schwierig ist. Viele sind obdachlos. Und unsere Stücke müssen auch technisch passen zu der Situation, dass das Living Theatre ein mehr oder weniger nicht subventioniertes kleines Theater ist. Aber wir machen noch immer genau das, was wir wollen.

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1961 kamen wir nach Berlin, in diese Stadt, die sich immer gegen Grenzen stemmt. Deshalb ist es hier auch so interessant. Die Selbstzufriedenheit, die es überall gibt, ist hier am wenigsten zu spüren. Hier ist ein Streben festzustellen gegen alle Zustände und gegen alle Grenzen. Und deshalb war es hier auch so interessant, als es die Mauer gab. Denn da war grafisch klar, dass die eine Seite sich gegen die andere Seite stemmt. Vor dem Bau der Mauer und nach ihrem Fall kann man das grafisch nicht so sehen. Aber es ist immer da, es ist in Berlin, was Berlin für uns immer zu einem wichtigen Zentrum gemacht hat und immer noch macht. Wir spielten in der Akademie der Künste unsere New Yorker Stücke, so Jack Gelbers Connection, man hat uns am Wannsee gut untergebracht, und wir hatten Kontakte mit dem Berliner Ensemble unter Helene Weigel. Es war sehr schön. 1964 begannen wir mit unserem antimilitaristischen Stück The Brig unsere lange Exiltournee durch Europa. Zu dieser Zeit gab es in Amerika schon sehr viele Probleme. Damals schrieb ich diese Zeilen: „Mit zwei Jahren hat man mich aus meinem Land getragen, weil die, die herrschten, mich nicht mehr gerne hatten. Mit achtunddreißig Jahren war das neue Land schon damit angesteckt. Ich habe den Staat kritisiert und muss schon wieder raus. Doch wer will mich haben? Mich, die es mit allen gut meint. Jetzt, da die Welt kleiner wird und die Arbeit leichter – und das Leben schwerer. Man muss ja weitergehen, auch wenn man stolpert.“ Mit 38 Jahren kriegt man ja schon Angst, dass es höchste Zeit ist – und noch mehr mit 65. „Wer will mich haben? Und auch meine beste Arbeit? Denn ich werde euch kritisieren.“ Mit diesen Gedanken sind wir 1964 hier bei der Akademie der Künste gewesen. Und als wir dann eine wandernde Truppe wurden, kamen wir zurück zum Forum-Theater, wo Frank Bruckner, Klaus Hoser und die anderen uns sehr willkommen geheißen haben. Es ging uns dort sehr gut. Wir haben wahnsinnig schwer gearbeitet, und wir waren zu dieser Zeit ja eine sehr, sehr arme Truppe, ganz und gar angewiesen auf das nächste Engagement. Aber wir waren eine Truppe, die sich frei bewegte. Wir gingen von Land zu Land, von Stadt zu Stadt, um zu sehen, wo wir Arbeit finden. Wir waren immer Arbeitsuchende. In Berlin ging es uns nur deshalb sehr gut, weil Bruckner uns im Forum-Theater alles möglich gemacht hat. Wenn keine Zeit und kein Platz für unsere Proben war, haben wir sie um Mitternacht begonnen und bis zum Morgenlicht weitergeführt. So haben wir Die Zofen hier in Berlin geprobt. Sonst aber war es sehr schwierig für uns. 266


Es ging uns sogar so schlecht, dass, als wir einmal beim Berliner Ensemble waren – da stand schon die Mauer, und es war schwerer, das Berliner Ensemble zu besuchen –, Helene Weigel unsere Schuhe ansah und sagte: „Warum tragt ihr solche Schuhe?“ „Weil wir kein Geld für bessere Schuhe haben“, sagte ich. „Kaputte Schuhe ohne Sohlen, und es schneit doch!“, sagte sie. „Wir nehmen die Schuhgröße von allen Living-Theatre-Leuten!“ Und so kam das erste Care-Paket von Ost nach West, die Leute vom Berliner Ensemble haben jedem von uns ein paar neue Schuhe gegeben. Aber wir mussten sie einzeln abholen und an unseren Füßen über die Grenze tragen, denn es war ja nicht erlaubt, Schuhe herüberzubringen. Wir haben also unsere alten Schuhe beim Berliner Ensemble gelassen – vielleicht sind sie dort ja immer noch unter den Kostümen zu finden. Wenn man richtige Armut spielen muss, wären sie schon gut. Das war eines der Mitgefühle, die wir in dieser Stadt gesehen haben, eine Freundlichkeit zwischen den Künstlern, die uns mitveranlasst hat, den Senat zu bitten, dabei zu helfen, uns hier in Berlin anzusiedeln. Das ging ein paar Jahre lang. Es ging während einer ganz langen Zeit, in der wir Frankenstein mitgebracht haben und in der ich das letzte Mal mit Piscator zusammen war, bei der Premiere der Ermittlung; das war unser letzter Moment, der mir sehr wertvoll ist. Wir waren dann in Griechenland, haben eine Tournee durch ganz Europa gemacht, sind sehr schnell von einer Stadt zur anderen gegangen. In Griechenland fanden Julian und ich das alte Buch für die Antigone. Die wollten wir spielen. Ich habe sie dann übersetzt. Das war für uns auch sehr mittelpunktlich Berlin, denn das Thema in der Brecht-Erzählung dieser Legende ist ja Berlin. Und wir haben angefangen, das hier in Berlin sich auswirken zu lassen. Das war schon 1966. Zwar haben wir es hier bis 1970 nicht gespielt. Aber dann war es das letzte, was wir hier vor Paradise Now gespielt haben. Wir hatten in dieser Stadt Kontakte mit dem Berliner Ensemble, mit dem Forum-Theater, und wir dachten, wir würden uns hier irgendwie ansiedeln. Wir spielten Mysteries, wir spielten The Maids, wir machten das große Bühnenbild Frankenstein in der Akademie der Künste, und wir suchten einen festen Wohnort und einen Arbeitsplatz oder einen Theaterraum oder auch nur einen Raum, den man in einen Theaterraum verwandeln konnte. So etwas suchen wir immer, ich suche das schon vierzig Jahre lang. Hier hatte uns der Senat auch viel Hoffnung gemacht, und das Ergebnis war für uns dann sehr traurig, eben weil wir so viel Hoffnung hatten und darauf gewartet haben. Aber das ging natürlich seinen Weg durch die Bürokratie, es gab viele Gespräche, viele Artikel in den Zeitungen – und am Ende ist es doch nicht gelungen, einen Platz für uns als Berliner Truppe 267


zu finden. Am Ende hatten wir nicht einmal mehr einen Wohnort, alles war uns unmöglich geworden. Wir waren sehr böse und sind zu den Senatoren gegangen und haben gesagt: „Wir haben wirklich nicht einmal mehr Platz zum Schlafen, müssen das aber irgendwo tun, wir schlafen deshalb hier im Büro!“ Daraufhin hat man für uns einen Platz gefunden. Man hat uns nämlich nach Spandau gesteckt. Dort waren dann nur Rudolf Hess und das Living Theatre, nur wir, ganz alleine. Das war so grausam. Und wir haben gedacht, vielleicht wollen die uns wirklich nicht haben. Deshalb sind wir dann auch eine Zeitlang nicht zurückgekommen. Wir sind nicht zurückgekommen bis zu dieser ganz aufregenden und interessanten Zeit 1969/70. Da war die Revolution schon längere Zeit im Gange. Wir waren im Mai 1968 in Paris, wir fühlten uns als ein Teil der Friedensbewegung, der Jugendbewegung – der Friedensbewegung, die allzu schnell in Gewaltsamkeit hineingegangen ist und noch immer darunter leidet. In diesem Leben, in diesem Schwung großer Energie haben wir uns befunden und auch ein Stück entworfen: Paradise Now, denn wir wollten das Extreme, wir wollten das Paradies, wir wollten pazifistisch-anarchistisch eine schöne, herrliche, gute Revolution machen, gewaltlos, unblutig und voll guter Energie. Und daran glaube ich noch immer. Ich glaube noch immer, dass diese Möglichkeit für uns besteht. Und ich meine auch immer noch, dass wir im Leben nach den höchsten Möglichkeiten streben sollten und nicht nach kleinen Kompromissen. Das wollte das Living Theatre mit dem Wort Paradise Now ausdrücken. Wir kamen dann in den Sportpalast. Es war eine große Farewell-Situation, und wir wollten mit dem Ende des Stückes erklären, wohin das Theater gehen muss. So wie Julian Beck gerufen hat: „Das Theater ist auf der Straße! Wir kommen alle aus dem Theater und machen aus dem Leben das Hohe, das Schöne, das Poetische, was das Theater für uns bedeutet!“ Das wollten wir. Natürlich hat es sich oft in eine ganz andere Richtung entwickelt, denn draußen stand die Polizei, die eine ganz andere Vorstellung vom „Paradies“ hatte als wir, und oft wurden wir am Ende des Paradieses verhaftet. Die Polizisten aber waren dann doch nur unsere Mitspieler. Wir haben denen auch erklärt, dass sie jetzt in unserem Schauspiel mitspielen. Das haben sie oft nicht gerne gehabt. Aber was konnten sie dagegen tun? Das Theater ist eben total, und auch das war das totale Theater. Wir wollten dann aber nicht zurück in das Theater und haben dann ein Projekt begonnen, das wir Kains Vermächtnis nannten. Es war ein zehnjähriges Theaterprojekt, in dem wir mit Workshops, mit kollektiver Arbeit, mit Beziehungen zu verschiedenen Gruppen, Menschen und Städten 268


kollektiv Theater gemacht haben, das nicht auf der Bühne gespielt werden sollte, sondern auf den Straßen, in den Krankenhäusern, in den Schulen, in den Irrenhäusern, vor und in den Fabriken. Wir haben zehn Jahre lang wirklich nur solches Theater gemacht. In diesem Sinne war das Theater dann „auf der Straße“. 1985 ist Julian Beck gestorben. Nach unserer zehnjährigen Pause hatten wir auch wieder Theaterstücke im Theater gespielt, sogar wieder die Antigone, weil die historische Zeit ein wichtiges Problem aufklärte. Als aber Julian Beck gestorben ist, hat das Living Theatre natürlich einen langen tiefen Atem genommen. Wir litten, wir weinten. Doch wir haben mit unserer Arbeit nie ganz und gar aufgehört. Wir haben uns neu organisiert. Hanon Reznikov hat es übernommen, mit mir das Theater weiterzuführen, mit mir das Theater weiterzubringen, in derselben Arbeit, die wir 1947 mit Julian Beck angefangen haben. Zur Zeit haben wir in New York ein kleines Theater. Und 1990 sind wir auch wieder nach Berlin gekommen. Da war hier natürlich schon wieder eine andere Welt, und es war ganz herrlich, durch Berlin zu fahren. Wir waren eingeladen vom Rammzata-Theater und Dirk Szuszies, der schon bei unserer Tournee mit uns gearbeitet hatte und ein Living-TheatreMitglied war und noch ist. Er hat hier das Rammzata-Theater in einer Form aufgebaut, die uns ganz nahe liegt und die viel mit uns zu tun hat. Und er hat uns dann auch eingeladen, dort zu spielen. Aber jetzt gibt es auch für das Rammzata-Theater Schwierigkeiten weiterzumachen, wie für so viele Theater; wir hören hier von so vielen Problemen, die die Theater haben, alle Formen des Theaters, die großen und die kleinen, hauptsächlich aber die kleinen. Wir sind immer auf der Suche, wir wollen uns irgendwo hinsetzen und irgendwo sein, wo wir unsere Arbeit hinbringen können. Aber es wird immer schwerer. Doch vielleicht wird es, auch wenn es schwerer wird, besser. Denn dann müssen wir einfach härter arbeiten und mehr zusammenarbeiten. Die kleinen Theater der Welt, in denen wir uns bewegen, sind ja immer ganz tief miteinander befreundet. Das Living Theatre und all die kleinen Gruppen, ob Jerzy Grotowski oder „Bread and Puppet“ oder „Open Theatre“ oder „La MaMa“, es sind Menschen, die alle zusammenarbeiten und füreinander Möglichkeiten suchen. So ist es auch hier mit dem Rammzata-Theater. Sie haben uns eingeladen, wir hatten eine herrliche Saison mit Else Laske-Schülers IchundIch und Hanon Reznikovs Tablets, und wir sollen wiederkommen. Hanon wird jetzt ein herrliches Stück von George Washington inszenieren: Die 110 Regeln des guten Benehmens. Das Living Theatre ist ja immer an gutem Benehmen interessiert. Es ist ein wunderbares Modell des 269


Historischen und des Gegenwärtigen in unseren Manieren, in unseren Lebensformen und in unseren Beziehungen. Das wollten wir jetzt auch nach Berlin bringen. Aber es ist zu schwer, für unsere Arbeit einen Platz zu finden. Schön war, als wir über das Rammzata-Theater einen Workshop gemacht haben, bei dem sechzig junge Leute ein Straßenstück erfunden haben. Einen Workshop, bei dem die Mitwirkenden das Thema aussuchten, die Formen wählten. Wir machten daraus ein Theaterstück. Das können wir schon. Die Themen aber, die Worte, sie kamen von den Mitgliedern des Workshops. Und diese haben hier in Berlin ein unglaublich schönes Stück erfunden, das auf die wirklich wichtige Frage eingeht: Jetzt soll hier Freiheit sein, jetzt ist die Mauer weg, jetzt gibt es diese Integration – was bedeutet das? Was bedeutet eigentlich die Freiheit? Das fragen wir Anarchisten ja schon immer. Was kann es bedeuten, wenn ich ein ganz anderes System der menschlichen Beziehungen habe? Und sie fragen ganz ernst: Freiheit, das ist doch nicht die Waschmaschine, die ich haben will, das ist doch nicht Fast Food von McDonald’s. Das ist zwar schön, und das mache ich mit. Aber das ist doch nicht die Freiheit, für die ich sterben würde und für die ich leben will. Doch was ist es dann? Diese Frage haben die Mitglieder des Workshops als die zentrale Frage betrachtet. Das zu sehen hat uns viel neue Kraft gegeben. Wir spielten das Stück erst am Kurfürstendamm, am Breitscheidplatz, und sobald wir fertig waren, sind wir im Auto zum Alexanderplatz gefahren und haben dort genau dasselbe gespielt, mit denselben Fragen. Es war so schön, es war so wichtig – es war das Berlin, das sich gegen Grenzen stemmt. Deshalb ist es für uns immer so wichtig gewesen, hier zu sein, das Beispiel Berlins aufzunehmen, ein Teil des Kulturlebens dieser Stadt zu sein. Hoffentlich kommen wir wieder. Hoffentlich wird man uns wieder einladen. Aber ich muss dann wieder sagen: Wer will mich haben? Denn ich werde euch kritisieren! Berliner Lektion am 5. Mai 1991

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JULIAN BECK ODER THEORIE UND PRAXIS DER UNREINHEIT Milo Rau

VORBEMERKUNG Im Dezember 2020 war’s, als Yvonne Büdenhölzer und Thomas Oberender mich fragten, ob ich ein paar Worte schreiben wolle für die deutsche Übersetzung von The Life of the Theatre. Ich freute mich, dachte aber auch: Warum war das nicht längst übersetzt worden? Als wir am NTGent vor ein paar Monaten den Band Why Theatre? herausgaben und dafür 106 Theatermacher*innen um Beiträge fragten, war es das erste Mal, dass die meisten von ihnen in Deutschland überhaupt gedruckt wurden. Wenn man sich für die Theorie von Größen wie Zé Celso oder Ariane Mnouchkine interessiert, findet man praktisch nichts außerhalb des Internets. Was auch damit zu tun hat, dass ihre Bücher meist nur als „Beipackzettel“ gelten: als gäbe es eine implizite Aufgabenteilung zwischen Theoretiker*innen und Praktiker*innen, zwischen schriftlicher Kritik und inszenatorischer Praxis. Als wäre schon die Idee, gemäß einer Theorie zu handeln, eine Verunreinigung der Kunst – welche „zweckfrei“ sein soll, wie es bei Kant heißt. Für die Welt des Living Theatre galt das nicht. Schreibtisch, Probenraum, Straße: In der Ästhetik des Living Theatre ist das alles eins, alles durchmischt, alles unrein. Ich sagte also sofort zu, denn zum einen sind die Ideen des Living Theatre auch meine, zum anderen sind es die Ideen eines nicht-bürgerlichen Theaters überhaupt: eines Theaters, das eben genau diese Trennungen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Produktion und Distribution, zwischen Kollektiv und Werk, zwischen Protest und Kreation nicht auseinanderdenkt oder in verschiedene Arbeitsfelder separiert. Wenn Beck, Malina und ihre Mitstreiter*innen ein Stück inszenierten, dann waren die Premieren und die Aufführungen nur eine Station. Es ging um das Produzieren selbst, darum, mit jeder Inszenierung an einer genauso imaginären und realen Institution zu arbeiten, die eine holistische – Beck würde sagen: revolutionäre – Kunst-Praxis ermöglichen könnte. Warum spielen wir immer abends, warum nicht morgens? Warum dauert ein Stück immer nur maximal zwei Stunden, warum nicht ein Jahr, ein Leben lang? Warum immer der europäische Kanon? Warum immer Worte? Wo endet die Ideologie und wo beginnt der Traum? Vieles von Beck ist natürlich Tradition geworden. Die Produktionen, um die es in seinem Buch geht, liegen ein halbes Jahrhundert zurück 271


und sind Klassiker des sogenannten Off-Off-Broadway. Trotzdem, die Utopie des Living Theatre – Theater nicht als Aufführung eines Textes, nicht als Ritornell von Premieren und Premierenkritiken, sondern als lebensweltlicher, gesellschaftlicher Gesamtzusammenhang – ist immerhin institutionell weitgehend eine Utopie geblieben. Das Theater ist, wenn ich das schreibe, immer noch ein Ort der Abfertigung, der sich wie in der Mengenlehre an Premierenabenden oder „offenen Proben“ überschneidenden Kreise der Zuschauenden und Spieler*innen. Malina und Beck träumten aber von einem Ort, an dem die Beziehungen der Menschen untereinander in Bewegung geraten, der ein fortdauerndes Experiment des Zusammenlebens ist. Theater als „Lebendes Theater“ eben. Diesen verwirrenden – aus heutigen Augen oft idiosynkratischen und altertümlichen – Traum will ich im Folgenden anhand von drei Sätzen von Beck – und seiner politisch klareren Mitstreiterin und Frau Judith Malina – genauer untersuchen. ERSTER SATZ: „Why do they fill me with hope when we all know what happened?“ An einer Stelle in seinem Buch – am 10. April 1970, Lenins Geburtstag – liest Judith Malina in Krupskajas Erinnerungen an Lenin. „Warum“, zitiert Beck aus ihrem Brief an den Schauspieler Carl Einhorn, „erfüllen mich die beiden mit Hoffnung, obwohl wir alle wissen, was passiert ist?“ Interessanterweise weiß es sogar die Autorin, Krupskaja. Sie schreibt ihr Buch über Lenin, als sie längst kaltgestellt ist durch Stalin: ein Museumsstück, wie ihr toter Mann einbalsamiert im Museum der Konterrevolution, zu dem der sowjetische Staatskommunismus in den frühen 1930ern geworden ist. Malina fokussiert nun auf etwas Interessantes: die Wut, die Klugheit, den Esprit von Krupskaja, das leuchtende Trotzdem, den Glutkern, der in ihrer reinen Existenz, im Moment ihrer Existenz, in ihrem Aufstand gegen die objektiven Kräfte der Geschichte liegt – die sie selbst als Revolutionärin, und das macht die Situation eigentlich endgültig tragisch, in Bewegung gesetzt hat. Wie gehen Melancholie und Hoffnung zusammen? Man vergisst oft, glaube ich, dass Beck schon vierzig Jahre alt war, als das Living Theatre in den 1960ern richtig bekannt wurde. Dass er, der sich in seinen Notizen als Maoist versteht, eine halbe bis ganze Generation älter war als die sogenannte 68er-Generation, die ihre Väter (also Becks Altersgenossen) anklagte. Dass er selbst, nicht nur dem Alter nach, sondern auch als Jude, an dem melancholischen Wissen der Kriegsgeneration teilhatte: dem Wissen jener, die das „what happened“ (mit den Ideologien des 19. Jahrhunderts) in der Realpolitik erlebt hatten, als Marx, Hegel, Mao von der akademischen Jugend, den zwanzigjährigen Theoretiker*innen und Künstler*innen in 272


den 1960ern wiederentdeckt wurden. Dass die Suche nach der historischmaterialistischen Letztbegründung von allem paradoxerweise den – wie Dan Diner irgendwo sagt – „grundlosen“ Vernichtungstod von Millionen hervorbrachte. Denn die radikale Suche nach dem letzten Grund gebiert erst den Exzess der Grundlosigkeit. Julian Beck ist zu umfassend „informiert“, wie es in der Soziologie heißt: Er hat zu viel Praxiswissen. Es gibt in seinen Notizen, auch wenn das Vokabular der Neuen Linken vorherrscht und Beck sich „in den Dienst der Arbeiter“ stellen will, etwas, das unkontrollierbar zurückgreift auf vor-kulturrevolutionäre Konzepte wie Ritus, Genie, Traum, Rausch. Becks Wille ist unrein und bäumt sich deshalb rhetorisch natürlich umso glanzvoller auf. Das betrifft nicht nur die gemischten, aber umso heißeren Gefühle, die Beck gegenüber dem geschichtsphilosophischen Messianismus der späten 1960er Jahre hegt. Sondern es ist fast eher so, als wäre sein in vielen Momenten überwältigender Wunsch, mit der „Realität“ der Arbeiterklasse zu verschmelzen – „reality“ ist vielleicht das am häufigsten verwendete Wort – gerade in dieser Unmöglichkeit verwurzelt. Julian Beck ist ein frühes Beispiel dessen, was man heute performativen Selbstwiderspruch nennt: eine Kunst gegen die Gesellschaft zu schaffen, in der sie rezipiert wird, das Neue zu fordern und doch immer wieder die alten Mythen zu kannibalisieren, die Realität zu wollen und den Ritus zu finden, die Sprache der Vergangenheit (von Lenin, Breton, Marx) zu verwenden für die Zukunft usw. Ich glaube, Julian Becks Texte sind eine literarische Umarmung dieser Unreinheit, und es ist keine entspannte, zynische Umarmung. Liest man die Notizen am Stück, wie ich es über Weihnachten tat, dann fühlt es sich eher so an, als wäre Beck in sie eingesperrt wie in eine Eiserne Jungfrau: „Kunst ist Revolte. Sie ist die Revolte, die scheitert“, schreibt er. Und Leiden ist sowieso ein zentraler Punkt seiner Ästhetik: Beck leidet an der Unfertigkeit des Living Theatre, er sucht sich immer neue Orte der Freiheit in den zehn Jahren, die das Buch umfasst. Bald bekommen Beck und Malina die höchsten Kunstpreise, dann müssen sie wieder auf den Straßen Berlins betteln gehen. Denn das Living Theatre ist seinem Wesen nach ein Club von absichtlich Ausgestoßenen, von „Nomaden“, wie man postmodern-verkitscht sagen könnte. Julian Beck erinnert dabei in vielen Punkten an den neun Jahre älteren Peter Weiss: die irre Mischung aus modernistischem Kunstverständnis – ständig werden bürgerliche Seelenschau- und Vereinsamungs-Päpste wie Antonin Artaud oder Arthur Rimbaud zitiert, es geht um „Imagination“ und „Expression“ – und der parallel dazu befeuerte Wunsch, im maoistischen Kollektiv als IndividualQuelle der Imagination zu verglühen.

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Und das ist das, was bis heute aktuell ist: Vielleicht musste Beck gerade von jenseits des Zweiten Weltkriegs in die 68er hineinragen, um hinter der Rhetorik des Kollektivs bereits die neoliberale Vereinsamung des revolutionären Subjekts zu spüren. „Der Künstler und der Kampf des Volkes“, lautet der Untertitel von Becks Textsammlung, dieses verzweifelten Versuchs, ein totales Theater zu denken in einem sich entfaltenden Zeitalter der Fragmentierung; den Kunstakt zu kollektivieren in einer Epoche der radikalen Personalisierung; eine Kunst jenseits der kapitalistischen Verwertungsstrukturen zu behaupten im sich spiritualisierenden Spät­ kapitalismus, der sich auch noch die hintersten Seelenregungen aneignet. Beck als Krupskaja, die die Revolution macht und beschreibt aus der Erfahrung ihrer Vergeblichkeit, ja: ihrer Vergangenheit heraus. ZWEITER SATZ: „I have a slave mentality“ Womit wir zu Kapitel zwei kommen: der mal düster, mal fröhlich selbstanklägerischen Grundströmung, die das Buch von Julian Beck bestimmt wie so viele bürgerliche Künstlerbücher, beispielsweise die Kindheitserinnerungen des bereits genannten Peter Weiss oder die Interviewbücher von Christoph Schlingensief. Als mir Yvonne Büdenhölzer The Life of Theatre zuschickte, erwartete ich sowas wie Augusto Boals Theater der Unterdrückten: ein Praxisbuch, einen pädagogischen Leitfaden. In Wahrheit aber liest es sich eher wie der Versuch, die Negativität der Kunst, das Unbefreite in der Seele des Menschen ins Zeitalter der Selbstbefreiung zu retten. Beck ist ständig damit beschäftigt aufzuzählen, was uns davon abhält, der Wahrheit unserer Lebensweise zu begegnen und sie damit zu verändern. Was auch immer er tatsächlich tut – und das ist eine Revolutionierung des Theaters und seiner Produktions- und Distributionsmechanismen – so zelebriert er in seinen Texten stur die Katharsis der bürgerlichen Seele. Beck zeigt sich damit als Figur, die gerade heute – in der Gesellschaft des Shamings und der neoliberalen Reinheits-Rituale, die von einer final bereinigten Kunst träumt – eigentlich gar nicht mehr geht: Beck ist ein Anarchist, der Lenin und die Surrealisten durcheinander liest und als expressionistischer Maler experimentiert, wenn er sich nicht gerade außereuropäische – vorzugsweise afrikanische – Riten aneignet, um sie in seinen Happenings zu verbraten. Eigentlich reicht es, die ersten beiden kurzen Texte in Julian Becks Textsammlung zu lesen, um diese Dialektik zu verstehen: die Notwendigkeit und die gleichzeitige Unmöglichkeit der Revolte in dem System, das man üblicherweise Kapitalismus nennt. „Wir leben in einem System“, 274


schreibt Beck im allerersten Absatz, „das Leid erzeugt; aus seinen Mühlen fließen Fluten von Leid“, und fährt fort: „Das Theater ist wie ein Boot – nicht allzu groß – aber der Aufstand kehrt das System um und die Revolution ist die Wende der Gezeiten.“ Und etwas später: „Ich habe eine Sklavenmentalität . . . Als wir das Gelobte Land erreichten, trugen wir das Goldene Kalb mit uns; nicht auf unseren Schultern, sondern im Herzen.“ Damit ist die Totalität der Zivilisation benannt, in der wir leben, und eben auch der erwähnte performative Selbstwiderspruch des engagierten Künstlers: das avantgardistische Theater als Boot auf dem See des kapitalistischen Systems, ein Floß der Medusa, auf dem Kummer herrscht. Die Kunst, schreibt mein Freund Geoffroy De Lagasnerie in seinem neuen Buch Die unmögliche Kunst, sei nichts anderes als die Melancholie der gescheiterten Revolution. Bei Beck ist die Revolution aber nicht bloß melancholisch eingefärbt, sie wird fast schon depressiv negiert. Denn der Sklave auf der Galeere will nicht das System überwinden, er will selbst Herr sein. Die Sklavenseele will nicht die Gezeiten wenden, sie will ein besseres Boot, sie will von der Galeere aufs Kreuzfahrtschiff, vom Off-Off-Broadway in die großen Säle. Und natürlich geht es Beck dabei vor allem um die janusköpfige Rolle des Künstlers, der, indem er den eigenen, subjektiven Kummer als objektiven Kummer der Massen wiederfindet, deren Leid kapitalisiert. Oder noch verkürzter: Darstellen ist – kein neuer Gedanke, aber was soll’s – verwerten. Und das ist deshalb die Grundfrage des Buchs: Wie entkommt der Künstler dem „System“? Wie entkommt er seiner „systematisierten“ Seele, jener Macht des Common Sense, die (keiner weiß das besser als Beck) vor allem in unseren Träumen zu uns spricht? Was kann man dagegen tun, dass sich alles – das Kollektiv, der Hass auf den Text – gleich in die nächste Performance-Mode verwandelt? Was ist überhaupt bürgerliche Kunst? Der Zufall will es, dass ich, als ich The Life of the Theatre las, mir Werk ohne Autor von Florian Henckel von Donnersmarck anguckte. Erzählt wird das Leben Gerhard Richters, der unter dem Namen Kurt Barnert auftritt. Richter aka Barnert wird 1932 im Osten Deutschlands geboren, lernt in der jungen DDR das Malen und wird später nach seiner Flucht in den Westen der Überkünstler der BRD. Dabei muss sich Barnert gegen zwei Sirenen wehren: Einerseits ist da „die Ideologie“, die sich im Film ganz flüssig einmal als Nazi-Wahn, dann als sozialistisch-realistische Propagandakunst materialisiert. Als Barnert/ Richter diese zynische Gleichung auch klar wird, flieht er in den Westen und verfällt nach seiner Ankunft an der Düsseldorfer Kunstakademie dem Everything Goes der frühen Postmoderne und imitiert Pop-Art und Fluxus. Donnersmarcks Lehre ist klar: Während der ironische Künstler glücklich im falschen Leben schläft, mag der zynische Künstler zwar schreckliche 275


Alpträume haben – aber er wacht auf, sobald die Macht ihn ruft. Die Berufung des Künstlers muss deshalb rein sein. Die wahre, die ästhetische Macht, die uns ruft, ist „zweckfrei“, außerhistorisch, unpersönlich, und das Werk, das in Donnersmarcks Film als ideale postmoderne Kunst entsteht, ist ein Werk ohne Autor. Bei Julian Beck, der in dieser Gleichung (käme er vor) die Rolle des unglücklichen Bewusstseins spielen würde, ist die Lösung maximal entgegengesetzt. Beck sucht nach einem Werk maximaler Autorschaft, oder anders gesagt: Seine Erlösung wäre kein Werk und nur Autorschaft, kein Produkt und nur Produktionsprozess. Autorschaft ohne Werk. DRITTER SATZ: „We are of great need of reality in our time“ Womit wir im Zentrum der Idee des Theaters wären, wie Julian Beck sie vertritt: beim erwähnten Konzept der „reality“, die er manchmal auch „the process“ oder (mit Genet) „la politique“ nennt. An einer Stelle in seinem Buch analysiert Beck die Methode der Einfühlung und der Mimesis bei Stanislawski als methodischen Ersatz eines Verlusts: eines Verlusts, den Beck – natürlich nicht unproblematisch, aber was soll’s – den „verlorenen Tribalismus“ nennt. „Ich entscheide mich, nicht im Theater zu arbeiten, sondern in der Welt“, sagt er. Denn was er die ganzen dokumentierten zehn Jahre hindurch sucht – behindert von Selbsthass, von allgemeiner Wirrnis, vom Zusammenbruch der abendländischen Zivilisation und von spirituellen und ökonomischen Problemen –, ist „the process“, „the soil“, der lebenspraktische Boden, aus dem das neue Theater wachsen kann, auf dem das „absolute Kollektiv“ seine Autorschaft behauptet: ohne Premiere, ohne Werk, wie gesagt. Das verwirrende an Becks Buch bleibt deshalb, dass er, spricht er von „reality“ oder auch der „working class“, wenn er Lenin oder Krupskaja oder – sehr oft – seine Kollegin und Frau Judith Malina zitiert, im Grunde immer zugleich das Kollektiv des Living Theatre und seine zerfetzte, fliehende Seele meint. Jüdischer Messianismus, französische Hochkultur, Neo-Maoismus gehen wild durcheinander, als ginge es darum (und es geht in der Kunst immer auch darum), alle Redeverbote der bürgerlichen Elite abzuräumen. Denn wie wir alle wissen und uns Julian Beck in der ihm eigenen Renitenz hundertfach aufnötigt, gibt es nur eine Sache, die schlimmer ist als der sozialistische Realismus: der sozialdemokratische Realismus. Womit Julian Beck deshalb absolut keine Geduld hat, sind „the liberals“: jene Menschen, die den Ungeist des Systems überall hinnehmen, außer in der Kunst. Denn der safe space des Theaters, in dem Toleranz und 276


Selbstbefreiung herrscht, das von Beck verspottete bürgerliche Dogma des „you cannot refuse dialogue“ ist nur die Kehrseite (oder die Wahrheit) eines Systems der Unterwerfung und des strukturell verweigerten (oder unmöglichen) Dialogs. Beck skizziert immer wieder die gerade heute so schmerzhaft bekannte Rhetorik eines „erloschenen Monster-Planeten“, auf dem die Ultra-Achtsamkeit und Ultra-Liberalität der bürgerlichen Kunst und das Elend und der Tod der Milliarden, die die Achtsamkeit der Eliten mit ihrem Leben finanzieren, sich gegenseitig bedingen. Dabei hält Beck den sozialdemokratisch informierten Liberalismus – glaubt man anderen Äußerungen, etwa den zahllosen Interviews und von ihm unterstützten Kampagnen – politisch für einen völlig vertretbaren Weg, mit der Boshaftigkeit, der Gier, der Geschichtsvergessenheit und der seelischen Beschränktheit des Menschen fertig zu werden. In der Kunst, im Theater aber sind es, so Beck, gerade der Schmutz, der Antagonismus, eben die permanente „Revolution“ und ihre Hysterie, „the reality“, die jeden Anflug der Einhegung, der Lüge und die „Reform“ des Immer-Gleichen zerstören müssen. Becks Notizen sind wie gesagt negativ, sie verneinen alles, was sich der Wahrheit und der voll entfalteten Menschlichkeit und damit der Schönheit der Schöpfung – man verzeihe mir diesen vitalistischen Terminus – in den Weg stellt. Er verachtet liberales Gerede, er verachtet Erklärungen, wenn sie nicht immerhin Manifeste sind (von denen es in dem Buch wimmelt). Gleichzeitig ist The Life of the Theatre in einer Weise redundant und geschwätzig und auch langweilig, dass man es nicht anders als ein Dokument der Ehrlichkeit verstehen kann, auch der Peinlichkeit. Denn das Grenzenlose in seiner Arbeit und seinem Leben suchend, machten Beck und Malina keinen Hehl aus den Grenzen, die ihnen der geschichtliche Moment, ihre Herkunft, ihr Wesen und schließlich ihr Körper setzten. Die Beobachtung mag ein bisschen albern wirken, aber Julian Beck ist einer der ganz wenigen, vielleicht der einzige berühmte glatzköpfige Mann, von dem ich kein einziges Bild kenne, auf dem er eine Mütze oder einen Hut trägt – seine wirren, über den Schläfen wuchernden Resthaare scheinen die nackte Stelle zu unterstreichen. So ist auch The Life of Theatre ein Buch der nackten Stellen, der Lichtung, wie Heidegger bekanntlich den Menschen nennt, der nichts ist und sich nur offen halten kann für das einfallende Licht der Kollektivgeschichte. „Wie mein ganzes Leben“, schreibt Julian Beck zufällig genau in dessen mathematischen Mitte, „kündet dieses Buch, der Bericht meines Lebens, davon, wie ich darum gerungen habe, Teil einer Kommune zu werden. Dieses Ringen ist das Living Theatre. Mein eines, einzigartiges Leben.“

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SCHLUSS Natürlich kann man sich fragen: Sind die Fragen, die Beck stellt – und der verrückte Mix aus Negativität und Positivität, Zerrissenheit und Hoffnung – nicht sowieso die einzigen, die sich zu stellen lohnen im Theater? Mit anderen Worten: Film kann man schneiden, Literatur kann man redigieren, aber Theater ist die Kunstform der Ausgesetztheit. Die Möglichkeit der Reinheit ist hier nicht gegeben. Und das ist dieses Buch vor allem: ein Buch, in dem jemand der Aufgabe, Mensch unter anderen und mit anderen Menschen zu sein, in allen Qualitäten wirklich, tatsächlich nachkommt, bis ins Langweilige, Selbstverliebte, Perverse und Peinliche hinein, ins Kleinliche und Großartige, ins Dogmatische und Idiosynkratische, ins Erhabene und Lächerliche. Aber das ist keine Gratis-Performance, kein Geschrei zum Spaß. Julian Beck hat den Willen zur Totalität, er sucht den Moment, der das ganze System aufbricht. Und während man das liest, hofft man mit ihm auf diesen lebendigen Moment, in dem die Ordnung der Wahrnehmung unterbrochen wäre, in absoluter Gegenwärtigkeit. Und das ist mein letzter Punkt: Obwohl man an vielen Stellen in Julian Becks Notizen denken könnte, hier spräche ein Performance-Hippie, ist die Idee der Zwangslosigkeit, des „GeschehenLassens“ Julian Beck fremd. Spricht er von Freiheit, meint er nicht die falsche „Freiheit“ des bürgerlichen Künstlers, die in Wahrheit Vereinzelung, Geschichtslosigkeit, Konkurrenz meint. Und vielleicht ist es das, was mich – was uns alle – mit dem Living Theatre verbindet. Das Theater ist kein Ort der Meisterschaft, der einsamen Perfektion. Es ist der ureigene Ort des Kollektivs und dessen konfliktuöser Realität. Das lebendige Theater lebt außerhalb der Institution mit ihren Abläufen, ihren Dienstplänen, ihrem Repertoire und ihren Zuständigkeiten. Diese müssen zerstört, neu zusammengesetzt, durch neue ersetzt werden.

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Julian Beck, geboren 1925 in New York, wo er 1985 starb. Er begann seine künstlerische Laufbahn als Maler und Dichter, bis er 1943 Judith Malina traf. Beide besuchten den Dramatic Workshop von Erwin Piscator und gründeten 1947 ihr radikal-revolutionäres ­Theaterkollektiv The Living Theatre. Judith Malina, geboren 1926 in Kiel, starb 2015 in Englewood, New Jersey. Sie war Film- und Theaterschauspielerin, Autorin und Regisseurin und hat gemeinsam mit Julian Beck, nach seinem Tod mit Hanon Reznikov, das Living Theatre gegründet und geleitet. 2012 erschien ihr Buch The Piscator Notebook. Thomas Oberender, geboren in Jena, ist seit 2011 Intendant der Berliner Festspiele / Gropius­bau. Er veröffentlichte Stücke, Kritiken und Essays über zeitgenössische Künstler sowie politische und ästhetische Transforma­ tionsprozesse. 2016 startete das von ihm konzipierte Programm „Immersion“. Zuletzt erschienen: Empowerment Ost. Wie wir zusammen wachsen (2020). Milo Rau, geboren in Bern, ist Regisseur, Autor und seit der Saison 2018/19 Intendant des NTGent (Belgien). Seit 2002 veröffentlichte er über fünfzig Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen. Seine Theaterproduktionen waren bei allen großen internationalen Festivals zu sehen und tourten durch über dreißig Länder weltweit. Beate Hein Bennett, geboren in Lindau a. Bodensee, lebt als freischaffende Dramaturgin und Übersetzerin in New York City, wo sie u. a. mit Judith Malina und dem Living Theatre die amerikanische Premiere von Else Lasker-Schülers ICHUNDICH realisierte. Anna Opel, geboren in Limburg a. d. Lahn, lebt seit 1989 in Berlin. Sie ist Schriftstellerin und Übersetzerin, zuletzt erschien ihre recherche Haushofer (2020). Sie überträgt u. a. die preisgekrönte amerikanische Dramatik von Tracy Letts und David Lindsay-Abaire in die deutsche Sprache.



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