The Gap 203

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Jugend ohne Sex?

Was hinter dem Mythos der »prüden Gen Z« steckt

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N° 203

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AUSGABE FEBRUAR / MÄRZ 2024 — THE GAP IST KOSTENLOS UND ERSCHEINT ZWEIMONATLICH. VERLAGSPOSTAMT 8000 GRAZ, P.B.B. | MZ 18Z041505 M


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Editorial Let’s Talk About Sex, Baby

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www.thegap.at www.facebook.com / thegapmagazin @the_gap thegapmag the_gap

Herausgeber Manuel Fronhofer, Thomas Heher

Alexander Galler

Popkultur ist Ausdruck ihrer Zeit. So kommt es, dass manches davon eine Generation später nicht mehr verstanden, lustig gefunden oder als an­ gemessen betrachtet wird. Eine Tatsache, die einige gerade zum Anlass nehmen, etwa alte Filme oder Serien noch einmal anzusehen und neu zu bewerten – für sich oder in den Medien. Zumeist hat diese verschobene Perspektive damit zu tun, dass wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln. Wir haben erkannt, dass bestimmte Worte abwertend oder übergriffig sein können, deshalb verwenden wir sie nicht mehr (oder: in Ausnahme­ fällen erst recht). Wir haben eine gemeinsame Vorstellung davon etab­ liert, wie man idealerweise miteinander umgeht, deshalb verhalten wir uns entsprechend. So hat es zum Beispiel nichts mit Prüderie zu tun, sexistische oder homophobe Witze abzulehnen oder Grenzen zu ziehen, wenn Menschen auf ihren Körper reduziert werden, dieser ungefragt kommentiert, gar betatscht wird. Im Ausdruck der jeweiligen Zeit heißt das dann etwa, dass »Eis am Stiel« (1978 bis 1988), »American Pie« (1999 bis 2012) und »Sex Education« (2019 bis 2023) im Kern zwar verwandt, letztlich aber sehr verschieden sind. Die zuletzt genannte Netflix-Serie ist auch in unserer Coverstory Thema. Als Gegenbeweis für die vermeintlich prüde Gen Z: »Jugendliche schauen durchaus gerne Geschichten, in denen Sex nicht nur gezeigt, sondern gar zum Hauptsujet gemacht wird«, erläutert Lara Cortellini in ihrem erhellenden Text, bei dem es sich übrigens um ihr Heftdebüt handelt. Ein weiteres Take-away kommt von Sexualtherapeutin Cornelia Lindner: »Die Frage nach dem ›Wer bin ich? Und zu wem fühle ich mich hingezogen?‹ kann stressen, wenn Jugendliche nicht erfahren durften, dass beide Fragen immer nur im jetzigen Moment beantwortet werden können und dass sich sowohl Orientierung wie auch Identität ein Leben lang verändern.« Eine Erkenntnis, die vielleicht auch Ältere erst verinner­ lichen müssen, so klar und nachvollziehbar sie im Hier und Jetzt auch klingen mag. Außerdem in der vorliegenden Ausgabe: unser alljährliches Special zum Thema Bildung (wie gewohnt, thematisch sehr frei interpretiert), Anja Plaschg alias Soap & Skin im Gespräch mit Susanne Gottlieb zu ihrer Rolle im Film »Des Teufels Bad« (mit sehr schönen Fotos von Teresa Wagenhofer) und noch andere wichtige Dinge, die die Popkultur gerade herzugeben hat. Man wird sehen, in welcher Form sich zukünftige Gene­ rationen dann daran abarbeiten.

Manuel Fronhofer

Herausgeber • fronhofer@thegap.at

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Chefredaktion Bernhard Frena Leitender Redakteur Manfred Gram Gestaltung Markus Raffetseder Autor*innen dieser Ausgabe Luise Aymar, Lara Cortellini, Victor Cos Ortega, Barbara Fohringer, Susanne Gottlieb, Oliver Maus, Tobias Natter, Dominik Oswald, Ghassan Seif-Wiesner, Felix Schmidtner, Mira Schneidereit Kolumnist*innen Josef Jöchl, Christoph Prenner Fotograf*innen dieser Ausgabe Patrick Münnich, Teresa Wagenhofer Coverillustration Viktoria Strehn Lektorat Jana Wachtmann Anzeigenverkauf Herwig Bauer, Manuel Fronhofer (Leitung), Thomas Heher, Martin Mühl Distribution Wolfgang Grob Druck Grafički Zavod Hrvatske d. o. o. Mičevečka ulica 7, 10000 Zagreb, Kroatien Geschäftsführung Thomas Heher Produktion & Medieninhaberin Comrades GmbH, Hermanngasse 18/3, 1070 Wien Kontakt The Gap c/o Comrades GmbH Hermanngasse 18/3, 1070 Wien office@thegap.at — www.thegap.at Bankverbindung Comrades GmbH, Erste Bank, IBAN: AT39 2011 1841 4485 6600, BIC: GIBAATWWXXX Abonnement 6 Ausgaben; € 19,97 abo.thegap.at Heftpreis € 0,— Erscheinungsweise 6 Ausgaben pro Jahr; Erscheinungsort Wien; Verlagspostamt 8000 Graz Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz www.thegap.at/impressum Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber*innen wieder. Für den Inhalt von Inseraten haften ausschließlich die Inserierenden. Für unaufgefordert zugesandtes Bildund Textmaterial wird keine Haftung übernommen. Jegliche Reproduktion nur mit schriftlicher Genehmi­ gung der Geschäftsführung. Die Redaktion von The Gap ist dem Ehrenkodex des Österreichischen Presserates verpflichtet.

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Bernhard Frena

Chefredakteur • frena@thegap.at

Hui! So viel Platz! Da muss ich mich erst mal dran gewöhnen. Aber ein bisschen strecken und dehnen, dann geht das schon. Willkom­ men also im neuen Refugium der The-Gap-Lei­ tungsetage! An dieser Stelle werden Manuel Fronhofer, Herausgeber, und ich, Bernhard Frena, Chefredakteur, zukünftig unsere Mei­ nungen kundtun. Denn Meinungen zu haben und diese zu verbreiten, ist nicht unwesent­ lich, wenn man sich dazu berufen fühlt, ein Magazin herauszubringen. Also haben wir uns gedacht, wir nehmen uns den Platz ein­ fach, denn auch das gehört dazu: entscheiden, was Platz haben soll und was eben nicht. Und dem, was dann Platz hat, Raum geben und eine Form. Einiges an Arbeit, die da hinter den Kulissen passiert.

Lernen zu meinen Aber es ist uns wichtig, diese Arbeit zu machen. Nicht nur, weil wir Meinungen haben, sondern auch, weil wir eben anderen Menschen mit fri­ schen Meinungen, frischen Blickwinkeln einen Platz geben möchten. Solchen, die sich schon recht sicher sind, was diese Meinung ist, wie sie zu ihr kommen und wie sie sie fundieren. Aber auch solchen, die sich das alles erst aneignen, noch experimentieren, noch ausprobieren. Als Magazin können wir jungen Journalist*innen eine Struktur bieten – organisatorisch, redak­ tionell, aber nicht zuletzt auch finanziell. Ein Standardspruch von mir ist immer, dass viele angehende Kulturjournalist*innen bei uns ihren ersten bezahlten Auftrag im Metier bekommen. Darauf bin ich schon ein bisschen stolz, denn – und das klingt jetzt vermutlich etwas groß­ kotzig – es geht hier um nicht weniger als die Zukunft des Kulturjournalismus. Dass der Printjournalismus stirbt, ist ja jetzt kein neues Thema. Sicher, einerseits wird er schon seit Jahren (wenn nicht Jahrzehnten) totgesagt und will doch nicht so recht sterben. Andererseits ist aber kaum zu leugnen, dass Magazin um Magazin, Zeitung um Zeitung

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langsam aber sicher dicht machen muss. Netz­ journalismus wird hier gerne als Ausweg ange­ führt. Warum nicht auf Online wechseln? Wäre das nicht zeitgemäß? Zukunftssicher? Könnte etablierter, qualitativer Journalismus hier nicht eine neue Blütezeit erfahren? Daran lässt mich nicht zuletzt das jüngste Schicksal einer Onlinepublikation zweifeln, das vermutlich die meisten überrascht hat: Pitchfork, eines der prominentesten Musik­ magazine weltweit, herausgegeben von Condé Nast, einem der größten Medienkonglomerate weltweit, wird zukünftig in das Männermaga­ zin GQ eingegliedert. Entlassungen natürlich inklusive. Dass das auf vielen Ebenen ein Un­ sinn ist, sollte klar sein. Und dass es de facto das Ende von Pitchfork bedeutet, wohl auch. Das war ein Magazin, das scheinbar alles rich­ tig gemacht hat: ein genuines Online-­Medium mit hochwertigem Journalismus, solider Leser*innenschaft und kultureller Relevanz. Und trotzdem wird es geschlossen. Schon erschreckend: Condé Nast – ein Unterneh­ men mit fast zwei Milliarden Euro Jahresum­ satz – sieht anscheinend keinen Wert mehr in einem eigenständigen Musikmagazin. Offen­ sichtlich weder einen finanziellen noch einen fürs Publikationsportfolio. Für solch ein Un­ ternehmen gilt eben nur hyperkapitalistische Verwertungslogik – Sentimentalität oder gar Qualität sind irrelevant.

Abgewertete Popkultur Daran schließt sich die Frage an, was so eine Schließung für den Musikjournalismus, für den Popkulturjournalismus heißt. In erster Linie bedeutet es natürlich mal weniger Jobs im Kulturjournalismus – für englischspra­ chige Journalist*innen zwar, aber immerhin. In zweiter Linie bedeutet es aber auch den Wegfall einer etablierten Struktur. Es bedeu­ tet freie Journalist*innen, die eine regelmäßi­ ge Einnahmequelle weniger haben, und junge Journalist*innen, die einen Einstiegsweg ver­

lieren. Und in letzter Linie bedeutet es eine Abwertung des Popkulturjournalismus als Ganzes, wenn avancierter Musikjournalismus plötzlich nur noch ein untergeordneter Teil von Gentlemen’s Quarterly ist. Jetzt kann natürlich der berechtigte Ein­ wand kommen, dass dies nur ein Beispiel unter vielen sei. Gibt es denn nicht eine Vielzahl an anderen jüngeren innovativeren Online-Pop­ kulturredaktionen? Könnten diese den Verlust etablierter Strukturen nicht auffangen und neue Wege für junge Journalist*innen bieten? Könnten sie nicht Popkulturjournalismus rele­ vanter für eine vernetzte Gegenwart machen als je zuvor? In der Theorie vielleicht, aber in der Praxis scheint mir die Rechnung – wort­ wörtlich – nicht aufzugehen. Zu oft basiert die Mitarbeit an neuen Onlinemagazinen auf fi­ nanzieller (Selbst-)Ausbeutung. Zu oft gibt es kaum redaktionelle Betreuung, kaum unterstüt­ zende Strukturen. Zu oft ersetzt AlgorithmusTeesatzlesen eine bewusste und eigenständige Linie. Aus Journalismus wird so »Content«, der kommerzielle Plattformen befüllt. Plattformen, die privaten Firmen gehören, die die dort gel­ tenden Regeln nach eigenem Gutdünken festle­ gen. Pressefreiheit? Papperlapapp. Da müssen Kämpfe neu ausgefochten werden, die eigent­ lich schon seit Generationen gesettelt schienen. Grab the pitchforks! Wenn also Journalismus in gefestigten Strukturen nach und nach verschwindet, weil er zu viel kostet, zu viel Arbeit ist, zu wenig Re­ turn on Investment bietet, und sich neue Struk­ turen nicht rechtzeitig etablieren können, dann wird Journalismus früher oder später seinen gesellschaftlichen Stellenwert verlieren. Dann entscheiden nur noch die Marketingetats der Unternehmen, worüber berichtet werden kann. Nur noch die undurchsichtigen Algorithmen, was Aufmerksamkeit verdient. Keine schönen Aussichten für fundierte Meinungen, für eine Diversität an Perspektiven und für eine kri­ tische Gesellschaft.

Alexander Galler

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Leitartikel Journalismus stirbt: Ran an die Mistgabeln!

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t s m e r b e g s u a Beruflich wirst bei uns nur, wenn wieder wer die Tür blockiert.

Alexander Galler

Unser #TeamÖffiLiebe gibt jeden Tag alles, damit ganz Wien weiterkommt.

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Magazin

Jugend ohne Sex? Was hinter dem Mythos der »prüden Gen Z« steckt

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020 Am geistigen Abgrund »Des Teufels Bad« mit Anja Plaschg

028 Wie wird man eigentlich …? Zehn Wege in die Kulturindustrie

024 »Das Punk-Institut für die verschiedensten Disziplinen« Ostermayer und Mahler über den Leitungswechsel an der Schule für Dichtung

034 Der teure Weg in die Psychotherapie Eine elitäre Ausbildung und ihre Folgen

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038 »Und was isst du heute zu Mittag?« Studierende über Essen und Inflation

Teresa Wagenhofer, Bernhard Frena, Felix Schmidtner, privat, Alisa Guberman, Verena Nebel

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Teresa Wagenhofer, Bernhard Frena, Felix Schmidtner, privat, Alisa Guberman, Verena Nebel

024

Viktoria Strehn Dass unsere Coverillustratorin vorwiegend Punk, Hardcore und Pop-Punk hört, dürfte hinsichtlich ihres grafischen Stils, den sie selbst als »creepycute Comicstyle« bezeichnet, wenige überraschen. Über die Nickelback-Poster mit 13 breiten wir den Mantel des Schweigens – und Nickelback-Bashing ist ja ohnehin wieder aus der Mode. Im Gegensatz zu dieser Jugendsünde begleitet Viktoria die Liebe zum Zeichnen fortwährend. Eine Liebe, die sie mittlerweile in Onlinekursen weitergibt. Infos unter viktoriastrehn.com.

Lara Cortellini

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Wenn Lara Texte schreibt, möchte sie damit Reaktionen auslösen, etwas in Gang setzen. Dafür ist eine Coverstory über den Mythos einer Jugend ohne Sex sicherlich kein schlechtes Mittel. Mythen haben es Lara sowieso angetan – vor allem als Lesestoff. Sex gibt es in der Mythologie zwar auch zuhauf, aber weit seltsamer und vielschichtiger als im letzten Blockbuster, der ausschließlich den Male Gaze befriedigt. Damit kann Lara nämlich gar nichts anfangen. Da geht sie lieber wandern oder kümmert sich um ihre zahlreichen Pflanzen.

Special Bildung Von armen Studierenden, elitären Ausbildungen und verwinkelten Karrieren

Rubriken 003 Editorial / Impressum 008 Comics aus Österreich 009 Charts 018 Golden Frame 042 Workstation 046 Prosa: Elias Hirschl 048 Gewinnen 049 Rezensionen 054 Termine

Kolumnen

Comics aus Österreich Monika Ernst Auf unserer Seite 8 zeigen Comickünstler*innen aus Österreich, was sie können. Diesmal gibt uns Monika Ernst Kochtipps für Instant-Ramen. ———— Text und Bild gelten als die zwei Grundelemente des Mediums Comic. Manche Comickünstler*innen machen beides in Personalunion. Manche werden nur als Erfüllungsgehilf*innen der Texter*innen gesehen. Und in seltenen Fällen gelingen wahre Kollaborationen. Der Band »Immer wenn es ein wenig den Himmel entlang grollt, Maman«, den Monika Ernst mit dem Lyriker Raoul Eisele umgesetzt hat, ist eine solche. Die beiden haben über Jahre zusammen daran gearbeitet, Bilder und Texte besprochen, sich aufeinander eingestimmt. Die durchlässigen Zeichnungen von Ernst verleihen den dargestellten Erinnerungen etwas Träumerisches, Immaterielles. Dass sie jedoch auch die Personalunion beherrscht, demonstriert Ernst im umseitigen Comic. »Immer wenn es ein wenig den Himmel entlang grollt, Maman« von Monika Ernst und Raoul Eisele ist bei Schiler & Mücke erschienen. Ernst ist neben ihrer Arbeit mit Comics auch als Illustratorin tätig. Die Rubrik »Comics aus Österreich« entsteht in Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Comics. www.oegec.com

062 Screen Lights: Christoph Prenner 066 Sex and the Lugner City: Josef Jöchl

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Charts Ina Holub TOP 10

Dinge, die mehrgewichtige Frauen und Queers wie ich oft hören 01 Du hast ein hübsches Gesicht. 02 Darin siehst du viel schlanker aus. 03 Toll, dass dein Love Interest auf Dicke steht. 04 Ihr seid so lustig. 05 Solltest du nicht besser … essen? 06 Toll, dass du auf dich schaust und … isst! 07 Mit Shapewear wär das bestimmt noch hübscher. 08 Komm, setz dich her! (Auf diesen super engen Stuhl mit Lehnen.) 09 Mach mal Platz! 10 Heute siehst du toll aus! Hast du abgenommen?

TOP 03

Meine Lieblingstätigkeiten 01 Meine Frau küssen 02 Voguing 03 Katzen streicheln Auch nicht schlecht: Eine ganze Nacht lang puzzeln Ina Holub eröffnet am 17. Februar Österreichs ersten mehrfach barriere­ freien und queer-owned Haarschnittsalon mit diversen Produkten und Treatments für verschiedenste Haartypen und Complexions.

Charts Giovanna Fartacek

Hanna Fasching, Paul Vincenth Schütz

TOP 10

Friseurnamen 01 Haircooles 02 Haarkan 03 Hairport 04 Wellkamm 05 Hairrein 06 Fortschnitt 07 GmbHaar 08 Vorhair Nachhair 09 Komm Hair 10 Hairgott

TOP 03

Badezusätze 01 »Entspann Dich« 02 »Dreckspatz« 03 »Schön, dass es Dich gibt« Auch nicht schlecht Vitam-R Klassik auf einem Butterbrot Neben ihren Aktivitäten als Musikerin mit Mynth, Berglind und Bon Jour ist Giovanna Fartacek seit heuer Bookerin beim Festival Waves Vienna.

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Der FLINTA*-Fightclub steigt in den Ring

Oh Wow Podcasts wird fünf Jahre alt

Zeitgerecht zum feministischen Kampftag präsentiert World Underground Wrestling den ersten FLINTA*-Fightclub. ———— Bei dem aus zwei Shows bestehenden Event wartet Spannung, Aufregung und eine große Portion FLINTA*-Wrestlingaction auf alle Zuschauer*innen, die eine Karte ergattern konnten. So international wie der Weltfrauentag selbst ist, sind auch die teilnehmenden Wrestler*innen: Bei der Veranstaltung sind zusätzlich zu bekannten Gesichtern der Österreichischen Wrestlingszene auch Catcher*innen aus ganz Europa zu sehen. Gerade deshalb ist auch das Datum des Spektakels gut gewählt: 8. März, der Internationale Frauentag. Hier wird klar die Message vermittelt, dass auch mit dem Bild eines männerdominierten Wrestlingsports endlich Schluss sein muss. So wird der Anlass im wahrsten Sinne des Wortes zum feministischen Kampftag.

Das Podcast-Produktionshaus Oh Wow feiert seinen fünften Geburtstag. ———— Podcasts sind eines der zentralen medialen Formate unserer Zeit. An dieser Feststellung führt kein Weg vorbei. Dass diese Tatsache nicht immer gut ist, zeigen viele der großen Platzhirsche. Ich sage nur: Joe Rogan. Dass es aber auch besser geht, beweist seit 2019 das österreichische Studio Oh Wow. Gegründet von Jeanne Drach (Foto), schreibt sich die Firma Geschichten auf die Fahnen, »die Substanz haben und garantiert mit gegenseitigem Respekt und Vertrauen geschaffen wurden«. Oh Wow setzt dabei sowohl auf selbst produzierte Podcasts als auch auf solche, die im Auftrag von Kund*innen entstehen. Zu Letzteren zählen etwa Red Bulletin (»Mein erstes Mal«), Österreichische Post (»Postcast«) und Europäisches Parlament (»Irgendwas mit EU«). Das Portfolio reicht von klassischen Podcasts über Hörspiele bis hin zu Audioreportagen.

Internationale Catcher*innen

Podcast-Produktion für alle

»Als Entertainmentsport hat Wrestling einfach ein unglaubliches Potenzial, gesellschaftlich polarisierende Themen auf die Bühne zu bringen und kreativ zu verarbeiten«, erklären die Veranstalter*innen. »Es ist auch die perfekte Kombination aus Ernst, Ironie, und Metaebene, ein extrem ehrliches Bekenntnis zu Popkultur und eine Liebeserklärung an das Trashgenre.« Da die Tickets sehr schnell weg waren, scheint klar, dass durchaus Interesse daran besteht, Wrestler*innen abseits des männlichen Mainstreams zu sehen. Für alle, die sich keine Karten sichern konnten, bleibt zu hoffen, dass dieses Interesse wahrgenommen wird und die nächste Show nicht allzu lange auf sich warten lässt. Luise Aymar

Hinter Oh Wow steht ein zehnköpfiges Team aus vorwiegend Frauen. Leider nach wie vor bemerkenswert, wenn auch nicht überraschend. Denn Feminismus ist für die Gründerin Drach ein zentrales Anliegen. Ihr feministischer Podcast »Jeannes Welt« ist zwei Jahre älter als das Unternehmen selbst und wird am 22. Fe­ bruar unter dem Namen »Jeannes Varieté« einen Neustart erleben. Andere Podcasts, die Oh Wow produziert, sind etwa »Lvstprinzip« von Theresa Lachner über Sex und Intimität oder »Philosophieren mit Hirn« von der Philosophin Lisz Hirn. Damit noch mehr Menschen niederschwellig in die Podcast-Produktion einsteigen können, wird darüber hinaus im Produktionsbüro das PodcastStudio Wien gehostet. Organisiert von Nikolaus Jedlicka und Milo Tesselaar kann hier für einen leistbaren Betrag eine professionelle Bernhard Frena Aufnahmeumgebung gebucht werden.

Die »Fetzarei am feministischen Kampftag« findet am Freitag, den 8. März, mit zwei Shows im Weberknecht in Wien statt. Das Event ist bereits ausverkauft, aber es gibt eine Warteliste, für die man sich via Instagram (@flintafightclub_wuw) anmelden kann.

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Die Podcasts von Oh Wow finden sich auf www.ohwow.eu und überall, wo es Podcasts gibt.

World Underground Wrestling, Daliah Spiegel

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Splitter News

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Gute Erkenntnisse Dass es bei den Auftraggeber*innen oft an Awareness für die vielschichtige Arbeit der Designer*innen fehle und umgekehrt wiederum Kreativen die Ziele und auch Zwänge von Manager*innen nicht bewusst seien, damit beschäftigte sich Jasmin auch in ihrer Masterarbeit. Von der Idee ausgehend, die Touchpoints von Design und Management zu analysieren, landete sie rasch beim eben beschriebenen »Perception Gap«. Weil die Standpunkte von Designer*innen und Manager*innen weiter voneinander entfernt sind als gedacht. Die damit verbundenen Missverständnisse, Zielkonflikte und auch Frustrationen habe sie in ihrer Arbeit zu kartografieren versucht. »Den Kräften, die da wirken, Namen zu geben, das hat mir auch im Job wahnsinnig geholfen«, resümiert Jasmin.

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Hat dank MBA einen neuen unternehmerischen Blick auf ihr Designstudio: Jasmin Roth

Inhaltlich fügt sich das Thema bestens in die Entwicklung ihres Unternehmens ein: Cin Cin versteht sich zum einen als klassisches Designstudio, setzt zum anderen aber auch auf Creative Consultancy: »Der unsichtbare Teil unserer Designarbeit beginnt mit der Konzeption. Wir identifizieren Potenziale in der Aufgabenstellung, die mitunter gar nicht im Briefing stehen. Dadurch bringen wir überzeugende Ideen auf den Tisch, setzen jedes Projekt in die richtige Spur und schaffen einen nachhaltigen Mehrwert für unsere Kund*innen.« Bei diesem Part von Cin Cin, so Jasmin, kämen ihr die Erkenntnisse aus dem MBA-Studium besonders zugute.

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»Es hilft mir total, die Sprache der Nicht-Designer*innen, der Manager*innen zu sprechen«, erzählt Jasmin aus ihrem beruflichen Alltag. »Auf der anderen Seite sitzen sehr oft Leute aus dem Marketing, die mitunter aus einer hierarchischen Struktur kommen.« Nicht nur deren Sprache, sondern auch deren Ziele seien – bedingt durch die Unternehmenshierarchie – andere als die der Kreativen: Dass Design viele Probleme lösen kann, sei ihnen gar nicht bewusst. Sechs Jahre nach der Gründung von Cin Cin, Creative Studios – gemeinsam mit ihrem Studienkollegen Stephan Göschl in 2015 – wollte Jasmin sich noch einmal weiterentwickeln und berufsbegleitend eine wirtschaftliche Ausbildung absolvieren: »Die Art und Weise, wie ich über das Studio als Unternehmen denke, hat sich durch mein Studium stark verändert. Wie ich Angebote schreibe, Strategien ausarbeite und mit Kund*innen kommuniziere – ich bin noch strukturierter geworden und selbstsicherer.«

Foto Ulrich Zinell

Warum es sich für Kreative lohnt, einen MBA zu machen

International vernetzt Neben dem Arbeiten in Gruppen, bei dem jede*r die eigenen spezifischen Stärken eingebracht hat, hebt sie außerdem das internationale Netzwerk hervor, das sie sich durch das Studium an der WU Executive Academy hat aufbauen können. Und was hat sie als Herausforderungen erlebt? Zum einen die Mehrfachbelastung und zum anderen die Kosten. »Ich habe ein Unternehmen, eine Familie mit Kind – also ich habe viel in der Nacht gearbeitet. Außerdem war es das allererste Mal, dass ich selbst in meine Bildung investiert habe. 36.000 Euro, das ist natürlich ein Commitment, aber ich war wirklich motiviert, das zu machen. Und mit den Erfahrungen, die ich seitdem gemacht habe, kann ich sagen, es war gut investiertes Geld.« Näheres zu Jasmin Roths Arbeit und ihrem Unternehmen Cin Cin, Creative Studios findet ihr unter www.cincin.at. Ausführliche Informationen zum MBA in Strategic Marketing and Sales und den weiteren berufsbegleitenden, praxisorientierten Bildungsangeboten der WU Executive Academy gibt es unter executiveacademy.at/mba-ms.

PROMOTION

World Underground Wrestling, Daliah Spiegel

Jasmin Roth arbeitet in der Kreativwirtschaft – und hat vor Kurzem ihren MBA in Strategic Marketing and Sales an der WU Executive Academy abgeschlossen. Eine ungewöhnliche Kombination, die es ihr ermöglicht, Kund*innen auf Augenhöhe zu begegnen.

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Viktoria Strehn

Jugend ohne Sex? Was hinter dem Mythos der »prüden Gen Z« steckt

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Viktoria Strehn

Junge Menschen haben laut Statistik immer weniger Sex. Woran liegt die Zurückhaltung in Sachen körperlicher Intimität? Und ist das überhaupt zu beklagen? Von einer Generation, die es – zwischen Aufklärung und Überforderung – anders macht. ———— In meinen Teenagerjah­ ren gab es in der Sportumkleide genau zwei Gesprächsthemen: wer schon Sex hat und mit wem. Bei Ersterem gab es eigentlich nur eine gültige Antwort. Denn der Druck war groß, und keine Erfahrungen vorweisen zu können, ein wohlgehütetes Geheimnis. Nun wird jene Generation, bei der ich zu den Älteren zähle, – natürlich vor allem im Internet – von man­ chen als »prüde Generation« oder »Puriteens« (eine Mischung aus »puritanisch« und »Teen­ ager«) bezeichnet. Die Gen Z, also Menschen, die irgendwann zwischen 1995 und 2010 ge­ boren sind, hat statistisch gesehen nämlich weniger Sex als ihre Eltern und Großeltern in deren Jugend. Und sie wünscht sich auch im Medienkonsum weniger Fokus auf intime Szenen und romantische Beziehungen. Wa­ rum ist das so? Hat die Jugend einfach keine Lust mehr auf Sex?

Ein zu oft erzähltes Märchen Nach einer Studie der UCLA würden fast die Hälfte der jungen Erwachsenen weniger Sexszenen in Filmen und Serien befürwor­ ten. Noch mehr von ihnen bevorzugen einen vermehrten Fokus auf platonische Beziehun­ gen zwischen Freund*innen. Für manche ein Grund zur Sorge. Denn: Sex sells! Und Sex on screen ist spätestens seit den 1990ern zentrales Element insbesondere von Filmen mit Zielgruppe Teens. Doch ist der Wunsch nach weniger körperlicher Intimität im Plot ein Wunsch nach Zensur, wie es die Bezeich­ nung »Puriteen« suggeriert? Oder werden Sexszenen schlicht überstrapaziert? Passen sie einfach nicht mehr zur Lebensrealität von Jugendlichen – und das nicht nur, weil diese heute weniger Sex haben? Es scheint in populären Produktionen nämlich derzeit nur wenige Optionen zu geben: Sex als Er­ oberung einer Frau à la James Bond. Oder als billiger Handlungstreiber, wenn der Beischlaf

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unnötige Konflikte auslöst. Oder dieselbe alte Hetero-Liebesgeschichte: Date. Sex. Happy End. Gääähn. Dabei hat Sex im Film großes Potenzial: Für Heranwachsende ist es wichtig, ein mög­ lichst vielfältiges Bild von Sexualität mitzube­ kommen, ob sie nun selbst Sex haben (möch­ ten) oder nicht. Und gerade queere junge Menschen brauchen eine Repräsentation von Intimität, in der sie sich wiedererkennen kön­ nen. Beispiele wie die Netflix-Serie »Sex Edu­ cation« beweisen das Gegenteil einer prüden Generation: Jugendliche schauen durchaus gerne Geschichten, in denen Sex nicht nur gezeigt, sondern gar zum Hauptsujet gemacht wird. Immerhin ist »Sex Education« eine der meistgesehenen Serien der letzten Jahre – auch in Österreich. Aber hier ist Sex keine Nebensache, sondern ernstgenommenes The­ ma: mit allen Unsicherheiten, verschiedenen Identitäten, handlungsfähigen Charakteren und individuellen, manchmal auch merkwür­ digen Körpern. Doch Repräsentationen von Sex sind dank Internet und Social Media nicht mehr nur auf Film und Fernsehen beschränkt. Wer einfach so Sex sehen will, muss nur die nächstgelegene Suchmaschine anwerfen.

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»Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass die Wichtigkeit von Geschlechtsverkehr gesunken ist und andere sexuelle Handlungen an Bedeutung gewonnen haben.« — Cornelia Lindner

Generation Online Die Generation Z ist die erste, die mit Social Media aufgewachsen ist. Die etwas Älteren von uns hatten das Glück, eine internetfreie Kindheit zu genießen und trotzdem als »Di­ gital Natives«, Menschen des digitalen Zeit­ alters, zu gelten: Wir können Oma erklären, wie man den WLAN-Router anschaltet und haben den Umgang mit neuen Technologi­ en wie eine zweite Sprache ganz nebenbei gelernt. Die Digitalisierung sorgt für leich­ ten Zugang zu Informationen, aber auch für eine überfordernde Menge an Texten und Bildern, die die Konsument*innen selbst fil­ tern müssen. Für Heranwachsende findet die Aufklärung zumindest teilweise online statt. Diskurse rund um Sexualität, Gender und Fe­ minismus wie beispielsweise #MeToo haben die Generation Z dabei geprägt. Gleichzeitig hat sie heute ohne Altersbeschränkungen so

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Cornelia Lindner, Sexualtherapeutin

»Ich glaube, dass die Gen Z anderen, diverseren Sex hat und dass die Häufigkeit an Bedeutung verloren hat.« — Cornelia Lindner

gut wie unbegrenzten Zugang zu Dating-Apps, Pornografie und (Fake) News. Eigentlich ist es verwunderlich, dass die Generation, die am besten vernetzt ist, die sein soll, die am we­ nigsten Sex von allen hat. Müsste der nächste One-Night-Stand nicht eigentlich nur einen Klick entfernt sein? So einfach ist es nicht. Natürlich nutzen viele Menschen das Angebot. Doch die Jugend ist bei Weitem nicht so begeistert von DatingApps, wie ein paar Boomer-Kolumnist*innen vielleicht meinen. Seit Pandemiezeiten sinkt die Begeisterung sogar. Laut dem Marktforschungsunternehmen Savanta sind über 90 Prozent der befragten Zoomer frustriert von Dating-Apps. 21 Prozent der Studienteilnehmer*innen benutzen sie über­ haupt nicht mehr. Und wen wundert es wirk­ lich, dass auf Dopaminproduktion ausgelegte Apps nicht das erhoffte Ergebnis bringen. Oft wischt man, bis es keinen Spaß mehr macht oder das fünfte »Match« wieder nichts Inter­ essantes zurückschreibt. Auch die ständige Verfügbarkeit von Por­ nografie kann die Lust an Intimität mindern und für Verunsicherung sorgen. Jedoch sollte man dem Klischee der pornoabhängigen Ju­ gend nicht allzu viel Raum geben. Das Risiko liege weniger im Inhalt als in falscher Verwen­ dung, so Sexualtherapeutin und -pädagogin Cornelia Lindner: »Der Zugang zu Pornogra­ fie stellt aus meiner Sicht nicht das Problem dar, sondern die mangelnde Aufklärung und Medienkompetenz. Wer unterscheiden kann zwischen Realität und Fantasie – also Porno­ grafie – und nicht ausschließlich Pornos an­ sieht, um Lust zu bekommen, wird auch nicht automatisch einen negativen Einfluss auf die eigene Sexualität riskieren.« Achtet die Generation Z also einfach bes­ ser auf sich und sucht beim Ausleben ihrer Se­ xualität nach Qualität statt Quantität? Lindner zweifelt zunächst einmal grundsätzlich das »Problem« selbst an: »Ich würde bei solchen Statistiken immer zuallererst die Frage stellen, was mit Sex gemeint ist. Oftmals wird bei sol­

chen Befragungen der Fokus auf Geschlechts­ verkehr gelegt, weil das früher meistens das war, was als Sex galt. Dadurch werden viele sexuelle Handlungen ausgeblendet, ebenso wie queere Lebensrealitäten und Solosex. Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass die Wich­ tigkeit von Geschlechtsverkehr gesunken ist und andere sexuelle Handlungen an Bedeu­ tung gewonnen haben.« Hier zeigen sich die positiven Aspekte von Aufklärungsarbeit und Informationsdich­ te der heutigen Zeit. Stigmatisierte Themen rund um Sexualität können freier diskutiert werden. Vielleicht schämt sich die Jugend einfach weniger, den eigenen Körper zu er­ forschen, »Nein« zu sagen und sich auf die Suche nach angenehmen Erfahrungen zu konzentrieren? Weniger Sex kann genauso gut weniger people pleasing, weniger be­ reute One-Night-Stands und weniger Druck bedeuten. Vielleicht haben junge Menschen gerade in der Pandemie auch Formen der In­ timität schätzen gelernt, die nicht mit Sexua­ lität verknüpft sein müssen. Das »Liebeshor­ mon« Oxytocin wird genauso beim Streicheln, Umarmen oder bei Massagen ausgeschüttet. Selbst beim Kuscheln mit Haustieren produ­ zieren wir es. Die Anspannung lässt nach, ein Gefühl der Geborgenheit breitet sich aus. Und es fehlt uns, wenn wir einsam sind.

Kann es noch Liebe sein? Wenn junge Menschen sich nicht mehr so leicht in toxischen Rollenklischees verfangen, finden sie mit Sicherheit besser Zugang zu Intimität, die dann auch platonisch sein kann. Das Zentrum unseres Daseins muss schon lange nicht mehr die Ehe sein, menschliche Beziehungen können eine Vielzahl an For­ men annehmen. Asexuelle Menschen leben etwa freiwillig ohne Sex, manche von ihnen in glücklichen romantischen Beziehungen, andere völlig ohne. Sie haben heute eine so große Sichtbarkeit wie nie zuvor. Ist es also wirklich verwunderlich, dass die Gen Z mehr Geschichten über tiefe Verbindungen und

Liv Strömquist, Comickünstlerin

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Viktoria Strehn, Emil Malmborg, privat

kunst halle wıen / museums quartier

verschiedene Formen von Intimität sehen will, anstatt zum 100. Mal dasselbe HeteroMärchen erzählt zu bekommen? Eine Erklärung dafür, warum dieses Märchen von unserer Gesellschaft trotzdem noch immer so gerne erzählt wird, liefert der Kapitalismus. Die schwedische Comickünst­ lerin Liv Strömquist spricht in ihrem Buch »Ich fühl’s nicht«, mit Verweis auf die Sozio­ login Eva Illouz, von einer Kapitalisierung der Liebe und der Intimität. Sex wird damit zum Produkt und die Partner*innen werden zu Konsument*innen. Das erklärt auch, warum in den Medien so viele unwirkliche, gestähl­ te Körper gezeigt werden: Es geht nicht ums Echt-Sein, sondern um Leistung. Und es geht um ein Ideal. Das steigert nicht unbedingt die Lust auf Sex, wenn man als verunsicherter Teenager zusieht. Wer Sex als Produkt sieht, wird überkri­ tisch und wählerisch. Dabei geht es nicht da­ rum, dass niemand Ansprüche und Wünsche haben darf. Doch die Person, mit der die Inti­ mität stattfinden soll, wird in diesem Prozess unwichtig. Stattdessen rückt ein abstrahiertes Bild von ihr in den Mittelpunkt: Kaum habe ich eine Person abgelehnt, weil sie zum Bei­ spiel nicht dem gleichen Hobby nachgeht, kriege ich schon eine neue Person geliefert, die ich anhand meiner selbstaufgestellten Kriterien bewerten kann. Swipe, swipe, swipe. Menschen werden ersetzbar. Man schaut sich also die potenziellen Partner*innen an, als sei man beim Shoppen und nicht bei einem Date. Strömquist schreibt dazu: »In diesem Sinne wirkt die rationale Entscheidungsmethode der Entstehung des Gefühls ›sich zu verlieben‹ sogar entgegen – da es die intuitive Bewertung stört und einem Verhalten Vorschub leistet, als sei man Konsument*in im Supermarkt.« Der Philosoph Byung-Chul Han führt es in seinem Buch »Agonie des Eros« (was für ein Titel!) sogar noch drastischer aus. Natürlich gehört nicht immer ein Verlieben oder eine tiefe Zuneigung zum Sex. Manche haben ihn und sehen sich nie wieder. Das ist auch okay. Han vermisst aber etwas, das sich nicht nur im Bett bemerkbar macht: In einer narzisstisch geprägten Gesellschaft, also einer ich-fokus­ sierten empathielosen Selfie-Welt, verschwin­ det das Gegenüber. Und damit auch der Eros,

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die erotische Hingabe. Echte Nähe ist schwer möglich, wenn man vor lauter Ich-Fokus an­ dere gar nicht empathisch wahrnehmen kann. Und das Anders-Sein erst überhaupt nicht zulassen möchte. Han schreibt: »Der Eros gilt dem ›Anderen‹ im empathischen Sinne, der sich ins Regime des Ich nicht einholen lässt. In der Hölle des Gleichen, der die heutige Gesell­ schaft immer mehr ähnelt, gibt es daher keine ›erotische Erfahrung‹.« Ist das Problem der Generation Z also ein Paradoxon? Einerseits wird ihnen suggeriert, unter allen angezeigten Menschen die Aus­ wahl zu haben, und gleichzeitig wird ihr Fokus immer wieder zurück auf sie selbst gelenkt, bis das Umfeld zu einer Nebensache verschwimmt. Wenn mir Social Media täglich zeigt, wie schön das Leben, der Körper anderer aussieht, führt das zu einem ständigen Vergleichen. Und ge­ meinsamer Sex funktioniert nur, wenn man ei­ nander dabei wahrnehmen kann. Wie steht es also um das Selbstbild der Generation Z? Haben ihre Vertreter*innen überhaupt die Kapazitä­ ten, um sich, wie Han es formuliert, einem Ge­ genüber wirklich hingeben zu können?

Das Leid der Jugend Laut dem Austrian Health Report 2023 geht es jungen Menschen in Österreich so schlecht wie noch nie. Nur etwas mehr als die Hälfte der Gen Z gibt in der Befragung an, sich gut zu fühlen. Junge Menschen haben überdurch­ schnittlich häufig Erschöpfungssymptome, Kopfschmerzen und Konzentrationsstörun­ gen. Die Hälfte von ihnen ist unzufrieden mit dem eigenen Körper, und sie sind – mehr noch als die Generation der Millennials vor ihnen – häufig einsam. Wie mentale Gesundheit und Sexualität verknüpft sind, beschreibt auch Cornelia Lindner: »Wenn der eigene Selbst­ wert leidet, hat das tatsächlichen Einfluss auf das Lustempfinden.« Nicht zuletzt hat auch die Pandemie vie­ len jungen Menschen den Kontakt zu anderen schwer gemacht. Zwei Jahre Studium von zu Hause aus zu absolvieren, wichtige Teenager­ jahre im eigenen Zimmer zu verbringen, hat seine Spuren hinterlassen. Erhebungen attes­ tieren der Gen Z ein geringes Risikoverhalten, wozu auch die Häufigkeit von Sex zählt. Sie trinken weniger Alkohol als andere Generati­

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Jeden Donnerstag von 17 bis 21 Uhr freier Eintritt! Laure Prouvost, Die versteckten Bilder, die meine Großmutter verbessert hat; Ich schaue dich an, wie du mich ansiehst, 2023 • © Laure Prouvost; Courtesy Lisson Gallery, Foto: Todd-White Art Photography / © Bildrecht, Wien 2024

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»In der Hölle des Gleichen, der die heutige Gesellschaft immer mehr ähnelt, gibt es keine erotische Erfahrung.« — Byung-Chul Han

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die auf unserem Smartphone aufpoppt, füttert ein kollektives Bewusstsein, das uns daran er­ innert, dass wir nicht sicher sind. Vor allem nicht in unserem intimsten Umfeld. Was bleibt also vom Mythos der »prüden Generation«? Wenn ich jetzt an die Zeiten in der Sportumkleide zurückdenke, so war das ganze Gerede darüber, wer wie viel Sex hat, auch internalisierte Misogynie. Und ver­ innerlichte Scham, die Individuen in eine »Normalität« zwingen sollte. Dass das The­ ma Geschlechtsverkehr so zentral anmutet, um die eigene Identität, die eigene Wertig­ keit zu definieren, ist eigentlich befremdlich. Sollte es nicht egal sein, wen wir auf welche Weise gut finden? Viel Sex ist nicht automa­ tisch guter Sex. Und ein asexueller Mensch kann ein glückliches Leben und intime Be­ ziehungen führen.

Neue alte Vorwürfe Auch Cornelia Lindner sieht die Zukunft ge­ lassen: »Ob die Gen Z also tatsächlich weniger Sex hat? Ich glaube, dass sie anderen, diverse­ ren Sex hat und dass die Häufigkeit an Bedeu­ tung verloren hat. Die Frage nach dem ›Wer bin ich? Und zu wem fühle ich mich hingezo­ gen?‹ kann stressen, wenn Jugendliche nicht erfahren durften, dass beide Fragen immer nur im jetzigen Moment beantwortet werden können und dass sich sowohl Orientierung wie auch Identität ein Leben lang verändern.« Die Gen Z hat in den letzten Jahren jenes große Los gezogen, dass jede neue Generation ereilt: Kritik und Vorurteile der vorhergehen­ den. Schon zur Zeit Platons beklagte man sich über die Jugend: Sie sei faul, ungehorsam und zu nichts zu gebrauchen. Ähnliches hört man auch über die Gen Z. Nicht nur prüde sollen wir sein, auch arbeitsscheu, handysüchtig und ängstlich. Dabei ist es immer eine einfache Lö­ sung, die Jugend für Veränderungen verant­ wortlich zu machen und sie mit Vorurteilen zu belasten, statt sich zu fragen, in welcher Welt sie aufwachsen müssen. Ob junge Menschen viel oder wenig Sex haben, sollte nicht das Thema sein – das zu fragen, hat außerdem einen über­ griffigen, gruseligen Beigeschmack. Wichtiger ist vielmehr, ob sie zufrieden damit sind. Und: was wir aus ihren Wünschen und Sorgen viel­ leicht noch lernen können. Lara Cortellini

Die vier Staffeln der Serie »Sex Education« sind auf Netflix verfügbar. »Ich fühl’s nicht« von Liv Strömquist ist in deutscher Übersetzung beim Avant-Verlag erschienen. »Agonie des Eros« von Byung-Chul Han wurde von Matthes & Seitz veröffentlicht.

Actua Litté

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Byung-Chul Han, Philosoph

onen und wohnen, dank überhitztem Immo­ bilienmarkt und ausufernder Inflation, länger zu Hause. Dass ein schlechtes Selbstwertge­ fühl und Einsamkeit auch zu einer Radikali­ sierung führen können, zeigt der steigende Zulauf, den »Incels« und misogyne Influen­ cer erfahren. Der Begriff »Incel« leitet sich von »involuntary celibate«, also unfreiwillig enthaltsam, ab. Diese Männer deuten ihre er­ fahrene (oder ausgedachte) Ablehnung durch (potenzielle) Partnerinnen in Menschenhass und Gewalt um. Sie vernetzen sich über sozi­ ale Medien und sind dank zunehmender Ver­ unsicherung zahlreicher denn je. Umgekehrt gibt es in Südkorea seit ei­ nigen Jahren eine feministische Bewegung, die sich absichtlich dem Sex verweigert. Unter dem Namen 4B (übersetzbar als »Vier Neins«) wehrt sie sich gegen die strikte Rol­ lenverteilung zwischen »Mann« und »Frau« in ihrer Heimat. Die »Vier Neins« bezeich­ nen jene vier Aktivitäten, bei denen die jun­ gen Frauen der Bewegung streiken und sich weigern ihnen mit Männern nachzugehen: Sex, Dating, Schwangerschaft und Eheschlie­ ßung. Sie lehnen normierte Schönheitsideale und eine patriarchale Gesellschaft ab, in der sie sich unsicher und unfair behandelt füh­ len. Denn wie überall sind auch in Südkorea Femizide, Revenge Porn und sexualisierte Übergriffe drängende Probleme. Nur, um es nicht zu vergessen: Auch in Österreich ist jede dritte Frau von körperlicher oder sexualisierter Gewalt betroffen. Frauen, die sich dagegen wehren wollen, bleiben oft we­ nige Möglichkeiten. Und so haben sich die Südkoreanerinnen der 4B-Bewegung dazu entschlossen, ihre gesellschaftlichen Rollen vollkommen abzulehnen. Das Private bleibt weiterhin politisch. Die Erfahrungen mit einem omnipräsen­ ten Patriarchat haben auch einen Einfluss darauf, wie junge Menschen ihre Sexualität ausleben. Jegliche Form der Diskriminierung ist ein Hindernis dafür, sich frei entfalten zu können. Noch immer bedarf es eines Comingouts, noch immer können sich nicht alle Lie­ benden treffen und zeigen, wie sie möchten. Die realistische Angst lauert uns im Nacken, wenn wir nach draußen gehen, und sie wird so schnell nicht verschwinden. Die Traumata, die Sicherheitsvorkehrungen und die Anzahl an Uber-Fahrten, um sicher nach Hause zu kommen, haben für mich wie für viele an­ dere einen Schatten über das Ausleben von Sexualität und Dating gelegt, der bleibt. Das ist nichts, was die Generationen vor uns nicht kennen. Und dennoch: Jede neue Headline,

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Drea


Actua Litté

„PURES COMEDY GOLD. NICOLAS CAGE WAR NIE KOMISCHER.“ THE HOLLYWOOD REPORTER

DREAM SCENARIO TRIFF DEN MANN DEINER TRÄUME

MIT

A24 PRÄSENTIERT EINE SQUARE PEG PRODUKTION EIN FILM VON KRISTOFFER BORGLI „DREAM SCENARIO“ NICOLAS CAGE JULIANNE NICHOLSON MICHAEL CERA TIM MEADOWS DYLAN GELULA DYLAN BAKER CASTING ELLEN LEWIS MUSIK OWEN PALLETT KOSTÜM NATALIE BRONFMAN SCHNITT KRISTOFFER BORGLI PRODUKTIONSDESIGN ZOSIA MACKENZIE KAMERA BENJAMIN LOEB FNF PRODUZIERT VON LARS KNUDSEN ARI ASTER TYLER CAMPELLONE JACOB JAFFKE NICOLAS CAGE DREHBUCH UND REGIE KRISTOFFER BORGLI © 2023 PAULTERGEIST PICTURES LLC. ALL RIGHTS RESERVED

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Golden Frame Zeitgenössische Kunst im angemessenen Rahmen

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Die Prekarität Schwarzen Lebens zeigt sich oft in extremer Form, aber sie ist auch in Momenten zu erkennen – wahrgenommen als Nuancen, Nichtigkeiten oder Normalität. Mit diesen Augenblicken beschäftigt sich Belinda Kazeem-Kamiński. Ihre Arbeit »Respire (Liverpool)« ist aktuell bei Phileas in Wien zu sehen. ———— Der Mord an Eric Garner durch einen Polizisten im Jahr 2014 ist nur ein einziger Fall unter unzähligen rassistischen Gewaltverbrechen, aber er gab den tragischen Anstoß zu einem Satz, der als Ausdruck extremer Unterdrückung ausgesprochen wurde und sich zu einem Synonym für den Drang und das Recht auf Befreiung wandelte: »I can’t breathe!« Die Ableitung eines Handlungsaufrufs von der Feststellung einer Notsituation ist weniger selbstverständlich, als es scheint. Und ebenso wenig sind die Implikationen eindeutig. Was bedeutet Befreiung? Und wie geht Befreiung? Das Werk von Belinda Kazeem-Kamiński ist durchzogen von Manifestationen der Unfreiheit, genauer gesagt, von verweigerter Freiheit. Sie richtet die Aufmerk­ samkeit auf jene Strukturen, die unterdrückende Mechanismen ermöglichen und dabei ebenso subtil wie grundlegend sind. In einem Interview beschreibt KazeemKamiński ihre künstlerische Praxis damit, »Wege zu finden, um Vergangenheit zu verhandeln, ohne jene ein weiteres Mal zu objektifizieren, welche bereits zuvor objektifiziert wurden«. Ganz konkret stellt sich diese Problematik bei Arbeiten, die sich mit Archivfotos der Kolonialzeit beschäftigen. Mit Bildern also, die ein europäisches Selbstverständnis ausdrücken, das bis heute in weiten Teilen gültig ist und im Kern niemand anderem ein Menschsein, ein Subjektsein mit legitimen Wünschen und Rechten zuerkennt außer sich selbst. Und dabei sind diese Bilder nicht mal schrecklich im klassischen Sinne, geradezu langweilig eigentlich. Sie zeigen Normalität, die Welt so, wie sie ist – die einen oben, die anderen unten. Es ist bemerkenswert, dass die Arbeit, aus der hier ein Still abgedruckt ist, nicht »Breathe« sondern »Respire« heißt. Vielleicht war Ersteres schon zu sehr belegt, ist schon zu einem ausgetretenen und bekannten Weg geworden, der keine Aufmerksamkeit mehr fordert. »Respire (Liverpool)« zeigt Schwarze Personen, die in einen Luftballon ein- und aus-, ein- und ausatmen. Ihre Atemgeräusche sind verstärkt und vermischen sich mit einer Version von Curtis Mayfields »Keep On Keeping On« und dem Rauschen des Meeres. Dort, wo sich die Blicke der aus den Videos schauenden Personen kreuzen, steht eine gepolsterte Bank, die ein Kupfer­ becken mit Wasser einrahmt, das von den Vibrationen der Atmenden zum Zittern gebracht wird. Zusammen bildet sich eine Gemeinschaft der Atmenden. Victor Cos Ortega

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Belinda Kazeem-Kamiński »Respire (Liverpool)«, 2023 © Belinda Kazeem-Kamiński / Galerie Wonnerth Dejaco, Wien

Free Spirit Belinda KazeemKamiński »Respire (Liverpool)«

Belinda Kazeem-Kamiński ist eine österreichische Künstlerin, die sich vor allem mit öffentlichen Archiven und ihren Leerstellen, Formen der Repräsentation und Bedingungen Schwarzen Lebens beschäftigt. Für die Arbeit »Respire (Liverpool)« kooperierte sie im Rahmen der Liverpool Biennale 2023 mit Bassano Bonelli Bassano und lokalen Beitragenden. Die Sechs-Kanal-Videoinstallation ist bis zum 20. April 2024 bei Phileas in Wien zu sehen.

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Die Sankt-Johannes-Nepomuk-Kapelle am Währinger Gürtel bot den perfekten Ort für ein Gespräch, in dem sich viel um Glauben drehte.

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Am geistigen Abgrund »Des Teufels Bad« mit Anja Plaschg

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Eine gewisse Nervosität schwingt mit, während Plaschgs Augen durch den Raum wandern. Es sei erst ihr drittes Interview zu »Des Teufels Bad«, hatte sie vor dem Ge­ spräch gestanden. Ihr drittes Interview in einem Medienzirkus, der bald über sie he­ reinbrechen wird, wenn der Film von Vero­ nika Franz und Severin Fiala mit ihr in der Hauptrolle am 20. Februar auf der Berlinale seine Weltpremiere feiert.

»Himmelmutter, hilf!« Als Schauspielerin ist Plaschg weniger be­ kannt. Bisher hatte sie als Musikerin von sich reden gemacht. Geboren 1990 in Gnas in der Steiermark, erschien 2009 ihr erstes Album »Lovetune for Vaccum«, für das sie mehrere Auszeichnungen erhielt. 2012 folgte »Nar­ row«, 2018 »From Gas to Solid / You Are My Friend«. Die Musik von Soap & Skin zeichnet sich durch eine träumerische, melancholische Note aus. Ein experimenteller Stil mit Elekt­ ronik und ihrer fast entrückten Stimme, der sich nur schwer in eine Schublade zwängen lässt. Nicht, dass sie das wollen würde. In einer Ecke der Kapelle hat Plaschg eine Marienstatue entdeckt, klassisch mit den weit geöffneten Armen, in weiß-blauen wallenden Gewändern und mit einem Heiligenschein

Teresa Wagenhofer

Dass die Musikerin Anja Plaschg aka Soap & Skin auch schauspielen kann, hat sie bereits bewiesen. In ihrer zweiten großen Hauptrolle gibt sie in »Des Teufels Bad« eine spirituelle, von Depressionen geplagte Frau im 18. Jahrhundert, die in auswegloser Lage zu drastischen Mitteln greift. Im Gespräch erzählt Plaschg, warum sie sich der Figur der Agnes so verbunden fühlte, und, wie sie den Soundtrack zum Film schuf. ———— Neugierig blickt sich Anja Plaschg, als Musikerin bekannt unter dem Namen Soap & Skin, im Andachtsraum um. Ihr Blick fällt auf die Wandtafeln, die den Leidensweg Christi nachzeichnen, auf das von schwarzem ver­ schnörkeltem Metall umspielte Fenster mit Blick auf den Wiener Gürtel. Doch so richtig scheint sie sich noch nicht für einen Hinter­ grund begeistern zu können. Die Tafeln müssen ja nicht zu sehen sein, versichern ihr die Fotografin und ich. Viel­ leicht findet sie ein anderes Motiv, vor dem sie abgelichtet werden möchte? Reich ge­ schmückt ist die Sankt-Johannes-NepomukKapelle am Währinger Gürtel ja. Der große nussfarbene Altar mit den goldenen Verzie­ rungen, die roten Weihnachtssterne, die zahl­ reichen »Mutter Gottes mit dem Jesuskind« und die schwarzen Gedenksteine an den Wänden schaffen eine feierliche Aura.

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Mit der Bedeutung von Maria im katholischen Glauben hat sich Anja Plaschg für ihre Rolle intensiv auseinandergesetzt.

über dem Haupt. Sie positioniert sich – ganz in Schwarz und mit konzentriertem Blick – an deren Seite. »›Himmelmutter, hilf!‹ hat meine Großmutter in ihrer Depression immer geru­ fen«, erzählt sie. »Ich habe mich mit einer der wenigen Frauen, die im katholischen Glauben repräsentiert sind, auseinandergesetzt. Die Barmherzigkeit der Mutter Gottes ist die letz­ te Zuflucht und der letzte Trost für Agnes.« Agnes heißt ihre Rolle. Sie basiert in Mo­ tiven auf der historischen Figur der Agnes Catherina Schickin. Deren Schicksal sowie 400 ähnliche Biografien von (mehrheitlich) Frauen in ganz Europa hat die Historikerin Kathy Stuart aufgearbeitet. Im Oberösterreich des Jahres 1750 wird Agnes an Wolf (David Scheid), den Sohn einer Bäuerin verheiratet. Die beiden ziehen in eine kleine Keusche am Flussufer. Doch ankommen kann die hoch­ sensible und religiöse Agnes in dieser von emotionaler Kälte und stetigem Arbeitstrieb bestimmten Welt nicht. Sie beginnt sich zu­ rückzuziehen, steigert sich in eine Obsession fürs Beten. Eine geköpfte Kindsmörderin, deren Leiche unweit des Dorfes aufgebahrt wurde, übt eine tiefe Faszination auf sie aus.

Jahrhundertealte Schatten »Des Teufels Bad« nannte der Volksmund damals Depressionen und Todessehnsucht. Es ist klar, dass es letztendlich zur Tragödie kommen wird. Was war für Plaschg das Faszi­ nierende an dieser Rolle? Die Künstlerin wird nachdenklich, ringt mit den Worten. »Es ging um viel mehr als Agnes, um viel mehr Namen und Schicksale. Ich wollte es im besten Fall schaffen, eine Figur darzustellen, die viele einschließt und viele anspricht. Einen Schat­ ten zu beleuchten, der über Jahrhunderte strukturell geleugnet, bewusst nicht gesehen und nicht verarbeitet wurde.« Auch Plaschg selbst ist sehr katholisch aufgewachsen. »Das war mein eigener Be­ zug zu dieser Geschichte und zu Depression. Die Vorbilder waren meine Verwandten und die Menschen in Gnas.« Das spiegelt sich unter anderem in der Dynamik zwischen Agnes und deren eisiger Schwiegermutter (Maria Hofstätter) wider. »Die schwierige Beziehung meiner Mutter zu ihrer Schwie­ germutter, und wie mit Frauen bei uns am Land innerhalb der Familien grundsätzlich umgegangen wird, hat mich geprägt und im­ mer schon beschäftigt. Es gibt einfach viele Anknüpfungspunkte für mich.« Eine weitere Parallele, und unter anderem der Grund, wa­ rum wir in einer Kapelle fotografieren: »Ich

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Teresa Wagenhofer

Erst Musik dann Rolle Ihre natürliche Verbundenheit zu der Thema­ tik, ihr Einfühlungsvermögen für Agnes lässt eine*n fast wundern, dass Plaschg nicht die erste Wahl für die Rolle war. Es habe von Ve­ ronika Franz und Severin Fiala zunächst nur ein vages Interesse gegeben, mit ihr zusam­ menzuarbeiten, erinnert sie sich. »Sie haben mir von dem Projekt erzählt und mich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, die Filmmusik zu komponieren.« Etwas, das für die Musikerin nichts Neues ist. Schon 2017 schrieb sie die Musik für »Sicilian Ghost Story«. Und mit dem deutschen Musiker Apparat veröffent­ lichte sie die Single »Goodbye«, die als Titel­ lied für die Netflix-Serie »Dark« diente. Doch »Des Teufels Bad« sprach Plaschg über eine musikalische Ebene hinaus an. »Die beiden haben mir das Drehbuch geschickt. Ich habe es in der Steiermark in meinem Elternhaus gelesen.« Sonst lese sie ungern Drehbücher, weil es ihr schwerfalle in die Art, wie sie geschrieben sind, hinein­ zufinden. »Aber das hat mich so richtig be­ wegt.« Daraufhin habe sie Franz und Fiala eine E-Mail geschrieben, wie sie sich bei der Geschichte gefühlt habe. Eine konkrete Bitte um die Rolle, die schon gecastet worden war, war das jedoch nicht. Schauspielerin wollte Plaschg an sich nie werden. »Das war nie meine Ambition.« Er­ fahrung hatte sie aber bereits. 2016 trug sie für Ruth Beckermann in »Die Geträumten« mit Laurence Rupp den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan vor. 2022 spielte sie beim »Jedermann« in Salzburg den Glauben. Bei einem gemeinsamen Kaffee mit den Regisseur*innen offenbarte sich dann eine Chance: »Am Ende des Gesprächs mein­ ten sie, sie hätten ein Problem. Die Hauptdar­ stellerin sei abgesprungen, und sie suchten

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eine neue.« Sichtlich beeindruckt von Plasch­ gs E-Mail, fragten sie, ob sie ein Casting für die Rolle machen würde. »Ich habe den Boden unter den Füßen verloren.« Die Doppelfunktion als Schauspielerin und Filmkomponistin ergänzt sich jedoch gut. Plaschg möchte sich in keine Box stecken las­ sen. »Mit Soap & Skin will ich machen, was ich will. Das ist kein Projekt und keine spezi­ fische Idee.« Die Bandbreite ihres Schaffens spricht für sich. Hat es sie aber je unter Druck gesetzt, schon so früh gelobt und von den Me­ dien als Wunderkind bezeichnet worden zu

War denn das Schreiben am Soundtrack einfacher? »Im Gespräch mit Veronika und Severin war klar, dass wir eine ähnliche Vor­ stellung haben«, erinnert sich Plaschg. »Mein Interesse war es, mich mit den Instrumenten und der Klangfarbe der Zeit auseinander­ zusetzen. Gleichzeitig wollte ich aber etwas Universelles und Zeitloses schaffen.« Für den Soundtrack hatte sich Plaschg mit historischen Instrumenten wie dem Dudelsack, der Laute und der Drehleier befasst. Darüber hinaus sei sie in ihrer Recherche aus Europa raus und habe sich mit Instrumenten anderer Länder beschäftigt. »Dabei habe ich mich in die Duduk, eine armenische Flöte, verliebt. Drehleier und Duduk wurden dann die Hauptinstrumente.« Neue Dinge ausprobieren möchte Plaschg auch auf ihrem nächsten Album, einem Coveralbum. Aber wie ist es mit der Schauspielerei? Wie soll es da weitergehen? »Es gibt ein paar Anfragen. Ich bin einfach neugierig und offen,

»Ich fühl mich grundsätzlich wohler an Orten des Gebets. Weil hier die Gesetze der Schöpfung präsent sind, weil man hier spürt, wie lächerlich das Ego ist.« — Anja Plaschg sein? »Ich wurde auch sehr stark nicht ernst genommen«, hält Plaschg dagegen. »Das war schrecklich, als mit 18 oder 19 mein erstes Album rauskam. Eine kleine, traurige Prin­ zessin hat mich Der Spiegel genannt.« In­ zwischen ist Plaschg in ihrer musikalischen Identität bestimmter geworden. Der Druck, ihrer Figur Agnes gerecht zu werden, war dennoch da. »Es gab Momente, in denen ich ein bisschen zusammengebrochen bin. Ist das gut, ist das schlecht, was ich mache? Ist es die richtige Richtung?«

Eisbäder und Kränzebinden Ein halbes Jahr vor Drehbeginn begann sie, viel Zeit in der Steiermark zu verbringen, sie musste sich den Dialekt wieder aneignen. Um sich auf die Kälte vorzubereiten, nahm sie regelmäßig Eisbäder. »Ich habe mir auch das Arbeiten am Hof wieder einverleibt – so­ wie Handarbeiten und Kränzebinden.« Letz­ teres war eine Art, wie sie sich als Agnes Aus­ druck verschaffen konnte; auch den kleinen Altar in deren Keller baute sie selbst. »Mate­ rielle Gegenstände in der Rolle der Agnes zu bauen, hat meine Beziehung zu ihr vertieft und mich sehr erfüllt.«

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fühl mich grundsätzlich wohler an Orten des Gebets. Weil hier die Gesetze der Schöpfung präsent sind, weil man hier spürt, wie lächer­ lich das Ego ist.« Inzwischen hat die Orgel im Chor der Kir­ che Plaschgs Aufmerksamkeit in Beschlag ge­ nommen. Ob wir denn da hochkönnten. Über eine kleine Wendeltreppe gelangen wir ins Obergeschoß. Während Plaschg neben dem Altar verloren gewirkt hat, kommt nun ver­ mehrt Selbstsicherheit durch. Kichernd dreht sie den Schlüssel, um das Organ einzuschal­ ten, zieht an den Registern, sucht mit ihren Füßen die Pedale für den Bass. Dann beginnt sie zu spielen. Tief versunken, konzentriert. »Ich spiele immer sehr ehrfürchtig auf der Orgel«, lacht sie anschließend.

aber werde mich sicher nicht auf jede Anfra­ ge stürzen.« Für ein letztes Foto kehren wir noch einmal zur Marienstatue zurück. Der Kreis schließt sich. Zum Abschluss möchte ich wissen: Sie hat viel erreicht, ist man denn daheim stolz auf Anja Plaschg – oder ist sie noch immer die »traurige Prinzessin«? Ihre Familie, von der sie kreativ so gezehrt hat, sei durchaus präsent in ihrer Karriere. Sie wer­ de auch zur Premiere des Films nach Wien kommen. Aber, so meint Plaschg besonnen: »Ich habe Respekt davor, was der Film bei bestimmten Menschen auslösen könnte, vor allem bei mir nahestehenden Menschen.« Susanne Gottlieb

»Des Teufels Bad« mit Anja Plaschg in der Hauptrolle feiert seine Weltpremiere bei der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb um den Goldenen Bären. Ab 8. März ist der Film in den österreichischen Kinos zu sehen.

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Bernhard Frena

024 Alter und neuer Leiter der Schule für Dichtung in trauter Zweisamkeit: Fritz Ostermayer und Nicolas Mahler

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Bernhard Frena

»Das Punk-Institut für die verschiedensten Disziplinen« Ostermayer und Mahler über den Leitungswechsel an der Schule für Dichtung

Möchtet ihr vielleicht beide kurz erzählen, was euer Zugang zur Schule für Dichtung war? fritz ostermayer: Also in meinem Kopf war die Schule für Dichtung zum Zeitpunkt, als ich vor elf Jahren dort angefangen habe, ein zwar ehrwürdiger, aber altvaterischer und hippieesker Verein. nicolas mahler: Also so fängst du ein se­ riöses Interview an. (beide lachen) mahler: Damals habe ich sogar in meiner Radiosendung eine Glosse gegen die Schule für Dichtung geschrieben. Ich dachte mir: »Das kann doch nicht sein! Längst gab es New Wave, gab es Dekonstruktion und so weiter. Und die haben immer noch nur die Beatniks im Schädel.« Wie ich dann hergekommen bin, ist das ja von heute auf morgen passiert. Nach dem Tod von Christian Ide Hintze war ich innerhalb einer Woche neuer Leiter. Ich wurde angefragt und habe mir dann tatsäch­ lich zwei, drei Tage Bedenkzeit erbeten, weil ich mir gedacht habe: »Warum ich?« Na wohl, weil ich so goschert dahergeredet habe. Das war schon ein Vertrauensvorschuss – aber den kann man ausnutzen. Tabula rasa wollte ich trotzdem nicht machen. Wer bin ich denn,

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Special Bildung

Die Schule für Dichtung in Wien hat einen neuen Leiter. Der Comiczeichner Nicolas Mahler übernimmt das Ruder von Autor und Radiomacher Fritz Ostermayer. Im Gespräch erzählen die beiden von ihrer Sicht auf die Schule für Dichtung, erläutern, warum sie ein Labor für Experimente bleiben sollte, und fragen sich, ob es früher mehr dichtende Rampensäue gegeben hat.

dass ich hier herkomme und alles Hippiees­ ke loswerde? Aber ich habe deutlich andere Schwerpunkte gesetzt. Wie war dein Zugang zur Schule für Dichtung, Nicolas? mahler: In den frühen 90ern habe ich die Anfänge mitbekommen – mit Nick Cave, Falco und so weiter. Da war ich nicht viel älter als 20. ostermayer: Das war natürlich beeindru­ ckend. mahler: Ja, war es. Deswegen war die Schule bei mir durchaus positiv besetzt, aber im Anschluss habe ich sie aus den Augen ver­ loren. Ich bin dann das erste Mal wieder in Kontakt gekommen durch eine Klasse, die die Zeichnerin Line Hoven gemeinsam mit der Schriftstellerin Teresa Präauer gehalten hat. Das ist wahrscheinlich eh ganz typisch, dass man zu so etwas kommt, wenn es irgendwie dem eigenen Kosmos entspricht. Zu einer rei­ nen Lesung wäre ich wahrscheinlich gar nicht erst gegangen.

»Wenn es das Institut für Sprachkunst nicht gäbe, müsste man hier den Begriff Dichtung wahrscheinlich viel enger fassen.« — Nicolas Mahler

Wie geht ihr damit um, in der Schule für Dichtung auch eine Breite von Lyrik und von Dichtung einzufangen?

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Hat so etwas deiner Meinung nach keinen Platz in der Schule für Dichtung? ostermayer: Oh ja, in der Schule für Dich­ tung muss durchaus auch etwas Platz haben, zu dem ich gar keinen Zugang habe. Dann kommt halt einmal im Jahr Anne Waldman und führt die Beatnik-Tradition weiter. mahler: Das sehe ich auch so. Ich hät­ te eher etwas dagegen, herzukommen und das Ganze nach dem eigenen Interesse zu­ sammenzuhauen. Man erkennt schon Din­ ge, die funktionieren, auch wenn man sich nicht so richtig dafür begeistern kann. Aber wenn sie sich gut etabliert haben, kann man sie ja erweitern oder ergänzen. Auf der Website der Schule für Dichtung habe ich gesehen, dass 60 Prozent der Teilnehmer*innen weiblich sind. Jetzt sitze ich hier mit zwei männlichen Leitern zusammen … ostermayer: … wann ist also Zeit für die erste Frau? Wer sagt denn, dass wir nicht bei einer Frau angefragt haben? mahler: Auf die erste Anfrage habe ich ja auch gesagt, dass es eine Frau sein muss, und habe ein paar Vorschläge gemacht. Wie ich dann erfahren habe, dass die Lehre auf der Sprachkunst ohnehin sehr weiblich ist, habe ich mir gedacht: »Naja gut, warum nicht?« Es scheint sich schon etwas zu wandeln. In mei­ ner Wahrnehmung gibt es sehr viele Autorin­ nen, obwohl dann doch wieder ein Großteil der Neuerscheinungen von Männern ist. Hat die Schule für Dichtung eurer Meinung nach einen politischen Anspruch? Oder vielleicht einen sprachpolitischen? ostermayer: Ich sehe den nicht mehr so, wie ihn die Gründungsväter und -mütter gese­ hen habe. Dass zum Beispiel die Kleinschrei­ bung ein politischer Akt wäre. Es war der Wunsch, dass es ein politischer Akt ist. Aber ich habe es nie so gesehen, dass es tatsächlich einer ist. Wir haben es einfach durchgezogen, weil es Tradition ist. Wenn du diese Tradition kippen würdest, Nicolas, würde mir das gar nichts ausmachen. Es gibt heute in der Schu­

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»Am Balkon zu implodieren, wäre auch interessant. Es gibt ja auch einen festen Krach, wenn man implodiert.« — Fritz Ostermayer melt die Schule für Dichtung auch die AntiRampensäue. Ich weiß es nicht. Man muss dann halt immer die Rampensäue aus ver­ wandten Disziplinen suchen – und das ist meistens Musik. Das hat immer funktioniert. Der Nino aus Wien hat zum Beispiel runterge­ schrien. Auch wenn der normal eher ein Leiser ist, aber da ist es gegangen. Es braucht Men­ schen, die Bühnenerfahrung haben. Lydia Hai­ der war perfekt, die hat gleich runtergepredigt. Die Comicleute sind ja eher … mahler: … nach innen gekehrt. ostermayer:Draußenzuimplodieren,wäre auch interessant. Es gibt ja auch einen festen Krach, wenn man implodiert. Aber als, um das böse I-Wort zu verwenden, Institution … ostermayer: Aber kleingeschrieben! Ja! Kleines I. Als institution hat man ja schon immer ein bisschen Gewicht in einer Szene. Allein, dass das Institut für Sprachkunst nicht zuletzt auf die Schule für Dichtung zurückzuführen ist, heißt ja was. Wie geht ihr

Special Bildung

le für Dichtung diesen Notwendigkeitszwang nicht mehr, sich auf den Balkon zu stellen und da runterzuproklamieren. Die Sache mit dem Balkon auf die Mariahilfer Straße ist bei uns eher ein ironisches Zitat. Wir nennen das ja auch »Depeschen aus dem Elfenbeinturm«. mahler: Wann hat sich da zuletzt wer hin­ gestellt und runtergeschrien? ostermayer: Das war vor circa einem Jahr. Eine Zeit lang gab es das jeden ersten Werktag des Monats. Aber dann sind wir draufgekom­ men, dass es sehr viele wollen und nur die we­ nigsten können. Sehr sensible Dichter*innen und Poet*innen schaffen das von da oben nicht. Du musst eigentlich eine Rampensau sein, um das Publikum, die Laufkundschaft irgendwie an dich zu binden oder kurze Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dazu brauchst du eine Frechheit, eine Marktschreier*innen-Mentalität. mahler: Aber hat es früher mehr dichtende Rampensäue gegeben? ostermayer: Maybe. Aber vielleicht sam­

mit diesem Stellenwert um? In welche Diskurse wollt ihr euch da überhaupt begeben? ostermayer: Für mich war da nie eine große Relevanz nach außen. Eher bin ich froh, dass die Schule für Dichtung nach wie vor ein kleines gallisches Dorf sein kann und trotz­ dem finanziell unterstützt wird von Bund und Stadt. Weil sie einen spielerischen, experimen­ tellen Zugang zu Literatur – fernab jeder Angst des Scheiterns – aufweist. Für mich ist es etwas ganz Wertvolles, dass man gemeinsam mit den Spielleiter*innen schaut, was aus mir rauskom­ men kann. In vollkommenem, vielleicht sogar interesselosem Wohlgefallen. Ohne Verwer­ tungslogik. mahler: Ich finde es ja wirklich entspan­ nend, dass es das Institut für Sprachkunst gibt. Wenn es das nicht gäbe, müsste man hier den Begriff »Dichtung« wahrscheinlich viel enger fassen. Da könnte ich dann nicht kommen und ein paar Leute zum Zeichnen holen. Jetzt mach ich das mal, bis mir jemand eins auf den Deckel gibt. Ich glaube, die Schule für Dichtung kann da ein Labor sein. Wenn man zum Beispiel viele Klassen anbietet, die in Richtung Comic gehen, wäre das vielleicht auch der erste Schritt für das In­ stitut für Comic an der Angewandten oder so. Und dann kann man hier etwas Neues machen. Sobald etwas etabliert ist, macht man nicht mehr dasselbe im Kleinen, son­ dern brütet eben wieder was anderes aus. ostermayer: Das Punk-Institut für die verschiedensten Disziplinen! Und irgend­ wann bist du vielleicht zu gelangweilt, zu alt oder zu gesettelt für Punk. Und dann machst du halt das Seriösere. Aber wichtig ist, dass hier ein Labor, ein Sprungbrett für alle bestehen bleibt.

Sind das deine Pläne als neuer Direktor, Nicolas? Mehr Comicleute an der Schule für Dichtung? mahler: Naja, das ist naheliegend, weil ich da den Einblick habe und die Leute ken­ ne. Aber natürlich habe ich nicht vor, eine Zeichenschule draus zu machen. Das wird oh­ nehin spannend, wie die Kursleiter*innen mit Bildarbeit und Textarbeit umgehen. Gerade in der knappen Zeit. Und es wird auch spannend, wer teilnimmt. Sind das Leute, die zeichnen oder die sich das mal anschauen und gar nicht zeichnen können? Aber das ist das Gute am Comic: Selbst wenn man schlecht schreibt und schlecht zeichnet, kann es trotzdem ein super Comic sein. Comic kann man nicht mit den normalen literarischen Maßstäben mes­ sen. Oft ist das unliterarisch Geschriebene sogar besser, als wenn ich Literatur schreibe und die dann bebildere. Bernhard Frena

Das aktuelle Kurs- und Veranstaltungsprogramm der Schule für Dichtung ist unter www.sfd.at abrufbar. Nicolas Mahler wird im März sein erstes Programm als deren Leiter bekannt geben.

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ostermayer: Die Breite ist wichtig. Aber natürlich eine Breite, zu der wir fähig sind. Deswegen habe ich damals gleich einmal eine Hip-Hop-Klasse mit König Boris von Fettes Brot organisiert. Und eine Gstanzl-Klasse mit Attwenger. Mein Zugang war im weitesten Sinn von Populärkultur und Popmusik geprägt. Das habe ich da hineingebracht. Und lyrisches Sprachspiel, das auch ins Lächerliche, ins Groteske, ins Komische gehen kann. Mir ist das deutlich näher als Lyrik, die tief empfun­ den ist, die aus dem Innersten herausschöpft. Es ist mir in der Kunst immer unsympathisch, unheimlich oder verdächtig, wenn jemand das Innerste nach außen stülpen will. Da habe ich schon einen Narzissmusverdacht. Das ist ein bildungsbürgerlicher Topos, der mich nicht interessiert.

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Mit Bildern Geschichten zu erzählen und das Nicht-Sicht­ bare sichtbar zu machen, das gefällt Astrid Heubrandtner besonders an ihrem Beruf. Sie besuchte das Kolleg für Fotografie, lebte ein Jahr in Paris und absolvierte im An­ schluss die Studien der Bildtechnik und Kamera sowie Produktion an der Filmakademie Wien. Während ihres Studiums war sie bereits als Beleuchterin, Kameraassis­ tentin sowie Schwenkerin tätig und seit 1998 war sie an ca. 35 Spiel- und Dokumentarfilmen beteiligt. Darüber hinaus ist sie Dozentin, Fachexpertin sowie Mitglied bei diversen Organisationen. »Prinzipiell ist kein Studium nötig«, so Heubrandtner, dennoch erkenne sie Vorteile eines solchen für ihren Be­ ruf: Man lerne auf hohem Niveau und treffe auf filmaffine Menschen. Für den Job brauche man viele Skills: soziale Kompetenz, Führungsqualitäten, Stressresistenz und ein Verständnis für Dramaturgie; auch Kreativität, Intuition und gutes Zuhören. Die Beschäftigung mit Kunst und Kunstgeschichte ist für Heubrandtner wichtig, um visuelle Codes, Bildsprache und Farbdramaturgie zu verstehen sowie ein Gefühl für Ästhetik und einen persönlichen Stil zu entwickeln. In der Kameraführung helfe zudem ein ausgeprägtes Rhythmus­ gefühl und ein gewisses Maß an Sportlichkeit. Ihre Tipps für den Einstieg: sich an an Filmhochschulen bewerben und gleichzeitig am Set Erfahrungen sammeln, sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen und Filme drehen – und viele Filme anschauen sowie sich von anderen Kunst­ sparten inspirieren lassen.

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Matthias Katkowski Creative Director

Mit 18 Jahren, in einer Phase des jugendlichen Übermuts, habe ich ein Gramm Marihuana gegen eine schlichte Con­ sumer-Kamera eingetauscht. Ein Deal, der weit entfernt von Konventionen war und unerwartet den Grundstein für meine Karriere in der Medienwelt legte«, so Matthias Katkowski. Ursprünglich wollte er sich so für ein Festival akkreditieren, bald begann er, Musikvideos zu produzie­ ren und sich ein Netzwerk aufzubauen. Mittlerweile ist er Creative Director bei Frames Network, einer auf Filmpro­ duktion spezialisierten Agentur. Über sein Studium »Film und Animation« am SAE Ins­ titute Wien sagt er: »Es hat meine Skills in Rekordzeit aufs nächste Level katapultiert, weil ich mitten in einem kre­ ativen Biotop gelandet bin, das permanent im Filmfieber vibrierte. Wir waren ein eingeschworener Haufen, der sich bei jedem Projekt gegenseitig gepusht hat.« Das eigene Handwerk grundsätzlich zu verstehen, flexibel und neugierig zu bleiben sowie der Austausch mit Gleichgesinnten seien weiters wichtig, so Katkowski. »Umgib dich mit Menschen, die ähnliche Ziele verfolgen wie du. Schließe Allianzen, und wenn du am Anfang nie­ manden findest, mit dem du zusammenarbeiten kannst, dann schaffe deine Projekte selbst.« An seinem Job liebe er letztendlich alles: »Ehrlich gesagt, gibt es an meiner Ar­ beit nichts, das mir nicht gefällt. Mein gesamtes kreatives Schaffen fühlt sich wie Freizeit an. Mein berufliches und privates Leben sind eng miteinander verwoben.«

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Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin Fachkenntnisse haben, kommunikativ sein und Menschen mögen – das sind für Monika Holzer-Kernbichler Vor­ aussetzungen für ihren Job. Nach der Schule lebte sie in Frankreich. Sie studierte BWL und Kunstgeschichte. Im Anschluss begann sie als Tutorin am Institut für Kunstge­ schichte zu arbeiten, wurde Studienassistentin und wis­ senschaftliche Mitarbeiterin. »Seither bin ich dort noch immer als Lektorin tätig. Gleichzeitig blieb ich aber auch immer der Kunstvermittlung treu, arbeitete in verschie­ denen Projekten mit und übernahm, nach drei Jahren bei der Museumsakademie Joanneum, die Leitung der Kunstvermittlung im Kunsthaus Graz.« Etwas später kam noch die Kunstvermittlung in der Neuen Galerie hinzu. Zudem engagiert sich Holzer-Kernbichler im Verband der Kulturvermittler*innen, sie ist National Correspondent bei ICOM CECA Austria und unterrichtet an der Pädagogi­ schen Hochschule in Graz. »Als Kunsthistoriker*in sollte man Kunstgeschich­ te studiert haben. Das ist auch eine solide Basis als Kunstvermittler*in, in unserem Team sind aber ge­ nauso Kulturanthropolog*innen, Philosoph*innen, Architekt*innen, Pädagog*innen und Künstler*innen.« Von den unterschiedlichen Backgrounds profitieren alle. An Berufseinsteiger*innen appelliert Holzer-Kernbichler: »Sie sollen es einfach tun.« Sie liebt Kunst, Museen und die Arbeit mit Menschen. Weniger begeistert ist sie von Bürokratien und Hierarchien. Ihr Wunsch: »Ein Museum, das offen, inklusiv, partizipativ und divers sein will, sollte das auch selbst leben dürfen.«

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Victoria Fahrengruber Kunstvermittlerin

Victoria Fahrengrubers Nebenjob als Museumsaufsicht ist der Grund dafür, dass sie heute als Kunstvermittlerin arbeitet. Sich mit Kunst und den Besucher*innen ausei­ nanderzusetzen, machte ihr so viel Spaß, dass ihr gleich von zwei Personen ein Praktikum angeboten wurde. Sie absolvierte beide – eines im kuratorischen Bereich, ein weiteres in der Kunstvermittlung – und arbeitet nun im Museum der Moderne Salzburg. Ihrer Einschätzung nach können viele Wege in die Kunstvermittlung führen, ein geisteswissenschaftliches Studium unterstütze allerdings das kritische Denken. Pra­ xiserfahrung sieht sie als Muss wie auch die Bereitschaft, sich weiterzubilden. Sie studierte zuerst Geschichte, bevor sie zu Kunstgeschichte wechselte. Kunstvermittler*innen müssten sich neues Wissen aneignen und dieses weiterge­ ben, so Fahrengruber. Flexibilität sowie Spontaneität und die Fähigkeit, sich Namen und Jahreszahlen zu merken, würden auch nicht schaden. Außerdem wichtig: sozialkommunikative Skills, Empathie, Offenheit, Geduld und Freundlichkeit. Sie rät zu Praktika: »Die personelle Ver­ mittlungsarbeit ist etwas, das man mögen muss – also man muss es mögen, mit vielen verschiedenen Menschen zu interagieren, aber auch bei Führungen gewissermaßen im Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein – auch wenn eigent­ lich die Kunst im Mittelpunkt steht.« An ihrem Job schätzt Fahrengruber Abwechslung, Teamarbeit und die Mischung aus kreativem Arbeiten, neuem Input, Präsenz in den Ausstellungen, aber auch administrativen Arbeiten.

Universalmuseum Joanneum / J. J. Kucek, Cristina Struber, Tina Teufel (Installation: Christiane Peschek, Vienna Contemporary 2023), Zoe Opratko

Special Bildung Monika Holzer-Kernbichler

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Special Bildung Journalistin

Der Kulturjournalismus sei für viele ein Traumjob, doch die offenen Stellen rar, ihr selbst habe ihr Kunstgeschich­ testudium geholfen, sagt Nina Schedlmayer. Bereits wäh­ rend ihres Studiums arbeitete sie im Kunstbereich und begann für Medien zu schreiben. 2003 machte sie sich als Kunstkritikerin selbstständig. Für das Magazin Profil war sie lange für Themen der bildenden Kunst und Architektur zuständig. 2018 startete sie sie ihren Artemisia-Blog über Kunst und Feminismus und seit 2019 ist sie Chefredakteu­ rin des Kulturmagazins Morgen, das wie The Gap von der Comrades GmbH verlegt wird. Zudem veröffentlichte sie eine Biografie über Margot Pilz, sie sitzt in Jurys, schreibt für Ausstellungskataloge, hält Vorträge und kuratiert. Im Journalismus brauche es guten sprachlichen Ausdruck und Kommunikationsfähigkeit. Man müsse gut zuhören können, fachliches Verständnis und Em­ pathie haben, so Schedlmayer. Sich selbst managen und eine gewisse Disziplin seien ebenso bedeutend. Sie rät Berufseinsteiger*innen, sich mit neuen Möglichkeiten – etwa durch KI – auseinanderzusetzen, ein gutes Netzwerk aufzubauen und sich auf ein Fachgebiet zu spezialisieren. Kunst und Museen sind für Schedlmayer seit ihrer Jugend interessant. An ihrer Arbeit mag sie besonders die Zusammenarbeit mit den Autor*innen und Fotograf*innen und die Freiheit, die sie in ihrer Tätigkeit hat. »Was mir weniger gefällt: Manchmal habe ich viel Organisationsauf­ wand, doch ca. 95 Prozent der Zeit bin ich sehr happy mit meiner Arbeit.«

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Nada Chekh Journalistin

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Universalmuseum Joanneum / J. J. Kucek, Cristina Struber, Tina Teufel (Installation: Christiane Peschek, Vienna Contemporary 2023), Zoe Opratko

Nina Schedlmayer

Nada Chekh ist journalistische Quereinsteigerin. Sie stu­ dierte Slawistik sowie Interdisziplinäre Osteuropastudien. Während ihres Bachelorstudiums kam sie über ein Prakti­ kum zum Magazin Biber: »Ich hatte eigentlich nie die Idee oder den Wunsch, Journalistin zu werden – es ist eine Sa­ che, die ich erst on the Job für mich entdeckt habe.« Neben dem Schreiben für Printmedien gestaltet sie Beiträge für Ö1. Sie hostete den Podcast der Wiener Festwochen und veröffentlichte 2023 ihr erstes Buch (»Eine Blume ohne Wurzeln«). Chekh empfiehlt, »bloß nicht Publizistik zu stu­ dieren, um Journalist*in zu werden«, da man da das Schreiben ohnehin nicht lerne. Ein Sprachstudium wie ihres lasse sich gut mit Journalismus verbinden, weil Fremdsprachenkenntnisse »nur von Vorteil« seien. Sie rät Anfänger*innen, geduldig und kritikfähig zu sein und sich Mentor*innen zu suchen. Journalist*innen müssten einen guten Umgang mit Menschen haben, gut zuhören, sich selbst zurücknehmen und emphatisch sein. Zudem brauche es ein Verständnis von sozialen und politischen Landschaften sowie Schreibtalent, meint sie. Der Verantwortung als Journalist*in müsse man sich bewusst sein und manches – wie transkribieren – findet sie »irrsinnig öde«, außerdem gebe es »viele schlecht bezahlte Stellen«. Dennoch liebt Chekh es, Interessen mit dem Sch­ reiben zu verbinden. »Das macht mir am meisten Spaß an meinem Job: Ich kann sorgfältig eine Geschichte so aufzie­ hen, dass sie die Leser*innenschaft in ihren Bann zieht.«

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Special Bildung Caroline Stark Seit ca. 20 Jahren ist Caroline Stark nun schon am Theater tätig. Sie hat etwa 130 Bühnen- und Kostümbilder entwor­ fen. 2016 gründete sie zudem – gemeinsam mit dem Re­ gisseur Stephan Kasimir – das »Ensemble für unpopuläre Freizeitgestaltung«, ein freies professionelles Theater in Vorarlberg. Dabei studierte sie gar nicht Bühnenbild, son­ dern besuchte an der Linzer Kunstuni die Meisterklasse Objekt- und Produktgestaltung Metall. Während des Stu­ diums arbeitete sie als Lichttechnikerin und entdeckte so ihre Leidenschaft fürs Theater. Für ihre Diplomarbeit er­ arbeitete Stark das Bühnenbildkonzept für die Oper »Der Konsul«. Bevor sie sich selbstständig machte, hatte sie eine Assistenzstelle im Landestheater Linz. Seit einem Jahr ist sie auch in der Kunstkommission des Landes Vorarlberg für darstellende Kunst tätig. Als Ausstatterin sei ein künstlerisches Studium hilf­ reich, zudem seien professionelle Kontakte – vor allem zu Regie – nötig. Ihr Job als Theaterproduzentin wiederum sei völlig autodidaktisch, »diese Arbeit ist quasi nicht be­ zahlt und nur mit reinem Irrsinn und Idealismus erklär­ bar«. Dabei brauche sie viel Hartnäckigkeit. Außerdem sei die Organisation eines Stückes eine »Mammutaufgabe«, so Stark. Da ihr Beruf fast nur auf selbstständiger Basis mög­ lich ist, seien »Ausdauer, Leidenschaft und auch Geduld« nötig. Besonders familienfreundlich sei der Job nicht und manchmal fehle ihr Platz für die eigene Ästhetik – aber das seien eher rare Probleme: »Alles in allem ist es mein Traumberuf.«

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Nanna Neudeck Ausstatterin

Nanna Neudeck studierte Produktdesign, Fotografie und Bildhauerei. Nach Assistenzen am Thalia Theater und am Burgtheater sowie einer Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief machte sie sich selbstständig und gründete das Kollektiv Makemake mit. Eine gewisse Leidenschaft für den Job sei wichtig, sagt sie, ein Bühnenbild-Studium »nicht zwingend notwendig«. Wenn also jemand diesen Beruf ergreifen wolle, rät die Ausstatterin: »Einfach ma­ chen. Haltet durch, gesteht euch zu, zu scheitern und da­ raus zu lernen.« Während manche viel am Laptop arbeiten, hat Neu­ deck eine andere Herangehensweise an ihren Job: »Ich bin die, die mit dem Akkuschrauber arbeitet und Model­ le baut. Ich interessiere mich sehr für die Eigenschaften verschiedener Materialien und welchen Einfluss sie auf die Spieler*innen haben und dafür, wie der Raum Spiel­ partner werden kann.« Es sei auf jeden Fall wichtig, auf Inputs anderer Menschen zu reagieren. »Improvisations­ talent schadet auch nie.« Der künstlerische Austausch und der Prozess zwi­ schen den verschiedenen Theaterakteur*innen gefällt ihr an ihrem Beruf besonders. Und wenn Regisseur*innen, »die Bühne als eine eigenständige Ebene sehen – ähnlich wie Text –, mit der sie umgehen können bzw. müssen.« Pragmatismus, bürokratische Hindernisse, Machtkämpfe oder starke Hierarchien stören Neudeck. »Mit unserem Künstler*innenkollektiv Makemake Produktionen versu­ chen wir eine andere Art der Zusammenarbeit.«

Caroline Stark, Apollonia T. Bitzan, Sisters of Music, Wolfgang Descho

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Ausstatterin

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Caroline Stark, Apollonia T. Bitzan, Sisters of Music, Wolfgang Descho

Special Bildung Karin Tonsern

Seit mehr als zehn Jahren ist Karin Tonsern in der Musik­ branche tätig – als Produktionsleiterin, Tour- und StageManagerin. Schließlich war der Wunsch da, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen und sich mit anderen Frauen zu vernetzen: »Vor vier Jahren habe ich das gemeinnützige Netzwerk Sisters of Music gegründet, das Frauen aus der Branche vernetzt und supportet. Daraus haben sich viele neue berufliche Perspektiven wie das Sisters Festival und vermehrte Awareness-Arbeit ergeben.« Für den Bereich Produktion gebe es aktuell kein Studi­ um oder eine andere spezifische Ausbildung. Sie selbst ist Meistern der Veranstaltungstechnik und bildet sich regel­ mäßig in verschiedenen Bereichen weiter – etwa zu The­ men wie Veranstaltungssicherheit. »Zurzeit befinde ich mich in Ausbildung zur Trainerin für Social Justice und Diversity.« Flexibilität, Organisationstalent sowie techni­ sches und rechtliches Wissen – das alles braucht Tonsern in ihrer Arbeit. Berufseinsteiger*innen rät sie: »Sei dir be­ wusst, dass auf dich viel Arbeit zukommt, die sowohl phy­ sisch als auch psychisch sehr kräfteraubend sein kann und die sich nicht an reguläre Arbeitszeiten hält. Sie belohnt dich jedoch mit unvergesslichen Momenten.« Abwechslung, Herausforderung sowie »die vielen Perspektiven, die sich daraus ergeben, und natürlich, dass ich stets von Musik und musikaffinen Menschen umgeben bin«, seien für sie die Highlights ihres Berufs.

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Sebastian Mack Tontechniker

Jede Ausbildung im Bereich Tontechnik sei zwar hilf­ reich, aber nicht dringend notwendig, sagt Sebastian Mack, Tontechniker im Rockhouse Salzburg. Er selbst absolvierte zuerst eine Lehre zum Elektrotechniker und sammelte einiges an Berufserfahrung. »Dann ent­ schloss ich mich, einen neuen Weg einzuschlagen und meiner Leidenschaft für Musik und Technik mehr Zeit zu gönnen.« Im zweiten Bildungsweg machte er eine Ausbildung im Bereich Tontechnik sowie verschiedene Praktika. 2017 folgte für Mack schließlich der Weg in die Selbstständigkeit und 2019 übernahm er die technische Leitung im Rockhouse Salzburg. Neben dem technischen Wissen brauche man noch weitere Skills, wie er erzählt: »In erster Linie ist man Dienstleister, dadurch ist ein freundliches und hilfsbe­ reites Auftreten wichtig. Auch organisiertes Trouble­ shooting sollte in einer Stresssituation umgesetzt werden können.« An seinem Job liebt Mack es, immer wieder in neue Situationen zu kommen und neue Erfahrungen zu sammeln. »Jeder Tag ist anders, sei es durch verschiede­ ne Settings oder durch Menschen, mit denen man zusam­ menarbeiten darf. Es macht natürlich auch Spaß, kreativ zu werden.« Ein berufliches No-Go sei für ihn schlecht behandeltes Equipment. Berufsneulingen empfiehlt er: »Durchhalten und nie das Interesse und den Spaß an der Sache verlieren.«

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Produktionsleiterin

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Die vorgeschlagene Gesetzesnovelle ist nur ein Puzzlestück zur Lösung der Probleme in der psychotherapeutischen Ausbildung.

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Der teure Weg in die Psychotherapie Eine elitäre Ausbildung und ihre Folgen The_Gap_203_012-047_Story_v1_FIN_BBA_red-BF_korr_mf.indd 34

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Special Bildung Als das Psychotherapiegesetz 1991 in Kraft trat, ebnete es den Weg für eine geregelte Ausbildung von Psychotherapeut*innen. Das ist über 33 Jahre her und das darin festgelegte Framework gilt bis heute. Probleme damit gibt es zuhauf. Eine Gesetzesnovelle, die die Ausbildung parallel zu privaten Instituten auch an öffentliche Universitäten bringt, soll Abhilfe schaffen. Doch ist diese Neuregelung tatsächlich der Ritter in glänzender Rüstung, als der sie gepriesen wird? ———— Um die Psyche der Österreicher*innen ist es schlecht bestellt. Laut dem Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP) haben mehr als 25 Prozent der Bevölkerung in ihrem Leben mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen. Das bedeutet, dass jedes Jahr etwa 125.000 bis 250.000 Patient*innen psy­ chotherapeutische Versorgung benötigen. Ein Bedarf, der derzeit weitgehend nicht gedeckt werden kann, weil in Österreich auf etwa 800 Einwohner*innen nur ein*e Therapeut*in kommt. So beunruhigend diese Zahlen bereits jetzt sein mögen, die Situation spitzt sich weiter zu. Die Nachwirkungen der CoronaJahre sind nach wie vor gravierend für das psychische Wohlbefinden der Bevölkerung. Paul Plener, Forscher und Klinikvorstand an

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der Universitätsklinik für Kinder- und Ju­ gendpsychiatrie, bestätigt, dass der Bedarf an therapeutischer Betreuung seit der Pandemie deutlich gestiegen ist: »Wir verzeichnen welt­ weit eine Zunahme von Angst- und depressi­ ven Symptomen – vor allem bei Kindern und jungen Erwachsenen.«

»Wir haben weltweit eine deutliche Zunahme an Suizidversuchen.« — Paul Plener Gerade in solchen Krisenzeiten sollte ei­ gentlich jede*r in Österreich das Recht auf einen Kassenplatz haben. Doch laut einer Schätzung des ÖBVP können weniger als ein Drittel der in Therapie befindlichen Perso­ nen einen solchen auch in Anspruch nehmen. Der Grund: Die Anzahl der Kassenplätze ist

schlicht zu gering. Sogenannte Sozialtarife für einkommensschwache Menschen wie­ derum werden von Psychotherapeut*innen nach eigenem Ermessen, ohne gesetzlich verankertes System und somit höchst in­ transparent vergeben. »Es gibt einen enor­ men Bedarf, und der muss endlich abgedeckt werden – auch von den Krankenkassen«, schätzt Psychotherapeutin Isabella Krsma­ novic die aktuelle Situation ein. »Ich glaube, dass dieser Bedarf schon immer vorhanden war, gefühlt wurde aber früher weniger dar­ über gesprochen als jetzt.« Folge des Kassenplatzmangels ist, dass die meisten auf eine privat finanzierte Therapie zurückgreifen müssen. Und dabei zahlt man nicht zu knapp, oft 80 bis 120 Euro pro Einheit. Dass die Tarife sehr unterschiedlich sein kön­ nen, liegt daran, dass Psychotherapeut*innen selbst festlegen, wie viel sie verlangen. Eine gesetzliche Regelung gibt es nicht.

Hohe Kosten für alle Indirekt liegen die hohen Preise auch in der teuren Ausbildung begründet. Im Ge­ gensatz zu allen anderen Bildungswegen im Gesundheitssektor wird die Psychothe­ rapieausbildung nur privat angeboten und muss somit aus eigener Tasche bezahlt so­

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wie teils selbst organisiert werden. Ange­ hende Psychotherapeut*innen investieren rund 25.000 bis 50.000 Euro in ihre Zukunft. Ein hoher Preis. »Ich sehe einen Zusam­ menhang zwischen der teuren Ausbildung, wenig Kassenplätzen und hochpreisigen Therapiestunden«, sagt Constantin Kowar, Psychotherapiestudent im dritten Semes­ ter. »Bei Infoabenden wurde bereits ange­ sprochen, dass das ein gängiges Mittel für Therapeut*innen sei, um sich die Ausbildung rückzufinanzieren.«

dafür, dass zu wenige Menschen die Psycho­ therapieausbildung absolvieren und sich bei jenen, die es tun, die Diversität unserer Ge­ sellschaft nicht abbildet. Oder wie es Isabella Krsmanovic formuliert: »Die Ausbildung ist zum aktuellen Zeitpunkt wahrscheinlich ge­ rade für einkommensschwache Personen oder Familien eher weniger zugänglich.« Seit das Psychotherapiegesetz Anfang 1991 in Kraft getreten ist, haben 11.000 Per­ sonen diese hochschwellige Ausbildung abge­ schlossen. Das hat zu einem Status quo beige­ tragen, in dem Psychotherapie in erster Linie von privilegierten Menschen angeboten wird und für diese auch gut verfügbar ist, während der steigende Bedarf quer durch die übrigen Gesellschaftsschichten kaum gedeckt wird.

»Ich sehe einen Zusammenhang zwischen der teuren Ausbildung, wenig Kassenplätzen und hochpreisigen Therapiestunden.« — Constantin Kowar

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Dem soll nun eine neue Gesetzesnovelle ent­ gegenwirken, die am 11. Jänner 2024 in Be­ gutachtung gegangen ist. Sie sieht vor, die Psychotherapieausbildung ab 2026 auch an öffentliche Universitäten zu bringen und den Zugang zu bis zu 500 Masterstudienplätzen in ganz Österreich zu ermöglichen. Ziele sind ein leistbarer Ausbildungsweg und der Ausbau des Kassenangebots. Noch ist nichts in Stein gemeißelt, doch die aktuellen Pläne sehen ein zweijähriges Masterstudium so­

Isabella Krsmanovic, Psychotherapeutin Die Kosten für die Ausbildung setzen sich aus den Studienkosten, die an das jeweilige Privatinstitut gezahlt werden, und den soge­ nannten Selbsterfahrungskosten zusammen. Selbsterfahrung bedeutet, dass Auszubilden­ de selbst eine bestimmte Anzahl an – nicht von der Krankenkasse erstatteten – Einheiten in Therapie absolvieren müssen. Aus den ge­ nannten Gründen variieren diese Kosten von Person zu Person. Deswegen lässt sich schwer sagen, was hier mehr ins Gewicht fällt – die Instituts- oder die vorgeschriebenen Thera­ piekosten. Fakt ist jedenfalls, dass der Weg in die Psychotherapie, den das Gesetz seit mehr als 30 Jahren vorsieht, äußerst kostspielig ist.

Mangelnde Diversität

Paul Plener, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Die Kosten sind sicherlich auch einer der Gründe, warum es trotz eines theoretisch aus­ reichenden Angebots an Ausbildungsstellen, an praktizierenden Therapeut*innen mangelt. »Ganz besonders jetzt nach der Pandemie wird davon gesprochen, dass es gerade einen Fachkräftemangel gebe. Die Belastungen der Menschen und auch ihre Bereitschaft, Thera­ pie in Anspruch zu nehmen, sind gestiegen«, erklärt Constantin Kowar. Zu den enormen Kosten für die Ausbildung kommt deren lange Dauer hinzu – meist sechs Jahre. All das sorgt

wie die Möglichkeit eines Bachelorstudiums an öffentlichen Universitäten vor. Das soll leistbare Optionen nicht nur für angehende Therapeut*innen, sondern in Folge auch für Patient*innen bringen. Auch die Anerken­ nung für die Profession soll durch die aka­ demische Angleichung an berufsverwandte Richtungen wie Psychologie oder die psych­ iatrische Fachrichtung steigen. »Psychiatrie und Psychologie sind Berufsfelder, die man

privat, Lukas Beck

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Novelle als Lösung?

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kennt und über die man viel weiß. Psycho­ therapie gehört irgendwie dazu, wird aber oft nicht als eigenständige Profession gesehen«, beklagt Isabella Krsmanovic. Ob die Reform alle bestehenden Proble­ me wird lösen können, bleibt fraglich. Offen ist etwa die Finanzierung der Selbsterfah­ rungseinheiten. Dabei machen diese häufig die Hälfte oder gar den Großteil der Ausbil­ dungskosten aus. Das Angebot eines öffentlich finanzierten Studiums ist also nur die Spitze des Eisbergs. Zudem soll die geplante Novel­ le erst ab dem Jahr 2026 in Kraft treten. Ihre Wirkung wird erst in den Jahrzehnten danach einsetzen. Bis dahin steuern wir zielsicher auf eine Mental-Health-Krise zu, die mitunter le­ bensgefährliche Auswirkungen hat. »Bei den Leuten, die sagen, sie hätten schon einmal da­ rüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen, sehen wir ein konstantes Niveau«, so Paul Ple­ ner mit Bezug auf eine Studie in Zusammen­ arbeit mit der Donau-Universität Krems. »Das ist im Jugendalter etwa ein Drittel, wie auch schon vor der Pandemie. Aber die Zahl derer, die sagen: ›Ich denke täglich darüber nach‹, ist merklich nach oben gegangen. Wir haben weltweit eine deutliche Zunahme an Suizid­ versuchen.« Ein akutes Problem, das nach einer entsprechend akuten Lösung verlangt. Die Novelle des Psychotherapiegesetzes macht einen Schritt in die richtige Richtung. Aber auch wenn sie sinnvolle grundlegende Änderungen verspricht, muss sie mit unter­ stützenden Maßnahmen einhergehen, die so schnell wie möglich Wirkung zeigen. Denn das Ausbildungsangebot erst in zwei Jahren weiter auszubauen und damit Menschen aus allen Gesellschaftsschichten den Zugang zum Studium zu ermöglichen, das ist schlicht und einfach zu spät. Die Krise, in der wir uns ak­ tuell befinden, kann von den derzeit prakti­ zierenden Therapeut*innen und dem derzeit bestehenden System nur schwer bis gar nicht aufgefangen werden. Es braucht unmittelbar jetzt Lösungen. Lösungen, die heute Leben retten, nicht erst morgen. Mira Schneidereit

Im Rahmen des Projekts Mental Health Days wurde kürzlich eine Studie zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen veröffentlicht. Paul Plener hat gemeinsam mit Silvia Jelincic zum gleichen Thema das Buch »Sie brauchen uns jetzt: Was Kinder belastet. Was sie schützt.« in der Edition A herausgebracht.

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Foto: Aufbruch © Doppelpaula / Klaus Ranger

Was werden wir morgen essen? Symposion Dürnstein zur Zukunft der Ernährung Zum 13. Mal lädt das Symposion Dürnstein zum internationalen Gedankenaustausch in die Wachau. Heuer stehen Fragen zum Thema Ernährungssicherheit auf dem Programm – im Spannungsfeld von Philosophie, Religion und Politik. Keynotes, Interviews, Talks, Ausstellungen, Führungen – auch heuer hat das Symposion Dürnstein wieder ein dichtes Programm zu bieten. Das diesjährige Thema der Veranstaltung im Stift Dürnstein: »Was werden wir morgen essen? Fragen zur Zukunft der Ernährung«. Von 14. bis 16. März werden Expert*innen aus den unterschiedlichsten Bereichen ihre Perspektiven auf das Thema der Ernährungssicherheit einbringen, diskutieren und weiterdenken.

Die Zukunft im Blick Kuratorin Ursula Baatz leitet mit einem Vortrag über die »Die Ernährung der Welt« ins Thema ein. Es folgen u. a. Impulsbeiträge zu »Biodiversität, Klima und Ernährung« vom deutschen Umweltforscher Josef Settele, zur »Zukunft der Landwirtschaft und Ernährung in Österreich« von Karl Bauer als Vertreter des Netzwerk Zukunftsraum Land und der Landwirtschaftskammer sowie zu »Food Alternatives« von Christina Plank, Senior Scientist an der BOKU Wien. In Podiumsdiskussionen widmet man sich überdies Themen wie »Knappes Gut Boden« und »Transformation der Landwirtschaft – ein glokaler Prozess«. Das Symposion Dürnstein wird von der Ausstellung »Ernährungsbildung für eine Ernährungswende« begleitet. Symposion Dürnstein 14. bis 16. März 2024 Niederösterreich, Stift Dürnstein www.symposionduernstein.at

PROMOTION

privat, Lukas Beck

»Die Ausbildung ist zum aktuellen Zeitpunkt wahrscheinlich gerade für einkommensschwache Personen oder Familien eher weniger zugänglich.« — Isabella Krsmanovic

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Wir waren an verschiedenen Unistandorten in Wien unterwegs und haben Studierende gefragt, was sie heute essen und wie sie die steigenden Preise spüren. ———— Laut Preismo­ nitor des Instituts für Höhere Studien sind Lebensmittel nach Wohnraum der zweit­ größte Kostentreiber in Österreich. Schon in der letzten Studiensozialerhebung aus dem Jahr 2019 waren Nahrungsmittel auf Platz

Special Bildung

»Und was isst du heute zu Mittag?« Studierende über Essen und Inflation zwei der Ausgaben von Studierenden. Eine aktuelle Umfrage des Sozialunternehmens Yep zusammen mit dem Erste Financial Life Park ergab überdies, dass sich 43 Prozent der Jugendlichen in Bezug auf Geld gestresst fühlen. 26 Prozent fehlt sogar regelmäßig Geld, um in ihrer Freizeit etwas zu unter­ nehmen. Wir haben Wiener Studierende befragt, wie es ihnen mit der Inflation geht.

Umfrage: Felix Schmidtner

Name: Sarah Alter: 21 Studium: Psychologie Was isst du heute? Schwarzbrot mit Butter und Salz sowie Haferflocken mit Blaubeeren und Milch. Verzichtest du auf bestimmte Lebensmittel? Nein, aber ich gehe halt nicht mehr essen und im Supermarkt schaue ich auch auf den Preis. Was war die lustigste Essenskombination seit der Teuerungswelle? Essiggurken mit Ketchup, in Käse eingerollt. Hast du einen kleinen Luxus, auf den du nicht verzichten kannst? Gestern habe ich mir Datteln gekauft. Manchmal Käse oder Olivenöl. Trinkst du abends im Freund*innenkreis ein Getränk weniger, um zu sparen? Ich trinke jetzt eher zu Hause, bevor ich fortgehe, aber nicht weniger.

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Felix Schmidtner

»Das schaut jetzt sehr traurig aus, aber ich habe noch mehr dabei!«

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»Gerade wegen der Teuerung bei der Miete muss ich beim Essen mehr auf den Preis schauen.«

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Name: Emily Alter: 23 Studium: Journalismus Was isst du heute? Ich war vorhin bei der Swing Kitchen und habe jetzt gerade fürs Abendessen eingekauft. Verzichtest du auf bestimmte Lebensmittel? Nicht konkret, aber ich versuche, die Preise zu vergleichen und Sachen im Angebot zu kaufen. Was war die lustigste Essenskombination seit der Teuerungswelle? Als ich krank war, habe ich einfach Reis mit Olivenöl und Salz gemacht. Das war wirklich gut und günstig! Gibt es einen kleinen Luxus, auf den du nicht verzichten kannst? Außer Haus zu essen oder Essen zu bestellen. Ich will nicht drei Tage hintereinander das Gleiche essen. Verbringst du genauso viel Zeit in Clubs und Bars wie vor der Teuerungswelle? Was Clubs betrifft, hat sich das nicht viel geändert, weil ich auch vorher wenig unterwegs und schon immer mehr so der Barmensch war. Trinkst du abends im Freund*innenkreis ein Getränk weniger, um zu sparen? Auf jeden Fall, da verzichtet man schon auf das eine oder andere Getränk. Arbeitest du neben dem Studium? Ich habe einen geringfügigen Studentenjob, aber ich überlege grundsätzlich, was Lang­ fristigeres mit mehr Stunden zu bekommen. Nicht nur wegen der Teuerung.

»Auf frisches Obst und Gemüse kann ich weniger verzichten als auf Snacks.«

Felix Schmidtner

Name: Eva und Emire Alter: 26 Studium: Internationale Entwicklung Was esst ihr heute? Verschiedenerlei Backwaren vom Billa. Verzichtet ihr auf bestimmte Lebensmittel? Eva: Wir wollten heute erst zum Felzl gehen, haben uns aus Kostengründen aber doch für den Supermarkt entschieden. Generell verzichten wir jetzt nicht auf etwas Konkretes. Emire: Ich vergleiche jetzt eher. Also wenn ich Käse kaufe, nehme ich jetzt das günstigste Produkt. Verbringt ihr genauso viel Zeit in Clubs und Bars wie vor der Teuerungswelle? Also generell treffen wir uns dann eher abends zu Hause, anstatt viel Geld für Cocktails auszugeben. Arbeitet ihr neben dem Studium? Eva: Gerade nicht, wegen der Prüfungswoche. Emire: Ja, ich suche schon einen neuen Job wegen der Teuerung, doch das gestaltet sich gerade schwierig. Aber ich habe schon immer neben dem Studium gearbeitet.

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Special Bildung 040

»Das billigste Croissant geht sich immer aus.« Name: Joanna und Felicitas Alter: 19 Studium: Lehramt Englisch und Ethik Was esst ihr heute? Joanna: Nudeln, die ich gestern Abend gemacht habe. Felicitas: Kornspitz mit Gouda. Verzichtet ihr auf bestimmte Lebensmittel? Felicitas: Ich kaufe immer das billigste Pesto, die billigste Hafermilch und esse immer dasselbe Frühstück. Joanna: Seit einem Jahr esse ich keinen Fisch mehr, aber nicht ausschließlich wegen der Teuerung. Gibt es einen kleinen Luxus, auf den ihr nicht verzichten könnt? Joanna: Gutes Pesto. Felicitas: Das schmeckt doch genau gleich wie das billige! Verbringt ihr genauso viel Zeit in Clubs und Bars wie vor der Teuerungswelle? Felicitas: Ich hab letztens bei einem Club 21 Euro gezahlt. Das ist eine Investition, das ist schon sehr kostspielig. Joanna: Ich gönne mir jetzt keinen Cocktail mehr, aber Bier geht sich immer aus. Trinkt ihr abends im Freund*innenkreis ein Getränk weniger, um zu sparen? Felicitas: Der Alkoholkonsum ist jetzt nicht weniger geworden, wir schauen halt, dass wir daheim vorglühen.

»Das ist einen Euro teurer geworden!«

* Name von der Redaktion geändert

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Felix Schmidtner

Name: Paul* Alter: keine Angabe Studium: Bauingenieurswesen Was isst du heute? Als Belohnung für eine geschriebene Prüfung gibt es heute einen Burrito, sonst gibt es nur Backwaren aus dem Supermarkt. Gibt es Dinge, auf die du seit der Teuerungswelle verzichtest? Eigentlich nicht. Woran merkst du die Inflation? Am Ende des Monats am Kontostand.

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Aufwühlend und richtiggehend durchrüttelnd

artechock

Berauschend, beunruhigend wahr

Premiere

ein Film von

SOFIA EXARCHOU

DIMITRA VLAGOPOULOU VOODOO JÜRGENS FLOMARIA PAPADAKI

Felix Schmidtner

AB 29.03. IM KINO

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Workstation Menschen am Arbeitsplatz Patrick Münnich

Bernhard Frena

Sophia Leu Schwimmtrainerin

An eine Zeit ohne Schwimmen kann sich Sophia Leu nicht erinnern. Kein Wunder, kommt sie doch aus einer Schwimmdynastie. Ihr Großvater hat das Schwimmtraining am Universitätssportinstitut Wien maßgeblich mit­ aufgebaut. Heute ist der Name Leu dort unumgänglich. Für Sophia ist es etwas Besonderes, mit der Familie zusammenzuarbeiten, man kommuniziere auf eine andere Art und Weise. Und es habe sich über die Jahre viel Wissen angehäuft: »Ich orientiere mich an der Struktur, die mir mein Vater vorgegeben hat und die Training für Training gleichbleibt. Das gibt den Schüler*innen Sicherheit.« Abwechslung kommt durch die variierenden Übungen. Und für Sophia nicht zuletzt abseits vom Sport. Denn von der italienischen Seite ihrer Familie hat sie eine Liebe zur Kunst mitbekommen, insbesondere zur Musik. »Ich habe Phasen, in denen Musik eine mehr oder weniger große Rolle in meinem Leben spielt, aber Teil davon ist sie immer.« Gemeinsam hätten Sport und Musik den starken Fokus auf den eigenen Körper: »Durch Sport kann man lernen, wie man auf einer Bühne steht. Selbstbewusster, nicht irgendwie. Egal, ob du eine Schwimmhalle oder eben eine Bühne betrittst, du stehst einfach anders. Du bist im Mittelpunkt, auch als Trainer*in.«

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Special Bildung

Johannes Haas Sportlehrer

Bewegung und Sport sowie Mathematik, das sind die beiden Fächer die Johannes Haas an einem Wiener Gymnasium unterrichtet. Eine Fächerkombination, die eine sehr bewusste Entscheidung für den gebürtigen Steyrer war: »Der Kontrast zwischen Sport und Mathematik ist für mich eine Bereicherung. Beide Fächer bieten unterschiedliche Denkweisen und ermöglichen es mir, von einem strukturierten Mathematikunterricht in einen freieren Sportkontext zu wechseln.« Im Sportunterricht hält er es für essenziell, den Schüler*innen ein breites Angebot an unterschiedlichen Bewegungsformen anzubieten. »Zudem fördert der Sportunterricht nicht nur die körperliche Fitness, sondern auch soziale Kompetenzen und die Fähigkeit, selbst Spiele zu organisieren und Regeln einzuhalten. Auch ohne Schiedsrichter*innen«, erklärt Johannes. »Zum Beruf Sportlehrer gehört mehr, als einen Ball in die Mitte zu werfen und dann zuzuschauen – nämlich sehr viel Engagement und Eingehen auf individuelle Bedürfnisse der Schüler*innen.« Etwa wenn manche sich wünschen American Football zu spielen, andere Walzer zu lernen. Oder wenn ein Schüler aufgrund einer Verletzung halt jonglieren lernt, statt mitzuturnen: »Das war für uns beide eine Challenge, parallel zum normalen Sportunterricht. Aber jetzt kann er perfekt jonglieren und ist sehr stolz darauf.«

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PROSA — ELIAS HIRSCHL

SOLLEN SIE DOCH KUCHEN …

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In seinem neuen Roman »Content« knöpft sich Elias Hirschl die schöne neue Arbeitswelt vor. Unterm Strich kommt eine überbordende Satire auf die porösen Geschäftsmodelle der digitalen Content-, New-Work- und Start-up-Fabriken raus, die gleichsam unterhält wie deprimiert. Wie das klingt, zeigt diese Passage aus dem Roman.

CONTENT (…) Dass wir ersetzt werden, sagt Marta schon seit dem Tag, an dem ich bei Smile Smile angefangen habe. Sie sagt es mit so einer Häufigkeit und Hartnäckigkeit, dass ich mir sicher bin, sie sehnt nichts mehr herbei, als endlich ersetzt zu werden. Die Cake-Story-Videos sind nicht der erste ku­ chenbasierte Internet-Trend, dem Smile Smile nacheifert. Marta sagt, sie habe vor ein paar Jahren noch die ganze Is-It-Cake-Phase miterlebt – ein anderer Kuchentrend, der damals populär wurde. Verschiedene professionelle oder Amateur-Konditoren buken Kuchen, die aussahen, als wären sie keine Kuchen. Zum Beispiel gab es einen Kuchen, der aussah wie eine Billardkugel, oder einen Ku­ chen, der aussah wie eine Handtasche. Man filmte dann beispielsweise die Handtasche, nahm ein Messer heraus und schnitt dann ein Stück Kuchen aus der Handtasche heraus. Denn die Handtasche war in Wirklichkeit gar keine Handtasche, sondern ein Kuchen. Auch andere Ge­ genstände waren Kuchen. Ein Sofakissen, ein Schuh, ein Cheeseburger, ein Buch. So ziemlich alles war Kuchen. Zur Hochkonjunktur der Is-It-Cake-Ära sei es im Büro uner­ träglich gewesen, sagt Marta. Überall habe sie versehent­ lich in Kuchen gegriffen. Wenn sie sich morgens an ihren PC setzte und zur Maus griff: Kuchen. Ihre Tasse mit dem kalten Kaffee vom Vortag: Kuchen. Einmal sei sogar ihr ganzer Schreibtisch samt Computerbildschirm und Tasta­ tur aus Kuchen gewesen, sagt Marta. Sie habe etliche Mi­ nuten gedacht, ihr Computer sei kaputt, bis sie feststellte, wie weich und köstlich er war. Einmal habe sie einen Ku­ chen gegessen, der sich beim ersten Biss als ein völlig an­ derer Kuchen entpuppte. Regelmäßig sei sie mit Mitarbei­ tern in der Pause am Wasserspender gestanden, und nach

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einigen Beschwerden, dass dieser nicht mehr funktioniere, habe man festgestellt, dass der ganze Automat ebenfalls ein raffinierter Kuchen war, der durch eine komplexe Vorrichtung aus Hohlhippen zähflüssigen Zuckersirup in essbare Becher abfüllte. Einmal, sagt Marta schwer at­ mend, einmal habe sie stundenlang an ihrem Schreibtisch gearbeitet, in der ständigen Furcht, dass sich gleich etwas als Kuchen entpuppen könnte. Sie habe ununterbrochen auf den Kollegen neben ihr eingeredet, dass sie dieses an­ dauernde Unwissen nicht mehr ertrage, ein zunehmendes Gefühl der Surrealität, der Entfremdung von ihrer Umwelt, der Desorientierung und Dissoziierung, die Angst, jeder Schritt könnte ein Schritt in einen Gugelhupf sein, ein Griff zum Telefon ein Griff in Ganache. Doch ihr Kollege sei stoisch geblieben, sagt Marta. Ihn schien das alles nicht zu verunsichern, als sei er etwaige Einschnitte in die Reali­ tät schon lange gewohnt, so abgebrüht und ungerührt saß er neben ihr und starrte in seinen Computer. So stoisch, dass Marta sich irgendwann Sorgen um ihn machte, zu­ dem sie plötzlich bemerkt hatte, dass sie den Mann neben ihr gar nicht kannte. Ein neuer Kollege musste das sein, ein frisch eingestellter, der die ganze Aufregung rund um die Kuchen vielleicht noch gar nicht mitbekommen hatte. Ein fleißiger, neuer Mitarbeiter, dessen Brust sich beim Atmen nicht zu heben oder senken schien, bis Marta besorgt nach seiner Hand griff, die konstant über der Tastatur schwebte, immer kurz davor, mit dem Daumen auf die Leertaste zu drücken, ohne dass es jemals dazu kam. Und als Martas Hand sich schließlich um seine legte, da fühlte sie auf ein­ mal etwas Mürbes, Klebriges an ihren Fingern, und ehe sie sich’s versah, hielt sie weinend ein Stück Schwarzwälder

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Petra Weixelbraun

Kirschtorte in ihrer Hand. Aus Verzweiflung habe sie ein Drittel ihres Kollegen gegessen, sagt Marta. Gleich dort, an Ort und Stelle. Sie habe kein Schamgefühl mehr gehabt, sie habe einfach den kompletten linken Arm, samt Schul­ ter, zwei Drittel des Kopfes und Teile der Brust verspeist, damit sie endlich vom Anblick der Atemlosigkeit, dieses Nicht-Hebens-und-Senkens des Brustkorbes erlöst wür­ de. Sie habe immer noch kiloweise Stücke ihres Kollegen im Kühlschrank. Als der Trend schließlich abebbte, dauerte es Wochen, bis man alle getarnten Kuchenstücke im Büro gefunden hatte. Wahrscheinlich liegen immer noch ein paar unent­ deckte Kuchen herum, sagt Marta. Monatelang habe sie von Dingen geträumt, die sich bei näherer Untersuchung als Kuchen erwiesen. Einmal habe sie ihrer Therapeutin direkt ins Gesicht gefasst, nur um sicherzugehen. Einige Tage habe sie paradoxerweise Zuflucht in einer Kondito­ rei gefunden. Dort sahen Kuchen noch wie Kuchen aus. Sie fragte dann den Konditor: Was ist das? Und er sagte: ein Apfelkuchen mit Zimt und Streuseln. Ihr visuelles Erleben passte endlich wieder zu ihren Erwartungen. Die kognitiven Dissonanzen lösten sich langsam auf, und sie konnte sich endlich wieder beruhigen. Irgendwann war der Trend dann endgültig tot. Nur einmal hatte er ein kurzlebiges Revival, in Form der um­ gekehrten It’s-Not-Cake-Videos, wo jeweils Gegenstän­ de präsentiert wurden, die aussahen wie Kuchen, aber in Wirklichkeit gar keine Kuchen waren. Man sah dann beispielsweise einen der in den USA beliebten Red Vel­ vet Cakes, aber auf einmal öffnete jemand einen Reiß­ verschluss, und der Red Velvet Cake entpuppte sich als Handtasche. Oder man filmte einen weißen Hochzeits­ kuchen mit Vanille-Himbeer-Creme und einem Marzi­ pan-Ehepaar, doch plötzlich steckte jemand einen Fuß hinein und ging damit davon, denn es war eigentlich kein Hochzeitskuchen, sondern ein Turnschuh. Das war der Höhepunkt der kuchenbasierten, digitalen Unterhaltung, sagt Marta. Danach ging es nur noch bergab. Ich schaue auf die Uhr, obwohl sich meine Bezahlung nicht an der Arbeitszeit bemisst, sondern an der Con­ tent-Menge. Es ist fast halb vier, und ich will mit Karin noch spazieren gehen, bevor die Sonne weg ist. Die Kol­ leginnen haben Blumen, Instantkaffee und Nikotinkau­ gummis zusammengetragen und auf Karins Büroplatz

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Elias Hirschl, geboren 1994, schafft es in seinen Texten die Schieflagen der Gegenwart ins Absurde zu steigern und kommt so der Wirklichkeit näher, als man meinen möchte. In »Salonfähig« (Zsolnay) gelang ihm dieses Kunststück, indem er phrasendreschende NLP-Polit-Emporkömmlinge zerpflückte. Nun nimmt er sich mit dieser Methode die moderne Arbeitswelt vor. »Content« heißt der Roman, in dem eine Ich-Erzählerin inhaltsleere Listicles im Akkord produziert. Eine fantasie­ reiche Analyse.

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Zur Person

Elias Hirschl »Content« (Zsolnay Verlag)

abgelegt, wie auf einem Altar. Ich werde gleich alles ein­ sammeln und es ihr mitbringen. Kann ich ein Stück davon haben, bevor du sie killst?, frage ich, als Marta die Regenbogen-Torte bereits unter der Hydraulikpresse platziert hat. Klar, sagt sie. Wenn ich sie im richtigen Winkel filme, kannst du dir sogar zwei Stücke nehmen, ohne dass es auffällt. Bevor ich losgehe, checke ich noch einmal meine Nachrichten und lösche eine weitere Mail von Finn Ger­ ber. Dann taucht auf einmal eine andere Mail auf, von einem Absender, den ich nicht kenne. Ich schaue ein paar Sekunden auf den Betreff. Dann auf den Absender. Dann öffne ich sie. Ich packe die Tortenstücke ein und verlasse die Firma.

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JUK.AT

Gewinnen thegap.at/gewinnen 1

GOT

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1 »Anatomie eines Falles« Der Preisregen für Justine Triets raffiniertes Gerichtsdrama ist beeindruckend und könnte anhalten – fünf Oscar-Nominierungen! In einem zermürbenden Indizienprozess wird aufgearbeitet, ob der plötzliche Tod Samuels vielleicht doch mehr war als ein tragischer Unfall. Unter Verdacht: Samuels Frau Sandra (Sandra Hüller). Ab 29. Februar im Handel erhältlich. Wir verlosen 3 DVDs.

2 »Slotherhouse – Ein Faultier zum Fürchten« Faultiere mögen niedlich wirken, in »Slotherhouse« entpuppt sich eines von ihnen jedoch als rachsüchtiges, blutrünstiges Monster – und zwar in ganz und gar arttypischer Bedächtigkeit. Matthew Goodhues Schockerpersiflage zitiert Genreklassiker wie »Gremlins« oder »The Shining« und strotzt vor blutiger Kreativität. Ein großer Horrorspaß. Mit Betonung auf Spaß. Wir verlosen drei Blu-Rays.

3 Manfred Deix »Forever Deix – Der Jubelband« Karikaturen würden ohne Bissigkeit, Drastik und Schärfe keinen Sinn ergeben, wird Manfred Deix gerne zitiert. »Wer denn, wenn nicht der Satiriker, soll die Dinge beim Namen nennen?« Die Untiefen der österreichischen Seele brachte er in unverwechselbarem Stil aufs Papier. Dass er heuer 75 geworden wäre, ist Anlass für die Neuauflage dieses »Jubelbandes«. Wir verlosen ein Exemplar.

HOT

4 Solmaz Khorsand »Untertan« Reportagen aus Belarus, Wahlberichterstattung aus dem Iran und Essays zur österreichischen Innenpolitik sind nur einige Beispiele für Solmaz Khorsands journalistische Arbeit. In ihrem neuen Buch beschäftigt sie sich mit dem Mitläufer*innentum. Schließlich seien wir alle Opportunist*innen – ob aus Bequemlichkeit, Angst oder Kalkül. Ab 26. Februar im Handel erhältlich. Wir verlosen drei Exemplare.

5 Bernhard Flieher »Das Fahrrad«

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Seit 1992 ist Bernhard Flieher Kulturredakteur bei den Salzburger Nachrichten. Überdies treibt ihn eine ausgeprägte Radfahrleidenschaft um. Der vorliegende Band ist sein persönliches Loblied auf das »Wunderding« Fahrrad, das auf einfachste und nachhaltigste Weise unseren geografischen und gedanklichen Spielraum erweitere. Ab 4. März im Handel erhältlich. Wir verlosen drei Exemplare.

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Rezensionen Musik Rahel

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Miniano — Ink

Daria Savytska

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Dass Rahel am FM4-Geburtstagsfest dem Sender als Ständ­chen eine Coverversion von Julis »Die perfekte Welle« widmete, ist nur folgerichtig. Denn wenige andere aktuelle Künstler*innen scheinen mir den Geist des deutschsprachigen Pop-Rock der Nullerjahre so zeitgemäß fortzusetzen. In der Tat ist meine erste Assoziation zu dem, was sie tut, nicht in Deutschland oder Österreich zu finden. Der Name, der mir hierzu schon seit Tagen im Kopf herumspukt, ist Olivia Rodrigo. Let me explain. Rodrigo hat es geschafft, Alternative aus den 1990ern für internationalen Pop der 2020er relevant zu machen. Das bedeutet etwas anderes, als Retrotracks zu produzieren oder nur auf die Nostalgiedrüse zu drücken. Da ist eine Liebe zu den Referenzen da und ein Wille, sie nach den eigenen musikalischen Sensibilitäten weiterzuentwickeln. Rahel macht Ähnliches, aber ein bisschen mehr Nische, ein bisschen mehr Szene. Kleiner und feiner. Was nicht heißen soll, die Songs auf ihrem Debütalbum »Miniano« wären klein. Ganz im Gegenteil, das ist ganz großes Theater. Von konspirativeinladend (»Schaffner«) über wütend-roh (»Nicht mal Nihilist«) bis hin zu schunkelnd-verträumt (»Miniano«) zeigt Rahel, wie genau sie unterschiedliche Vibes einfangen kann. Wortwörtlich großes Theater also, denn Rahel performt ihre Texte mit unerhörter Emotion. Das funktioniert allerdings nur, weil auch die textliche Qualität stimmt. Lyrisch erinnert das Ganze an Judith Holofernes zu besten Wir-sind-Helden-Zeiten. Nicht nur, weil einige Tracks eben genauso klingen, als wäre »Denkmal« 2024 herausgekommen (looking at you, »Bitte nicht in Blicken«), sondern auch, weil Rahel genauso geschickt Wortwitz, Sozialkritik und eine gewisse ironische Distanz verbindet. Es ist schon beeindruckend ein Album zu produzieren, das es schafft, ein ganzes Genre aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu hieven, und es dabei so frisch klingen zu lassen, als hätte es zu keinem früheren Zeitpunkt produziert werden können. (VÖ: 8. März) Bernhard Frena Live: 10. April, Graz, Postgarage — 11. April, Linz, Posthof — 13. April, Salzburg, ARGE Kultur — 14. April, Wien, Flucc — 20. April, Lembach, Musik-Kulturclub

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Rezensionen Musik

Baits

Paul Plut

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Baits setzen ihre musikalische Reise mit ihrem zweiten Album »All Filler No Killer« fort und locken die Hörer*innen mit einem ironisch-provokanten Albumtitel. Denn wie zu erwarten, strotzt das Werk der österreichischen Band rund um die charismatische Frontfrau Sonja Maier nur so vor kraftvollen Killertracks. Ausgehend von harmonischem Punk über mitreißenden Garage-Rock bis hin zu Krachern für den Moshpit werden elf unverwechselbare Tracks serviert. Besonders bemerkenswert: dass diese Eigenständigkeit trotz eines Inspirationskatalogs voll von Bands wie Nirvana, Weezer, Hole und den Ramones erhalten bleibt. Den Einstieg ins Album macht »Fucking Fake«, ein brachial-melodischer Indie-Banger, der die rotzfreche und dennoch harmonische Stimme der Frontfrau voll zur Geltung kommen lässt. Eine Nummer, ideal um sie laut per Kopfhörer auf dem Weg in die Arbeit zu hören, während man auf Instagram Postings durchscrollt. Das Quartett nimmt uns im weiteren Verlauf auf eine ausgeklügelte Reise mit. Denn melodische Tracks (»Wanna Go to Sleep with You«, »Hey Girl« und »Hello My Love«) wechseln sich mit brachialen Nummern (»Playing God«) ab. Songs wie »Take Me Out« bringen zudem Einflüsse aus dem Skatepunk und würden ideal in eine Tony-Hawk-Playlist passen. Inhaltlich behandelt das Album Themen wie Gender, Privilegien und Ungerechtigkeiten. Dabei geht die Band ziemlich kompromisslos an die Sache heran, ohne jedoch verbittert zu klingen – denn die Lage ist vielleicht hoffnungslos, aber nicht immer ernst. Für die ausgewogene Produktion zeichnet Drummer Fazo verantwortlich, der einen grandiosen Job gemacht hat und seine Fähigkeiten als kompetenter Producer eindrucksvoll unter Beweis stellt. Zusammen zeigen Baits – vervollständigt wird die Band von Bernd Faszl am Bass und Christopher Herndler an der Gitarre – auf »All Filler No Killer« eindrucksvoll, wie selbstsicher sie ihren musikalischen Stil dynamisch weiterentwickeln. (VÖ: 15. März) Ghassan Seif-Wiesner Live: 15. März, Wien, Arena — 8. Mai, Linz, Kapu — 9. Mai, Innsbruck, PMK — 10. Mai, Salzburg, Rockhouse — 11. Mai, Villach, Kulturhof Keller

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Herbarium — Abgesang Für uns Normalsterbliche ist ein Herbarium, also ein Sammelsurium an gepressten Blättern, eher etwas aus dem Sachunterricht. Für die naturwissenschaftlichen Vifzacks ist es schon wichtiger. Für Artists ist quasi das ganze Leben ein Herbarium: immer schauen, immer wo was reinkritzeln, immer auf der Suche nach der nächsten Idee. Paul Plut, der für seine bombastischen ersten beiden Alben im eigenen Fantasiegarten gesammelt hat, öffnet für das dritte nun das Gartentürl und klaubt reichlich externe Eindrücke auf, katalogisiert und vertont sie. Aber das sind keine alltäglichen Blätter, die du in jedem x-beliebigen angebrunzten Grünstreifen findest. Da sind welche von Christiane Nöstlinger dabei, von Garish, Daniel Johnston, Hildegard Knef und Kurt Girk, aus rumänischen Volksliedern. Alle macht Plut sich im besten Sinn zu eigen. So lässt sich etwa die ikonische Born-to-Run-Hymne »Devil Town« gut in seinem Heimatort Ramsau am Dachstein verorten. Auch dort sind alle Vampire, sagt man. Kein Wunder mit dem riesigen Berg vor der Sonne, sagt man. Oder auch »Dein stolzes Herz«: rumänisch, Kurt Girk, das bereits als Teil des brachial-antipatriarchalen Theaterstücks »Die Milchfrau« den Weg auf die Bühne und nun aufs Album fand, gesungen von Barca Barxant. Aber – und hier ist Entwarnung angesagt – »Herbarium« ist kein Coveralbum. Es gibt natürlich auch eigene Stücke. Der Plut’sche Garten wirft noch süße Früchte ab, wenngleich die aber inhaltlich natürlich immer eher von der bitteren Sorte sind. So wird Paul Plut zum steirischen Miyazaki, klagt den (in)humanen Raubbau an der Natur zum Zweck der Profitmaximierung an, erzählt vom Bürgerkrieg und seinen Spuren, von Ausbeutung und Umsiedelungen. Das alles alleine schon im gar dystopischen »Lucken in der Landschaft«. So wird das Herbarium dann doch wieder zur Sache für die Normalsterblichen, weil so was geht uns ja alle an. (VÖ: 1. März) Dominik Oswald Live: 13. März, Wien, WUK — 14. März, Graz, Orpheum — 15. März, Salzburg, ARGE Kultur — 16. März, Linz, Stadtwerkstatt — 21. März, Dornbirn, Spielboden — 22. März, Ebensee, Kino — 23. März, Innsbruck, Bäckerei — 11. April, Schladming, Klang-Film-Theater

Florian Lehner, Daniel Sostaric / Kunsthistorisches Museum, Elija Kulmer, Telebrains

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All Filler No Killer — Noise Appeal

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Florian Lehner, Daniel Sostaric / Kunsthistorisches Museum, Elija Kulmer, Telebrains

Rezensionen Musik

Son of the Velvet Rat

Telebrains

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Son of the Velvet Rat, das ist das Paar Georg Altziebler und Heike Binder aus Graz. Ihr Folk noir hat sie nach Joshua Tree, an den Rand der Mojave-Wüste verschlagen. Oder umgekehrt: Die poetische Landschaft, durchkreuzt von einsamen Highways, hat sie zu ihrer Musik gebracht. Zwischen dem Sehnsuchtsort, dessen weiter Raum die Enge Mitteleuropas ersetzt, und dem künstlerischen Ausdruck, der dort zur Entfaltung kommt, spannt sich die fruchtbare Wechselbeziehung auf dem neuen Album »Ghost Ranch«. Weit fruchtbarer, als der trockene Boden der kalifornischen Wüste es eigentlich zulassen sollte. Verwurzelt in der Tradition von Acts wie Townes Van Zandt oder Leonard Cohen fügen Son of the Velvet Rat dem, was auch Americana genannt wird, ein weiteres staubtrockenes Schäufelchen Wüstensand hinzu. Beachtlich, wenn so etwas aus der Steiermark kommt. Altziebler und Binder sind nicht nur hierzulande Fixsterne: Touren durch die USA, Label in Portland, Alternative-Country-Lichtgestalt Lucinda Williams als Fan und Feature-Sängerin. »Ghost Ranch« ist die Vertonung eines Lebensgefühls, das in der Weite Nordamerikas von einer heißen Brise wie Wüstensand über eine Straße geweht wird, an deren Ende so etwas wie seelische Freiheit wartet. Die beiden scheinen diese auf dem neuen Album gefunden zu haben. Altzieblers Stimme ist rau und erzählt von County Fairs und Interstates. Die Percussions sind sanft. Eine Mundharmonika schmachtet. Manchmal gibt es einen Drum-Loop oder ein Saloon-Piano. Die Country-Gitarren schmiegen sich ans sonische Gefüge. Die elektrischen flimmern wie heiße Luft am Horizont. Hie und da erahnt man den Dirt des Garage-Rock. Manchmal schrammt das Ganze am Kitsch vorbei. Und am Schluss zirpen die Zikaden rund ums Lagerfeuer. Mit »Ghost Ranch« ist ein akustisches Roadmovie gelungen, ein starkes Stück aus der Wüste. Von zwei Steirer*innen. Erstaunlich genug. (VÖ: 22. März) Tobias Natter Live: 24. Februar, Gutenbrunn, Truckerhaus — 21. März, Salzburg, Rockhouse — 22. März, Wördern, Hofküche — 5. April, Ried, KIK — 12. April, Klagenfurt, Kammerlichtspiele — 20. April, Ebensee, Kino

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My Thoughts Changed Directions — Siluh In der Musikgeschichte sind aus Jamsessions schon oft geniale Projekte und Produktionen hervorgegangen. Die Energie, die beim freien Spielen entsteht, ist eben ganz was Eigenes. Und genauso ergab es sich auch bei den Telebrains, einem Garage-Rock-Trio bestehend aus Kevin Namiotko, Felix Schnabl und Xavi Sosa. Die Musiker entschlossen sich im Jahr 2022 nach einer atemberaubenden Jamsession, gemeinsame Sache zu machen. Ihre geteilte Liebe zu Bands wie den Misfits, Ramones oder Osees, zu Fast Food, dummen Witzen und »School of Rock« entdeckten sie dabei in den tiefen Eingeweiden des Proberaums. Der Name Telebrains – laut Urban Dictionary eine »Verbindung zwischen zwei Gehirnen« – steht symbolhaft für die Synchronisation, die bei den Dreien automatisch während des Spielens stattfindet. Ihr Album »My Thoughts Changed Directions« bringt diesen Drive nun in 13 Tracks zur Geltung. Hier bekommt man psychedelischen Garage-Rock in verschiedenen Spielformen, aber stets mit derselben packenden Rock-’n’-RollPower präsentiert. Denn egal, ob bei trippigen Nummern wie »Bleeding Out« oder bei Punkrock-Tracks wie »Monster«, »Time for Romancing« oder »The Bullshit«, die Telebrains schaffen es, die Hörer*innen reinzuziehen. Passend zu ihrer Entstehung aus einer Jamsession heraus war auch die Genese des Albums einzigartig schnell. Ausschlaggebend für die Texte war ein nackter Dude auf der Donauinsel. Denn als Kevin und Xavi im Sommer mal dort waren, saß der besagte nackte Kerl direkt neben ihnen. Von dieser Situation ausgehend, erlebten sie eine Explosion der Inspiration. Im Rekordtempo von 17 Stunden wurden dann 14 Songs aufgenommen. Nur einer davon hat es letztlich nicht auf die Platte geschafft. Diese spontane Herangehensweise schlägt sich auf dem Album in einer wunderbaren PunkAttitüde nieder. Mit »My Thoughts Changed Directions« liefern die Tele­brains so eine beeindruckende Hommage an den Geist des psychedelischen Garage-Rock, die einfach verdammt viel Spaß beim Hören bereitet. (VÖ: 29. März) Ghassan Seif-Wiesner

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Ghost Ranch — Fluff & Gravy

Live: 5. April, Wien, Kollektiv Kaorle — 13. April, Linz, Kapu

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Foto: Jürgen Skarwan · Film: Stefan Aglassinger · Musik: Peter Valentin · Text: Joey Wimplinger · Grafik: Eric Pratter

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Rezensionen Musik

Zinn

Peter Zirbs

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Irgendwann musst du mit dem Aufhören anfangen, im besten Falle noch, bevor es zu spät ist – selbst wenn sich schon immer darüber streiten ließ, wann das denn sei. Auch Zinn, die immer schon Ohren und Saitenschläge am Puls der Zeit hatten, nehmen Reißaus, ziehen zwar nicht der Musik den Stecker, nicht sich selbst, aber dennoch ist ihr zweites Werk »Chthuluzän« ein Album voller Abschiede. Aus der heimischen Musikszene zum Beispiel, die Zinn mit ihrem selbstbetitelten Debüt 2020/21 im Sturm erobert haben – als neues heißes Ding, wenn man das so sagen kann. Sie sind jetzt bei Staatsakt und somit wie Bipolar Feminin oder Resi Reiner den Weg zu einem deutschen Label gegangen. Zinn machen außerdem – und das ist in toxischen Beziehungsverhältnissen immer ein guter, mutiger und richtiger Schritt – Schluss mit dem Patriarchat. Nicht umsonst heißt der vermeintliche »Hit« auch »Stirb Patriarchat stirb!«. Aber sie machen auch gleich mit dem ganzen Anthropozän Schluss, dem Zeitalter der Menschheit. Die hatte ihre Chance. Ausgang bekannt: Kapitalismus, Ausbeutung, Opfermythen und der ganze Dreck. Zinn heißen die Hörenden stattdessen schon im nächsten Zeitalter willkommen, dem titelgebenden Chthuluzän, das vom Mit-Werden und Sich-Verwandt-Machen mit allen Lebewesen geprägt ist. Bitte Donna Haraway lesen, sonst suchmaschinen – darüber könnten wir monatelang reden. Über die Musik zu sinnieren, ist ebenso 10/10-komplex, wenngleich diese bei Zinn wie kaum anderswo als Katalysator des Inhalts dient. Text-Bild-Scheren sind für andere da. Die Lyriken sind Dramen des Moments, Pamphlete im positiven Sinne mit negativen Bestandsaufnahmen, die entsprechende Klangwelten fast schon erzwingen. So hören wir auf den zehn Stücken experimentellen, doomigen Düsterfolk, mit überraschend dominanten dunkelwelligen, feedbackigen Synths, die sehr engmaschig dem meist ernsten Begehren nur wenig Entlastung bieten. Und so verabschieden sich Zinn mit »Chthuluzän« vor allem auch von der Popmusik. Und das ist nur konsequent. (VÖ: 9. Februar) Dominik Oswald Live: 28. März, Wien, Flucc

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Melancholia Beach — Fabrique Im angebrochenen Jahr meldet sich Peter Zirbs seit seiner 2018 erschienenen Platte »What If We Don’t Exist?« und nach einer Reihe von EPs erstmals wieder mit einem neuen Langspieler zurück – eine Bezeichnung, die sich der Tonträger mit seinen 13 Tracks auch redlich verdient hat. Die Liner Notes von »Melancholia Beach« kitzeln die Erwartung: Die Rede ist von einer Angstgeneration und dem Weltuntergang. Schade – besser: »schade« – bloß, dass einzig der instrumentale Schlusstrack ein unbehagliches Gefühl zu erzeugen vermag. Keine Frage, das Album ist fein säuberlich produziert, mehrere Nummern können mit Radio-Airplay rechnen. Doch hier kickt die Subjektivität: Der Politur hätte da und dort etwas Ranz gutgetan, um tatsächlich die titelgebende Stimmung zu transportieren. Hinzu kommt, dass »Melancholia Beach« neben dem digitalen Release auch auf Kassette erscheint – und wer will sich schon ein Tape einlegen, wenn das dann klingt wie eine CD? Anyways, manche Alben sind für Sommerhits geschrieben, da kommt »Melancholia Beach« auch zeitlich genau richtig. »All My Friends« könnte durchaus zur Hymne für Donauinsel und Dosenbier im nahenden Sommer werden. Und wenn man schon dort flaniert, kann man auch gleich mit etwas Musiktrivia angeben: Der dritte Track mit den »Ah, die kenn ich doch!«-Intervallen, also »A Forest«, ist ein Cover, beziehungsweise eher eine Neuinterpretation, von The Cures – no na – »A Forest«. Mit swingendem Groove drunter sehr viel sonniger geraten als die düster-blasse Nummer aus dem Jahr 1980. Loretta Who (»Say Something«, »All You Ever Wanted«), Christelle Constantin (»Ideal«) und Seph U (»White City«) spendeten ihre Stimmen ebenso wie das überraschendste Feature des Albums: Rob Bolland – unter anderem Produzent von »Falco 3« – besingt »Melancholy Mary«. Obwohl Peter Zirbs im Begleittext meint, es mache wenig Spaß, zum Ende der Welt zu komponieren, während dieses bereits da zu sein scheint, blinzelt auf »Melancholia Beach« doch der unverkennbare Optimismus der 80er und 90er durch. (VÖ: 29. März) Sandro Nicolussi

Apollonia T. Bitzan, Tim Cavadini

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Chthuluzän — Staatsakt

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Apollonia T. Bitzan, Tim Cavadini

Foto: Jürgen Skarwan · Film: Stefan Aglassinger · Musik: Peter Valentin · Text: Joey Wimplinger · Grafik: Eric Pratter

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Venus, sie zwang ihn zur Flucht.

HANNIBAL Gletscherschauspiel 5. April 2024 · 19:30 Sölden Tirol Austria

lawinetorren.com

HANNIBAL Verlauf einer Alpenquerung Das Künstlernetzwerk Lawine Torrèn versetzt die Geschichte Karthagos in die wilde Gletscherwelt Tirols. Hannibal ist zeitgenössische Bewegungskunst. Die Auseinandersetzung zwischen Karthago und Rom bildet das Zentrum einer Choreographie, in der Mensch, Natur und Technik als Protagonisten zusammenwirken. Eine dramatische Erzählung über Schicksal und Selbstbestimmung, Krieg und Frieden, Liebe und Hass. Die 2001 erstmals in die Tat umgesetzte Vision, den antiken Stoff in einem vom Gletscher gebildeten,

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gigantischen Amphitheater zu verhandeln und die technische Infrastruktur des zeitgenössischen Skigebiets am Rettenbachferner zum Mitspieler zu machen, ist beispiellos – ästhetisch, technisch und logistisch. Ein internationales Tanzensemble und hunderte Menschen aus dem Ötztal tragen zum Reenactment eines gleichermaßen faszinierenden wie entscheidenden Moments der europäischen Geschichte bei – Rom wurde zur Blaupause der westlichen Welt, Karthago versank in Bedeutungslosigkeit. Eine Kooperation von Sölden, Red Bull und Lawine Torrèn.

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Termine Musik

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AF90 UND LE:LA 19.03.2024

AF90 © Christoph Liebentritt

LE:LA© Katharina Wolf

Elevate Festival 054

Das Elevate feiert heuer seine 20. Ausgabe. Rund um das gewohnt spannende Diskursprogramm (aktuelles Thema: »Western Promises«) gibt’s natürlich wieder jede Menge Musik. So ist etwa dem renommierten UKBass-Label Hyperdub – es feiert ebenfalls 20-jähriges Bestehen – ein Showcase gewidmet. Die Bandbreite von Dancefloor bis Experiment bietet überdies Platz für: DJ Krush, Hudson Mohawke, Kenji Araki (Foto), Mad Miran, Helena Hauff, Radian und viele mehr. 28. Februar bis 3. März Graz, diverse Locations

15–17 MARCH 2024 MARX HALLE KARL-FARKAS-GASSE 19 1030 VIENNA WWW.SPARK-ARTFAIR.COM

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Altın Gün Mit dem aktuellen Album »Aşk« ist es Altın Gün gelungen, die außergewöhnliche Energie ihrer Live-Performances im Studio einzufangen. Wie man es von der Band aus Amsterdam kennt, treffen dabei Psychedelic Rock, Deep Funk und Synth-Pop auf die Musiktraditionen Anatoliens. Die zehn Stücke des Albums sind Neuinterpretationen traditioneller türkischer Volkslieder und entwickeln bisweilen einen Vorwärtsdrang, der ansteckend ist. Gerade live sollte das also bestens funktionieren. 23. April Wien, Gasometer

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Termine Musik Christl Die Themen, die Christl verarbeitet, sind alles andere als leicht: Gewalt, Trauma, Sexismus, Depression. In der Konfrontation damit entsteht eine Kunst, die sich als Überlebensstrategie verstehen lässt und ihren Ausdruck etwa auch in Gedichten und Bildern findet. Eklektischer Pop, Christls ausdrucksstarke Soulstimme, Schmerzenselegien – Albumpräsentation! 29. Februar Wien, Radiokulturhaus

Drive Moya Der Indierock der späten 80er und frühen 90er hat den Sound von Drive Moya wesentlich geprägt, Postrock- und Shoegaze-Ästhetiken spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Auf dem neuen Album »The Great End« legt die Band ihre Refrains außerdem eingängiger an als zuvor. Gute Entwicklung! 1. März Wien, Club 1019 — 2. März Graz, Club Wakuum — 7. März Linz, The Vinyl Bar — 25. April Wien, Chelsea

Manuel Fronhofer

David Prokop, Catharina Gerritsen, Hilde van Mas, Thomas Schnötzlinger, Florian Rainer, Luca Celine Müller, Michael Stasiak

Der Nino aus Wien Gerade war er noch mit seinem »Kochbuch Take 16« bei uns Thema, schon hat er ein neues Album am Start: »Endlich Wienerlieder« ist Ninos Großvater gewidmet, dem Wienerliedsänger Rudolf Mandl. 14. März Laakirchen, Alfa — 20. März Wolkersdorf, Babü — 21. März Wien, Arena — 29. März Dornbirn, Spielboden — 3. April Baden, Cinema Paradiso — 4. April Sankt Pölten, Cinema Paradiso — 13. April Linz, Posthof

Aze Ihr dreamy Mix aus R&B und Indiepop schmeichelte unseren Gehörgängen schon auf dem Debütalbum »Hotline Aze«. Mit einer im März erscheinenden EP gibt’s nun frische Musik von Aze, die abermals zwischen luftig-leicht und melancholisch, selbstbewusst und zweifelnd, tröstlich und aufwühlend balanciert. Schön! 22. März Hall in Tirol, Stromboli — 23. März Linz, Stadtwerkstatt — 5. April Wien, Rote Bar

Widowspeak Nachdenklich, atmosphärisch, verträumt – das sind Begriffe, mit denen die Musik von Widowspeak gerne assoziiert wird. Verführerisch, eindringlich und wehmütig passen auch. »The Jacket«, das 2022 erschienene sechste und bislang letzte Album der New Yorker Band, zeigt diese auf der Höhe ihrer Kunst: irgendwo zwischen Indierock und Shoegaze-Pop – Country-Anleihen inklusive. 17. April Wien, Flex Café

Takeshi’s Cashew

Sophie Ellis-Bextor

Voodoo Jürgens

Twangy Surfgitarren, Vintage-Synths und internationale Folk-Sounds durch den Psych-Funk-Fleischwolf gedreht. Geht ab! 5. März Salzburg, Rockhouse — 6. März Graz, PPC — 7. März Linz, Posthof — 8. März Dornbirn, Conrad Sohm — 9. März Lembach, Musik-Kulturclub — 15. März Wien, Kollektiv Kaorle

Ihr Hit »Murder on the Dancefloor« war zuletzt – dank dem Film »Saltburn« – wieder in den Charts. Aber auch das aktuelle Album »Hana«, wie die beiden davor in Zusammenarbeit mit Singer-Songwriter Ed Harcourt entstanden, belegt Sophie Ellis-Bextors anhaltende Klasse. Smarter Pop. 16. März Wien, WUK

Der Voodoo gönnt sich was Besonderes: eine Clubtour durch Wien. Fünf Konzerte in fünf Wochen, an Orten, an denen man ihn wohl nicht so schnell wieder live sehen wird. 25. April Wien, Schutzhaus Zukunft — 5. Mai Wien, Orpheum — 12. Mai Wien, Cabaret Fledermaus — 21. Mai Wien, Kulisse — 30. Mai Wien, U4

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Termine Festivals

3 Fragen an Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh

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Festivalleitung Diagonale

Das ist euer erstes Jahr als Leiter*innen der Diagonale. Was erwartet uns Neues? Was bleibt gleich? Slanar: Unter anderem wird heuer der Heimatsaal im Volkskundemuseum erstmals als Ort für Begegnung, Diskussion und Liveprojektionen zur Verfügung stehen. Das ist auch der Versuch, ein neues Festivalzentrum zu etablieren. Kamalzadeh: Konstant bleibt der zentrale Fokus auf die Vielfalt des heimischen Films, wobei wir unsere Premieren auch stärker hervorheben werden und für eine Pluralität einstehen. Wir wollen ein Festival für Entdecker*innen sein. Das Special »Die erste Schicht« dreht sich um Arbeitsmigration. Welche neuen Perspektiven auf dieses hochpolitische Thema kann Film aufzeigen? Slanar: Die Perspektive bei den Filmen des Specials geht hauptsächlich von den Herkunftsländern aus. Die ersten Abkommen wurden 1964 mit der Türkei und 1966 mit dem damaligen Jugoslawien abgeschlossen. Deshalb widmen wir uns Filmen aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die sich die sozioökonomischen Folgen dieser Arbeitsmigrationswelle ansehen. Was bedeutete dies für die Ankommenden und ebenso für die Zurückgelassenen? Kamalzadeh: Es geht uns auch darum zu zeigen, dass die Kultur der Migrant*innen ein wichtiger Teil unserer Kultur geworden ist, der viel zum Selbstverständnis unseres Landes beiträgt. Durch den Blick zurück in die Vergangenheit können wir vielleicht besser erkennen, wie stark wir uns alle verändert haben; dass in dieser Diversität eine Schönheit liegt und dass es auch Probleme gibt, die schon längst hätten gelöst werden sollen. Worin liegt der Wert von Filmwettbewerben – wie etwa bei der Diagonale – für die Filmbranche? Kamalzadeh: Der Wettbewerb schafft Konzentration durch eine kuratorische Auswahl, die eben die aus unserer Sicht wichtigsten Positionen eines Jahres vorstellt und feiert. Damit ist er ein Seismograf ästhetischer und gesellschaftspolitischer Tendenzen. Am Ende des Festivals werden die höchstdotierten Filmpreise in Österreich vergeben, sie helfen dabei, Aufmerksamkeit zu bündeln. Diagonale 4. bis 9. April Graz, diverse Kinos

Donaufestival Eine »Community of Aliens« – kann es so etwas geben? Kann eine Gemeinschaft funktionieren, die nur aus sich fremden Menschen besteht, ohne diese zwanghaft aneinander anzugleichen? Mit bis zu 20 Veranstaltungen pro Tag und unter dem Motto »Gemeinsam anders werden« geht das Donaufestival 2024 Fragen wie diesen auf den Grund. Geboten werden intergalaktische MusikActs, Performances, Installationen, Film und Diskurs. Das Line-up aus großen Independent-Artists und kleineren Underground-Geheimtipps landet diesen Frühling mit seinen Raumschiffen auf unserer Erde und hinterlässt Kornkreise musikalischer, künstlerischer und diskursiver Vielfalt. 19. bis 21. April und 26. bis 28. April Krems an der Donau, diverse Locations

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Termine Festivals

Ein rundes Jubiläum für das Craft Bier Fest Wien, das 2014 zum ersten Mal stattfand. Wie gewohnt können sich die Besucher*innen quer durch die große, vielfältige Auswahl an Bier, aber auch durch Spirituosen und Streetfood kosten und dabei direkt mit Fachleuten aus der Branche ins Gespräch kommen. Mit dem Eintrittsticket erwirbt man auch das exklusive Festivalglas. Ein Fixtermin der österreichischen Bierszene! 12. und 13. April Wien, Marx Halle

Nextcomic Festival

Luise Aymar

eSeL.at / Lorenz Seidler, Alexandra Masmanidi, Regina Schrattmaier / Gina, Meike Kenn

Vinyl & Music Festival Mit seinem Motto »Es bringt zusammen, was zusammengehört« präsentiert das Vinyl & Music Festival mittlerweile zum achten Mal eine Mischung aus Musikalienverkaufsausstellung, Plattenbörse, Indie-Label-Markt, Liveauftritten, Get-togethers, Sonderschauen und Specials. 2024 können sich Liebhaber*innen des oft totgesagten Mediums Vinyl erneut auf eine bunte Palette von rund 150 internationalen Aussteller*innen freuen. 1. bis 3. März Wien, Ottakringer Brauerei

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BOOM! GRRRR! KAPOW! Beim Nextcomic Festival 2024 gibt es zahlreiche Ausstellungen rund um das Thema Raum- und Klangerfahrungen im Comic zu erkunden – und damit auch um die sogenannten Soundwords, die dafür da sind, Geräusche und Klänge bildlich darzustellen. Das Festival dreht sich überdies zentral um den 200. Geburtstag des Komponisten Anton Bruckner. Nextcomic lädt zu einer Entdeckungsreise durch gezeichnete Welten ein, egal ob Graphic Novels, Kinderbücher, Kunstcomics, Illustrationen, Cartoons oder Animationsfilme. Fans der »neunten Kunst« kommen voll auf ihre Kosten. 15. bis 23. März Linz, diverse Locations

Tricky Women / Tricky Realities So schön könnte es sein, so scheiße ist es oft: Bei Tricky Women / Tricky Realities treffen feministische Utopien auf realpolitische Zustände. All das auf der großen Leinwand, in Animationsfilmen von Frauen und/oder genderqueeren Künstler*innen. Filmprogramme, Ausstellungen, Talkrunden und Partys laden dazu ein, sich mit unterschiedlichsten sozialen, politischen und kulturellen Erfahrungswelten auseinanderzusetzen. 6. bis 10. März Wien, Metro Kinokulturhaus

Porn Film Festival Vienna

Klima Biennale Wien Insgesamt 100 Tage lang beschäftigt sich die erste Klima Biennale Wien mit dem Wunsch nach einer nachhaltig-lebenswerten Zukunft. Das neuartige Klimakunstfestival lädt mit seinen Ausstellungen und Vernetzungsmöglichkeiten zu einem gesellschaftlichen Nachdenken über die Auswirkungen des Klimawandels ein. Im Fokus stehen die Potenziale von Kunst, Design, Architektur und Wissenschaft in Hinblick auf das Thema Nachhaltigkeit. Dank mehr als 60 Kooperationspartner*innen bespielt das Festival den gesamten Stadtraum mit seinem umfangreichen und multiperspektivischen Programm. 5. April bis 14. Juli Wien, diverse Locations

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Ein Filmfestival rund um das Thema Pornografie – das klingt erst mal provokant. Doch das Porn Film Festival Vienna ist auch dieses Jahr wieder der Erforschung von Pornografie als Kunstform gewidmet und setzt sich dabei für eine sexpositive und körperfreundliche Herangehensweise an Sexualität und Gender ein. Das Festival bietet Filme und Kunstwerke aus aller Welt sowie Diskussionsrunden und Workshops jenseits von Mainstream-Pornos. 10. April bis 15. April Wien, diverse Kinos

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Das Bild »Thèo Is Sleeping and I Am Thinking of Abstraction« ist ungewöhnlich für Murat Önen, denn auf den meisten seiner Bilder ist mehr als nur eine Person abgebildet. Sie sind gewöhnlich voller Körper, die sich berühren, und jede dieser Berührungen ist mit Intimität aufgeladen, oft auch mit einer sehr direkt ausgetragenen Erotik. Nur schwelt darunter auch immer ein Unbehagen – vielleicht jenes, das mit der Verletzlichkeit einhergeht, von der die Nähe zu anderen begleitet wird. Hier jedoch passiert Berührung anhand des eigenen Körpers: eine Hand, die auf der Brust abgelegt ist. Kissen und Daunen, in die er gebettet ist. Dazu eine einzelne, losgelöste Hand, die man nicht zuordnen kann. So überlagern sich verschiedene Wahrnehmungsebenen: die des Traums, des eigenen und fremder Körper. bis 20. April Lustenau, Dock 20

Murat Önen

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Termine Kunst

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Termine Kunst Coincidence of Wants Es ist schon an sich interessant, welche Wege Kunstwerke nehmen, wenn sie als Tauschobjekt mit Wert aufgeladen werden. Besonders aber, wenn ihr Wert sich nicht in Zahlen einer Währung ausdrückt, sondern Kunstwerk für Kunstwerk getauscht wird. Manche Künstler*innen setzen gerade da ihre künstlerische Arbeit an und verfolgen gezielt Formen der gegenseitigen Beeinflussung. Zehn solcher Künstler*innen wurden eingeladen, Arbeiten von anderen zu zeigen. Daneben Fotos ihres jeweiligen Gegenstücks. So kommt zusammen, was zusammengehört. bis 17. März Wien, Musa Startgalerie

Ich höre einen Vogel klagen Lasgush Poradeci zählt zu den wichtigsten Dichtern der albanischen Sprache. Seine Zeilen sind voll von Dämmerstunden, Störchen, Ufern und Quellen. Die Naturromantik wirkt mitunter von einer nationalistischen Warte aus geschrieben, aber die Betonung der Motive sollte auch das zeitgenössische Verständnis einer global vernetzten Natur erlauben. Eine Installation von Lori Lako, gemeinsam mit Sounddesign von Noah Rachdi, versucht sich daran, diesen Zusammenhang herzustellen. bis 5. April Graz, Steiermärkische Landesbibliothek

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Mathias Kessler: Staging Nature Es scheint ironisch, dass Mathias Kessler seine Naturfotografien betont abstrakt versteht, und damit die Natur als realen Lebensraum entrückt. Denn was soll uns an einem Bild liegen? Im Gegenzug entfalten die Spuren menschlichen Eingreifens – um nicht zu sagen: Zerstörens – ihre unerwartete Schönheit. Vielleicht spiegelt sich bei Kessler die Schwierigkeit wider, in Einklang mit der Natur zu bestehen und einen Moment der Wertschätzung nicht zum Anlass für eine weitere Ausbeutung zu nehmen. bis 13. April Bregenz, Bildraum Bodensee

Victor Cos Ortega Murat Önen, kunstdokumentation.com, Lori Lako, Mathias Kessler / Bildrecht, Imane Djamil, Maria Lassnig Stiftung / Apollonia T. Bitzan / Bildrecht, Laure Winants

Slow Days in the Fortunate Isle Eine Linie durchschneidet die Zone der »Fortunate Isle« und teilt die Welt auf in diesseits und jenseits. Im diesseitigen Teil liegt »Home«; jenseits die Insel Fuerteventura, oder eben »The Fortunate Isle«. Durch Wasser getrennt und je nach Reisepass zu- oder unzugänglich, gehören die beiden Orte doch zusammen. Zwischen ihnen spannt sich ein Netz aus höchst persönlichen, historisch bedeutenden und kulturell signifikanten Geschichten, die von Imane Djamil in Fotos erdacht, erlebt und erzählt werden. bis 13. April Innsbruck, Neue Galerie

Darker, Lighter, Puffy, Flat Mehr Nippel gibt es nur im Kunsthistorischen Museum. Und dort wesentlich homogener, ästhetisch überformter, weniger abwechslungsreich. Die Kunsthalle Wien nimmt sich dagegen der – vornehmlich, aber nicht nur weiblichen – Brust in all ihren Formen an und untersucht anhand einer breit gefächerten Auswahl die kulturelle Situierung eines Körpermerkmals, das selten ein Objekt indifferenter Betrachtung ist. Brüste, so zeigt sich, werden weniger durch plastische Chirurgie und mehr durch Blickweisen geformt. bis 14. April Wien, Kunsthalle

From a Tongue We Are Losing Für ihre Bilder begibt sich die belgische Künstlerin Laure Winants auf dickes Eis, jenes der Arktis. Eis und das Medium Fotografie haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind beide eine Art Zeitkapsel der Vergangenheit. Im Fall des arktischen Eises einer, die mitunter Millionen Jahre zurückreicht. Es hat etwas Religiöses, den Abdruck einer solchen Dauer in einem Fotogramm zu erleben, und bestimmt auch etwas Tragisches, das Eis zu transformieren, es der Ewigkeit zu entziehen und es gleichzeitig für die Zukunft zu erhalten. bis 23. Juni Wien, Foto Arsenal

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Termine Filme & Serien

3 Fragen an Josef Hader

Archiv der Zukunft Regie: Joerg Burger ———— Mit 30 Millionen Sammlungsobjekte kann das 1889 gegründete Naturhistorische Museum Wien aufwarten. Damit zählt es zu einem der wichtigsten Naturmuseen der Welt und ist zugleich das größte Museum Österreichs. Joerg Burger hat dieser Institution nun einen Dokumentarfilm gewidmet. Der Regisseur wirft nicht nur einen Blick hinter die Kulissen, sondern eröffnet zudem eine Debatte über das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt und über die Relevanz von Forschung. Es ist nicht das erste Museum, das der 1961 geborene Filmemacher in seiner Karriere filmisch festhält: Bereits 2014 war er bei Johannes Holzhausens Film »Das große Museum«, einer Doku über das Kunsthistorische Museum, für die Kamera verantwortlich. Über vier Jahre besuchte Joerg Burger das Naturhistorische immer wieder und förderte dabei so zahlreiche Details und Skurrilitäten zutage. Start: 15. März

Haben Sie als Regisseur einen anderen Zugang, weil sie auch selbst vor der Kamera stehen? Ich habe schon einen Schauspielerblick auf das Ganze, ich möchte meinen Darsteller*innen möglichst alles aus dem Weg räumen, was sie behindern könnte. Vollkommen durchkomponierte Bildkonzepte, in die sich Schauspieler*innen auf den Millimeter genau einordnen müssen – so was mag ich nicht. Ich bin nicht besonders genial, aber glaube fest daran, dass die Zusammenarbeit verschiedener talentierter Menschen die Hauptattraktion bei einem Film ist. Mein Cast ist das Aushängeschild des Projekts. Das sind die einzigen Menschen, die dann im Film zu sehen sind, daher müssen sie unter optimalen Bedingungen arbeiten können. Österreichischer Humor wird ja quasi als Kulturgut vermarktet. Wie halten Sie es mit dem Humor? Beruflich spielt für mich der sogenannte Wiener Humor keine Rolle, Humor ist kein Arbeitsbegriff, mit dem ich hantiere. Ich versuche Geschichten zu erzählen und aufgrund dessen, wie ich gestrickt bin, entsteht Komik. Letztendlich ist der Wienerische Humor, wie er heute vermarktet wird, wahrscheinlich ein jüdischer Humor: Man muss über schlimme Dinge Witze machen, weil sie einem widerfahren. Die jüdische Bevölkerung war jahrhundertelang gezwungen, sich die für sie unangenehme Realität mit Witzen zu erleichtern. Der sogenannte Wiener Humor ist also ein Produkt von Migration. »Andrea lässt sich scheiden« Start: 23. Februar

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Animal Regie: Sofia Exarchou ———— Ein Job als Animateur*in kann anstrengend sein: Ständig gute Laune, die verbreitet, und Tourist*innen, die bespaßt werden müssen. All das in prekären Arbeitsverhältnissen. Davon kann Kalia (Dimitra Vlagopoulou), Leiterin einer Gruppe von Animateur*innen, ein Lied singen. Doch: the show must go on. Sofia Exarchou legt nach »Park«, in dem Vlagopoulou ebenfalls die Hauptrolle spielte, ihren zweiten Spielfilm vor. Diesmal ist außerdem auch Voodoo Jürgens mit an Bord. Den Aufstieg des Massentourismus, der im Film thematisiert wird, hat Exarchou selbst in ihrem Heimatland Griechenland miterlebt: »Ich habe versucht, eine Allegorie über die Arbeit in den modernen westeuropäischen Gesellschaften zu schreiben, über die harten Arbeitssysteme innerhalb dieser geschlossenen Wirtschaftsstrukturen.« Start: 29. März

Lukas Beck, Joerg Burger, Homemade Films, Nikolett Kustos, HBO / Sky

Andrea, gespielt von Birgit Minichmayr, ist die Protagonistin Ihres zweiten Films als Regisseur. Wie würden Sie die Figur beschreiben? Andrea ist eine selbstbewusste Frau, die versucht, am Land selbstbestimmt zu leben. Sie erfüllt in manchen Punkten gesellschaftliche Erwartungen, in anderen nicht. Gerade ihr Beruf als Polizistin und die Tatsache, dass sie in ihrem Heimatort arbeitet – so was ist eher ungewöhnlich in der Provinz. Sie ist in die Dorfgemeinschaft integriert, hat aber keine wirklich engen Beziehungen zu anderen. Sie spaziert durch diesen Film wie ein Cowboy und macht das, was früher im Film Männern vorbehalten war.

Barbara Fohringer

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Regisseur »Andrea lässt sich scheiden«

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Stillstand Regie: Nikolaus Geyrhalter ———— Die Zeiten der Corona-Lockdowns nutzte Regisseur Nikolaus Geyrhalter dazu, das plötzlich stille und leere Wien zu porträtieren. Aber wer war weiterhin dafür zuständig, dass das Gesundheitssystem, die Schulen oder gar das ganze System nicht zusammenbrachen? Mit nur einem kleinen Team und der Kamera selbst in der Hand gelingt Geyrhalter in seinen typisch durchdachten Bildern ein erstaunliches Zeitdokument. Start: 9. Februar

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt

ÜBER 300 BIERE & STREETFOOD

Regie: Radu Jude ———— Ein Film zwischen schwarzer Komödie und Roadmovie mit einer Portion Gesellschaftskritik und coolen Protagonist*innen: Wir begegnen Angela (Ilinca Manolache), einer Produktionsassistentin, die durch Bukarest reist, um Menschen für einen Werbespot zum Thema Sicherheit am Arbeitsplatz zu casten. Dabei trifft sie auf eine Menge skurriler Charaktere: Reiche und Arme, digitale Avatare und Wrestler, Sexpartner und Stalker. Start: 23. Februar

Slow Regie: Marija Kavtaradze ———— Die Tänzerin Elena (Greta Grinevičiūtė) und der Gebärdendolmetscher Dovydas (Kęstutis Cicėnas) haben unterschiedliche Anforderungen an Liebe und Sexualität: Sie fühlen sich romantisch zueinander hingezogen, doch Dovydas ist asexuell – er fühlt keine sexuelle Anziehung. So müssen die beiden Schritt für Schritt gemeinsam herausfinden, wie sie ihr Sexualleben zur gemeinsamen Zufriedenheit gestalten können. Start: 1. März

Joyland Regie: Saim Sadiq ———— Eine queere Liebesgeschichte steht im Zentrum des Films des pakistanischen Regisseurs Saim Sadiq: Haider (Ali Junejo) ist arbeitslos und kann seine Familie nicht ernähren. Als er schließlich einen Job als Backgroundtänzer in einem erotischen Tanztheater bekommt und sich in Biba (Alina Khan) verliebt, gerät sein Leben ins Wanken, denn Biba ist Teil der Khawaja-Sira-Gemeinschaft und gehört dem dritten Geschlecht an. Start: 1. März

Dream Scenario Regie: Kristoffer Borgli ———— A24 als Produktionsfirma sowie Nicolas Cage als Hauptdarsteller: Kristoffer Borgli kann hier aus dem Vollen schöpfen. Der Plot: Der unauffällige Lehrer Paul (Cage) taucht plötzlich in den Träumen aller Menschen auf – und wird dadurch weltberühmt. Inspiration für den Film waren u. a. die Thesen des Psychologen C. G. Jung, die Borgli wissenschaftlich unbrauchbar, aber ästhetisch interessant findet. Start: 22. März

CRAFTBIERFEST.AT

Beasts Like Us

The Regime

Idee: Marc Schlegel, Peter Bruck und Ernst Golda ———— Horror meets Coming-of-Age, und das made in Austria: In der Serie »Beasts Like Us« treffen vier Jugendliche auf Zombies, Dämonen, Aliens und andere Bestien – und auf die üblichen Probleme heranwachsender Menschen, etwa langweilige Jobs, Datingstress und Beziehungsprobleme. Die Serie wurde unter anderem im Schloss Neugebäude, im Etablissement Gschwandner und im Palais Fürstenberg gedreht. ab 14. Februar Amazon Prime

Idee: Will Tracy ———— Politserien sind nicht erst seit »The West Wing« oder »Veep« bei vielen beliebt, nun können sich Fans des Genres auf »The Regime« freuen. In der Hauptrolle ist die famose Kate Winslet zu sehen, auch Hugh Grant hat eine Gastrolle. Winslet spielt die Kanzlerin einer fiktiven zentraleuropäischen Autokratie, die ihre Macht zunehmend bedroht sieht. Die Miniserie wurde u. a. in Wien gedreht – und zwar im Schloss Schönbrunn sowie im Palais Lichtenstein. ab 4. März Sky

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12 . & 13. April 2024 Marx Halle Wien

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Christoph Prenner

bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber

Screen Lights Die Rosen des Bösen

Schafft Sprache Wirklichkeit? Können wir durch das gesprochene oder geschriebene Wort den Dingen eine ganz bestimmte Bedeutung geben (und nehmen), sie in eine bestimmte Richtung lenken? Oder bildet Sprache die Wirklichkeit maximal ab, weil diese letztlich immer die Art und Weise konstituiert und prägt, wie wir kommunizieren und Sachverhalte benennen? Wie also verläuft die Wechselbeziehung zwischen Wort und Wirklichkeit? Eine abschließende Antwort auf diese Frage wird sicher noch die eine oder andere Kolumne auf sich warten lassen. Und doch geht sie einem – neben so vielem anderen – nach der Sichtung des letztjährigen Cannes-Gewinnerfilms »The Zone of Interest« nicht mehr aus dem Kopf.

Verschleiernde Wortwolken Die Sprache also. Es wird in dieser ziemlich freien Adaption des gleichnamigen Romans von Martin Amis durch Regisseur Jonathan Glazer zweifellos viel geredet von den Protagonist*innen – in erster Linie sind das der NS-Kommandant Rudolf Höß (Christian Friedel) und seine Frau Hedwig (Germany’s Finest: Sandra Hüller). Aber selten eben Klartext. Vielmehr wird die Realität des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, die sich direkt hinter den eigenen Grundstücksmauern abspielt, systematisch durch Worte verwischt, vernebelt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Da ist zunächst einmal die erschütternd euphemistische nationalsozialistische Sprachordnung, die die unbeschreibliche NeoNormalität gezielt unter den verschleiernden Wortwolken technokratischer Sachlogik zu verbergen sucht. Besonders deutlich wird dies in den dienstlichen Unterredungen von und mit Lagerleiter Höß, in denen mit nur scheinbar komplett unverfänglichen Vokabeln wie »Stücken« und »Ladungen« der industrielle Massenmord der »KL-Praxis« durchexerziert

wird. Nur folgerichtig also, dass das faschistische Vorzeigeleben auch im privaten Rosengarten Eden der Familie konsequent unter dem Aspekt der sprachlichen Ausblendung der Allgegenwart rauchender Schlote, gedämpfter Schreie und gelegentlicher Schüsse praktiziert wird. Selbstredend wissen alle um die höllischen Zustände jenseits der Mauer, sie haben sich nur durch systematisches Ausblenden der eigenen Sinne innerlich völlig davon distanziert und damit gleichgültig gegenüber dem Leid gemacht. Selbst wenn die Sippe das Geschehen im Lager denn einmal nicht gänzlich ausklammert, thematisiert sie es am Rande von Kindergeburtstagen und Kaffeekränzchen auf denkbar profanste Weise. Ohne nur ansatzweise Empathie für diese seelenlosen Biedermeier evozieren zu wollen, versteht es »The Zone of Interest« aber, uns nach und nach in den Bannkreis des Bösen zu ziehen – was einem spätestens in jenem schockierenden Moment bewusst wird, in dem man beim Zuschauen bemerkt, dass man ja selbst die ununterbrochene Geräuschkulisse des Grauens im Hintergrund stets ein wenig ausblenden muss, um verstehen zu können, was da im Haushalt vor sich geht. Uff.

Moralischer Prüfstand Glazer gelingt damit in seinem vierten Langfilm (sein radikales Sci-Fi-Delirium »Under the Skin« liegt auch schon ein Jahrzehnt zurück) etwas fürs Holocaust-Kino Unerhörtes. Oder besser: Ungesehenes. Denn der Brite mit jüdischen Wurzeln macht das Grauen auf beklemmende Weise gerade durch das erfahrbar, was nicht gezeigt wird. Als Gegenentwurf zur gängigen filmischen Aufarbeitung der Shoah verzichtet er gezielt darauf, den Lageralltag in möglichst erschreckenden und eindringlichen Bildern zu rekonstruieren, belässt es bei bloßen Andeutungen. Durch diese Abstraktion erlaubt, ja

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zwingt er uns gewissermaßen, uns selbst auf den moralischen Prüfstand zu stellen. Denn »The Zone of Interest« erzählt nicht unbedingt nur von der viel zitierten Banalität des Bösen. Mit enormer formaler und inhaltlicher Strenge illustriert Glazer auch die mentalen Verrenkungen, die Menschen auf sich nehmen, um sich vor verstörenden Wahrheiten zu schützen. Weil diese Taktik aber zu einigen der grauenvollsten Momente in der Menschheitsgeschichte geführt hat und weil das Grauen auch nur einen Steinwurf entfernt sein kann, ist es eben von entscheidender Wichtigkeit, wie wir mit Ungerechtigkeit umgehen. Ob wir hin- oder wegschauen. Ob wir handeln oder uns taub stellen. Diese (hoffentlich nicht zu) subtil vermittelte Erkenntnis könnte in einer wieder einmal beängstigenden Zeit aktueller kaum sein. Einer Zeit, in der völkische Eliten allen bitteren Ernstes widerwärtige Vertreibungsfantasien in die Welt setzen, einer Zeit, in der die ekelhafte alte Fratze des Antisemitismus quer durch alle Bevölkerungsschichten bis tief hinein in sich progressiv wähnende Kreise wieder salonfähig geworden zu sein scheint. Einer Zeit, in der wir letztlich alle Tag für Tag den Tunnelblick bemühen, um gewisse unangenehme Realitäten auszublenden. Einer Zeit, in der diese selektiven Wahrnehmungen mit wohlfeilen Worten – Wirklichkeit, geschaffen durch Sprache eben – zurechtgebogen werden. Vielleicht wäre es auch an der Zeit für einen Reality Check – unserer Sprache, unserer Wahrnehmung. Und vielleicht ist dieser brillante Film, der sich nicht so einfach von der Seele wischen lässt, ein Anstoß dazu. prenner@thegap.at • @prennero Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Filmund Seriengeschehen.

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Luca Senoner, Leonine

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Nach »Anatomie eines Falls« ist Sandra Hüller als Hedwig Höß in der nächsten herausfordernden Rolle zu sehen.

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Luca Senoner, Leonine

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Politische Zeitumstellung?

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Termine Bühne

Kleine Geister

Franz Kafka: Amerika In Franz Kafkas epochalem Werk steht für den Protagonisten Karl Roßmann, der von seinen Eltern aus Europa vertrieben wird, Amerika nicht für die erhoffte Verheißung, sondern für sozialen Abstieg. Als Solo-Performance bringt Schauspieler Philipp Hochmair Kafkas Romanfragment auf die Bühne und überlagert dabei Mythen, Projektionen, Fakten und Fantasie. Die Reise Roßmanns findet im Kopf statt, während Hochmair zwischen verschiedenen Figuren wechselt und Kafkas Werk als ein Phantasma einer Solotour-de-Force präsentiert. 2. März Wien, Das Muth

Venus im Pelz Leopold von Sacher-Masochs gleichnamige Novelle aus dem Jahr 1870 erforscht die Dualität von Genuss und Grausamkeit, Herrschaft und Unterwerfung; die Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität in zwischenmenschlichen Beziehungen. In der Dramatisierung von Azelia Opak, die als Kooperation mit Divercitylab uraufgeführt wird, werden Machtverhältnisse hervorgehoben, utopische Emanzipationsversuche in der Geschlechterdynamik untersucht und damit philosophische Fragen zu Liebe, Rationalität und Fantasie aufgeworfen. 7. bis 10. März Wien, Theater Nestroyhof / Hamakom

Troll – The Dark Triad How Do You Was macht ein Cowboy, wenn es keine Kühe mehr gibt?« In der Wiederaufnahme der Performance »How Do You« von Nora Jacobs steht der Western als populärkulturelles Phänomen im Fokus. Hier spielt jedoch abseits heteronormativer Männlichkeitsbilder und American-Frontier-Mythen eine weiße Frau einen Mann namens Cowboy Cowdy, der sich als Dragqueen verkleidet und das Nichtstun als Vollzeitmüßiggänger praktiziert. Begleitet von den Pferden Severin(e) und Alex erforscht Cowboy Cowdy humorvoll das Scheitern und stellt philosophische Fragen zum Nichtstun als mögliche Form der Revolution. Eine ironische Reflexion über die Herausforderungen und Möglichkeiten einer Neugestaltung des Cowboy-Images. 21. bis 24. Februar Wien, Brut im Metro Kinokulturhaus

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Ein ehemaliges Performancekollektiv versammelt sich zu einer letzten Podiumsdiskussion, um die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Anstatt Reue und Reflexion zu zeigen, entlarven die drei Darsteller*innen einander als Betrüger*innen. In einer absurd-fantastischen Wendung werden sie zu ausgewachsenen Trollen, die Menschen verwirren, verärgern und Falschnachrichten verbreiten. Als Abschluss einer »Trilogy of the Broken« thematisiert das Stück im Superwahljahr 2024 die Dynamik von Manipulation durch Fiktion. 21. März bis 27. April Graz, Theater am Lend

Bettina Frenzel, Sarah Tasha Hauber, Viktoria Schaberger

Die Handlung von »Keeping up with the Penthesileas« spannt einen Bogen von den griechischen Mythen, als Penthesilea und ihre Amazonen ein Reich beherrschten, bis zur Jetztzeit, in der »Girlbosses« wie Kris Jenner und ihre Töchter das Reich der Selbstvermarktung und des Product-Placements dominieren. Männer sind hier nur als »Baby-Daddys« im Hintergrund der perfekt inszenierten Ikonen präsent. Als »quasimythologische Remythifizierung« werden im Theatertext von Thomas Köck und Mateja Meded, der unter der Regie von Anna Marboe in Österreich erstaufgeführt wird, zentrale Fragen aufgeworfen: Wie viel Pink- und Greenwashing verträgt der Feminismus? Und wo liegen eigentlich die Grenzen der FLINTA*-Solidarität? bis 2. März Wien, Kosmos Theater

Oliver Maus, Manuel Fronhofer, Bernhard Frena

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Keeping up with the Penthesileas

Die Satire über politische Machenschaften in Österreich erzählt die Geschichte von Urban, dem ehemaligen Mitarbeiter einer österreichischen Partei, dessen Selbstmord in der Hölle endet. Um ewige Qualen zu vermeiden, wird er als Dämonenlehrling gezwungen, seiner Partei zum Wahlerfolg zu verhelfen. Mit Hang zum Surrealistischen treten hier unter anderem ein philosophierender Teufel, zwielichtige Hintermänner, kompromittierende Festplatten und sprechende Katzen auf. Bezüge zur Wirklichkeit sind wohl kein Zufall. 23. Februar bis 21. März Salzburg, Schauspielhaus

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Service Notizen Glossar

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The Gap 158 August / September 2016 Fifty Shades of Brown und das erste Heft in einem neuen Look. ———— Ein Exemplar aus der jüngeren Geschichte von The Gap – und jene Ausgabe, bei der unsere damaligen Designer Sig Ganhoer und Erli Grünzweil das Heft einem Rebrush unterzogen haben, der heute noch nachwirkt. Es war die chefredaktionelle Ära von Amira Ben Saoud und am Cover prangte ein Farbfächer, der recht einschlägig rechts daherkam. Für die zugehörige Story beschäftigte sich Thomas Stollenwerk mit der visuellen Ebene rechter Politik: von visueller Folklore für die Eingeweihten bis hin zu einem bewusst unauffälligen Look für die Mobilisierung im Mainstream. Thomas Weber wiederum spekulierte in seinem Leitartikel darüber, ob Sankt Pölten als mögliche Kulturhauptstadt 2024 aus dem Schatten Wiens würde treten können. Hm. Vielleicht klappt es ja mit dem Nachfolgeprojekt Tangente St. Pölten? Wir bleiben dran, versprochen! Und weil Sommer war, gab’s auch einen Text zu 50 Jahre Cornetto. »Lecko mio!«

Café Frame

Cinema Paradiso

Nahe dem Augarten in Wien und trotzdem weit entfernt vom Spießbürgertum findet sich das Kunst- und Kultur-Café Frame. Ein Szenetreff. Aber für die gute Szene. Jägerstraße 28, 1200 Wien

Am Anfang stand eine Open-AirVorstellung von Giuseppe Tornatores »Cinema Paradiso« am St. Pöltner Domplatz im Jahr 1994. Es rechneten wohl die wenigsten damit, dass sich daraus mal eines der spannendsten Programmkinos Österreichs entwickeln würde. Mittlerweile ist das Cinema Paradiso ein Fixum der Kulturszene in der niederösterreichischen Landeshauptstadt. Seit 2002 werden hier Filme mit Anspruch, aber ohne An­ maßung gezeigt. Und nach dem Film noch ein Besuch in der Bar – natürlich nur zur The-Gap-Lektüre! Rathausplatz 14, 3100 Sankt Pölten

Superbude Wien »Hotel-Komfort trifft Hostel-Vibe trifft Home-Feeling« – die Superbude Wien verspricht einiges. Allein die Themenzimmer (»AustropopBude«) sind einen Besuch wert. Perspektivstraße 8, 1020 Wien

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Rechte Visual Identity

Americana bezeichnet einerseits kulturelle Artefakte, die rund um eine oft nostalgische Idee von US-amerikanischer Identität kreisen. Andererseits ist damit eine Musikrichtung an der Intersektion zwischen Blues, Country, Folk, Bluegrass, Soul und Rock gemeint. Arbeitsmigration beschreibt im weiteren Sinn jede Form der Migration zum Zweck der Arbeitssuche. Im engeren Sinn fallen insbesondere Gastarbeiter*innen unter den Begriff. Beatniks waren die Hippies, bevor es Hippies gab, beeinflusst nicht zuletzt von der literarischen Beat Gene­ ration, z. B. Allen Ginsberg, William S. Burroughs und Jack Kerouac. Content ist eine Bezeichnung für den homogenen Einheitsbrei, zu dem mediale Formate zunehmend verkommen, wenn es nur noch darum geht, dass Inhalte produziert werden, aber nicht mehr darum, was diese Inhalte sind. Cthuluzän wurde von Donna Haraway in ihrem 2016 erschienenen Buch »Unruhig bleiben« als Gegen­entwurf zum Anthropozän vorgeschlagen. Sie entwickelt darin Ideen aus ihrem bekannten Essay »Ein Manifest für Cyborgs« weiter. Feministischer Kampftag (früher auch Frauen-Lesben-Mädchen-Kampftag) ist ein alternatives Framing für den internationalen Frauentag, das sich bewusst auf seine aktivistischen Wurzeln bezieht. Kassetten oder Tapes sind ein überholtes Audiomedium, das aktuell merkwürdigerweise wieder in Mode ist. Moshpits erhöhen Verletzungsrisiko und Männerschnitt auf der Tanzfläche exponentiell. Bezeichnet die kreiförmige Fläche, die sich aufspannt, wenn Leute tanzend gegeneinander rammen. Besonders verbreitet in Punk und artverwandten Musikrichtungen. (Orgel-)Register sind Reihen von Pfeifen einer Orgel, die durch ziehen von Knäufen namens Registerzügen zugeschaltet werden können. Ursprung der Phrase »alle Register ziehen«. Situationship bezeichnet eine Beziehungsform, die über eine platonische Freund*innenschaft hinausgeht, aber keine reguläre romantische Beziehung darstellt. Vergleichbar mit Friends with benefits.

Wo gibt’s The Gap?

N° 158

AUSGABE AUGUST / SEPTEMBER 2016 — THE GAP IST KOSTENLOS UND ERSCHEINT zwEIMONATLICH. VERLAGSPOSTAMT 1040 wIEN, P.B.B. | Gz 05z036212 M

Gewidmet all denjenigen, die beim Lesen auf die eine oder andere Wissenslücke gestoßen sind.

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Josef Jöchl

artikuliert hier ziemlich viele Feels

Wenn du einen neuen Job beginnst, gibt es immer eine Probezeit. Einen Monat lang hast du Zeit zu entscheiden, ob der Arbeitsweg, die Kaffeesituation und die Leute zu dir passen. Wenn nicht, kannst du ohne Weiteres gehen, Tür auf und Tschüss. Das ist gesetzlich so geregelt. Beim Dating ist das nicht so einfach. Wenn du jemanden kennenlernst, hast du ungefähr zwei oder drei Monate. Die Alltagstauglichkeit der Öffis und des Kaffees hast du spätestens nach einer Woche gecheckt. Schwieriger ist es jedoch mit den Leuten. Kaum ist irgendein Wochenendtrip ausgemacht oder ein Geburtstag in Reichweite, brauchst du besondere Gründe um aus der Nummer wieder rauszukommen. Wenn nicht, wird es messy. Aber du kannst eben nicht ewig in der Probezeit verweilen. Sonst kriegst du nie einen Thalia-Gutschein zum Fünfjährigen – oder wie man die Meilensteine in einer romantischen Beziehung sonst angemessen würdigt. Erst unlängst befand ich mich selbst in diesem rechtlichen Graubereich. Zweieinhalb Monate hatte ich bereits mit einem potenziellen Partner angebandelt. Es sah gut aus. Doch je näher die Deadline rückte, desto schwerer fiel mir zu entscheiden: Was machte ich hier eigentlich?

Define the Relationship Deshalb war auch der Flow etwas ins Stocken geraten. Zwar gingen wir immer noch essen und danach in eine Bar, aber wir fragten uns dabei auch immer noch, wie lange wir schon wohnten, wo wir wohnten, wie unsere Geschwister hießen und was in unserer Kindheit schiefgelaufen war. Wir steckten in der Kennenlernphase fest. Meine notorische Entscheidungsschwäche tat ihr Übriges dazu. Sie ließ mich schon einige Male vor dem Startscreen von Netflix, auf der Veganista-Theke und im

Humanic auf der Mariahilfer erschöpft zusammenbrechen. Banale Dinge wie die Frage, ob ich zu Hause bleiben oder ausgehen soll, brachten mich regelmäßig fast um. Sogar mein Blut ist unentschlossen und lässt sich universell spenden, weshalb meine Blutkörperchen niemals mit anderen verklumpen werden. Aber würde auch mein Körperchen als Ganzes niemals mit einem anderen verklumpen? Die Folgen könnten in beiden Fällen lebensgefährlich sein. Ich nahm mir fix vor, eine klare Entscheidung zu treffen und in einem offenen Gespräch unseren Beziehungsstatus zu klären: Situationship, Freundschaft plus, Lebensgemeinschaft, Freundschaft, Kollegen oder doch Golden Handshake? Denn »Defining the Relationship« – kurz DTR – ist immer mit einer Entscheidung verbunden.

Am besten nur Ich-Botschaften Wie ich das Gespräch angehen sollte, recherchierte ich im Internet. Es gibt dafür sogar ein eigenes Wikihow. Doch selbst unter präziser Anleitung hatte ich Schwierigkeiten, mich zu öffnen. Das mit den Ich-Botschaften bekam ich noch hin, aber beim Überlegen, was ich eigentlich möchte, wie ich es im Gespräch rüberbringe und wie er sich wohl fühle, schmiss es mich komplett auf. Als wir uns im Café Savoy trafen, fand ich es deshalb viel passender, kein schwieriges Gespräch zu führen, sondern stattdessen sechs große Bier zu trinken. Als wir Stunden später in seiner Küche saßen, hatte ich noch immer kein Wort herausgebracht. Irgendwann fragte ich aber doch sehr zögerlich, was wir hier eigentlich aufführten, und begann im selben Moment detailreich abzuwägen, was für oder gegen eine Beziehung sprach, bis ich mich in absoluter Ratlosigkeit auflöste. Doch dann überraschte er mich. »Josef, du triffst dich seit drei Mona-

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ten mit mir. Du trinkst sechs Bier mit mir. Du steigst mit mir ins Taxi. Du kommst mit in meine Wohnung. Wenn du nicht hier sein willst: Da ist die Tür!« Ein absoluter Banger. Diese unmissverständliche Klarheit beeindruckende mich tief. In der Sekunde entschied ich, dass die Probezeit beendet und DTR erledigt war. Beim Einschlafen wunderte ich mich, warum ich mich überhaupt so angestellt hatte.

Ende der Probezeit Erst ein paar Wochen später stellten wir gemeinsam fest, dass wir uns einander doch nicht dauerhaft verpflichten würden. Wir hörten aufm uns zu treffen, und es passte so. Wenn du einem DTR-Moment aus dem Weg gehst, holt er dich eben irgendwann ein. Du kannst dich halt nicht nicht entscheiden, in der Liebe und im Leben überhaupt. Wenn du an einem Samstag auf der Ringstraße mit Clownsperücke und Österreichfahne um die Schulter in eine Corona-Demo spazierst, kannst du schwer sagen: »Sorry, ich gehe hier ganz bestimmt auf keine Corona-Demo, ich spaziere hier nur völlig unabhängig von der Corona-Demo um mich herum mit Clownsperücke und einer Österreichfahne auf der Ringstraße.« Face it: Du warst trotzdem auf einer Corona-Demo. Anderes Beispiel: Im Frühjahr wählt Europa. Wir alle können wieder mitentscheiden, wer den Eurovision Song Contest gewinnt. Wir sollten uns entscheiden, damit auch unsere Mitmenschen Klarheit haben. Haben wir allerdings ein kleines Issue mit mittelmäßiger europäischer Popmusik oder Intimität und Angst vor Nähe, dann tun es andere für uns. joechl@thegap.at • @knosef4lyfe Josef Jöchl ist Comedian. Sein aktuelles Programm heißt »Die kleine Schwester von Nett«. Termine und mehr unter www.knosef.at.

Ari Y. Richter

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Sex and the Lugner City Ob du wirklich richtig stehst, siehst du, wenn das Licht angeht

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