Jenny, unsichtbar

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Jenny, unsichtbar Eine Schulgeschichte von Marie Ting


Ăœber die Autorin Marie Ting war von 2010 bis 2012 Teach First Deutschland Fellow an einer Gesamtschule in ThĂźringen. Illustration: Marie TIng


J

enny ist die Königin der Unsichtbarkeit. Sie geht in die 6. Klasse, und dort treffen wir uns zum ersten Mal, besser gesagt: Sie trifft mich. Zwar betreue ich ihre Klasse bei der Projektwoche, sie aber nehme ich nicht wahr. Wo hat sie gesessen in dieser Projektwoche? In welcher Gruppe hat sie gearbeitet? Ich weiß es nicht mehr. Zu dominant sind die Klassenkameraden, zu viele buhlen um meine Aufmerksamkeit, sind laut, fröhlich, meinungsstark. Zwei Wochen nach der Projektwoche eilte ich durch das Treppenhaus, Blätterstapel und Tüten durch das lärmende Schülergedränge bugsierend. Auf einem Treppenabsatz zieht eine stark parfümierte Gruppe von Zehntklässlerinnen an mir vorbei. Plötzlich höre ich eine leise Stimme: „Ähm, hallo Frau Ting?“ Ich sehe ein kleines Gesicht vor mir, spitze Nase, grüne Augen, blass, kurze dunkle Haare. „Hallo!“, antworte ich und spüre, wie mir ein Zettel in die Hand gedrückt wird. „Tschüssi Frau Ting“, höre ich noch und blicke dem wippenden rosa Rucksack hinterher, während ich immer noch versuche, dem Gesicht einen Namen zuzuordnen. „Für die allerbeste und schönste Lehrerin der Welt: Frau Ting.“, lese ich später auf dem


zusammengefalteten Blatt Papier und muss lächeln. Auf der Innenseite eine Manga-Bleistiftzeichnung eines schüchternen Mädchens im kurzen Rock, das einen Blumenstrauß hinter dem Rücken hält. Am Rande des Blattes steht der Name der kleinen Künstlerin, die Buchstaben so winzig, dass sie kaum lesbar sind: Jenny. Auf dem Nachhauseweg denke ich immer wieder an die bisher unsichtbare Jenny und versuche mich zu erinnern, welche Antwort sie in der Projektwoche auf die Frage „Was würdest Du befehlen, wenn Du König wärst?“ präsentiert hat. Viele starke, witzige, anrührende Antworten ihrer Klassenkameraden sind mir noch lebhaft in Erinnerung, fast alle. Jennys ist nicht dabei. „Du liebst Perlen, Ketten und Ringe? Du möchtest gern selbst Schmuck basteln? Dann komm in die Schmuck AG. Immer dienstags nach der sechsten Stunde im Raum der Stille“, steht auf den bunt bedruckten Seiten, die ich in der Schule aufhänge. Während ich den Tesafilm abreiße, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie sich jemand nähert. Jenny, die Hände rechts und links in ihre Rucksackträger gehakt. „Hey Jenny! Danke für Dein liebes Bild! Ich hab` mich total gefreut!“ Sie schaut überrascht


auf: „Wirklich?“ „Ehrlich, das war eine echte Überraschung! Ich wusste gar nicht, dass dir die Projektwoche so gefallen hat.“ Sie schweigt und guckt mir ruhig und abwartend ins Gesicht. Wie ernst sie ist. Sie schaut mir weiter direkt in die Augen, findet offensichtlich nicht, dass diese Feststellung einer Antwort bedarf. Später merke ich, dass das typisch Jenny ist: Der feste Blick, die volle Konzentration auf das Gegenüber, das Schweigen. „Vielleicht gefällt Dir ja auch die Schmuck-AG?“ Ich erzähle ihr von dem neuen Nachmittagsangebot, sie zeigt sich zurückhaltend. „Vielleicht“, sagt sie, als ich frage, ob sie nächste Woche kommt. Irgendetwas an der kleinen Person irritiert mich. „Tschüssi Frau Ting“, beendet sie das Gespräch abrupt. Im nächsten Augenblick hat sie sich auch schon herumgedreht und verschwindet in der Tür. Dienstag wartet vor dem Raum der Stille ein Pulk kleiner Mädchen auf mich. „Sie kommt! Sie kommt!“, jauchzen die Mädchen, vornehmlich Grundschulkinder. Jenny ist nicht dabei.


Am nächsten Dienstag spreche ich in der Pause mehrere Mädchen der 6. Klasse an. Wer Lust hätte, am Nachmittag Schmuck zu basteln? Am Rande der Mädchengruppe steht Jenny. Nachmittags findet die Schmuck-AG mit zwölf Mädchen statt. Eine Teilnehmerin ist krank, dafür hat sich die Gruppe um drei Schülerinnen der 6. Klasse erweitert. Jenny und zwei Mitschülerinnen. Die Mädchen der 6. Klasse sitzen zusammen an einem Tisch und lernen rasch das Handwerk. Sie reden vornehmlich miteinander, die Stimmung ist fröhlich. Als das Ende der Stunde naht, verlassen die Grundschülerinnen wie in der Woche zuvor schlagartig den Raum – sie müssen ihren Bus erreichen. Beim Verstauen der Perlen helfen mir die großen Mädchen. Besonders Jenny lässt sich Zeit, sortiert nach Farben und Formen und lauscht dem Gespräch der anderen beiden. Während die Mitschülerinnen in den kommenden Wochen den Spaß am Aufräumen verlieren, sitzen Jenny und ich häufig noch eine Weile im Raum und sortieren, wickeln Bänder auf, suchen Perlen auf dem Boden. „Du kannst ruhig auch nach Hause gehen!“,


ermuntere ich sie. „Och nö, mir macht das hier Spaß, ich bleibe gern.“ Während sie kleine gelbe Perlen aufpickt, beobachte ich sie. Sorgfältig und schnell hantiert sie mit den Schachteln, voll konzentriert. Das schmale, blasse Gesicht ist ernsthaft. „Wartet denn keiner zuhause auf Dich?“, frage ich, während ich die Fenster schließe. „Och nö, eigentlich nicht“, sagt sie. „Ich bin nach der Schule immer alleine.“ Eine beiläufige Feststellung, kein Heischen um Mitleid, eine ehrliche, arglose Antwort, kein Blick zu mir. „Oh“, sage ich und merke, wie ihre Worte mich unvermittelt kalt berühren. Ohne es wirklich zu begreifen, spüre ich die Andersartigkeit, die Jenny umgibt: Bodenlose Traurigkeit. Nur grob und behelfsmäßig unter dem Alltagsgebaren eines Kindes versteckt. „Müssen denn Deine Eltern immer arbeiten?“, frage ich und komme mir dabei plump und anbiedernd vor. „Meine Eltern sind getrennt, ich lebe bei meiner Mutti“, sagt Jenny. „Und die ist nie da?“ wiederhole ich ihre Aussage. „Wo ist sie denn immer?“


„Och, bei Freunden oder sie arbeitet da in so ´ner Kneipe oder Restaurant oder so.“ Sie fragt mich nach einer Tüte für ihre fertige Kette, schlüpft in ihre Jacke und ist weg. „Tschüssi, Frau Ting.“ Am Dienstag danach wärmen Märzstrahlen unseren Bastelraum. Wie immer schnattert die Gruppe fröhlich durcheinander. Als sich das Gespräch um Lieblingsspeisen dreht, erzählen die Mädchen, was sie sich zu besonderen Festtagen wünschen: Kartoffelpuffer die eine, SmartiesKuchen die andere, selbstgemachte Pizza die nächste. Als Jenny gefragt wird, sagt sie, dass ihre Mutter nie kocht. Während es still wird, wird sich Jenny der plötzlichen Aufmerksamkeit bewusst. „Ich mache uns meistens was“, sagt sie hastig und wird von den anderen in den nächsten Minuten mit Fragen zu ihren Fähigkeiten in der Küche gelöchert. Wenig später geht es bei den großen Mädchen um die Frage, wie lange sie aufbleiben dürfen. Als Jenny gefragt wird, lässt ihre Antwort die Klassenkameradinnen erneut staunen: „Ich würde gerne früher schlafen, aber meine Mutti macht immer so laute Musik an.“ Bereits


an den Nachmittagen zuvor habe ich Satzfetzen aufgeschnappt, die mich aufmerken werden ließen. An diesem Tag fahre ich aufgewühlt von der Schule nach Hause. Jenny hat mir nach der Stunde von zuhause erzählt, vielmehr die Fakten so ruhig und abgeklärt berichtet, als wäre es die Geschichte eines anderen Mädchens. Ich schreibe diese Geschichte auf, aber sie ist Realität. Jenny hat sie aus der Ich-Perspektive erzählt. „Ein elfjähriges Mädchen wohnt mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung im dritten Stock einer Plattenbau-Siedlung. Die Mutter arbeitet gelegentlich in einer Kneipe und trifft sich sonst am liebsten mit Freundinnen. Sie gehen zusammen auf Parties oder treffen andere Freunde. Die Mutter schließt das Mädchen dann oft ein und kommt irgendwann nachts betrunken und polternd nach Hause. Manchmal kommt sie auch erst am nächsten Morgen wieder. Wenn die Mutter zuhause ist, hat sie meistens auch Besuch von Freunden. Das Mädchen hört, wie die Erwachsenen über Ausländer schimpfen und sieht die schwarzen Stiefel. Die Nachbarin hat geschimpft, dass das Nazi-Musik sei, was da oft so spät nachts noch


laut läuft. Viele der Freunde haben Tattoos oder T-Shirts mit Hakenkreuzen und manchmal rufen sie auch das kleine Mädchen ins Wohnzimmer. Das Mädchen hasst das, weil die Freunde dann komische Witze machen, die das Mädchen nicht versteht. Die Mutter lacht genauso laut wie die Freunde über die Witze. Abends hört die Mutter dann oft alleine oder mit ihren Freunden laute Musik und das Mädchen kann nicht einschlafen. Sie versucht, sich mit dem Kissen die Ohren zuzuhalten. Wenn sie es nicht mehr aushält, steht das Mädchen auf und sagt der Mutter Bescheid. Meistens wird sie dann angebrüllt. Morgens soll das Mädchen die Mutter immer wecken, sie steht vor ihr auf. Weil die Mutter nicht aufstehen will und das Wecken hasst, schreit sie ihre Tochter oft morgens schon wieder an. In der Schule hat das Mädchen dann meist Probleme, sich zu konzentrieren, weil sie durch den Lärm der Nacht müde ist und das morgendliche Angebrülltwerden noch im Kopf hat. Das geht irgendwie gar nicht aus dem Kopf weg, sagt das Mädchen. Erst so nach der großen Pause kann ich mich dann besser konzentrieren, weil ich nicht mehr so doll dran denke. Wobei, ich denke gar nicht so dran, aber irgendwie doch,


sagt sie nachdenklich. Ich bin auch so gerne in der Schule irgendwie, weil hier alle nett sind, naja in meiner Klasse nicht alle, aber die Lehrer halt. Außerdem ist es hier irgendwie sauber und hell und schön. Nach der Schule ist das Mädchen dann meistens alleine. Damit etwas zu essen da ist, gehen die Mutter und das Mädchen manchmal zusammen einkaufen, aber meistens macht das Mädchen das allein. Öfter mal kauft sie dann Toastbrot und Wurst zum Mittagessen von ihrem Taschengeld, weil sonst nichts da ist. Manchmal gibt sie ihr Taschengeld aber zum Beispiel für ein Geodreieck oder ein neues Heft aus, weil das einfacher ist, als die Mutter um Geld zu bitten. Dann macht sie den Haushalt. Ich will halt auch, dass es ein bisschen sauber ist, sagt sie. Und: Ich bin viel zu klein für das alles, aber ich muss das ja machen. Einmal hat sie ihrer Mutter einen Brief geschrieben, wie es ihr geht. Die Mutter hat ihr daraufhin eine Ohrfeige gegeben und gedroht, dass sie sie verprügelt, wenn sie noch mal so einen Brief schreibt.“ Eine eiskalte Hand hat um mein Herz gefasst und ich muss Jenny sofort umarmen. Sie lässt es zu, lehnt den Kopf an mich, bleibt steif. Während ich um Fassung ringe, bin ich mir sicher,


dass ihr Gesicht nass ist. Doch als sie nach der Umarmung den Kopf hebt, ist das kleine, blasse Gesicht trocken. Der Blick ist gefasst, erwachsen, tieftraurig und gänzlich resigniert. Während der Heimfahrt versuche ich, meine Gedanken zu ordnen. Jenny hat beiläufig auch von ihrem Vater erzählt, bei dem sie gerne wohnen würde. „Wir verstehen uns total gut und er schreit auch nie. Ich gehe öfter mal am Nachmittag zu ihm, aber das mag die Mama nicht so. Er hat schon probiert, mich zu sich zu holen“, sagte Jenny, „aber irgendwie klappt das beim Jugendamt nicht.“ Bei nächster Gelegenheit spreche ich mit Jennys Klassenlehrerin. Diese sieht die Situation klar vor sich, weiß jedoch auch, dass seitens der Schule nur wenig getan werden kann. Wir diskutieren darüber, ob hier ein Fall von Kindsmisshandlung vorliegen könnte. „Jenny kommt ja immer sauber und pünktlich in die Schule, da können wir nichts Auffälliges zu Protokoll geben“, sagt sie und ich stelle bitter fest, dass ausgerechnet Jennys Stärke und Selbstständigkeit die Situation verschleiert. Die Klassenlehrerin bemüht sich seit geraumer Zeit um einen Gesprächstermin mit Jennys Mutter. Aus ihrer


Sicht müsste in erster Linie der Vater stärker in Erscheinung treten und um Jenny kämpfen. „Aber diese Aufgabe können wir ihm nicht abnehmen!“, sagt sie. „Bei Paaren gibt es ja da oft so ein Ungleichgewicht“, philosophiert sie. „Der Vater stand immer unter der Fuchtel seiner Frau. Sie ist laut und ungeduldig, er ist ruhig und träge. Er ist so ein richtiger... Schluffi!“, sagt sie. Ich rege an, Jennys Fall mit in die Sitzung der „Beratungslehrer“ zu nehmen. In dieser Sitzung sitzen Lehrer unserer Schule mit dem Jugendamt an einem Tisch, um präventive Fallmaßnahmen und Handlungsmöglichkeiten zu besprechen. Die nächste Sitzung findet in zwei Wochen statt. Wenige Tag später sehe ich Jenny zufällig in der Pause, sie stellt sich kurz zu mir und berichtet, dass ihre Mutter ihr gestern gesagt habe, dass sie mit ihr aus Thüringen wegziehen wolle. Mir stockt der Atem. „Willst Du das denn? Und wohin überhaupt?“ „Nach Brandenburg“, sagt Jenny - und will natürlich nicht mit. Schon am Nachmittag treffe ich Jenny nach der Schule wieder. Sie sitzt auf der Schultreppe, wo die anderen Kinder darauf warten, von ihren Eltern abgeholt zu werden. Jenny beschäf-


tigt sich mit ihren Hausaufgaben. Ich setze mich neben sie und mache mit ihr Deutschhausaufgaben. Dabei erfahre ich von ihren schlechten Schulnoten, vor allem in Deutsch ist sie kurz vor einer Fünf. Während ich mit ihr arbeite, folgt sie aufmerksam und flink meinen Erklärungen. Ich frage sie gar nicht erst, woher die schlechten Noten kommen – es liegt auf der Hand. Stattdessen scherzen wir nach den Hausaufgaben, ich lese ihr etwas vor, wir reimen zusammen und lachen über unsere eigenen albernen Reime. Dann will Jenny gehen. „Nach Hause?“, frage ich. „Nein, zu meinem Vater“, sagt Jenny. Ich frage, ob sie mir seine Nummer geben könnte. Sie gibt sie mir. „Warum?“, möchte sie dann nachdenklich wissen. „Weil ich gerne mit ihm über Dich und Deine Situation sprechen möchte“, sage ich wahrheitsgemäß. „Komm doch einfach mit“, sagt Jenny, „Ich gehe ja jetzt zu ihm!“ Auf dem Weg zu Jennys Vater streite ich mit mir selbst: Darf ich das überhaupt? Vor der Haustüre angekommen, klingelt


Jenny. Jenny klingelt an der Tür des Vaters, niemand öffnet, doch in der Erdgeschosswohnung bewegt sich der Vorhang. Ich warte draußen, während sie die Wohnung betritt und mit ihrem Vater spricht. Ich höre, wie der Vater drinnen mit rauer Stimme spricht. Nach kurzer Zeit tritt Jenny zu mir heraus und sagt, dass es ihrem Vater lieber wäre, wenn er mich mal in der Schule besuchen könnte. „Natürlich“, sage ich. „Sag ihm schöne Grüße und dass ich mich freue, wenn er kommt!“ „Tschüssi, Frau Ting!“, sagt die kleine Gestalt wie immer und geht zurück ins Haus. Am nächsten Tag schließe ich gerade den Klassenraum ab, als unerwartet ein Mann vor mir steht. Unsicher drückt er meine Hand, stellt sich vor, entschuldigt sich: Jennys Vater. Ich bin überrascht – und begrüße ihn herzlich und erfreut. Relativ schnell möchte er wissen, worum es geht. „Ach, ich wollte einfach gerne mit Ihnen über Jenny reden, weil sie mir am Herzen liegt“, sage ich. Ich betrachte ihn, einen einfachen Mann, dem man ansieht, dass er fernab des Bildungsbürgertums sein Leben zwischen Gelegenheitsjobs und Kneipenbesuchen verbringt. Ein großer,


trauriger Bär, träge in den Bewegungen, ungelenk im Leben. Er ist nervös, tritt von einem Bein auf das andere, guckt sich um. Das Angebot, Kaffee zu trinken oder sich hinzusetzen, lehnt er ab. „Jenny ist seit dem Beginn der Schmuck-AG dabei und so engagiert bei der Sache! Außerdem ist sie eine der zuverlässigsten Teilnehmerinnen, wirklich toll!“ Kurz macht sich deutliche Erleichterung in seinen Gesichtzügen breit. Ich muss lachen und stelle klar, dass ich nicht mit ihm über Jennys schulische Leistungen reden wollte. Er entspannt sich sichtbar. „Mir geht es um etwas anderes“, sage. „Jenny hat – glaube ich – Vertrauen zu mir gefasst“, sage ich vorsichtig. „Ja“, sagt er, „die Jenny hat schon erzählt, dass sie sich immer auf dienstags freut und gerne mit Ihnen redet.“ „Ja, und neulich hat sie mal ein bisschen von zuhause erzählt.“ Er fängt an, mit dem linken Fuß auf dem Boden Kreise zu ziehen. „Glauben Sie, dass Jenny im Moment glücklich ist?“, frage ich vielleicht etwas zu forsch. „Naja, nee, glücklich ist die nicht. Aber die Mutter kümmert sich ja auch nicht richtig!“ Ein Redeschwall bricht los. Es wird deutlich, dass er von „der Mutter“ nicht viel hält. Gleichzei-


tig würde er gerne mit Jenny zusammen wohnen. Er habe schon mit dem Jugendamt gesprochen, aber, nun ja, das sei halt die Mutter und da stünde Aussage gegen Aussage. Als Vater sei es immer schwer, Recht zu bekommen. Er spricht viel im Konjunktiv: würde, hätte, könnte. Nach einem Jugendamtbesuch hat er die Sache auf sich beruhen lassen. Ich berichte ihm einiges von dem, was Jenny erzählt hat. Seine Augen werden größer und ich sehe, wie ihn das Erzählte mitnimmt. „Echt?“, stammelt er. „Ja!“, sage ich und setze hinzu, dass ich selbst natürlich nur aus Gesprächen mit Jenny berichten könne. „Aber die lügt nicht!“, sagt er spontan. „Ich glaube wirklich, dass es nur jetzt die Chance gibt, größeren Schaden für Jenny zu vermeiden. Die Mutter will mit ihr wegziehen – und ich glaube, dass Jenny daran zugrunde gehen würde.“ Er hört zu, sprachlos. Ich formuliere, dass die Schule sich wünscht, dass er sich stärker für seine Tochter einsetzt. „Wir können das an der Stelle nicht tun. Wir können uns nur wünschen, dass Sie es tun!“ sage ich und frage mich innerlich, ob ich es verantworten kann, eine solche Behauptung „im Na-


men der Schule“ zu tätigen. Darf Schule so klar Stellung zwischen Elternteilen beziehen? Mit Sicherheit nicht. Dennoch relativiere ich meine Worte nicht. Ich merke, dass sie Eindruck auf ihn machen. „Danke für das ehrliche Gespräch“, sagt er, als er mir zum Abschied die Hand schüttelt. „Ich wusste ja nicht, dass es so schlimm ist!“, nuschelt er dabei betroffen. In der Beratungslehrersitzung stelle ich alle Informationen vor, die ich zusammengetragen habe. Die Vertreterin des Jugendamtes verspricht, diese Informationen hausintern entsprechend weiterzugeben. Wenige Wochen später fliegt Jenny mir in die Arme: „Ich darf jetzt bei Papa wohnen! Und Mama zieht alleine nach Brandenburg!“, ruft sie. Einige Monate später, mein Felloweinsatz ist mittlerweile beendet, telefonieren wir miteinander. „Oh, so gut! Weißt Du was, ich hab sogar schon zugenommen!“ ist das erste, was sie mir auf die Frage, wie es ihr geht, stolz antwortet. „Papa kocht ja jetzt auch für mich! Und ich gehe immer um neun ins Bett, und wir dekorieren die Wohnung zusammen. Und ich geh` jetzt zum


Flossenschwimmen!“, reiht sie die wichtigen Veränderungen aneinander. Ihre Freude springt auf mich über, ich muß lachen. „In der Klasse habe ich jetzt eine Auszeichnung bekommen, weil sich meine Noten so verbessert haben – und weißt Du was? Ich bin heute als Klassensprecherin gewählt worden! Und irgendwie hab´ ich total viele Freunde in der Klasse!“ Ein andächtiges Staunen liegt in ihrer Stimme. „Ach, es ist alles irgendwie so schön geworden Frau Ting!“, fasst sie zusammen. Tief in mir spüre ich, wie sich ein warmes Glücksgefühl langsam ausbreitet und mich ganz erfasst.


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