Schau rein: TAU Magazin ,frei sein lernen' Sept. 2023

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frei sein lernen

Inspirationen & Impulse aus dem Online-Bildungskongress

„Die Zeit ist reif!! Leben ohne Schule!?“

Körperforscherin Ilan Stephani , Filmproduzent Joshua Conens , Biologin & Therapeutin

Dagmar Neubronner, Expertin für Hochsensibilität

Cordula Roemer u. v. m.

plus : Buch- und Filmrezensionen, Übungen und aktuelle Bildungsinitiativen

www.tau-magazin.net Ausgabe 24 – 09/2023 11 €

Wir machen TAU:

Editorial

Liebe Leser*innen!

TAU Magazin für Barfußpolitik stellt seit 2011 lEBENsBEJAHENDE und KulTuRTRANsFORMIERENDE sichtweisen und projekte vor. In pERsÖNlICHEN Geschichten erzählen Menschen, was sie bewegt und was sie bewegen. Mit lIEBE gestalten wir, was uns wesentlich erscheint. Wir möchten damit Menschen inspirieren, politisches Engagement und selbsterfahrung zu verbinden. Immer mehr der spur unserer Freude zu folgen und neue Handlungsund spielräume zu erkennen und zu begehen, das wünschen wir uns & unseren leser*innen!

2022 wurde ich von Martina und Thomas Weihrich als Interviewpartnerin für ihren ersten Online-Bildungskongress angefragt. Die Anfrage kam überraschend, denn ganze fünf Jahre waren seit der Veröffentlichung des von mir mitherausgegebenen Buches „Lernen ist wie Atmen“ vergangen, in dem wir Erfahrungen, auch unsere eigenen, mit selbstbestimmtem Lernen gesammelt hatten. Das Thema Bildung hatte meinen Partner und mich seit der Geburt unserer ersten Tochter über Jahre intensiv begleitet. Wir wollten ihr den außerschulischen Weg ermöglichen, solange sie das wünschte, die Legalisierung des selbstbestimmten Lernens voranbringen, und nahmen dafür mehrere juristische Verfahren in Kauf. Als wir in ein Wohnprojekt zogen und unsere Tochter und unser Sohn sich entschieden, in eine freie Schule zu wechseln, war die Begleitung junger Menschen zwar in unserem Alltag weiterhin sehr präsent, jedoch zogen wir uns aus unserem aktiven Engagement im Netzwerk der Freilerner zurück – auch mit einer großen Ernüchterung, auf der rechtlichen Ebene nichts bewirkt zu haben.

Als der Bildungskongress online ging und ich mir die Interviews anhörte, erwachte das Thema wieder in all seiner Kraft und Bedeutung in mir. Da sprachen Menschen, zum Teil aus ganz anderen Bereichen, über das Thema und fanden neue Worte und eine Klarheit, die wir damals noch nicht hatten. Die Idee einer Nachlese des Kongresses im Format des TAU Magazins für Barfußpolitik ließ nicht lange auf sich warten. Martina und Thomas gefiel die Idee auf Anhieb! Wir hatten im Team ja bereits Erfahrung mit dem Destillieren von Inhalten eines Online-Kongresses, die sich sonst in der digitalen Welt rasch verflüchtigen. Schnell bildete sich mit

TAU erscheint 2 – 4 Mal pro Jahr

www.tau-magazin.net

2 Heft 24 2023
& Redaktion Irmgard stelzer Herausgeberin, layout petra schwiglhofer support Johanna Vigl Redaktion, Transkription ulrike prochazka lektorat & Abomanagement

TAU Kollegin Johanna Vigl, die eine ganz große Leidenschaft für die Begleitung junger Menschen in sich trägt und ihre Erfahrungen als Lehrerin für Veränderungen im Bildungswesen fruchtbar machen will, ein Kernteam zur Umsetzung der Idee. Mir wurde in der Zusammenarbeit bewusst, dass wir mit Johanna jemanden im Team haben, die bereits mit ganz anderen Worten, aktuellen Erfahrungen und mit neuer Kraft an das Thema herangeht und somit der Ausgabe und dem Thema die Aktualität verleiht, die es dringend braucht.

Nach 10 Jahren (siehe „Bildung als Kunst der Entfaltung“

TAU Ausgabe 12/2013) hat TAU nun wieder eine Ausgabe, die sich ganz dem Thema Bildung widmet – präsent waren die zentrale Bedeutung der Begleitung junger Menschen und die vielen Wunden, die durch die noch immer vorherrschende Bildungsform Menschen zugefügt werden, jedoch in jeder Ausgabe. „Wir können nicht am Ende mit dem Wandel beginnen,“ meinte z. B. André Stern in einem Interview für TAU (Ausgabe 15/2019: ZEIT) – „der Anfang ist die Kindheit“.

Wie wir junge Menschen begleiten und wahrnehmen, trägt wesentlich zur Transformation unserer Gesellschaft zu mehr Lebensfreundlichkeit bei. Dem möchten wir mit dieser Ausgabe wieder gebührend Raum geben.

Wichtig ist uns an dieser Stelle die Haltung und Ausrichtung dieser Ausgabe zu benennen: Auch wenn viele Aussagen von Interviewpartner*innen möglicherweise zunächst Irritation auslösen – wie z. B. dass Schule strukturelle Gewalt in sich birgt –, laden wir ein, das Verbindende und Heilung Suchende in allen Interviews ebenso wahrzunehmen. Mit dieser Ausgabe möchten wir keinesfalls Schuld und Scham, sondern Verbindung und Beziehung nähren.

Gudrun Totschnig von

IMprEssUM: Medieninhaber: labor für Kulturtransformation und Wege zur Fülle / Herausgeberin: TAu – Verein für beherzte Gesellschaftsgestaltung und angewandte lebensfreundlichkeit / sitz und Erscheinungsort: Wien / postadresse: Hasendorf 88/2, 3454 sitzenberg-Reidling / Blattlinie: TAu widmet sich lebensbejahenden und kulturtransformierenden sichtweisen und projekten. / Redaktionsteam dieser Ausgabe: Gudrun Totschnig, Johanna Vigl / layout: Irmgard stelzer www.irm-art.com / Illustration: serena Grisi / lektorat: ulrike prochazka / Coverfoto: David Meixner/lernwerkstatt pottenbrunn / Bankverbindung:TAu

Verein IBAN: AT04 3412 9000 0891 6470 BIC: RZOOAT2l129 / Kontakt: welcome@tau-magazin.net oder versand@tau-magazin.net / Anzeigen: anzeigen@ tau-magazin.net / Web: www.tau-magazin.net / ZVR-Nr.: 640796633 / Herstellerin: gugler cross media / Herstellungsort: Melk

Die Texte in TAu stehen unter einer Creative-Commons-lizenz (CC). sie dürfen unter Nennung der Autorin/des Autors in Verbindung mit »aus: TAu Magazin für Barfußpolitik« frei verwendet (BY), aber nicht verändert (ND) werden.

3 Heft 24 2023 Mehr von TAU: www.tau-magazin.net/newsletter www.tau-magazin.net/bestellen www.facebook.com/taumagazin
Gedruckt nach der Richtlinie „Druckerzeugnisse“ des Österreichischen Umweltzeichens. gugler*print, Melk, UWZ-Nr. 609, www.gugler.at

ANFANG & ENDE

2 Editorial

3 Impressum

64 Freund*innen über TAu

frei sein frei sein lernen

Die Berufsfrage ist immer die Frage nach Erwerbsarbeit. Aber sollten nicht die Aufgaben in der Welt die Berufe sein?

JOsHuA CONENs

7 Die seelenkraft des Menschen entfalten

JOHANNA VIGl

11 Hinter tausend stäben keine Welt

DAGMAR NEuBRONNER

16 lassen wir Zweijährige Auto fahren?

MICHAElA GlÖCKlER

20 Das urbedürfnis des Menschen gesehen zu werden

JOsHuA CONENs

24 Für die Freude am lernen!

FIONA B AuR

27 Der Bildungsbrief

sIMON MARIAN HOFFMANN

37 Darf ein junger Mensch Nein zur schule sagen?

FRANZIsKA KlINKIGT

Wenn du neu mit Kindern umgehen willst, das ist wie der Highspeed-Trip in deine eigene Traumatherapie. IlAN sTEpHANI

41 Von der schule heilen

KEWIN COMplOI-TAupE

42 Vom Burnout ...

lEANDER WEIHRICH

45 „Halt still, sonst gehörst du nicht dazu!“

IlAN sTEpHANI

50 unseren Kindern zuhören bedeutet uns selbst zuzuhören

AlICIA KusuMITRA

52 Die Namen von Bäumen

HEIKE pOuRIAN

54 seit ich meine Hochsensibilität erkannt habe ...

CORDulA ROEMER

58 Warum es so sehr auf die Haltung ankommt

sIGRID HAuBENBERGER-lAMpRECHT

4
AH

lernenlernen

pARTNER* INNEN-sEITEN

Partner*innen-Seiten beruhen auf finanziellem oder sonstigem Ausgleich. Mehr Informationen auf tau-magazin.net/partnerseite

57 Olivier Keller

62 plattform freie Bildungswege

63 lebensbejahende Bildungsinitiativen – Auswahl

DAnkE an freilerner.at – Verein zur Förderung freier und selbstbestimmter Bildung, der diese Ausgabe durch seine finanzielle unterstützung mitermöglicht hat! www.freilerner.at

Die Interviews stammen aus dem ersten Online-Bildungskongress von Martina & Thomas Weihrich, der Anfang des Jahres 2023 stattfand. www.bildungskongress.vision

InTErvIEWführUng: Martina & Thomas Weihrich

TrAnskrIpTIon: Johanna Vigl – außer Fiona Baur von Clara Berger

TExTzUsAMMEnsTELLUngEn: Gudrun Totschnig

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Foto: David Meixner / Lernwerkstatt Pottenbrunn

Die Seelenkraft des Menschen entfalten

Können wir „frei sein“ lernen? Oder sind wir nicht immer schon frei? Wir sind frei zu wählen, zu entscheiden, zu gestalten und unsere Kräfte auszurichten – damit wird oft unsere menschliche Würde begründet, die unseren inhärenten Wert zum Ausdruck bringt. Wenn wir „frei sind“, stellt sich mir als Pädagogin die Frage: Was begünstigt und was hemmt uns, die in uns angelegten Potenziale auf unserem Lern- und Lebensweg zur Blüte zu bringen? Wie können wir unser großes Geschenk der Freiheit erschließen und unsere Schöpferkraft entfalten?

Diese TAU Ausgabe trägt den Titel „frei sein lernen“ und erzählt Geschichten freier Lern- und Bildungswege. Freies Lernen schließt die freie Wahl der Personen, mit denen man lernen möchte, mit ein und den Ort, die Dauer und den Rhythmus von Aktivitäten. Es kann sowohl außerschulisch in kreativen Umwelten oder auch innerschulisch, z. B. in Form von freiem Arbeiten nach Maria Montessori, stattfinden. Freies Lernen ist ein Weg zur Konkretisierung der Würde und, meiner Erfahrung nach, ein freudvoller Prozess für alle Beteiligten. Denn Lernbewegungen, die sich entlang von Begeisterung und inneren Resonanzen bahnen dürfen, halten nicht nur die Kinder, sondern alle im System Involvierten lebendig und geben Kraft. Meiner Wahrnehmung nach sind sie direkt an das Göttliche angebunden und bringen dieses zum Ausdruck. Unsere inneren Impulse folgen einer Logik und führen zu einer Schönheit, die wir im Außen nicht imitieren können.

Freies und lebensnahes Lernen bedeutet für mich, so gut wie möglich mit der inneren Aktivität in Kontakt zu sein beziehungsweise für das Raum zu schaffen, was sich aus ihr entfalten möchte. Primär ist hier die Seelenkraft des Menschen selbst am Werk. Die Entfaltung der Seelenkraft gelingt umso leichter, je freier auch Begleitpersonen selbst ihren eigenen Impulsen folgen können. Innere Impulse – zu welchen auch ein „Nein“ gehört – führen verlässlich in echte Begegnung, und es kann Schönes und Wahrhaftiges entste-

hen. Und so geschah es auch oft bei meiner Arbeit in der Schule: Ich kam zu einem Punkt, ab dem ich nicht alles vorweg plante und dachte, sondern an dem wir gemeinsam ein Thema erkundeten und in eine Frage oder eine Beobachtung eintauchten. Es konnten sich eigene Impulse, Bilder, Ideen, Fragen und Lösungen zeigen. Dann kam bald Neugierde: Wie machen das andere? Was gibt es da alles zu entdecken und wie passt das mit dem zusammen, was ich gerade gesagt, gedacht und gespürt habe? Wen möchte ich dazu fragen? Und schon setzte sich ein Lernprozess in Gang, der Freiheit und Raum braucht und aus dem oft das Bedürfnis entsteht, Neues zu lernen – z. B. auch Lesen und Schreiben – und später zu teilen. Es blieb spannend – für alle. So war ich auch als Lehrerin authentisch neugierig, was als Nächstes kommt, was die Kinder am Nachmittag weiter in Erfahrung brachten. Am Morgen saßen wir meist alle neugierig im Kreis, wie bei jedem die Reise weiterging.

Hier kommt für mich die Frage nach dem gestaltenden Moment für die Menschen auf, die sich als die Begleitenden verstehen oder die für einen Lernprozess Raum halten, wenn es das braucht. Wie sehr versuche ich die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen – durch meine Wahrnehmungsfähigkeit, mein Mitgehen mit der Bewegung, vielleicht auch mein Fachwissen? Welchen Impulsen aus meinem Inneren folge ich? Wie sehr gebe ich auch das frei und bin gleichzeitig unterstützend da?

Johanna Vigl ist TAU Mitgestalterin und forschte sechs Jahre als Grundschulpädagogin im Regelschulsystem an der Integration von potenzialentfaltenden Lernformen. Arbeitet derzeit neben ihrem Philosophiestudium an einem Buch und einer Plattform, um ihre Erfahrungen als Lehrerin fruchtbar zu machen.

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Wenn ich mich selbst dabei beobachtet habe, wie ich ein ansprechendes Setting für die Kinder kreieren wollte, wurde etwas eng in mir. Ich habe bemerkt, dass ich etwas für die Kinder tun wollte und ihnen das Kreativsein vorwegnahm, – anstatt zu beobachten, welchen Weg sie wählen und mich davon inspirieren zu lassen. Das ist der Grund, warum ich nicht zuerst eine alternativpädagogische Ausbildung besucht habe. Für mich hat mein ganz eigener Zugang und die Interaktion mit dem Kind die „Methode“ vorgegeben. Ich konnte die Freiheit der Wahrnehmung beibehalten und so auch meine „didaktischen“ Qualitäten immer weiter entfalten. Dank dieser Methode entwickelten sich immer offenere „Aufgabenstellungen“, die noch mehr Raum für eigenes Vorgehen der Kinder gelassen haben.

Diesen Raum zu öffnen dauert im ersten Schritt meist länger und ist arbeitsaufwendiger, gleichzeitig aber auch lustiger und sinnvoller als den Kindern das Aus-sich-heraus-Arbeiten zu ersparen. Man nimmt den Kindern damit die Möglichkeit kreativ zu gestalten, selbstständig tätig zu sein, sich frei zu bewegen und zu experimentieren und dabei auch Fehler zu machen. In einem sicheren Raum aus Fehlern zu lernen ist ein Katalysator für lebendige Lernprozesse. Eine befriedigende Realität kann auch vor der Flucht in die Freiheit des Internets schützen. Wenn wir uns tief mit einer Sache verbinden und ganz darin aufgehen, kann intensives Lernen stattfinden, das nachhaltig nährt und uns gleichzeitig auf unser zukünftiges Leben vorbereitet.

Diese lebensbejahende Haltung haben viele Menschen, weil es ihrem natürlichen Sein entspricht, sie erfüllt und freut. Es mag paradox klingen: Gerade wenn Lernbegleiter*innen ihre eigene Freude und das eigene Spüren ins Zentrum stellen und sich damit in die Fülle bringen, ist es wahrscheinlicher als in den heute weit verbreiteten Lern-Dynamiken,

dass es auch zum Wohl der Kinder ist – so, wie eine anthropozentrische Umweltpolitik, obwohl bei ihr nicht das Leben an sich im Zentrum steht, dennoch ökologischer ist als gar keine Umweltpolitik. Sehr starke Parallelen zu diesem „ökologischen“ Ansatz habe ich in pflanzenethischen Diskursen gesehen, beim Ringen um den intrinsischen Wert eines Lebewesens und dem Annehmen eines Daseins, das wir nicht ganz verstehen können. Es geht analog nicht um einen distanzierten Blick auf das Kind und die Interaktion, sondern darum, Teil dieser Interaktion zu sein und diese tief zu erleben (statt zu beobachten), mit gleichem Recht, die Situation kreativ zu gestalten – auch Begleiter*innen haben das Recht, eine nährende Zeit zu verbringen. Wenn das gelingt, werden beide – Lernbegleitete und Lernbegleitende – gemeinsam „aufgewertet“. Die Hingabe an diesen Prozess auf Augenhöhe gibt allen Beteiligten Energie und bringt sie näher zu sich selbst.

Im Gegensatz dazu nimmt uns das heutige System häufig Energie und erzeugt frustrierte und fremdgesteuerte Lehrer*innen einerseits und gehemmte und verängstigte Kinder andererseits. Dieses „An-dem-Vorbeileben-wasgerade-eigentlich-dran-ist“ verunmöglicht einen Gedeihensraum, in dem gefragt ist, dass Menschen sich einbringen, und wo Qualitäten gefragt sind, die heute in Zeiten der Polykrise äußerst essenziell wären. Das sind z. B. gute Verbundenheit mit sich selbst und anderen, Schulung von Sensiblität und Empathie als Kraft, spontane soziale Interaktion, kreativer Umgang mit Problemen, Hinterfragung künstlicher Hierarchien, Hören auf natürliche Autorität, Mut zur eigenen Meinung, Lösungskompetenz und Resilienz … Alles, was in der Zeit, in der wir leben, an menschlichen Qualitäten, Qualifikationen und Ressourcen benötigt wird, ist eigentlich schon da.

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Heft 24 2023
Illustration: Serena Grisi

Doch statt jungen Menschen eine Bühne anzubieten, um ihr Potenzial zur Entfaltung zu bringen, werden sie, um in der Theatermetaphorik zu bleiben, im aktuellen Bildungssystem erstmal auf die leeren Plätze im Publikumssaal gesetzt – anstatt dass sie die Erfahrung machen mit ihren Qualitäten willkommen zu sein, sitzen sie als passive Zuschauer im Publikum. Solche Bedingungen dämpfen wache und lebendige Wesen und sind nicht förderlich für die Seele eines Kindes.

Für mich als Pädagogin war es schmerzhaft zu beobachten, dass die Schauspieler*innen, die die gefragte Rolle perfekt ausgeführt haben, mit Führungspositionen belohnt wurden. Kolleg*innen hingegen, die den Mut und die Klarsicht hatten, die Bühne einzureißen, die Stühle an den Rand zu stellen und eine große Fläche zum freien Spielen, Forschen und Kreieren zu schaffen, verließen eine*r nach der*dem anderen ausgebrannt oder ausgelangweilt das Theater.

Ich durfte jedoch auch andere Erfahrungen machen: etwa eine Direktorin, die mir in meiner Arbeitsweise vertraut und mich gefragt hat, was ich bräuchte, um an ihrer Schule gut arbeiten zu können, und Lösungen dafür gesucht hat, wie z. B. reduzierte Stundenanzahl und Schritte Richtung zyklisches Arbeiten. Ich habe an anderer Stelle Mitarbeiter*innengespräche erlebt, in denen ich mich gesehen gefühlt habe, und Kolleg*innen, die mich herzlich in ihr Team integriert haben und mich wegen meines Menschenbildes, meiner Ideen und meiner Sensibilität schätzten. Zudem durfte ich innerhalb des Regelschulsystems lebens-

bejahende Lernräume erfahren und erschaffen: Die Tafel war von Pflanzen verwachsen, in mehreren Räumen wurde altersgemischt – alleine oder in Kleingruppen – gelernt, die Themen in der Schule und auch die Arbeit für zuhause wurden von den Kindern selbst gewählt, in Projekten wurden gemeinschaftlich reale Probleme gelöst, Kreisstrukturen wurden etabliert und Selbstbezeugungen durch die Kinder ersetzten die Zeugnisse, die schließlich von Kindern selbst unterschrieben wurden. Trotz vieler Hindernisse und Widrigkeiten durfte ich dabei immer wieder erfahren, dass die innere Haltung und Freiheit mit der äußeren Offenheit der Lernsituation in Harmonie sein können. Und ich konnte das starke Commitment fühlen, wenn sich Lernbegleiter*innen jeden Tag über mehrere Jahre „fremden“ Kindern tief zuwenden, mit ihren Ideen und Interessen mitgehen und sie und ihre Familien in ihren Lernbewegungen bezeugen.

Ich teile diese Erfahrungen, da ich es in dieser Übergangszeit hin zu einer lebensbejahenden Bildungskultur für alle für essenziell halte, dass wir das Neue und Lebensnahe inner- bis außerschulisch gleichermaßen sehen und fördern. Sodass Kinder aus unterschiedlichsten Herkunftsfamilien eine Chance auf den Lern- und Bildungsweg haben, der ihrem Wesen gerecht wird. Denn wenn lebensbejahendes Lernen gelingt, ist es einerlei, ob es in Freilern-Projekten, reformpädagogischen Lernumgebungen oder an Lichtstellen des Regelschulsystems geschieht.

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Hinter tausend Stäben keine Welt

Dagmar Neubronner im Gespräch mit Martina und Thomas Weihrich über die archaische, instinktive Fürsorglichkeit von Eltern, über den Mut zu widersprechen, Steinmetze und Gärtner, und das Internet als einzig verbliebenem Raum für junge Menschen.

Thomas: Wie konntet ihr vor fünfzehn Jahren diesen Mut aufbringen, mit euren Söhnen einen ganz anderen Weg zu gehen? Es gab damals ja noch nicht viele Familien, die der Schule den Rücken zukehrten, oder?

Dagmar: Ich bin diesen Weg wirklich mit wackeligen Knien gegangen und habe mich die ganze Zeit eigentlich gar nicht so mutig gefühlt. Rückblickend waren wir auch sehr naiv. Wir haben ja zuerst eine Schule gegründet, dann gingen die Kinder da nicht gerne hin, und wir haben ihnen erlaubt zu Hause zu bleiben. Der erste naive Punkt war, dass wir ja schon in der Schule aufgefallen waren mit unseren kritischen Fragen wie: „Ist die Schulpflicht denn grundsätzlich sinnvoll?“

Als wir dann gemerkt haben, da ist nichts zu machen, habe ich gesagt, dass ich ein Projekt als Übersetzerin in Irland habe und meine Kinder dorthin mitnehme. Da hatten wir uns aber schon so weit aus dem Fenster gelehnt, dass die Behörden uns nicht mehr geglaubt haben. Da kam dann auch drei Wochen später ein Herr mit einem Schild „Beratungsdienst Schulvermeidung Bremen-Nord“. Das waren natürlich ganz andere soziale Zielgruppen, die dieser Dienst normalerweise zu be-

treuen hatte. Ich kann nicht gut lügen, und im Flur hingen die Adventssäckchen, unsere Geschichte war also nicht sehr überzeugend. Wir haben dann eine Zwangsgeldandrohung gekriegt, in der stand, dass man die BußgeldPhase gleich ausgelassen hat, weil wir Überzeugungstäter seien. Wir wollten dann nicht wie das Kaninchen auf die Schlange gucken, sondern proaktiv werden, und haben dann die Stadt Bremen verklagt auf das Recht unserer Kinder frei zu lernen. Wir haben angefangen, das Grundgesetz zu studieren und waren ganz zuversichtlich, sind aber in allen Prozessen in mehreren Instanzen abgewiesen worden. Jahre später haben wir erfahren, dass es zu dem Zeitpunkt bereits einen Beschluss der Ministerkonferenz gab, dass zu allen Formen außerschulischen Lernens keine Präzedenzfälle geschaffen werden dürfen. Wir sind damals davon ausgegangen, dass wir in einem Rechtsstaat leben – das hat uns natürlich auch den Mut gegeben. Im Grunde kam der Mut also aus der Naivität. Und wenn man einmal drinsteckt in der Patsche, sind wir ja als Eltern mit einer archaischen, instinktiven Fürsorglichkeit und einem Schutzinstinkt ausgestattet, der uns befähigt, Dinge

zu machen, die wir uns für uns selbst vielleicht gar nicht trauen würden.

Martina: Hast du auch Ängste erlebt?

Ja und zwar aus verschiedenen Richtungen: zum einen Ängste im Zusammenhang mit den Behörden, davon alleine kann man Schlafstörungen kriegen. Dann war da aber noch eine andere Angst: Ich hatte innere Zweifel, dass die anderen am Ende doch recht haben könnten. Wir sind ja alle sehr gewöhnt daran, im Konsens mitzuschwimmen. In den letzten zwei Jahren haben wir ja gemerkt, wie schwer das ist und wie viel Kraft es kostet, sich im Widerstand zu seiner Zeit zu befinden.

Wir hatten dann viele Fernsehauftritte und Zeitungsartikel und haben jedes Mal viel Post gekriegt. Von all den Zusendungen war ungefähr ein Prozent freundlich – der Rest war wirklich heftig: „Eure Kinder werden euch das heimzahlen, was ihr ihnen antut, ihr raubt ihnen die Zukunft, man sollte sie euch wegnehmen, ihr seid ja krank.“ Am Anfang habe ich geweint, wenn ich solche Post kriegte, weil ich ja auch geliebt werden und ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft sein wollte. Da durchgegangen zu sein

Dagmar Neubronner ist Biologin, Therapeutin, Publizistin und Freilerner-Mutter von zwei erwachsenen Söhnen.

Mehr Infos: www.dagmarneubronner.de

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war für mich eine richtige Schmiede, in der ich viel Kraft gewonnen habe. Deswegen biete ich jetzt auch meine Gruppen an, weil ich glaube, dass uns die Übung und Erfahrung fehlt mit eigenständigen Entscheidungen, mit denen wir gefühlt im Widerspruch zu allen anderen stehen. Ich habe in den letzten zwei Jahren Mütter erlebt, die unglaublich gelitten haben darunter, wie schlecht es ihren Kindern unter der Maske ging, die nicht den Mut hatten für ein Gespräch mit den Schulleiter*innen und wirklich wochenlang vorher gecoacht werden mussten. Ich habe zwar diese Ängste nicht mehr, aber ich bin voller Verständnis. Ich weiß, wie das ist. Und gerade in Bezug auf unsere Kinder sind wir ja so verletzlich. Einerseits mutig zu sein, andererseits auch mit Augenmaß klug zu sein – das ist eben die Herausforderung. Aber für die meisten Eltern und die meisten Menschen in dieser Situation, in der wir jetzt sind, ist es eben eine sehr sehr große Herausforderung, weil wir ja nicht umsonst seit langer Zeit im Grunde darauf getrimmt werden, Eigenverantwortung zu vermeiden.

Martina: Und wie übst du mit den Eltern, wieder in die Eigenverantwortung zu kommen?

Im Grunde geht es darum, in dieser Offenheit zu bleiben, denn was mir im Moment an diesen gesellschaftlichen Veränderungen am schmerzlichsten er-

scheint, ist diese Verengung auf beiden Seiten. Zum Beispiel beim Impfthema: Einerseits ist man, wenn man nicht geimpft ist, Außenseiter*in, aber andererseits gibt es auch bei denjenigen, die sich wehren, viel Dogmatismus und viel Aggression. Deswegen unterstützen wir uns in meinen Gruppen gegenseitig bei den verschiedenartigsten Prozessen – jede*r ist ja an einem anderen Punkt. Wo wir unseren Mut üben müssen, das ist ja ganz individuell.

Als Eltern sind wir ja mit einer archaischen, instinktiven Fürsorglichkeit und einem Schutzinstinkt ausgestattet, der uns befähigt, Dinge zu machen, die wir uns für uns selbst vielleicht gar nicht trauen würden.

Ich glaube, es haben jetzt einfach ganz viele Menschen verstanden, dass wir wieder selbst die Verantwortung für den Werdegang unserer Kinder zu uns nehmen müssen, aber: Uns fehlt das Wissen, weil wir seit mindestens 70 oder 80 Jahren von Amerika ausgehend mit dem verhaltenspsychologischen Ansatz überschwemmt wurden: Was

muss ich machen, damit das Kind etwas macht oder bleiben lässt? Bei dem Ansatz wird Belohnung, Bestrafung oder Bestärkung eingesetzt. Die Entwicklungspsychologie hat einen ganz anderen Blick und fragt: Warum verhält sich das Kind denn so und wie kann ich es dabei unterstützen, dass es in sein Potenzial hineinwächst? Das ist eine völlig andere Sichtweise. Das eine ist steinmetzmäßig, etwas abhauen, damit dabei das richtige Kind rauskommt, und das andere ist eher gärtnermäßig: Ich habe hier ein Bäumchen, und das gibt es nur ein einziges Mal auf der ganzen Welt. Ich muss nur grob wissen, was Bäume im Allgemeinen brauchen, und dann muss ich dieses Bäumchen beobachten: In was für eine Form will es wachsen? Wenn man seinen Garten bisher in Reih' und Glied und mit Spritze und Gift behandelt hat, dann kann man, wenn man einen Biogarten haben will, nicht einfach nur das Gift weglassen, sondern man muss gleichzeitig wissen: Wie funktioniert denn ein Garten ohne Gift? Vielleicht sind die Pflanzen noch geschwächt von dem, was sie bis dahin mitgekriegt haben, und das erlebe ich jetzt bei ganz vielen Eltern und Lerngruppen. Viele Eltern wollen, dass die Kinder aus der Schule wegbleiben, weil sie nicht einverstanden sind, was in der Schule passiert. Doch oft wollen die Kinder viel lieber in die Schule gehen, obwohl es so schrecklich ist, weil die Schule das einzig verbliebene soziale Umfeld für sie ist.

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Martina: Ist das nicht auch für die Eltern dann ein De-Schooling-Prozess?

Ja, ich habe es an mir selbst erlebt: Ich habe unseren Kindern ihre Freiheit wirklich gegönnt, aber es gab auch einen Teil in mir, der fragte: „Ist es eigentlich richtig, dass sie den ganzen Tag nur spielen und Spaß haben?“ Wir sind ja auch geprägt von diesem System des „mit Schweiß musst du deinen Acker bestellen“. Das war einer der Hauptkritikpunkte an unserem Weg, der mich auch verunsichert hat: Es hieß oft: „Wenn ihr euren Kindern jetzt ermöglicht, nur mit den Leuten zusammen zu sein, mit denen sie freiwillig zusammen sein wollen, und das zu machen, wozu sie Lust haben, dann werden sie NIE lernen, mit Widrigkeiten umzugehen.“ Dann habe ich aber miterleben dürfen, wie einer unserer Söhne, der unbedingt Fußball spielen wollte und kein begnadeter Fußballer war, fünf Jahre lang vorwiegend auf der Reservebank gesessen ist mit immer leistungsorientierteren Trainern. Er hatte vor jedem Training Bauchweh, aber er ist da hingegangen, weil er das wollte. Und das habe ich mir angeguckt, mir ist dabei fast das Herz gebrochen. Aber es war eben sein eigener Entschluss und dafür hat er so viele Widrigkeiten in Kauf genommen.

Martina: Wie beeinflussen Smartphones das Heranwachsen junger Menschen?

Das ist so ein gigantisches Problem! Ich sehe zwei Faktoren, warum für Kinder und Jugendliche diese Versuchung noch viel stärker ist als für uns. Für mich ist der Computer ein Arbeitsinstrument und das Internet eine gigantische Welt-Volkshochschule. Aber Kinder müssen ja überhaupt erstmal ihren Erdanzug bedienen lernen und ihre ganzen motorischen Fähigkeiten. Wir wissen alle, was passiert, wenn man irgendwas in 3D machen will und es noch nicht oft gemacht hat, beispielsweise einen Nagel einschlagen.

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Und für Kinder ist es ja ununterbrochen so, dass sie etwas noch nicht oft gemacht haben. Bei Mindcraft haue ich mir nicht auf den Finger, da mache ich klick, und dann habe ich ein Baumhaus, wie ich es mir in Wirklichkeit nie bauen könnte. Außerdem steht dieses Baumhaus in einer Landschaft mit ganz viel Platz und Unendlichkeit, die es in meiner Straße nicht gibt. Und: Ich bin unbeobachtet von den Eltern. Wir sind früher um die Ecke gegangen oder in den Wald, und die Kinder heute gehen ins Internet. Der virtuelle Raum ist der einzig verbliebene Raum. Das ist der eine Punkt, den ich sehe, dieses Mühelose, ohne Einbeziehung des Körpers, das ist einfach eine unglaubliche Versuchung – ich glaube, das ist stärker als Heroin.

Und der andere Punkt ist, dass wir unsere Jugendlichen ja in einem Maße, wie es, glaube ich, überhaupt noch nie da gewesen ist, künstlich in einer infantilen Ohnmacht halten. Die ersten 18 Lebensjahre verbringen sie fremdbestimmt und dürfen noch nicht einmal entscheiden, wann sie pinkeln, reden, essen wollen, und worauf sie ihre Kraft richten, womit sie ihren Geist erfüllen wollen. Das heißt, das Internet und die virtuelle Welt sind der einzige Ort, wo sie ins Leben einsteigen und eigenständige Entscheidungen treffen können. Und da wir ihnen die reale Welt so eng gemacht haben, ist das das Ausweichfeld. Ich sehe da auch eine große Verantwortung bei uns, wenn ich einem Wesen nur so einen engen Raum zugestehe und so wenig Freiheit, dann muss ich mich nicht wundern, wenn es im Grunde kein Interesse an dieser Welt hat – hinter tausend Stäben keine Welt. Und wenn der Panther in seinem Pantherkäfig Internet gehabt hätte, dann hätte er seine Gefangenschaft vergessen.

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Thomas: Es ist ja gar nicht so einfach da wieder rauszukommen ...

Den Kindern wird von Anfang an vermittelt: 1. Jemand anderer weiß besser als du, womit du dich beschäftigen und wofür du dich interessieren solltest. 2. Sie*Er kennt das Ergebnis und gibt dir auch den Weg vor: „Das musst du so und so rechnen und zum Schluss zwei Mal unterstreichen, sonst gilt es nicht.“ Der Forschergeist wird so total zerstört. Wir sind aber als Schöpfer hier, als kreative Wesen, und wenn das nicht gelebt werden darf, dann gehen viele Kinder in eine Art Stand-by-Modus. Das kann man sich von Hüther und Spitzer ja ganz genau erklären lassen: Unser Gehirn schmeißt alles, was wir nicht benutzen, nach kürzester Zeit raus. Am Ende sind unsere Kinder zwölf Jahre in die Schule gegangen und haben sich ein Wissen angeeignet, das sich ein intelligentes Kind, das einfach nur draußen gespielt hat, in einem Dreivierteljahr maximal problemlos aneignen kann. Sie sind total aus unserer Lebenswelt entfernt und reduziert auf eine Scheinwelt, in der nichts von dem, was sie tun, eine reale Bedeutung hat. Das ist, wie wenn ich im Gefängnishof einen Sandhaufen von links nach rechts schaufeln muss, das ist für einen wachen Geist eigentlich Folter. Deswegen dimmen sich unsere Kinder runter, um das überhaupt auszuhalten, und wir wundern uns, dass sie sich für nichts interessieren. Aus diesen Zu-

ständen wieder rauszukommen ist wie eine Entgiftungsphase. In dieser Phase werden manche Eltern panisch, da sie erwarten, das Kind müsste ja ohne Schule jeden Tag freudig seinen selbstbestimmten Lern-Forschungs-Weg gehen, aber das Kind guckt nur Fernsehen, langweilt sich und ist schlapp. Das gilt es auszuhalten. Ich habe oft erlebt, was passiert, wenn

Wir sind ja alle sehr gewöhnt daran, im Konsens mitzuschwimmen. Es ist schwer und kostet viel Kraft, sich im Widerstand zu seiner Zeit zu befinden.

Eltern aufhören, ihre Kinder als Automaten zu betrachten, wo man Strafen und Belohnungen reinsteckt und richtiges Verhalten rauskommt. Wenn sie diesen Gärtner-Blickwinkel kriegen und das sogenannte Fehlverhalten mit anderen Augen sehen. Wir haben Instinkte, die säugetiermäßig sind: Wir möchten zärtlich zu unseren Kindern sein, es wird uns aber in unserer Gesellschaft die ganze Zeit etwas ganz anderes erzählt. Es gibt Eltern, die folgen ihrer Intuition und sind nett und

verständnisvoll zu ihren Kindern, fühlen sich aber die ganze Zeit schlecht, weil ihr Verstand etwas anderes sagt. So folgen sie mal ihrer Intuition und dann wieder sagt der Kopf: „Das kann ich mir doch nicht bieten lassen.“ Und andere Eltern folgen dem, was man so macht, und haben aber im Herzen eine mehr oder weniger leise Enttäuschung und Trauer, weil sie es sich irgendwie schöner vorgestellt haben mit ihren Kindern, liebevoller, zärtlicher. Sie können ihre Liebe gar nicht so richtig leben, weil sie die ganze Zeit belohnen und bestrafen müssen. Beide Elterngruppen sind in ihrem Weg geschwächt, weil der Kopf was anderes sagt als das Herz. In dem Moment aber, wo Kopf und Herz oder Intuition im Einklang sind, ist es, wie wenn ein Musikinstrument gestimmt ist, dann ist eine ganz andere Kraft da.

Wichtig ist nun, dass wir jetzt unsere Energie zu uns nehmen und nicht mehr darauf warten, dass wer auch immer in Politik und Gesellschaft es für uns erledigt. Darin liegt für mich eine große Hoffnung, dass viele Leute jetzt gemerkt haben: „Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben.“

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Dagmar Neubronner: Die Freilerner. Unser Leben ohne Schule. Genius Verlag 2017. E-Book.

Michaela Glöckler wirkt als Kinder- und Schulärztin, Dozentin und Buchautorin.

Mehr Infos: www.anthroposophische-kunsttherapie.de

Lassen wir Zweijährige Auto fahren?

Michaela Glöckler im Interview mit Martina und Thomas Weihrich über den immensen Einfluss, den Erwachsene auf Kinder ausüben, wie wichtig es ist über Entwicklungsphasen Bescheid zu wissen und einen altersgerechten Umgang mit Medien.

Martina: Du bist anthroposophische Kinderärztin und engagierst dich sehr für einen altersgerechten Umgang mit digitalen Medien. Wie kam es dazu?

Michaela: Ich bin direkt nach dem 2. Weltkrieg geboren und mit sehr viel Zerstörungsbildern aufgewachsen.

Wir haben in den Ruinen gespielt. Die Frage „Wieso machen Menschen so etwas?“ hat mich zum Christentum und zur Anthroposophie gebracht.

* Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung (Michaela Glöckler) sowie Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt (von Michaela Glöckler, Edwin Hübner, Stefan Feinauer, Media Protect e.V.), das mit Fakten aus der Neuropsychologie und Neuropädiatrie die Leser*innen unterstützt, sich ein gründliches Bild zu machen.

** siehe auch Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht –als Einzelne und als Gesellschaft.

So bin ich zuerst Waldorflehrerin geworden. Ich habe dann bei der Arbeit mit den Schüler*innen gemerkt, welchen immensen Einfluss man als Erzieher*in hat. Alles, was Erwachsene an die Jugendlichen und Kinder heranbringen (das sage ich heute als Ärztin), verändert sie. Denn an dieser Außeneinwirkung bildet sich das Nervensystem, bildet sich das Gehirn. Wir Menschen sind interaktive, dialogische Wesen, und ohne direkten Kontakt mit der analogen Umwelt kann sich ein eigenes analoges Hirn gar nicht entwickeln. Ich habe als Pädagogin einen Verantwortungsschock erlebt und wollte dieser Verantwortung gerecht werden. Ich habe mit anderen Pädagog*innen gesprochen, wie sie mit dem großen Einfluss umgehen, und ein Schularzt hat mir nahegelegt Me-

dizin zu studieren. Die Möglichkeit, mich als Schulärztin bei Konferenzen, in denen über einzelne Schüler*innen mit besonderen Fragestellungen beraten wurde, einzubringen, hat mich motiviert, noch mal ein so langes Studium anzugehen. Ich merke, es wird immer wichtiger über die altersentsprechenden Entwicklungsbegabungen aufzuklären.* Häufig werden Kinder wie kleine Erwachsene behandelt, man gibt ihnen Geräte in die Hand, die sie überhaupt nicht durchschauen. Man lässt ja auch keine Zweijährigen Auto fahren. Nur weil ein Smartphone leicht zu bedienen ist, heißt es noch lange nicht, dass es kindgerecht ist. Manchmal habe ich das Gefühl, alle Züge sind abgefahren, die Toddler (Kleinkinder) sitzen im Kinderwagen oder auf dem Nachttopf und schauen in ihr Smartphone. Kann ich da überhaupt noch etwas bewirken?

Martina: Du hast also gemerkt, wie stark ein Vorbild prägt?

Nein, Vorbild ist nicht das Primäre. Einfach alles, was ich mache, wirkt, und zwar direkt über die Sensomotorik. Bei Kindern wird nicht optimiert und verfeinert wie im Erwachsenenalter, sondern noch aufgebaut. Mein

Verantwortungsschock war zu erkennen, dass bestimmte Funktionen mitunter gar nicht entwickelt werden. Die Waldorfpädagogik hat das erkannt, in dem es ihr um viel mehr als Wissensvermittlung geht. Dort ist das Fach nur Instrument für eine möglichst gute altersgerechte Beziehungsgestaltung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen. Wenn die Lehrer*innen mit der Frage leben, was die Schüler*innen gerade jetzt brauchen und erfahren sollten, hat das einen anderen Einfluss auf die Entwicklung, als wenn nur Stoff vorgetragen wird. Das konventionelle Schulsystem macht Kinder zu Objekten. Eine gute Begleitung müsste sich an das Subjekt richten und Bedingungen schaffen, damit es sich selbst am Unterrichtsfach finden, erkennen, erleben, entwickeln kann.**

Martina: Es gibt ja Studien, die den Einsatz von digitalen Medien im Unterricht sehr kritisch sehen. Ja, das weiß man von Anfang an und macht es trotzdem. Als in Schweden das Gesetz kam, jedem Kindergartenkind ein Tablet zu geben – da sind die waldorfpädagogisch-orientierten Erzieher*innen mit den besten Fach-

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leuten ihres Landes und deren wissenschaftlichen Referenzen zu den Behörden gegangen und bekamen als Antwort (O-Ton!): „Wissen Sie, in dieser Angelegenheit interessiert uns die Wissenschaft nicht, sondern nur das politische Prinzip der Gleichheit.“ Nicht nur in anderen Gebieten, die ich jetzt nicht nennen will, wird Wissenschaft politisch instrumentalisiert, sondern inzwischen auch in der Pädagogik. Das, was der Wirtschaft nützt, wird politisch umgesetzt. Oder man sagt: „Die Fachleute sind sich ja auch nicht einig.“ Das ist immer ein simples Argument, denn wer die Forschung bezahlt, kann auch das Ergebnis zu einem gewissen Grad steuern. Diese Bequemlichkeit, die Autoritäten einfach machen zu lassen, das können wir uns heute nicht mehr leisten. Wir sollten nicht immer nur von Meinungsfreiheit reden, sondern auch von mündigen Demokraten, die sich selber Gedanken machen.

Thomas: Kannst du uns ein wenig mehr über den Einfluss digitaler Medien in den jeweiligen Entwicklungsphasen erzählen?

Wenn man Kinder schon im Säuglingsalter bis hin zur Vorschulzeit beobachtet, sieht man, dass sie primär bewegungsorientiert sind, sie sind

ständig dabei sich zu bewegen. Warum? Weil das die beste Förderung für die Entwicklung des Nervensystems ist. Jede Minute still sitzen und ein Bildchen anstarren, wo sich ein Bild bewegt und der Körper in Ruhe ist und die Augen starr sind, ist genau das Gegenteil von einer gesunden sensomotorischen Entwicklung. Unser Muskelsystem funktioniert immer ganz-

Diese Bequemlichkeit, die Autoritäten einfach machen zu lassen, das können wir uns heute nicht mehr leisten.

heitlich: Wenn ich die Augenmuskeln ganz stark fixiere auf etwas, machen alle Muskeln mit und der Körper ist still. Man ist ganz Auge. Nur auf einen Bildschirm zu schauen ist sensomotorisch für Kinder eine Fehlstimulation, die der gesunden Gehirnentwicklung und der sensomotorischen Integration entgegenläuft. Deswegen haben wir in der Kinderheilkunde heute immer mehr ergotherapeutische und senso-

motorische Integrationsverfahren, um diese Schäden wieder auszugleichen. Wenn Kinder etwas sehen, ahmen sie das ganzkörperlich nach, nicht nur in der Vorstellung. Diese enorm intelligente und ganzkörperliche Nachahmungsfähigkeit dauert bis zum 6. bis 8. Lebensjahr, und deswegen ist in dieser Zeit der Bildschirm aus meiner Sicht nur schädlich. Das bedeutet nicht, dass man nicht mit der Oma ein Selfie austauschen kann oder dass man etwas gemeinsam anguckt, wo das Kind ganz gezielt einbezogen wird. In Gegenwart von Kindern sollte man jedoch nicht auf das Smartphone schauen, sondern an Orten, wo man allein ist – z. B. auf der Toilette. Am Esstisch hat das Smartphone auch nichts verloren.***

Bei Kindern zwischen 7 und 14 Jahren, wenn es in die Vorpubertät geht, ist die emotionale Reifung im Vordergrund, nicht mehr die Sensomotorik. Das heißt Lernen auch durch mitunter schmerzhafte Erfahrungen. Wie will man denn eine gesunde Emotionalität entwickeln mit Lehrmaterialien, anstatt im Dialog mit einem realen Menschen, der auf einen reagiert und auf den ich reagieren kann in Freude und Schmerz? Der Hippocampus als Teil des Limbischen Systems reift ebenfalls in dieser Zeit – in Abhängigkeit von

*** In ihrem Buch Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung hat Michaela Glöckler die Entwicklung von Jahr zu Jahr detailliert beschrieben – auch mit Bezug auf die Wirkung der digitalen Endgeräte.

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der Art emotionaler Verarbeitung des Erlebten. Worin sich die Forscher einig sind ist, dass emotionale und soziale Unreife wesentliche Folgen von zu viel Bildschirmzeit sind – elementare Emotionen, wie aggressive und depressive Verstimmungen, sind die Folge. Aus neuropsychologischer und physiologischer Sicht braucht es für einen gesunden Medienkonsum und eine gute Integration der Medien in den Unterricht das 16./17. Lebensjahr. Das klingt fast fossil, wenn ich das sage. Aber das Frontalhirn reift eben erst zwischen 15 und 17, und erst dann bin ich motorisch, intellektuell und emotional soweit, dass ich auch eine gewisse Selbstbeherrschung und Selbstverantwortung denken und praktizieren kann. Was ich sehr wichtig finde ist, dass man in der Schule lernt die Technik zu verstehen, dafür eignet sich die 7., 8., 9., 10. Klasse hervorragend. So wird man medienmündig und ist nicht nur zu einer*m guten User*in erzogen worden. Digitale Medien werden dann ein Instrument für bestimmte Dinge.

Thomas: Wie ließen sich digitale Medien altersgerecht in den Unterricht einbauen?

In der Oberstufe finde ich passend, wenn man beispielsweise einen Naturfilm in den Geographie- oder Biologieunterricht einbaut. In der Zeit der emotionalen Reifung würde ich versuchen, die Fantasie der Kinder noch stärker anzusprechen und Bücher oder Erzählungen einsetzen, weil das anregt, sich selbst Bilder dazu zu machen. Zur

Schulung von Mitgefühl und Empathie braucht es reale Erlebnisse, aber auch Fantasie, die Möglichkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Empathie kann man nur schulen, indem Kinder lernen sich selbst Bilder zu machen, ihre Wahrnehmung mit Gefühlen zu verbinden und in Resonanz mit ihrer Umwelt zu gehen. Wenn die analoge Sinneswelt aber ständig ausgeschaltet wird, kann man gar nicht mehr miterleben, was man um sich hat, und das halte ich für sehr gefährlich.

Bündnis für humane Bildung hat zu dem Thema „Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt“ sehr gute Filme gemacht, die könnte man gemeinsam anschauen. Ich finde Eltern und Lehrer*innen sollten im Dialog sein, was für ihre Kinder das Beste ist, und sollten keine Feindbilder voneinander haben. Ich nehme ein zunehmendes Bedürfnis wahr miteinander ins Gespräch zu kommen, und das finde ich positiv.

Wir Menschen sind interaktive, dialogische Wesen und ohne direkten Kontakt mit der analogen Umwelt kann sich ein eigenes analoges Hirn gar nicht entwickeln.

Martina: Was mache ich jetzt als Mutter oder Vater, die ihren Kindern ein bildschirmfreies Aufwachsen ermöglichen möchten?

Man kann in Deutschland bildschirmfreie Kindergärten auswählen, sich als Eltern mit anderen zusammentun. Als Lehrer*in oder als Erzieher*in oder als Eltern ganz alleine etwas zu ändern sehe ich schwierig. Ich empfehle Gesprächspartner*innen zu suchen oder Vorträge zu organisieren. Das

Inzwischen gibt es auch im konventionellen Schulbetrieb so viele Pädagog*innen, die sich Sorgen machen. Engagierte Pädagog*innen verständigen sich mit den Schüler*innen viel lieber direkt als über den Bildschirm. Ich mag auch zu bedenken geben: Je mehr wir am Bildschirm machen müssen, desto mehr Daten werden von uns erfasst. Wir können froh sein, dass unser Regime noch von Datenschutz redet. Wir bedenken einfach nicht, dass wir alle mitspielen und selber aktiv mitmachen beim Aufbau eines möglichen Überwachungsstaates. Wir haben uns bereits vielfach daran gewöhnt, von außen gesteuert zu sein. Mithilfe der digitalen Endgeräte werden Kinder für eine perfekte Außensteuerung konditioniert. Wir machen sie, wie Gerald Hüther sagt, zu Objekten, die steuerbar sind. Und da sollten wir Erwachsenen wirklich Problembewusstsein haben und unter Umständen noch stärker als bisher von den demokratischen Möglichkeiten und Instrumenten Gebrauch machen. Wenn man wie in Schweden

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das Prinzip der Gleichheit, gleiche Bildungschancen für alle, am Tablet aufhängt, dann vernachlässigt man sträflich die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. Erfreulicherweise wurde aber im Juni diesen Jahres bekannt, dass man in Schweden den Einsatz von Tablets im Kindergarten wieder zurückgenommen hat, weil der negative Einfluss zu offensichtlich gewesen ist!

Martina: Vielleicht magst du zum Abschluss nochmal Mut machen für die Eltern, die jetzt was verändern möchten? In der Vorschulzeit kann man sich von einem auf den anderen Tag neue Gewohnheiten angewöhnen und schauen: Wo bin ich im Blickfeld, und ist das, was ich jetzt tue, das, wovon ich möchte, dass mein Kind das nachmacht? In der Schulzeit braucht es eine Verabredungskultur. Wenn ich bei 8- bis 13-Jährigen etwas ändern will, die schon gewohnheitsmäßig in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, dann muss ich mit ihnen so sprechen, dass sie mich und ich sie verstehe. Und dann macht man gemeinsam einen Reduktionsplan. Es ist auch entscheidend, etwas an die Stelle zu setzen. Die Natur und Kunst sowie gemeinsame Unternehmungen bieten endlose Möglichkeiten. Wichtig ist, dass die Kinder merken, die*der Erwachsene engagiert sich für mich und wir machen jetzt etwas Neues. Wenn man Kinder verschiedenen Alters hat, braucht es individuelle Absprachen, und auch Rücksicht von den älteren auf die jüngeren Kinder. Das kann in die ganze Familie mehr Mitverantwortung und Empathie hineinbringen. Ich möchte Mut machen, das Mögliche zu tun und sich zu freuen über jedes bisschen, was gelingt – denn das Wenige ist schon Gold wert.

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Das Urbedürfnis des Menschen gesehen zu werden

Joshua Conens im Gespräch mit Martina und Thomas Weihrich über Räume, in denen wir wahrgenommen werden und uns unserer Aufgaben in dieser Welt bewusst werden können.

Thomas: Wie kamst du dazu einen Film über freie Bildung zu machen?

Joshua: Das geht zurück auf meine eigene Schulzeit. Ich war auf einer Waldorfschule und als Jugendlicher begann ich mich zu fragen: „Warum gehe ich dort eigentlich hin?“ Ich war immer schon sehr vielseitig interessiert, und all die Dinge, die mich interessierten, kamen in der Schule nicht vor. Mir fielen dann mit 16 oder 17 Jahren verschiedene Bücher in die Hände, auch „Deschooling Society“ von Ivan Illich („Entschulung der Gesellschaft“)*. Das habe ich tatsächlich damals schon gelesen und fand das total überzeugend, dass es auch ohne Schule geht. Ich hatte das Pech, ein guter Schüler zu sein. Deswegen gab es die Erwartung, dass ich diese Karriereleiter immer weiterlaufe und die bestmöglichen Schulabschlüsse mache – das leuchtete mir aber nicht ein. Ich habe dann mit einigen Freund*innen gemeinsam beschlossen, vor dem Abitur die Schule zu verlassen und uns selbst ein Orientierungsjahr zu gestalten. Wo will ich eigentlich hin mit meinem Leben? Das muss ich doch zuerst beantworten, um zu wissen, ob ein Abitur Sinn macht oder nicht. Unsere Entscheidung hat selbst an der Waldorfschule für einen ziemlichen Eklat

gesorgt, weil es unbegreiflich war, dass Schüler*innen, die so leicht ein Abitur machen könnten, das nicht tun. Daran ist mir klar geworden, dass es nicht um die individuelle Biographie geht. Die Institution hat ihre eigenen Konzepte, die über dem individuellen Menschen stehen, selbst in einer Waldorfschule. 2014 ist Bertrand Stern mit einer Filmidee an mich herangetreten. Was ich

Martina: Magst du ein wenig von deinem Menschenbild erzählen? Ja, das ist ja auch eine ganz leichte Frage (lacht). Ich versuche es mal. Ich bin ganz sicher, dass es vorgeburtliche und nachgeburtliche Realitäten gibt – wie auch immer diese aussehen –, von denen wir etwas mitbringen. Es gibt einen bestimmten Grund, warum ich hier bin und warum ich in diesem Kontext bin.

Die Berufsfrage ist immer die Frage nach Erwerbsarbeit. Aber sollten nicht die Aufgaben in der Welt die Berufe sein?

damals schon interessant fand, war, dass Bertrand eigentlich am Beispiel der Schule eine Institutionskritik liefert. Insofern ist CaRabA, der Film, der aus dieser Idee entstand, für mich nur ein Aufhänger. Am Ende geht es nicht um Bildung, sondern immer darum: Wie wollen wir leben und was ist Leben überhaupt?

Martina: Also, dass du eine Aufgabe hast, mit der du gekommen bist? Genau, und dass meine Eltern, der Ort und mein Kontext eine gewisse Relevanz haben. Das Interessante ist, dass wir das in dem Moment vergessen, in dem wir geboren werden. Sehr vieles, was man unternimmt, ist eine Suche, um wieder herauszufinden, was die Aufgabe ist. Was ist mein Beitrag für das Gesamtkunstwerk Menschheit?

Thomas: Du sagst, man vergisst den inneren Auftrag nach der Geburt. Könnte man Verhältnisse schaffen, wo man das nicht vergessen kann? Nein, ich glaube, dass die Suche zum menschlichen Schicksal und zum Inkarnationsprozess dazugehört. Aber man kann diesen Prozess massiv erschweren oder erleichtern.

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Joshua Conens ist Produzent des Spielfilms „CaRabA – Leben ohne Schule“.
* siehe Rezension auf S. 30

Martina: Wie können wir den erleichtern?

Das ist eine der komplexesten Fragen und ich fühle mich auch sehr als Forschender. Wahrscheinlich wird man nie an den Punkt kommen, zu wissen, wie es geht – das ist ja das Schöne in all diesen Dingen, bei denen es um das Leben geht. Man kann das Leben eben nicht so verstehen, wie wir heute Verstehen verstehen. Es braucht irgendwie andere Fähigkeiten, die sich dem rationalen Verstehen entziehen. Ich glaube, dass die Wahrnehmungsfähigkeit eine ganz große Rolle spielt. Ein Beispiel: Was passiert mit meinem Sohn, wenn ich mit ihm durch den Wald laufe, oder wenn ich ihn eine Stunde vors Tablet setze? Ich muss das überhaupt nicht bewerten. Die Frage ist: Nehme ich überhaupt wahr, was jeweils passiert? Das ist der Ausgangspunkt. Es gilt, das immer mehr zu kultivieren, also genauer hinzuschauen und hinzuspüren. Gerade junge Menschen reagieren ja genau darauf sehr sensibel, ob ich sie wahrnehme oder nicht.

Martina: Ja, das macht auch etwas mit den jungen Menschen, wenn sie sich gesehen fühlen.

Genau! Ich würde sagen, das ist eines der Kernthemen überhaupt, aus denen die allermeisten Probleme, die wir haben in der Welt – und das meine

ich so umfassend, wie ich es sage –, resultieren: Das Urbedürfnis des Menschen gesehen zu werden findet keinen Raum. Wir tragen diese Sehnsucht und Ahnung mit uns, dass es einen tieferen Kern von mir selbst gibt, der mit meiner Aufgabe zu tun hat. Wir sind soziale Wesen, und ich brauche die anderen Menschen, um herauszufinden, wer ich selbst bin. Es braucht die oder den anderen, die*der mich sieht, damit ich mich selbst sehen kann.

Thomas: Magst du die Vision des Filmes mal kurz skizzieren?

Für mich war eine interessante Erfahrung, nachdem ich den Film zum hundertsten Mal gesehen und mit den Menschen darüber gesprochen habe, dass er zwei widersprüchliche Aspekte hat. Das eine ist, dass er sehr visionär ist und man meinen könnte, dass es

das gar nicht gibt, was da gezeigt wird. Das hat mich schon immer an dem Medium Film fasziniert, dass man etwas darstellen kann, das nicht existiert, das aber sehr realistisch wirkt und insofern eine Vision bebildert und greifbarer machen kann. Gleichzeitig kann man sagen, dass CaRabA total banal alltäglich ist, weil es die selbstverständlichsten Alltagssituationen wiedergibt. Auf eine Art ist er überhaupt nicht visionär. Genau das macht eine Dynamik, weil diese beiden Aspekte gleichzeitig existieren in diesem Film. Es geht wieder darum, die Wahrnehmung zu schulen. Überall im Leben kommen Situationen vor, die wir nicht als Bildungsmomente wahrnehmen, weil Bildung für uns das ist, was in der Schule passiert. Insofern lädt CaRabA ein, unseren Blickwinkel zu verändern: Wo passiert denn heute

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Das Fundament von Bildung ist Beziehung – Hermann & Lovis

schon überall Bildung, wofür wir die Schule gar nicht brauchen? Und dann ist Bildung etwas Selbstverständliches, was den ganzen Tag über passiert, und es macht einen Unterschied, ob wir das wahrnehmen oder nicht.

Martina: Aktuell beschäftigst du dich mit einem Orientierungsjahr für junge Menschen. Kannst du darüber mehr erzählen?

Ja, gerne – aber das ist noch in den Kinderschuhen. Mich beschäftigt schon lange, wieso junge Menschen nach der Schule so planlos sind. Für mich war eine spannende Erkenntnis, dass in der Kultur, in der wir leben, die Berufsfrage immer die Frage nach Erwerbsarbeit ist. Aber sollten nicht die Aufgaben in der Welt die Berufe sein? Man sieht als junger Mensch meistens ganz viele Aufgaben, doch man ergreift sie nicht, weil sie nicht mit Erwerbsarbeit übereinstimmen.

Deshalb habe ich die provokative These: Es braucht junge Menschen, die sich der Erwerbsarbeit verweigern, damit sich etwas in dieser Gesellschaft verbessert. Es braucht bewusste junge Menschen, die da aussteigen und dem nachgehen, wo sie das Gefühl haben: „Das macht Sinn, das hat etwas mit meinem Leben und mit der Welt zu tun.“ Ich glaube, dass viele junge Menschen diese Fragen in sich haben. Gemeinsam mit einem kleinen Team fragen wir uns: „Wie können wir junge Menschen auf diesem Weg begleiten?“ Ein wichtiger Aspekt ist, keine Institution zu schaffen. Es soll nicht wieder etwas entstehen, wo eine Institution den Rahmen vorgibt, in den der Einzelne sich dann einpassen muss. Sondern: Wie kann man so ein Projekt in Gemeinschaft denken? Unser Bild ist, dass man in diesem Orientierungsjahr auch gemeinsam lebt, um wirklich intensiv miteinander arbeiten

zu können. Dass es einen festen Ort gibt. Ich glaube, das wird eine der spannendsten sozial-künstlerischen Übungen sein. Wie schafft man es, dass ein festes Gruppengefühl entsteht und trotzdem jede*r individuell die Zeiten wählt, wann sie*er dort ist und wann nicht. Aber da bin ich ganz im Vertrauen – das wird sich dann aus dem Leben heraus zeigen.

Martina: Könnte das auch eine sehr bunt gemischte Gruppe durch alle sozialen Altersschichten sein? Grundsätzlich ja, wobei ich das Gefühl habe, die Fragen verändern sich schon auch mit dem Alter. Insofern würde ich das Schulabgangsalter ein Stück weit in den Fokus nehmen.

Thomas: Arbeitet ihr mit Firmen, Handwerker*innen und Wissenschaftler*innen zusammen?

Das Mädchen fragt: „Was ist eigentlich in Kissen drin?“ In der Keimzelle finden alle Menschen Unterstützung bei ihren Bildungsvorhaben.

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Das ist bisher noch sehr im Entstehen, aber natürlich gibt es in unseren Köpfen schon ein großes Netzwerk drum herum. Das heißt, wenn wir einen jungen Menschen begleiten, der sagt: „Mich interessiert Physik, ich habe das Gefühl, das hat etwas mit mir zu tun“, dann macht man sich gemeinsam auf die Suche nach Orten und Menschen, wo man dieses vertiefen kann.

Thomas: Ist das ein Ort, wo ich etwas ausprobieren, vielleicht auch mal scheitern kann und erkenne: „Ich möchte doch etwas anderes machen“? Das habe ich noch nie verstanden, dass, wenn man irgendein Studium anfängt, man das dann die ganze Berufskarriere durchziehen soll und nie wieder etwas anderes machen darf. Das entspricht nicht der Lebensrealität. Wenn man sich mal umhört, merkt man, solche Biographien gibt es fast gar nicht, aber irgendwie wird

In der Öffentlichkeit – selbstverständlich.

einem immer erzählt, das müsste so sein. Es geht genau darum, ganz vieles auszuprobieren. Auch die Aufgaben in der Welt verändern sich ja andauernd.

Thomas: Ihr setzt mit eurem Orientierungsjahr bewusst auf realen Kontakt, oder?

Ja, unbedingt, für mich ist das die Basis. Soziale Prozesse am Bildschirm, das ist mir sehr suspekt. Beim Orientierungsjahr würde es ganz ausdrücklich darum gehen, dass man live zusammensitzt. Da sind wir auch wieder bei der Wahrnehmungsfähigkeit.

Thomas: Das heißt, eure zentrale Frage ist: „Was brauchen die jungen Menschen?“ und daran orientiert ihr euch mit eurem Angebot.

Genau, das ist eine spannende Frage, wo wir immer noch drum herumtänzeln: „Wie viel Rahmen geben wir vor?“ Gerade für den Einstieg, damit es eine Anfangsstruktur gibt, die sich dann immer mehr auflösen darf. Und wie viel lassen wir das aber auch weg? Für mich war ein sehr einschneidendes Erlebnis in meiner Jugend, Open-Space-Konferenzen zu erleben: Da wurde gemeinsam ein Programm erarbeitet – am Ende auch mit Vorträgen und Workshops wie bei anderen Tagungen, aber der entscheidende Unterschied ist, dass die, die es betrifft, an der Entstehung mitbeteiligt waren. Das ist ja ein Urprinzip, das man nicht nur auf Konferenzen anwenden

kann. In so einem Prozess könnte ja eine Schule von Schüler*innen und Lehrer*innen gemeinsam entwickelt werden. Ein wesentlicher Faktor, warum junge Menschen überhaupt keinen Plan haben, liegt daran, dass sie zwölf Jahre lang immer gesagt bekommen, was sie zu tun haben, und kein Raum vorhanden ist, sich selbst zu fragen: „Was würde ich denn eigentlich gerne machen?“ Das ist ja auch eine Fähigkeit, die man einfach üben und lernen muss. Und man kann mit ganz banalen Sachen anfangen wie: „Wann tut es mir gut aufzustehen? Wann sind bei mir die Phasen, in denen ich besonders produktiv bin, und wann nicht? Wo zieht es mich hin und wo entsteht Freude und Lebensenergie?“

Wenn sich diese Fragen von Anfang an mitentfalten dürfen, hat man nicht mehr diesen Cut, dass sich alle plötzlich mit 18 neu umorientieren müssen, weil sie das Alte gar nicht weitermachen dürfen.

Noch eine Erkenntnis: Wenn alle sagen: „Das geht nicht“, dann sollte man aufhorchen. Ich hatte das Glück von Anfang an mit Menschen umgeben zu sein, die mich in dem unterstützt haben, was mir wichtig ist. Ich kann mich eigentlich nicht daran erinnern, dass Menschen, die mir wichtig sind, gesagt haben: „Joshua, das ist aber naiv, also das kann nicht klappen.“ Jeder kann sich auf die Suche machen nach Menschen, die ein Stück weit sehen, wer du eigentlich bist.

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Impuls für Open-SpaceKonferenz siehe S. 34-35

Fiona Baur hat sich selbstbestimmt auf das Abitur vorbereitet und ist Gründerin der Akademie für Neues Lernen.

Mehr Infos: www.akademieneueslernen.de

für die freude am Lernen!

Fiona Baur im Gespräch mit Martina und Thomas Weihrich über ihren selbstbestimmten Weg zum Abitur und wie sie Gründerin der Akademie für Neues Lernen wurde.

Martina: Du hast mit 16 Jahren die Schule verlassen und nach drei Jahren eigenständiger Vorbereitung dein Abitur gemacht. Wie bist du darauf gekommen, die Schule zu verlassen?

Fiona: Also genau genommen habe ich die Schule gar nicht verlassen, sondern ich war zehn Jahre lang auf einer Montessori-Schule und die geht nur bis zur 10. Klasse, bis zum mittleren Bildungsabschluss. Die Idee, das Abitur zu machen, war schon immer da und ich habe mich lange gefragt, wie ich das umsetzen möchte. Während der 10. Klasse habe ich im 2. Halbjahr jeden Samstag einen Vorbereitungskurs an der Fachoberschule besucht und hatte dort je eine Doppelstunde Mathe, Deutsch und Englisch, um mich auf diesen Übertritt in die Oberschule vorzubereiten. Das war das erste Mal, dass ich mit dem „normalen Schulsystem“ in Berührung kam. Ich habe relativ schnell gemerkt, dass ich es schaffen würde, aber ich hatte auch das Gefühl, dass ich die Freude am Lernen dort verlieren könnte. Ich fragte mich, ob es nicht möglich wäre, das Abitur auch auf einem Weg zu machen, der erlaubt, dieses freie Lernen beizubehalten.

Thomas: Woher nahmst du den Mut dafür?

Seit langem schon hat mich die Pädagogik von Maria Montessori fasziniert. In meiner Schulzeit hatte ich den Freiraum, viele Bücher von ihr zu lesen. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich gerne was in die Welt bringen möchte. Dieses freie Lernen war für mich ein riesengroßes Geschenk, weil ich bemerkte, wie viel Freude mir das macht, meinem Weg folgen zu können. Ich bin durch mein Elternhaus mit der Freiheit, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen, aufgewachsen und wurde dazu auch immer ermutigt. Auch als ich mich entschied, mich auf das Abitur selbstständig vorzubereiten.

Martina: Hattest du auch Zweifel? Oh ja, nicht daran, dass ich es schaffen kann. Sondern an der Sache an sich. Ich habe mich gefragt: „Brauche ich einen Zettel, der irgendetwas über mich aussagt, den ich wahrscheinlich doch nie wieder brauche?“ Es war meine Aufgabe herauszufinden, was ich eigentlich will, und auf einer Reise nach England wurde mir klar, dass alles für mich möglich ist. Dass das wirklich ich bin, die bestimmt, wie mein Leben aussieht. Neben der Vorbereitung aufs Abitur einen Verein zu

gründen, selber im Vorstand zu sein, Infoabende abzuhalten, Webseiten zu bauen, sich auch in diese rechtlichen Dinge einzulesen – das hat mir unglaublich viel gelehrt, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, ein Projekt anzufangen und auch durchzuziehen. Maria Montessori sagt ja, Freiheit und Disziplin sind zwei Seiten derselben Medaille.

Martina: Wann kam die Idee eine Akademie für Neues Lernen zu gründen?

Die Idee war schon in der Schule immer wieder diskutiert worden, und durch meinen Wunsch, diese nun auch umzusetzen, hat sich eine Gruppe von Lehrer*innen, Eltern und Pädagog*innen geformt. Wir haben uns überlegt, was möglich ist, und für das erste Jahr fanden sich auch schnell sechs Interessent*innen. Dann haben wir den Verein gegründet, der sozusagen der Vorgänger der Akademie für Neues Lernen gGmbH war. In den letzten Wochen vor dem Schuljahr haben sich alle anderen entschieden, doch auf die staatliche Schule oder ins Ausland zu gehen. Der Verein war gegründet, doch ich war jetzt alleine, wollte es aber dennoch versuchen. Das war möglich, weil mir die Lehrer*innen von

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der Schule angeboten haben, in ihren Freistunden meine Fragen zu klären. Ich habe ein kleines Klassenzimmer in der Schule angemietet, mir den Lehrplan ausgedruckt und mir überlegt: „Wie fange ich an? Wie lerne ich? Wie teile ich mir den Stoff gut ein?“. In diesem ersten Jahr alleine habe ich gemerkt, was wirklich zählt, ist, in einer Gemeinschaft lernen zu können, die sich wie eine zweite Familie anfühlt. Das war es, was ich zuvor in meiner 10. Klasse erlebte.Mein Wunsch war es, so ein Umfeld zu schaffen, dieses Gefühl von Getragensein, von Ermutigung. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, so ein Projekt in die Welt zu bringen. Ich begann Flyer zu gestalten, eine Website zu entwerfen, Infoabende zu halten. Auf diesem Weg ist mir bewusst geworden, dass ich das schon lange nicht mehr für mich alleine mache, sondern, dass ich das für so, so viele junge Menschen da draußen mache, denen es genauso geht wie mir. Das war auch das, was mich immer wieder motiviert hat weiterzugehen, auch in den Momenten, wo ich selber gezweifelt habe.

Martina: Den Weg zum Abitur bist du dann ab dem 2. Jahr mit anderen gemeinsam gegangen?

Genau. Im 2. Jahr hatten wir die erste Gruppe mit fünf Leuten und da hat unser Konzept wirklich angefangen zu

funktionieren. Wir hatten jede Woche Tutor*innenstunden, die jetzt – als Gruppe – auch möglich waren zu finanzieren. In Bayern ist es ja so, dass fürs externe Abitur acht Prüfungen absolviert werden müssen, vier Haupt- und vier Nebenfächer. Wie jede*r Einzelne die Tutor*innenstunden zusammenstellt und wie viel Zeit sie*er in welches Fach investieren möchte, da gibt es viel Freiraum und keinen Zeitdruck.

das auf Augenhöhe, gemeinsam und mit Freude passiert.

Auf einer Reise nach England wurde mir klar, dass alles für mich möglich ist. Dass das wirklich ich bin, die bestimmt, wie mein Leben aussieht.

Martina: Was zeichnet denn eure Tutor*innen aus? Müssen die ein Pädagogikstudium haben? Unsere Tutor*innen zeichnet am meisten ihre hohe Flexibilität aus und das Verständnis, dass sie da sind, um die jungen Menschen zu begleiten und nicht um ihnen irgendetwas zu lehren. Natürlich sollen sie Wissen vermitteln, aber es geht darum, dass

Thomas: Können auch Quereinsteiger*innen oder Menschen, die sich für ein Fach sehr interessieren, Tutor*in werden? Bedingt ja. Wir schauen da wirklich sehr individuell. Wir haben das zum Beispiel in manchen Fächern so aufgeteilt – ich kann jetzt konkret Biologie nennen –, dass wir da für die einzelnen Themengebiete verschiedene Tutor*innen haben, weil das ihr Spezialgebiet ist. Wir freuen uns natürlich über jede*n, die*der mit Begeisterung das weitergeben möchte, was in ihrem*seinem Kompetenz- und Wissensbereich liegt. Eine Qualifikation ist dafür allerdings Voraussetzung. Aber letztendlich ist das Leben ja so viel mehr als nur der Abiturstoff.

Martina: Welche Herausforderungen gab es bisher? Ich nenne das so ungern, aber wir haben jetzt eine Anwesenheitspflicht. Das war eine große Lernaufgabe zu merken, dass es Jugendliche gibt, die ein bisschen mehr Unterstützung brauchen, wo ein bisschen mehr Führung gut ist, und die auch danach fragen. Deswegen haben wir ein paar Sachen angepasst, unter anderem diese Anwesenheitspflicht. Wobei die

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immer noch sehr locker ist. Wenn du sagst, du möchtest jetzt für vier Wochen ins Ausland gehen, dann „feel free und geh!“

Martina: Ihr orientiert euch ja an dem Lehrplan fürs Abitur in Bayern. Kann man sich bei euch auch aus anderen Bundesländern anmelden? Grundsätzlich ja. Es gilt allerdings zu beachten, dass es die Schulpflicht gibt und dass du, wenn du das Abitur in Bayern schreiben möchtest, aktuell noch einen Wohnsitz in Bayern brauchst. Wir sind dabei, verschiedene Alternativen herauszufinden, und wissen, dass es theoretisch noch andere Möglichkeiten gibt. Wir haben einige Teilnehmer*innen aus anderen Bundesländern, die in Bayern Familie oder Freunde haben und für den Zeitraum hierhergezogen sind. Wir hatten auch schon welche, die überlegt haben, eine WG zu gründen. Was die Schulpflicht betrifft: Wenn man über 18 ist, ist das überhaupt kein Problem, wenn man unter 18 ist, dann ist das ein bisschen schwieriger. Dadurch, dass wir nicht staatlich anerkannt sind, also keine offizielle Schule sind, kann man bei uns auch nicht die Schulpflicht erfüllen. Das sind so die größten Hürden.

Martina: Du hattest das vorhin nur kurz angerissen, dass es ja nicht nur um diese acht Prüfungsfächer geht, sondern auch um andere Inhalte. Kannst du darüber mehr erzählen?

Ja, sehr gerne! Das ist letztendlich auch wieder etwas, was auf unseren eigenen Erfahrungen beruht. Weil, nachdem wir das Abitur gemacht haben – also sowohl ich als auch meine Kollegin –, haben wir gemerkt, welch große Herausforderung es ist, so eine gGmbH zu gründen. Wenn wir da schon einiges früher gelernt hätten, wie viel leichter hätten wir es gehabt! (lacht) Daraus ist die Idee entstanden, noch Zusatzangebote anzubieten, damit jede*r ihren*seinen Weg gehen kann. Letztes Jahr hatten wir beispielsweise Workshops zu Versicherungen, zu Steuern, wir hatten Persönlichkeitsentwicklung, wie man mit Emotionen umgeht, Stressbewältigung, verschiedene Lerntechniken, einen Workshop zu Excel. Natürlich immer in Rücksprache mit unseren Teilnehmer*innen, weil letztendlich sind es ja sie, die das Angebot dann auch annehmen dürfen.

Martina: Damit eure Abgänger*innen dann schon eine Idee haben, was im Leben alles auf sie zukommen kann? Absolut. Wir sehen das Abitur als einen Türöffner für die Welt, in der wir leben, und für uns ist es wichtig, diesen Weg dorthin mit so viel Freude wie möglich zu gestalten. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass das Abitur und die Abschlüsse, so wie sie sind, nicht mehr unserer Zeit entsprechen, und glaube, dass sich das in Zukunft verändern wird. Aber ich sehe

auch, was ich mir dabei angeeignet habe: das Durchhaltevermögen und auch dieses Commitment zu sagen: „Ich entscheide mich dafür und gebe in allen acht Prüfungen mein Bestes!".

Thomas: Wie groß sind die Gruppen, in denen ihr arbeitet? Also die Gruppengröße ist maximal bei 15 Personen, wir achten dabei aber darauf, wie die Gruppendynamik ist. In den Fremdsprachen unterteilen wir nochmal, und auch in Mathe erarbeiten wir ein neues Konzept mit kleineren Gruppengrößen. Da schauen wir einfach nach den Bedürfnissen vom Fach, den Teilnehmer*innen und Tutor*innen. Es erfordert von uns viel Spontanität und Flexibilität. Das entspricht auch unserer Philosophie und das möchten wir beibehalten, dass wir nicht in ein starres System verfallen, sondern dass wir immer offen sind, uns auch weiterzuentwickeln!

Martina: Schön, dass du dieses Angebot in die Welt bringst, du strahlst so damit! Noch eine letzte Frage: Wie siehst du unser zukünftiges Leben? Ich glaube, dass alle Türen und Möglichkeiten für uns offenstehen. Ich glaube, dass es Lösungen für all die Probleme unserer Welt gibt, wenn wir anfangen, den Kindern und Jugendlichen zuzuhören und sie ermutigen, ihren Weg zu gehen. Ich würde sagen, unser zukünftiges Leben sieht letztendlich so aus, wie wir es uns selber gestalten.

26 Heft 24 2023

Der bildungsbrief

Der Bildungsbrief ist eine Idee, die aus dem Bildungsgangprojekt der Demokratischen Stimme der Jugend e. V. hervorging und eine neue Form des Bildungszertifikats darstellt. Das Besondere und Einmalige am Bildungsbrief ist die Idee, dass jeder Mensch sich selbst für seine Bildung verantworten kann und in der Lage ist, sich selbstbestimmt zu befähigen und Lernschritte aus dem eigenen Leben zu dokumentieren.

Der Bildungsbrief funktioniert nur durch deine eigene Persönlichkeit, deinen Charakter, deine Erfahrungen, deine Gedanken und das, was du der Welt zu schenken hast. Statt Fremdbewertungen und künstlich kreierten Herausforderungen wie Tests, Prüfungen und Klausuren, gestaltest du dir alle Tests, Prüfungen und Herausforderungen selbst. Und du setzt dich selbst damit auseinander, wie du mit deinen Ergebnissen zufrieden bist. Hast du alles erreicht, was du dir vorgestellt hast? Bist du zufrieden mit deinem Ergebnis? Gibt es etwas, das dich stört? Jegliche Vergleiche, jegliche Bewertungen haben nur einen Sinn, wenn sie aus uns selbst an uns selbst gerichtet sind. Der wichtigste Richter darüber, was für dich richtig und falsch, zu viel oder zu wenig ist, bist du selbst. Deswegen befähigt dich der Bildungsbrief, dein*e eigene*r Prüfer*in zu sein und ehrlich mit dir selbst ins Gericht zu gehen. Und wenn du dich selbst bewertet hast, kannst du deine Freund*innen, Bekannten und Mentor*innen fragen, ob sie dir ihr Feedback zu deinem Bildungsbrief geben wollen. Dann stehst du nicht mehr nur allein mit dem, was du von dir selbst hältst, sondern bekommst den Segen von Menschen, die entweder dich gut kennen oder das, was du getan hast, gut einschätzen können.

Der Bildungsbrief wurde entwickelt, um freien jungen Menschen eine Hilfe an die Hand zu geben, an der sie sich in der Freiheit orientieren können, und die ihnen helfen kann, in der Freiheit mit sich selbst, den eigenen Schatten und Lichtseiten klarzukommen und unsichtbare Dinge sichtbar zu machen. Der Bildungsbrief kann für Sicherheit, Vertrauen

und bedeutende Verbindungen sorgen, auf dem Weg in ein freies selbstbestimmtes Leben.

Der Bildungsbrief ist das Selbstzertifikat für einen mündigen freien Menschen, der bereit ist für eine Gesellschaft der Zukunft, die auf Selbstverantwortung, Selbstbestimmung und Gemeinschaft beruht. Er wird bereits neben dem Abitur und anderen Abschlüssen für Bewerbungen bei Unternehmen und Universitäten akzeptiert, sodass mit dem Bildungsbrief auch studiert werden kann, was ich selbst mit meinem Bildungsbrief bewiesen habe. Der Bildungsbrief ermöglicht es, sein eigenes Leben und wahrhaftig gemachte Bildungsfortschritte zu formulieren und damit sichtbar und wirksam für die Welt zu sein. Mit dem Bildungsbrief ist jungen Menschen eine Möglichkeit gegeben, ganz und gar selbst für sich einzustehen und sich in dem zu befähigen, was für einen selbst relevant ist, für das eigene Leben und die Lebensziele. Er ist demnach kein Abschluss von etwas, sondern ein Anschluss an die Gesellschaft der Zukunft.

Simon Marian Hoffmann ist Musiker, Schauspieler, Drehbuchautor, Philosoph und Aktivist. Er gründete den Verein Demokratische Stimme der Jugend, der das Bildungssystem kritisch hinterfragt und sich für mehr politische Teilhabe junger Menschen einsetzt.

www.simon-hoffmann.com

Heft 24 2023
Filmstill aus dem Song UNIVERSE

DIE bILDUngSbrIEf-prInZIpIEn:

1. Ziele setzen

Welche Lernziele möchtest du erreichen? Was möchtest du lernen? Welche neuen Fähigkeiten möchtest du entwickeln? Was möchtest du können? Wer möchtest du sein? Bis wann möchtest du diese Ziele erreichen?

2. Mentor*innen finden

Welche Menschen können dir dabei helfen, deine Lernziele zu erreichen? Von wem kannst du lernen? Wer kann dich auf deinem Weg unterstützen? Wer sieht dein wirkliches Potenzial? Wer kann dir Wissen weitergeben, das du für deinen Lebensweg brauchst? Wer kann deine erreichten Lernziele bezeugen? Wer möchte dir seinen Segen geben?

3. Selbst- und fremdreflexion

Hast du deine Lernziele in der dir selbst gesteckten Zeit erreicht? Hast du alles gelernt, was du lernen wolltest? Was ist dir gelungen? Was ist dir nicht gelungen? An was möchtest du weiter forschen? Was waren die Herausforderungen auf deinem Weg und deine inneren Blockaden? Was hast du über dich selbst gelernt? Was konntest du an dir selbst verändern? Was hast du alles gelernt, was du nicht geplant hattest? Was nimmst du mit auf deinem Weg? Was würdest du anderen von deinem Weg mitgeben? Was sagen deine Eltern, Geschwister, Freund*innen, Bekannten und Verwandten zu deinen Erfolgen und Ergebnissen? Was möchten sie dir mit auf den Weg geben? Auf was solltest du achten auf deinem weiteren Lebensweg?

Wenn du dich beim Erstellen deines Bildungsbriefs an diesen Prinzipien orientierst, kannst du dir ein stabiles Fundament auf deinem selbstbestimmten Bildungsgang gestalten. Sie helfen dir in der Freiheit aller Möglichkeiten auf deinem Weg zu bleiben und an deinen Fragen zu forschen. Alle deine Ergebnisse, Erfolge, Erfahrungen und Erkenntnisse sind wertvoll, und wenn du deine Talente dokumentierst, kannst du viel von dir und deinem Charakter sichtbar machen. Dieses Sichtbarmachen deiner verborgenen Fähigkeiten kann dir ungeahnte Türen und Momente eröffnen und dir ein starkes Selbstbewusstsein ermöglichen. Wenn du dir deiner Fähigkeiten und Talente bewusst bist, das ausstrahlst und sie präsentieren kannst, hast du alles, was du brauchst, um ein selbstbestimmtes, freies Leben in der Gesellschaft zu führen. Du weißt, wie du gut für dich sorgst, was deine Herausforderungen im Leben sind und wie du sie meistern kannst. Denn du hast es schon mehrfach bewiesen, dass du ein*e Meister*in deiner Forschungsfragen geworden bist. Und das kann dir kein Mensch nehmen. Von da an kannst du dich frei der Welt verschenken und wirst immer genug Energie zurückbekommen, egal ob monetär, an Unterstützung oder dem Öffnen von neuen Türen und Möglichkeiten. Ich empfehle dir wärmstens direkt mit deinem Bildungsbrief anzufangen.

Arbeite mit uns gemeinsam an dem Thema Bildungsbrief – für dich, für andere, für die Welt. In Präsenz und gemeinsam z. B. im Erfahrungsraum freier bildung 30.10. – 5.11. 2023

Eine Woche in den Räumen einer freien Schule, inmitten der Lebensgemeinschaft Tempelhof, feiern wir das gemeinsame Wirken. www.potentialeentfalten.de

28 Heft 24 2023
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Wer möchtest du sein? Was möchtest DU können?

Von wem willst du lernen? Wer kann dir Mentor*in sein?

Heft 24 2023
Illustrationen: Hannah von Berg & Irma Pelikan

Buchempfehlungen aus den Interviews (Auswahl)

Entschulung der Gesellschaft

Daniel Greenberg. Endlich frei!: Leben und Lernen an der Sudbury-Valley-Schule (Mit Kindern wachsen). Arbor Verlag 2004.

John Holt: Bildung in Freiheit: Das John-Holt-Buch zum eigenständigen Lernen. Genius Verlag 2009.

Stefanie Mohsennia: Schulfrei: Lernen ohne Grenzen. tologo Verlag 2010.

Grace Llewellyn: Das Teenager Befreiungs Handbuch: Glücklich und erfolgreich ohne Schule. Genius Verlag 2015.

„Entschulung der Gesellschaft“ des österreichisch-amerikanischen Sozialphilosophen Ivan Illich (geb. 1926 in Wien, gest. 2002 in Bremen) befasst sich mit der Interaktion von Schule, Politik, Wirtschaft und Konsum im ungeschriebenen Lehrplan. Erstmals veröffentlicht im Jahr 1972 stellt der Autor darin dar, wie die Institution Schule in allen Regierungsformen und von den unterschiedlichsten politischen Gesinnungen als wirksamstes Instrument des Eintrichterns von Hierarchiebewusstsein in Kinder fungiert: Im Machtgefälle Lehrer*in-Schüler*in machen die jungen Menschen während ihrer gesamten Schulzeit permanent die Erfahrung der Machtlosigkeit, der Minderwertigkeit und der intellektuellen Bedürftigkeit gegenüber den Lehrer*innen. Schule setzt jedoch den „beschwichtigenden“ Anreiz, dass man im Zustand der mangelnden Schulbildung zwar noch nichts gegen die erfahrene Machtlosigkeit unternehmen könne, der ersehnte Zugang zu Machtpositionen aber nach dem gehorsamen Durchlaufen des gesellschaftlich akkreditierten Schulsystems und dem Aneignen seiner Werte und Haltungen gewährleistet sei. Sehr kritisch legt Illich dar, wie Kinder durch den Schulbesuch auf ein entfremdetes Leben unter Konsum- und Leistungsdruck vorbereitet werden und wie institutionelle Schul- und Universitätsbildung gewissermaßen als Kapital zu einem privilegierten Lebensstandard dienstbar gemacht wird. Menschen, die über diese Schulbildung nicht verfügen, wird der Zugang zu diesem Lebensstandard verwehrt. Als Maßstab aller Normen und durch die Ritualisierung der Fortschrittsgläubigkeit vermittelt die Schule Mythen der Messbarkeit allen Lebens, der kapitalistischen Verwertbarkeit von Bildung, den Mythos des permanenten Fortschritts und den der objektiven Werte. Illich differenziert zwischen Persönlichkeitsbildung und Schulbildung und fordert die Abschaffung des Regelschulsystems zugunsten der Einrichtung eines gesamtgesellschaftlichen Netzes, das „allen, die lernen wollen, zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens Zugang zu vorhandenen Möglichkeiten [gewährt] […] es sollte allen, die ihr Wissen mit anderen teilen wollen, Vollmacht geben, diejenigen zu finden, die von ihnen lernen wollen; es sollte allen, die der Öffentlichkeit ein Problem vorlegen wollen, Gelegenheit schaffen, ihre Sache vorzutragen.“ Das Konzept des „ungeschriebenen Lehrplans“ fand ich sehr erhellend, da verbalisiert wird, was viele spüren, aber wenige in Worte fassen können. Es ist ein sehr erhellendes, intellektuelles Buch. Marie-Sophie Frei

Ivan Illich: Entschulung der Gesellschaft: eine Streitschrift. C.H.Beck 2017, Edition 7.

30 Heft 24 2023
Illustration: Serena Grisi

Christine Glaser-Ipsmiller, Josef Reichmayr, Rainer Wisiak (Hg.)

Lernen für die Zukunft

Warum Schule sich ändern muss – unerzogen Magazin Ausgabe: 1/23

Diese Ausgabe widmet sich verschiedenen Ansätzen und Perspektiven auf Bildung und Lernen. Ein Schwerpunkt liegt auf der Kritik an traditionellem Schulunterricht und der Idee, dass sich Bildung an die veränderte Welt anpassen muss. Dazu werden verschiedene Ansätze besprochen, die auf Selbstbestimmung und Spielen als Grundlage für Lernen setzen. Zudem wird diskutiert, welche Bedeutung Online-Abschlüsse auf dem modernen Arbeitsmarkt haben und welche Rolle die Kindheit in der Gesellschaft spielt. www.unerzogen-magazin.de

Michaela Glöckler, Edwin Hübner, Stefan Feinauer, Media Protect e.V.: Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt: Eine Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten. Diagnose-Funk Verlag 2020.

In SPIR at I on Le R n W e RKS tatt

Das im Mai dieses Jahres von Christine Glaser-Ipsmiller, Josef Reichmayr und Rainer Wisiak herausgegebene Buch „Inspiration Lernwerkstatt“ portraitiert – neben vielen Hinweisen auf ähnliche Projekte – die private Initiative „Lernwerkstatt im Wasserschloss“ und die öffentliche Schule „Integrative Lernwerkstatt Brigittenau“, beides inspirierende und schon seit Jahrzehnten bestehende Lernorte, an welchen statt einer „Defizit-Kultur“ die persönlichen Potenziale und Interessen der Kinder im Mittelpunkt stehen.

Inspiration Lernwerkstatt

Online bestellbar beim LIT Verlag und www.thalia.at, lagernd in der Buchhandlung Schubert (St. Pölten) und in den Büros der beiden Lernwerkstätten.

Zwei Modelle für lebendiges gemeinsames Lernen

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Der freigeist sensibilisiert für Fragen alternativer Erziehungs- und Bildungsformen in der Gesellschaft und gewährt Einblicke in die pädagogische Arbeit und den Schulalltag der Lernwerkstatt im Wasserschloss Pottenbrunn.

Bestellen: www.freigeist.online/abo abo@freigeist.online oder +43 (0)2742/43550

Habt ihr euch auch schon einmal gefragt, wie denn das gehen kann, Kinder ohne Lehrplan zu Hause aufwachsen zu lassen? In diesem Buch beantworten Jugendliche, eltern, Großeltern und auch Beobachter von außen diese Frage. Sie berichten über ihre ebenso vielfältigen wie ermutigenden erfahrungen mit dem Freilernen, aber auch über die Ängste und Zweifel, die immer dazu gehören, wenn Menschen neuland betreten.

Le R nen IS t WI e at M en

Die Lernwerkstatt im Wasserschloss und die Integrative Lernwerkstatt Brigittenau

www.lernen-ist-wie-atmen.net

31 Heft 24 2023
LIT Verlag — Reformpädagogik — Band 2
Inspiration Lernwerkstatt Zwei
Modelle
für lebendiges gemeinsames Lernen Die Lernwerkstatt im Wasserschloss und die Integrative Lernwerkstatt Brigittenau Christine Glaser-Ipsmiller, Josef Reichmayr, Rainer Wisiak (Hg.)
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Aho, mein junger Mensch, herzlich willkomm auf der Erde

Unsre Welt gerade ist ein trostloses Erbe ***

Und trotzdem bist du hier, ganz schön mutig von dir

Ich dank dir dafür, weil ich wieder Hoffnung spür

Wenn ich sehe, wie du mit deinem Schatten ringst

Keine Angst vor ihm hast und ihn im Schlaf bezwingst ***

In der dunkelsten Nacht funkeln die Sterne am hellsten Wer in der Nacht wacht, sieht neue Visionen am schnellsten ***

Ich kann uns durch die Zukunft ziehen sehen

Von Oase zu Oase, Frieden spinnen sehen

Uns ganze Wände mit Liebe pinseln sehen

Wie die Jugend sich erhebt, durch lauter Sinneswehen ***

Egal, was man dir sagt, du kannst alles erreichen

Du musst niemals von deinen Träumen weichen

Wir sind geboren, um alles zu teilen

Wir lassen eine neue Welt aufkeimen

You move the World

The whole Universe

Ausschnitte aus „Universe“ von Courtier (Simon Marian Hoffmann) DEr GANZE SONG IN BILD & TON auf Youtube: COURTIER > UNIVERSE > Jugendkongress 2022 Official Musikvideo

Filmstill aus Universe COUTIE r

ABLAUF

Das Gesetz der

zwei

Füße ...

... als Ausdruck von Freiheit & Selbstverantwortung im OPEN SPACE

Alle Beteiligten sind eingeladen, ein Thema, das sie wesentlich finden und zu dem sie sich gerne mit einer Gruppe an Menschen austauschen würden, gut sichtbar als Angebot aufzuschreiben.

Alle Angebote werden gesammelt, Zeitslots und räumen zugeordnet und kurz für alle vorgestellt.

Die Teilnehmenden suchen sich nun aus, wo und wann sie als Erstes teilnehmen wollen, DENN:

D E

Die Sessions laufen selbstorganisiert ab – die Themen-Einbringer*innen können, aber müssen nicht „hosten“.

Zum Schluss werden Erkenntnisse aus Sessions und Pausenräumen ins Plenum getragen.

Stell dir vor, wir haben dich und viele andere zu einer Konferenz mit dem Titel „frei sein lernen“ eingeladen, weil wir wissen, dass euch das Thema Bildung bewegt und beschäftigt. Es gibt verschiedenste räume mit Sitzgelegenheiten, Schreib- und Malsachen, einen feinen Platz mit Kaffee, Tee und Leckereien, aber keine Vortragenden & keinen Plan –außer keinen Plan zu haben. Willkommen beim Open Space! A B C

Es geht los, wenn es los geht.

Es gibt 4 „Richtlinien“ für Open Space ...

Wer auch immer kommt, ist richtig –keiner oder viele.

Was auch immer passiert, ist das Einzige, was geschehen konnte.

Es endet, wenn die Energie für das Thema zu Ende ist.

... das „Gesetz der zwei Füße“ ...

Jede*r Teilnehmende bleibt nur so lange in einer Gruppe, wie er*sie es für sinnvoll erachtet, also solange er*sie etwas lernen und/oder beitragen kann.

... und zwei „Rollen“:

„HUMMELN“ flattern von Gruppe zu Gruppe und bilden Brücken zwischen den Themen.

„SCHMETTErLINGE“ flanieren herum und sind häufig am „pausenlosen“ Pausenbuffet zu treffen – wo u. U. genauso Wesentliches besprochen wird wie in den offiziellen Sessions.

34 Heft 24 2023

frei sein lernen

OpEn SpACE

Konferenz für lebensbejahende Bildung

Worüber würdest DU dich gerne austauschen? Mit welchen Fragen kommst DU allein nicht weiter? Welches Thema scheint DIR wirklich wesentlich?

Heft 24 2023 Illustrationen: Serena Grisi

Der fiktionale Kinofilm CaRabA zeigt eine Welt ohne Schulen. Fünf junge Menschen finden in dieser gewandelten Bildungslandschaft ihren individuellen (Bildungs­) Weg inmitten anderer Menschen. Mit all seinen Höhen und Tiefen wird das Leben selbst zum fortwährenden Bildungserlebnis.

Der erste Spielfilm über eine Welt ohne Schulpflicht lädt dazu ein, gemeinsam Visionen über eine mögliche, völlig andere Gestaltung der Bildung zu entwickeln. Die Ausgangsfrage ist: Wann und wo geschieht Bildung eigentlich?

Der Dokumentarfilm School Circles vzeigt Szenen aus dem Alltag div. soziokratisch organisierter Schulen in den Niederlanden, in denen Schüler*innen in die Entscheidungsfindung eingebunden sind, gute Lösungen finden und Mitverantwortung übernehmen. Man bekommt nicht nur einen Eindruck, wie diese Kultur eine neue Art von Beziehung zwischen Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern ermöglicht, sondern auch eine Ahnung, wie damit verbunden auch eine neue Pädagogik funktionieren kann.

Der Film ist ab jetzt in voller Länge kostenlos auf Youtube zu sehen!

„Der Dokumentarfilm „Bildungsgang“ zeigt junge Menschen von heute, die das Schulsystem in Frage stellen, und stellt alternative Möglichkeiten wie den individuellen Bildungsbrief vor. Der Film setzt auf Eigenverantwortlichkeit, Kreativität und weltweite Verbundenheit. Mit dem Ansehen dieses Films hinterfragt man die eigenen Schulerfahrungen, egal welcher Generation man angehört. Großartig, wie Simon das Engagement aller am Film Beteiligten einfängt, wie er sie ausführlich zu Wort kommen lässt und uns bei all den kreativen Aktionen teilhaben lässt.“ Konstantin Wecker

Was ist die grundlegende Ursache für unseren Zerstörungsdrang gegenüber uns selbst, anderen Lebewesen und der Erde? Haben wir noch eine Chance das Paradies auf Erden zu leben?

Mit diesen Fragen im Gepäck macht sich Catharina Roland auf die Reise, um Wissenschaftlerinnen, Coaches und Visionäre zu befragen, wie wir wieder in Balance kommen können. Der Film zeigt, wie unsere innere und äußere Gesundheit und die Gesundheit der Erde in einem untrennbaren Kreislauf miteinander verbunden sind. Um das Paradies im Außen zu erschaffen, gilt es zuerst, das Paradies in uns zu finden ...

www.awake2paradise.com

36 Heft 24 2023 TAU empfiehlt Filme
www.caraba.de
www.bildungsgang-film.de www.schoolcirclesfilm.com
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Darf ein junger Mensch Nein zur Schule sagen?

Franziska Klinkigt im Gespräch mit Thomas und Martina Weihrich über strukturelle Gewalt und wie schnell uns das, was als normal gilt, blind macht.

Thomas: Du bist diplomierte Psychologin und dein Schwerpunkt ist Schulverweigerung. Wann hast du begonnen Schule infrage zu stellen?

Franziska: Als meine ältere Tochter, sie war damals vier Jahre alt, in den Kindergarten kam, wollte sie da nicht gerne hin. Ich fand die Idee aber gut, es war das, was man so macht. Ich erinnere mich noch an unseren ersten Tag. An der Wand hingen 26 gleichaussehende gebastelte Schneemänner, ihr kennt das bestimmt: Alle basteln das Gleiche, malen die gleichen Bilder, je nach Thema und Jahreszeit. Und dann gab es bestimmte Regeln, z. B. Hausschuhe anzuziehen, das ist vielleicht auch nachvollziehbar, damit man nicht auf irgendetwas tritt, aber meine Tochter lief einfach gerne barfuß herum. Von Anfang an war da ein Unwohlgefühl. Wenn junge Menschen so aufwachsen, dass sie mitgestalten können, sich körperlich frei bewegen, selber entscheiden können, was sie anziehen, was sie essen und auch nicht essen – dass sie respektiert und ernst genommen werden, dann fühlen sie sich in so einem Umfeld voller Vorgaben meistens erstmal nicht so wohl. Bei uns endete es damit, dass unsere Tochter sehr bald gar nicht mehr in den

Kindergarten wollte. Als ich dann das Teenager-Befreiungshandbuch und das Buch von Stefanie Mohsennia „Schulfrei – Lernen ohne Grenzen“ und das Buch von Olivier Keller entdeckt habe, mit den viele Biographien von Menschen, die nicht zur Schule gingen, war das für mich sehr herzaufweckend!

Wenn Menschen in sich ein Nein haben, es aber nicht spüren oder nicht spüren dürfen, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben, egal ob bewusst oder unbewusst, dann treten Symptome auf, der Körper reagiert.

Martina: Wie kommt ein junger Mensch darauf zu sagen: „Da will ich nicht hin!“?

Nein zu sagen, sich abzugrenzen, das gehört zu unserem Dasein dazu. Es ist gesund, sich abzugrenzen. Das Nein ist etwas, das der ganz junge Mensch

irgendwann entdeckt. Das nennt man Trotzphase. In der schwarzen Pädagogik darf das Nein nicht sein, da geht es ja letztlich darum, diesen kleinen Wesen den eigenen Willen von Anfang an auszutreiben. Wenn Menschen in sich ein Nein haben, es aber nicht spüren oder nicht spüren dürfen, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben, egal ob bewusst oder unbewusst, dann treten Symptome auf, der Körper reagiert. Die Krebsforschung kann dazu viel sagen. Gehen wir mal davon aus, dass die Schule mehr Nein in einem jungen Menschen hervorruft als Ja. Und da das Nein nicht sein darf, äußern sich die als typisch geltenden Symptome: Es ist normal, dass im Grundschulalter viele Kinder Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Erbrechen haben. Mobbing ist normal und dass man sich mit Gewalt von Mitschüler*innen, Lehrer*innen auseinandersetzen muss, das ist alles normal. Früher war körperliche Gewalt in der Erziehung nicht so versteckt und es gab noch eine Sprache dazu. Da haben sich junge Menschen auch mal darüber unterhalten: „Ich habe wieder Ohrfeigen bekommen“ oder „Hat dich dein Alter wieder verhauen?“ Es war

Franziska Klinkigt ist Diplompsychologin mit Schwerpunkt Schulverweigerung. Sie ist systemische Familientherapeutin und ­beraterin und Mutter von einem Sohn und zwei Töchtern.

Das Interview ist hier sehr stark gekürzt. Mehr Infos und das ungekürzte Interview: www.franziskaklinkigt.de

Buch Olivier Keller siehe S. 57, weitere Buchempfehlungen siehe S. 30.

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nicht etwas, womit man ganz alleine war. Die heutige Gewalt ist teilweise so viel subtiler, dass sie überhaupt nicht mehr als das erkannt wird und wirklich geleugnet wird. Ich finde es zum Beispiel massivst übergriffig und gewaltvoll, jungen Menschen zu sagen: „Du hast jetzt auf diese Weise und in dieser Reihenfolge Buchstaben zu lernen.“ Und wenn der junge Mensch nicht bereit dazu ist – vielleicht weil es ihn noch nicht so interessiert, vielleicht weil er es sich anders angeeignet hätte –, wird eine LeseRechtschreib-Störung diagnostiziert. Wir rauben den jungen Menschen die einzigartige Chance, etwas selbst aus sich zu entdecken und das auch so zu erleben. Es geht da nicht um Schlagen oder jemanden Anschreien, es geht um das, was ganz normal ist:

Da bringt mir der*die Lehrer*in die Buchstaben bei. Wenn wir uns das einmal ganz genau anschauen, ist das ein massiver Gewaltakt. In vielen Trainings, in Filmen für Kinder, in Büchern wird den jungen Menschen die Botschaft vermittelt: „Sag Nein, dein Körper gehört dir.“ Dann kommt das große ABER: Bei der Schule geht das nicht. Wenn ich mich da reinfühle, finde ich das grausam. Das soll jetzt nicht pauschal heißen, dass alles schlecht ist. Es gibt viele Lehrer*innen, die es anders machen wollen, und es gibt Schulen, wo viele junge Menschen glücklich sind, weil sie alternative Konzepte haben, Individualität berücksichtigen oder einfach herzliche Menschen da arbeiten.

Wie viele Kommastellen hat π? Der eigenen Neugierde nachgehen ... Schule spielen ...

Martina: Wenn ein junger Mensch dann trotz seiner Äußerung wieder in die Schule muss, siehst du das also als Gewaltausübung?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Johan Galtung sagt, dass strukturelle Gewalt oft von den Betroffenen selber nicht als Gewalt empfunden wird. Ich bin ja einerseits dafür, das subjektive Empfinden als Maßstab zu nehmen. Wenn dieser junge Mensch etwas als Gewalt empfindet, dann ist das so –selbst wenn die anderen alle sagen: „Ist doch nicht so schlimm.“ Gleichzeitig, wenn das ein junger Mensch jetzt nicht als Gewalt empfindet und das mit sich machen lässt, kommen wir in den Bereich des – ich weiß, der Begriff ist auch problematisch –Missbrauchs. Also das ist ein ganz ganz schwieriges heikles Feld, wo wir

Foto: David Meixner / Lernwerkstatt Pottenbrunn Foto: Gudrun Totschnig

nicht einfach über jemand anderen eine Entscheidung treffen können, ihn aber auch nicht damit alleine lassen können.

Martina: Wenn ich jetzt als Mutter wahrnehme, dass da etwas nicht stimmt, meinem Kind geht es in der Schule nicht gut, es will aber weiterhin hingehen … Ich habe schon mehrmals Mütter und Väter beraten, die entschieden haben, ihr Kind aus der Schule zu nehmen. Wer weiterhin in Deutschland lebt, darf das nicht. Auch vom psychologischen Standpunkt ist es aus meiner Sicht nicht empfehlenswert, das einfach so zu tun. Wenn ich mir allerdings vorstelle, meine Tochter würde täglich in der Schule verprügelt werden, würde aber täglich wieder

Dem eigenen Lehrplan folgen ...

hingehen, dann würde ich sie da nicht hingehen lassen. Also wann schreiten wir ein? Letzten Endes muss der junge Mensch für sich selbst herausfinden: Was ist mein Weg? Was ist, wenn ein junger Mensch für sich erkennt: „Ich will das nicht mehr!“, und ich muss ihn gegen seinen Willen dazu bringen, ihn nötigen? Ist das Gewalt? Seit 2000 haben junge Menschen ein Recht auf gewaltfreie Erziehung (Paragraph 16312 bürgerliches Gesetzbuch), wobei gewaltfreie Erziehung eigentlich ein Unbegriff ist, wenn wir ihn uns genau angucken, aber lassen wir es mal dahingestellt.

Peter Gray, dessen Buch „Befreit lernen“ ich allen empfehle, die sich mit dem Thema beschäftigen, hat festgestellt, dass in den letzten Jahrzehnten einerseits der Raum für junge Menschen frei zu spielen, frei von der Aufsicht von Erwachsenen, immer kleiner geworden ist. Gleichzeitig stiegen die psychischen Erkrankungen bei jungen Menschen. Wenn ein Mensch für sich empfindet, das will ich nicht, das ist nicht gesund für mich, dann darf er nicht pathologisiert, nicht kriminalisiert und auch nicht bestraft werden. Vor ein paar wenigen Jahrzehnten ging die Schule auch nur bis mittags, oder bis zum frühen Nachmittag, dann hat man noch ein bisschen Hausaufgaben gemacht und hat sich draußen mit den Freund*innen zum Spielen getroffen, ohne Erwachsene.

Das war ein massiver Ausgleich zur Schule, der heute wegfällt. Im Grunde wird das Leben enteignet, es findet alles in Institutionen statt, wo die Menschen letztlich nicht wirklich glücklich sind, weil sie eben nicht so sein dürfen, wie sie sind. Seit Jahrzehnten haben Menschen wie Vera F. Birkenbiehl, Marshall Rosenberg, Jesper Juul, Wolfgang Bergmann, John Taylor Gatto darauf hingewiesen. Aber eigentlich sind es gar nicht die (Verhaltens-)Auffälligen, um die wir uns Sorgen machen sollten, sondern die Angepassten. Wie geht es denen denn? Die unsichtbaren Symptome zeigen sich oft erst später im Erwachsenenalter, durch Depression, durch Ängste, durch innere Leere, Beziehungsstörungen. Das sind alles Folgen von diesem Enteignet-Sein und nicht mit Menschen sein zu können, die wirklich Mensch mit mir sind.

Martina: Wie können Eltern ihre Söhne und Töchter begleiten, die von vornherein sagen, sie wollen nicht zur Schule gehen? Wenn ein junger Mensch schon vor der Schule sagt: „Ich will da nicht hin“, sage ich: „Geh hin und gucke es dir an“. Wenigstens einen Tag, eine Woche, probiere es aus, damit du wirklich in dir merkst, dass du da nicht hinwillst. Aus meiner Sicht sollte der junge Mensch sich ein eigenes

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Peter Gray: Befreit lernen. Drachen Verlag 2015. Foto: Sigrid Haubenberger-Lamprecht

Franziska Klinkigt: Wer sein Kind liebt ... Theorie und Praxis der strukturellen Gewalt. Tologo Verlag 2015. E­Book.

Urteil bilden. Mir haben auch schon Eltern erzählt: „Ich habe meinen Sohn gezwungen, ich habe ihn da weinend hingebracht, ich habe ihn ins Auto gezerrt, ich habe ihn überredet ...“, und sie haben bemerkt, wie die Beziehung zu dem jungen Menschen kaputtging.

Martina: Wie können Eltern liebevoll mit sich selbst umgehen, wenn sie im Nachhinein erkennen, ihre Tochter, ihren Sohn zur Schule gedrängt zu haben?

Thomas: Das heißt, es geht darum, die Möglichkeiten offenzuhalten?

Ja, und auch dem jungen Menschen zu signalisieren: „Wichtig ist, dass du dir dein Urteil bildest.“ Da muss ich als Mutter dann vielleicht auch zuschauen, wenn mein Kind etwas tut, was ihm nicht guttut. Zum Beispiel Medienkonsum. Oft ist bei einem Schulabbruch eine Leere und Erschöpfung da. Wenn sie dann aus der Schule raus sind, hängen sie ein Jahr

* Dieses Buch enthält auch den von Franziska Klinkigt übersetzten Artikel von Peter Gray: Die grundlegendste aller Freiheiten ist die Freiheit, etwas abbrechen und weggehen zu können.

Wir dürfen uns keine Vorwürfe machen, wir waren die braven Eltern, die wir sein sollen. Und egal, wie es mir in der Schule ging, ich kann nie wissen, wie es für meine Tochter oder meinen Sohn sein wird. Selbst wenn ich als Mutter oder als Psychologin weiß, wie viel von dem verletzt wird, was dem Menschen eigen ist und was er braucht. Sie*Er weiß, dass es eine Wahl gibt. Ich brauche die Befürchtung, dass es ihr*ihm schadet, nicht haben – sie*er wird Nein sagen. Wir können es jungen Menschen nicht nehmen, selbst eine Entscheidung zu treffen. Wir haben keine optimale Welt und Bedingungen, aber in eine Schule zu gehen, in dem Wissen, dass ich auch Nein sagen kann, erlaubt mir auch Ja dazu zu sagen. Bei einem Muss wird unser Freiheitsdrang berührt, den wir als etwas Gesundes in uns haben, und das Gesunde will leben.

Wir haben keine optimale Welt, aber in eine Schule zu gehen, in dem Wissen, dass ich auch Nein sagen kann, erlaubt mir auch Ja dazu zu sagen.

Um diese jungen Menschen mache ich mir am meisten Sorgen. Ihnen werden häufig Therapien und Diagnosen übergestülpt und oft auch die Familie problematisiert. Dabei brauchen diese jungen Menschen in erster Linie Ruhe, Regeneration, um irgendwie wieder zu sich zu finden. Natürlich ist das wieder diese besagte Gratwanderung, dass ich achtsam bin, jemanden da nicht allein zu lassen. Aber grundsätzlich, wenn junge Menschen das Bewusstsein einer Wahl haben, sich als Gestaltende fühlen, sich und ihr Nein ernst nehmen, brauchen wir uns keine Sorgen machen.

lang nur vor dem Computer herum. Sie haben keine eigenen Ideen mehr, und wenn du sie fragst: „Was willst du?“, kommt da nichts. Die wollen einfach nur noch ihre Ruhe. Aus meiner Sicht ist das auch das Einzige, was sie dann brauchen. Da kann ich nicht erwarten, dass sie mit einem Plan kommen – das wäre natürlich der schönere Fall. Aber oft brauchen sie erstmal Erholung, und das sind dann eher die, die pathologisiert werden.

Ich denke, ein Grund für die Angst von schulischer, behördlicher Seite ist die Vorbildfunktion: „Dann wollen die anderen da ja auch nicht mehr hin“ – dieser Satz alleine müsste den Menschen schon zu denken geben. Ich habe ein paar Mal gehört, dass Familien empfohlen wird, das Zuhause oder das, was außerhalb der Schule stattfindet, so unattraktiv wie möglich zu machen. Denn es sei ja klar, dass die Kinder dann nicht zur Schule gehen wollen, so gut wie es ihnen zuhause geht. Das sind Armutszeugnis-Aussagen, die ich schockierend finde. Ich finde, dass dieses Schulgesetz und die Schulpflicht der Deckmantel für Gewalt sind. Ich möchte dazu den Artikel von Peter Gray* empfehlen, den ich auch übersetzt habe: „Die grundlegendste aller Freiheiten ist die Freiheit, etwas abbrechen und weggehen zu können.“

40 Heft 24 2023

Von der Schule heilen

Eigentlich dachte ich, dass ich eine (halbwegs) schöne Schulzeit hatte. Auf die Frage, welche Bilder und Themen auftauchen, wenn ich an meine Schulzeit denke, wären bis vor kurzem viele schöne Momente aufgetaucht: der Banknachbar, den ich so gern mochte, die unterstützende Lehrerin, das spannende Thema, in das ich mich vertieft hatte, der Maiausflug, die Maturareise. – Bis vor kurzem.

In Polen habe ich vor einigen Tagen ein Training mit dem Titel „Healing from School Lab“, in Folge kurz HFSL, besucht. Und das hat meine Sicht auf meine Vergangenheit doch ganz gehörig durchgewirbelt. Ich habe dabei bemerkt: „Oh, da hab ich damals einiges an Gefühlen abgetötet.“ Ich habe mein vergangenes Ich im Überlebensmodus gesehen, wie es zurechtkommt mit dem System Schule: anpassen, Leistung erbringen, die „richtige Antwort“ haben und abspeichern, bewertet werden, sich mit anderen vergleichen oder verglichen werden, das Erlebnis von „nicht gut genug sein“ und dem darauf fußenden Ausbilden von Glaubenssätzen à la „ich bin ungeschickt / unsportlich / Mathe kann ich einfach nicht“.

Im HFSL kam dann erstmals die Möglichkeit, mich in einem sicheren Umfeld mit den immer noch wirksamen alten Strategien und Entscheidungen auseinanderzusetzen. Und ja, diese alten Emotionen, also jene Gefühle, die ich damals unterdrücken musste, zu fühlen, um diese zu heilen. Ich habe viel Angst erlebt. Angst, in der Pause verprügelt zu werden, weil ich die Gunst der Stärkeren verlieren könnte; Angst, etwas nicht zu können und deshalb ausgelacht zu werden; Angst, meinen Vater zu enttäuschen.

Ich habe auch viel Traurigkeit gespürt. Traurig, weil ich mich damals angepasst habe, mitgeschwommen bin. Traurig, als mir im Training die Frage gestellt wurde: „Was hätte dein innerster Wesenskern denn damals gerne gemacht und gelernt?“, und es aus mir nur so rausgeblubbert ist –und nichts davon hatte in der Schule damals Platz. Traurig,

weil mir über Jahre so viele Informationen eingetrichtert wurden, von denen NICHTS übriggeblieben ist – mit wem hat Rudolf der Xte wann gegen wen Krieg geführt? Und wieso ist das eigentlich im Jahr 2023 relevant? Und wieso lernen wir in der Schule nicht stattdessen, mit unseren Gefühlen umzugehen? Und wer definiert im Schulsystem diese Prioritäten? Menschen, die Probleme haben mit ihren Gefühlen umzugehen?

Ja, richtig, ich habe auch richtig, richtig viel Wut gespürt! Wütend auf dieses System von Konkurrenz und dumpfem Leistungsdogma. Wütend auf den Religionslehrer, der eine ganze Stunde lang seine hasserfüllten, von Verachtung und Häme strotzenden Tiraden über Homosexualität losgelassen hat – auf einen damals 15-Jährigen, der ohnmächtig und verstört das zarte Pflänzlein seiner Homosexualität in Händen hielt (und diese deshalb jahrelang unterdrückte). Wütend, dass solche Leute überhaupt das Privileg haben, junge Menschen zu begleiten.

Und schließlich kam auch die Freude. Freude, über die Heilung, die durch diese Prozesse im Training entstanden ist. Freude, dass ich meinen Weg trotz Schule gegangen bin und gehe. Freude über Momente des DaranWachsens. Freude, dass ich mich jetzt in den Dienst von Liebe und Ermächtigung stelle. Freude, dass ich mir meine damaligen Überlebensstrategien, die auch heute zum Teil noch wirksam waren, wirklich angeschaut habe und erstmals, mit 43 Jahren, voller Überzeugung den Satz in den Trainingssaal schreien konnte: „I AM NOT IN SCHOOL ANYMORE!“

Kewin Comploi­Taupe wandelt im Abenteuer Leben. Wirkt als Trainer nach dem „Lernen durch Erfahrung“­Prinzip, z. B. beim Selbstermächtigungstraining RISE! und im Jahrestraining der Pioneers of Change. Hat das Wohnprojekt Hasendorf mitgegründet und sich intensiv mit Gemeinschaften auseinandergesetzt. Begleitet Feuerläufe und andere kraftvolle Rituale.

41 Heft 24 2023

Vom Burnout ...

... zum begeisterten Weltraummaschinen­Entwickler

Thomas und Martina Weihrich im Gespräch mit ihrem Sohn Leander.

Thomas: Leander, du hast ja von der staatlichen Schule bis zur Waldorfschule fast alle Schulformen ausprobiert, die es so gibt. 6 Schulen in 6 Jahren. Letztendlich hat deine Schullaufbahn im Burnout geendet. Wie war es denn für dich, als du mit der Schule aufhörtest? Was waren Unterschiede zu deinem bisherigen Leben?

Leander: Das lange Ausschlafen (lacht). Und ich konnte neue Dinge ausprobieren und meinen Interessen nachgehen.

Martina: Magst du erzählen, wohin dich deine Interessen geführt haben?

Meine ersten Projekte waren Bau- und Bastelprojekte. Ich habe funktionstüchtige große Maschinen aus Pappe und Heißkleber gebaut, wie beispielsweise einen Automaten, der Münzen auswarf, mit Beleuchtung und Musik, die ich selbst komponiert habe. Ich habe auch viel Sport gemacht wie Schlittschuhlaufen, Skifahren, Parcours. Und Geige und Orgel gespielt. Ich habe immer sehr viel auf einmal gemacht.

Martina: Alles, was du gemacht hast, wurde ja für den HighschoolAbschluss anerkannt. Und deine Projekte haben dich dann weitergeführt nach Amerika ...

Ich bin durch einen Aufruf im Frühstücks-Fernsehen, den eine Freundin gesehen hat, in einem Programm aufgenommen worden, in dem sich junge Menschen auf die „NASA Human Exploration Rover Challenge“ vorbereiten. Das ist ein großer Wettbewerb, bei dem sich über 100 Teams aus der ganzen Welt treffen, die alle vorher ihren eigenen Rover bauen. Ein Rover ist ein Gefährt, mit dem man auf anderen Planeten fahren könnte. Und dann wird auf dem NASA-Gelände in Huntsville, Alabama, ein Rennen gefahren, mit vielen Zusatzaufgaben: Man muss z. B. Steine einsammeln und flüssige Proben entnehmen, oder an einer bestimmten Stelle eine Fahne aufstellen. Dieser Hindernis-Kurs ist anspruchsvoll – es sind ziemlich viele Rover kaputtgegangen.

Meine Aufgabe, um dafür aufgenommen zu werden, war, ein Gerät zu bauen, mit dem ich drei verschiedene flüssige Bodenproben so schnell wie möglich und kontaminationsfrei in einem kleinen Behälter aufnehmen kann. Daran habe ich dann gearbeitet und ein Gerät entwickelt, mit dem ich innerhalb von 2,5 Sekunden drei separate Bodenproben aufnehmen konnte.

Martina: Wie ist es dir und deinem Team im Rennen ergangen?

Es gibt zwei Renntage und wir waren bei beiden Rennen die Schnellsten und hatten auch die meisten Punkte. Das Lustige war, dass wir im ersten Rennen den Rover falsch zusammengebaut haben und mit angezogener Handbremse gefahren sind. (lacht)

Thomas: Warst du aufgeregt vor dem Rennen?

Ja, ziemlich.

Thomas: Aber ihr hattet den Spaß auf eurer Seite, oder?

Das stimmt. Wir sind dann im Anschluss auch noch durch Amerika gereist und haben sehr viele Space Center angeschaut. Wir haben einen Nachbau der Apollo-11-Rakete in Originalgröße gesehen und uns das Testgelände angeschaut, wo die Raketentriebwerke getestet werden. Wir konnten den Astronauten zusehen, wie sie in einem riesengroßen Wasserbecken in der Schwerelosigkeit geübt haben etwas zu reparieren. Wir haben auch das Kontrollzentrum der ISSRaumstation gesehen und konnten den Leuten zusehen, wie sie die ISS kontrolliert und überwacht haben.

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Leander Weihrich hat mit seinen eigenen Projekten frei und selbstbestimmt den internationalen HighschoolAbschluss absolviert.

Thomas: Und wie bist du zur Musik gekommen?

Zum einen habe ich Geige gespielt, weil du (Thomas) Geige gespielt hast und ich immer wieder bei den Orchesterproben dabei war. Und dann wollte ich später auch Klavier anfangen, aber alle Klavier-Kurse waren voll, und was noch übrig blieb war Kirchen-Orgel.

Thomas: Wie hast du es geschafft, in das Kinderorchester von Salut Salon aufgenommen zu werden? Die hatten ja Aufnahmestopp?

Wir waren auf einem Konzert und nach dem Konzert gab es eine Autogrammstunde und ich bin einfach hingegangen und habe gefragt, ob ich da doch noch mitmachen könnte, und da meinten sie: „Ja, klar!“ (lacht) Ich durfte zu einem Vorspieltermin kommen und wurde danach aufgenommen.

Martina: Du hast auch für alles, was du machen wolltest, deine eigenen Meister gefunden – auch zuletzt auf den Reisen, die wir gemacht haben ... Ja, zum Beispiel als wir in Marokko waren, haben wir die Stadt Safi besucht, und in der Innenstadt sprach uns plötzlich ein Mann an, der mich dann durch die Stadt geführt und uns den Töpferhügel gezeigt hat, wo

das berühmte Safi-Porzellan hergestellt wird. Davor waren wir auf El Hierro und ich brauchte noch einen Geographie-Credit und wollte ihn über die Vulkane und deren Entstehung machen. Und dann trafen wir auf dem Markt einen Deutschen, der Höhlentouren anbot, und sein Hobby zum Beruf gemacht hat. Er hat mir so viel Wissen vermittelt und Bücher gegeben, mit denen ich mir das Thema erarbeiten konnte.

Thomas: Wir staunten, wie ab dem Zeitpunkt, als du die Schule verlassen hast, dir in einem fort lebendiges Wissen begegnet ist. Haben all deine Projekte auch dazu geführt, dass du jetzt ein Bild hast von dem, in welche Richtung du gehen möchtest? Ja, ein bisschen. Aber es gibt so viele Möglichkeiten und Ideen, was ich machen könnte.

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Foto: David Meixner / Lernwerkstatt Pottenbrunn

Ilan Stephani spricht mit Thomas und Martina Weihrich über das Stillsitzen­Müssen in der Schule, die kollektive Sucht nach einem niedrigen Energieniveau und unsere verloren gegangene Glücksfähigkeit.

Thomas: Wie bist du darauf gekommen, dass der Körper so immens wichtig für unser Leben ist, unser Leben quasi bestimmt?

Ilan: Ich bin gar nicht direkt auf den Körper gekommen – mein Weg war schnellstmöglich weg vom Problem. Das Problem war, im Kopf zu sein, zu viel zu denken. Ich war eine extrem unauffällige, gute Schülerin. Niemand hat sich Sorgen um mich gemacht, was hochtraumatisch war. Man hätte sich echt Sorgen um mich machen sollen, wieso ich so gut denken und so wenig fühlen und spüren kann. Nach der Schulzeit habe ich über ein paar Umwege angefangen mehr und mehr meine Seele zurückzuholen in meinen Körper. Ein Mensch, der nicht in seinem Körper ist, ist ein Mensch, der das Leben nicht lieben wird, weil der Ort, das Leben zu lieben, der Körper ist – das müssen wir beschützen für uns selbst, für andere Generationen und andere Menschen, für andere Lebewesen.

Martina: Mir ist dieses DissoziiertSein vom Körper viel später als bei dir in mein Bewusstsein gekommen. „Dissoziation“ ist ein krasses Wort, aber es ist wirklich eine Abspaltung. Eine ursprüngliche Einheit erlebt sich nicht mehr als Einheit und dann

wundert man sich, warum das Leben kompliziert ist oder depressiv. Das Gute ist, dass es nicht darum geht Körperlichkeit zu lernen, eine Technik zu lernen, sondern: Körperlichkeit findet sich selber wieder. Es ist ein ultimativ entspannender Prozess, sich selber wieder zu spüren, weil wir endlich die ganzen Schichten der Kultur wieder loslassen dürfen. Dieser Tiger, diese Tigerin in uns, der und die sehnt sich danach diese menschliche Kultur abzuschütteln, das ist Erholung. Das ist Hingabe in die Kraft.

Martina: Ich habe viele Jahre als Lehrerin gearbeitet und habe Dinge gesehen, die ich nicht mehr mittragen wollte. Jemand sagte mir einmal: „Jetzt kommen die Erstklässler, die müssen erst einmal lernen, eine dreiviertel Stunde zu sitzen.“

Wir brauchen die Stimulation der Sinne und Bewegung, damit wir überhaupt in einer intelligenten Weise denken lernen können – das wissen wir heute. Wir, die gesamte Gesellschaft leidet an dem Sitz-Trauma ihrer Schulzeit. Und dann rennen wir herum, versuchen die Welt zu retten

nachdem man uns so früh eingeprügelt hat: „Halt still, sonst gehörst du nicht dazu!“ Solange wir diesen Code

in uns laufen lassen, werden wir nicht aufstehen für eine bessere Welt, wir werden darüber reden, wir werden beteuern, wir haben es besser gewollt. Wir haben es nicht anders gelernt als geliebt zu werden für eklatante NichtHandlung. Es ist tatsächlich noch so, dass diese Erstklässler jetzt erstmal lernen müssen, ruhig zu sitzen. Lasst uns Augen und Ohren aufsperren, um so viel wie möglich zu lernen von diesen Lebewesen, lassen wir uns triggern von solchen Bündeln der Lebensenergie!

Martina: Da fallen mir diese Sandwesten an Schulen ein, mehrere Kilo schwer, die bewirken sollen, dass junge Menschen, die bewegungsfreudig sind, auch am Platz sitzen bleiben. Die Schulleitungen fanden das ganz toll und die jungen Menschen hätten auch selber gesagt, es fühlt sich so gut an. Für mich ist das ein künstliches Ruhigstellen, damit sie auf eine Weise funktionieren, wobei ihr Körper etwas anderes sagt.

Warum zeigen denn gesunde Bewegungskörperchen eine Rastlosigkeit in ihrer Bewegung? Was spiegelt uns diese Hyperaktivität? Aber nein: Symptom und dann eine Sandweste drauf. Um dann später als Erwachsene funktions-

Mehr Infos: www.ilanstephani.com

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Ilan Stephani ist Bestseller­Autorin und Körperforscherin im Bereich Embodiment & Trauma.
„Halt still, sonst gehörst du nicht dazu!“

oder arbeitstüchtig zu sein, haben wir Taubheit eingespeichert. Wir sind weniger sensibel, wenn uns jemand umarmt, Komplimente macht, bedroht. Wir wissen, dass das, was wir über das Leben gelernt haben, nicht lernenswert genug ist für Generationen nach uns, wenn es wirklich darum geht, glücklich zu sein und ekstatisch und frei. Warum tun wir das? Ich glaube, es ist auch eine sehr egoistische Rechnung: Wenn ich sehe, wie maßlos lebendig und glücklich Menschen nach mir leben dürfen, dann bricht mir mein Herz. Mit diesem Schmerz meiner verlorenen Jahrzehnte will ich nicht sein.

Martina: Wir sperren junge Menschen jetzt wieder in dieses Gefängnis, in dem wir auch waren. Ich sehe es auch selbst in meinem Unterricht in der Schule: Wenn jemand auffällig war und um sich getreten hat, weil er wütend geworden ist, dann ist er in die Außenseiter-Ecke gestellt und beschämt worden. Kannst du zu diesem Beschämen, der Scham noch etwas sagen?

Scham erfüllt eine biologisch-evolutionär wichtige Rolle. Wir spulen jetzt ein paar Jahrtausende oder Jahrmillionen zurück und ihr seid Tiger und Tigerin, das ist eine frühere Inkarnation von euch beiden (lachen) und ihr habt einen Kampf. Ihr seid eigentlich beide gleich gut im Rennen und ihr kämpft um eure Reviere. Jetzt machst du, Thomas, einen falschen Tritt, eine falsche

Bewegung und Martinas Pranke erwischt dich am Bauch, du fängst augenblicklich an zu bluten. Das ändert die gesamte Situation. Du wusstest vorher, du bist mit ihr auf Gleichstand, und ab dem Moment merkst du: Ich bin so tief verwundet, so tief getroffen, ich muss augenblicklich schauen, dass ich mich irgendwie in Sicherheit schleppe. Das heißt, dein Stoffwechsel, dein Nervensystem, dein Kreislauf,

Was uns so sehr triggern kann, ist die Glücksfähigkeit junger Menschen, weil in uns selber früher auch so viel Glück reingepasst hat.

alles fährt aus dem Kampfmodus runter und zieht sich zusammen, damit du möglichst wenig Blut aus der Wunde verlierst. Jetzt ist dein sicheres Revier, in dem Martina dir nicht folgen wird, wo du heilen kannst, zehn Meter entfernt. Diese zehn Meter spielst du Martina vor, es sei alles in Ordnung: „Lalalala, alles in Ordnung – nö, nichts passiert, tut gar nicht weh.“ Das ist biologisch gesehen Scham. Es ist das Verbergen der Wunde vor der Außenwelt, der Außenwelt die eigene Wahrheit nicht zu zeigen, weil es sich

nicht sicher genug anfühlt. Wenn du dann in deinem Nest gelandet bist, lässt du die Scham natürlich los, wirfst dich auf den Boden, zitterst und vibrierst, leckst deine Wunden und lässt dich wieder zu Kräften kommen – das ist der Punkt, den Menschen nicht machen. Wir heilen unsere Wunden nicht – im Gegenteil: Während dieser zehn Meter Richtung Nest erzählst du dir die Geschichte: „Das ist mir passiert, weil ich wirklich nicht liebenswert bin. Martina hat mich am Bauch verletzt, weil ich nicht leben soll.“ Das wird dein Gefängnis aus Scham und eine Vollbremsung für deine Lebensenergie. Wie gehen wir mit Scham um? Meine Lehrerin hat mich z. B. dumm genannt, dann wird einmal darüber geredet. Manchmal heilt dann die Scham, manchmal auch nicht. Es ist viel effektiver zu sagen: „Es ist egal, was die Lehrerin mir gesagt hat, ich erinnere den energetischen und psychischen Kollaps und fang an mich zu schütteln, dann zu tanzen.“ Probiere mal ausgelassen zu tanzen und dich währenddessen hassenswert oder nicht existenzberechtigt zu fühlen!

Martina: Für Eltern, die das jetzt hören, oder Lehrerinnen oder Lernbegleiter: Wie können sie das konkret umsetzen?

Was ich häufig höre von Eltern, ist: „Ich mache mir wahnsinnig Vorwürfe, nicht mehr für meine Kinder da zu sein, nicht mehr für sie da gewesen

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zu sein, oder ich schäme mich, eine schlechte Mutter zu sein.“ Das ist an sich sehr ehrenwert, aber wenn jemand jahrelang mit Selbstvorwürfen herumläuft, dann muss man an den Tools etwas verändern, um dieses Selbstbild loszulassen. Es nützt Kindern nichts, wenn die Eltern sorgengebeugt sind. Kinder lernen sich selbst zu geißeln und sich dauernd zu kritisieren. Genau so etwas wollen wir ihnen nicht beibringen. Sagen wir, da ist eine Mutter, sie heißt Hanna und sie ist 35 Jahre alt. Hanna hatte den ganzen Tag einen stressigen Job, aber abends hat sie fünf Minuten für sich, und sei es kurz vor dem Zähneputzen. Sie schließt sich im Badezimmer ein und hofft, ihre Kinder klopfen nicht und sie kann einmal fünf Minuten lang Zähneputzen. In diesen fünf Minuten macht sie Folgendes: Sie putzt nur eine Minute lang ihre Zähne und vier Minuten lang schüttelt sie sich von Kopf bis Fuß. Eine Minute lang schüttelt sie den ganzen Körper, um diesen ganzen stressigen Menschen-Tag rauszuschütteln, die zweite Minute sagt sie sich diesen Satz von Scham, z. B.: „Ich flippe so schnell aus, dass meine Kinder später total traumatisiert von mir sein werden.“ Sie stellt sich diesen Satz vor und beginnt sich zu schämen: „Ich schäme mich für das, was ich besser tun müsste, und ich schaffe es nicht mal mich zu bessern, und das ist nochmal besonders schlimm.“ In dieser zweiten Minute beobachtet Hanna:

Wie verändert sich die Atmung, wenn sie sich schämt? Wie verändert sich die Körperhaltung, wenn sie sich schämt? Das hat sich bei Thomas im Dschungel als verwundeter Tiger auch verändert: Von jetzt auf gleich ist er aus dem Kampf in die Vollbremsung gewechselt – das macht Hanna jetzt auch. Für die dritte Phase haben wir uns zwei Minuten aufgespart. Diese zwei Minuten lang tanzt sie wild und jubelt und schüttelt sich. Und damit meine ich wirklich Hände über den Kopf reißen und: „Yaaay, ich bin die schlechteste Mutter der Welt!“ Und am besten noch Kopfhörer in die Ohren mit dem Lieblings-Song. So ausflippen, so außer Rand und Band, so lebendig, dass diese Selbstvorwürfe in Hannas Nervensystem gekoppelt werden an „Auftakt einer super Party“. Auf diese Weise hört Hanna auf, sich zu schämen, dass sie eine schlechte Mutter ist. Der Weg der Worte, der bringt gar nichts. Kein einziger Mensch hat jemals seine Schuld- und Schamgefühle aufgelöst, indem er sich von den besten Freundinnen und Freunden erzählen ließ: „Hey, du bist prima, so wie du bist“ – das heilt niemanden. Was heilt, ist der Weg der Energie. Hanna koppelt eine schlechte Mutter zu sein an den Beginn einer Party. Der Glaube eine schlechte Mutter zu sein hat keine Kraft mehr über ihre Energie – und schwuppdischwupp haben ihre Kinder eine sehr präsente und glückliche Mutter.

Martina: So einfach. Wir reden viel von Lebendigkeit und von Gesundheit usw. in Bezug auf ältere und jüngere Menschen, was uns aber im Endeffekt sehr triggern kann, ist die Glücksfähigkeit junger Menschen, weil in uns selber früher auch so viel Glück reingepasst hat. Dann wurde dieser innere Raum immer kleiner: „Solange ich nicht glücklich bin und das Leben meiner Träume leben darf, darfst du es schon gar nicht, weil du gehst in die Schule und aus dir muss noch was werden.“ Ob wir es so formulieren oder nicht – es gibt so etwas wie ein Sich-hochdienen-Müssen, Sich-hochleiden-Müssen – das dürfen wir nicht weitergeben.

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Foto: Foto: David Meixner / Lernwerkstatt Pottenbrunn

Ausführlichere Version des Interviews mit Ilan Stephani in der Zeitschrift für innovative Pädagogik Freigeist, März/April 2023 „Energie!“

Thomas: Es gilt, die Wahrnehmung dafür überhaupt erstmal zu bekommen.

Die Wahrnehmung ist augenblicklich da, sobald wir mit jungen Menschen Zeit verbringen und widerstehen, „normal“ mit ihnen umzugehen. Dieses „komm, komm hier rüber, jetzt mach doch“ und „och, das hast du schön gemacht, gut, ein tolles Bild“, lasst mal diesen ganzen Scheiß weg!

Lass mal einfach alles weg, was du normalerweise mit dieser Berechtigung eines Erwachsenen tust. Du bist dann sofort mit deinem eigenen Schmerz konfrontiert. Es ist nicht schwierig, die Wahrnehmung dafür wieder zu bekommen. Es ist nur schwierig, das dann wahrzunehmen, was man dann wahrnimmt – und das ist eben der eigene Schmerz. Wenn du neu mit Kindern umgehen willst, das ist wie der Highspeed-Trip in deine eigene Traumatherapie. Ein normaler Erwachsener, das kann ein Lebewesen nicht sein wollen – nichts daran ist lebendig, gesund oder erstrebenswert. 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche präsente Beleidigung und Ignoranz dem Leben gegenüber – das ist, wie wir unseren Kindern weh tun. Sie sollen den Asphalt von der Straße kratzen und stattdessen irgendwelche blühenden Abenteuerpfade entlang machen – das braucht es, sie sollen dieses Leben auseinandernehmen. Am Ende des Tages haben wir nicht mal das Recht, diejenigen zu sein, die das bewerten – Hauptsache Veränderung.

Wir opfern eine Menge, wenn wir zur Veränderung Ja sagen. Vielleicht dämmert uns eines Tages, dass es langsam die einzige Option ist, zur Veränderung Ja zu sagen. Wir wissen nicht, ob sie die Welt besser machen oder ob sie die besseren Menschen sind. Das finde ich angemessen, dass wir uns etwas abverlangen, was unsere Eltern uns nicht vorgemacht haben. Und selbst wenn wir daran scheitern: Es probiert zu haben finde ich attraktiv.

Thomas: Das heißt, wir müssen eigentlich nur die Sicherheit geben, den Möglichkeitsraum offenhalten und ihn nicht verengen?

Wenn du neu mit Kindern umgehen willst, das ist wie der Highspeed-Trip in deine eigene Traumatherapie.

Statt „Wie können wir das Neue weitergeben oder die Veränderung weitergeben?“ vorsichtshalber mal gar nichts weitergeben. Sich gut zu überlegen, ob man genau so weitermachen möchte wie vorher. Wir könnten

weitergeben: „Ich kümmere mich um mich selbst, ich spüre mich selbst, ich schüttle mich selber, ich gehe selbstverantwortlich mit meinen Triggern um, wenn du mich mal wieder rasend gemacht hast.“

Ja, es gibt diesen Instinkt von beiden Seiten: Da steht ein kleines Körperchen neben einem großen Körper und das kleine Körperchen tastet nach dem Hosenbein und nach der Hand. Die kleine Hand möchte die große Hand spüren und die brummende tiefe Stimme, die sagt: „So, wir gucken uns das mal an, ich zeig dir, wie ich das gelernt habe und wie ich das machen würde. Wir gucken, was passiert, und ich bleibe da – komm, wir machen einen Schritt nach vorne.“ Das ist ein „ich initiiere dich in diese Welt, ich zeige dir das Leben“, das ist eine ganz wichtige Rolle, für die wir die Ruhe brauchen, denen zu lauschen, die gerade von uns an die Hand genommen werden. Wenn ich von den Großen aber immer nur statt Berührung, Initiation und gemeinsamem Erforschen Bewertungen und Noten bekommen habe, dann kommt dieser natürliche Instinkt nicht, der fragt: „Zeigst du mir das? Zeigst du mir, wie du das machen würdest?“ Dann haben wir eine auf die Herausforderungen des Lebens sehr unvorbereitete Generation, rennen herum und sagen: „Jemand muss die jungen Leute schützen vor allem Möglichen, z. B. vor ungeschütztem Sex mit 14 usw.“ Wir müssen sie vor allem Möglichen schützen, aber erst nachdem wir sie so sehr aus ihrem Vertrauen zu uns weggeprügelt

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März/April 2023 18. Jg. Euro 9,50 Lernwerkstatt Wasserschloss Freigeist – Zeitschrift für innovative Pädagogik Energie! Vom Tee zur Trance Magdalena Stampfer LernOrte: hugs Franz Josef Gaugg Halt Still Gudrun Totschnig Energie Es ist alles schon da Team-Talk Folge www.freigeist.online

haben, dass wir an sie nicht mehr rankommen. Dann finden wir es problematisch, dass sie mit 12 Pornos gucken oder wer weiß was. Wir hätten sie einfach nicht so unfassbar enttäuschen sollen in Bezug auf uns, dann hätten wir jetzt nicht dieses Gefühl, die Frage: „Wie kommen wir denn heute noch an die jungen Leute ran?“ Wenn wir an uns selbst nicht rankommen, an diese inneren Frequenzen, Gefühle und Empfindungen, dann kommen wir an niemanden ran.

Martina: Das heißt also, es wäre hilfreich, erstmal bei uns zu schauen – das überträgt sich dann automatisch auf die jungen Menschen?

Es ist ein Zwei-Schritte-Programm: Etwas triggert mich und ich checke kurz: „Kann ich mir in dieser Situation erlauben mich zu schütteln?“ Z. B. der Lehrer vor einer Schulklasse, der für sich feststellt: „Nein, es fühlt sich gerade nicht sicher genug an, mich zu schütteln.“ Dann, lieber Lehrer, kein Problem, du wartest bis Feierabend, oder du gehst einfach in der Pause aufs Klo, stellst dir die Situation vor und spürst wie du beschämt, überfordert, wütend auf die Kinder dagestanden bist. Dann schüttelst du dich und löst es auf. Es ist nicht so, dass du nicht mit der Außenwelt in Kontakt gehst, aber du kümmerst dich zuerst, immer zuerst, um die Innenwelt.

Martina: Mir kommt das Bild, wie wir uns alle gemeinsam schütteln ...

Es gibt mittlerweile ganze Schulklassen, die morgens stramm aufstehen, um sich zu schütteln! Schütteln ist ja nicht eine Methode, sondern evolutionär die gesündeste und automatischste Bewegung der Welt. Sobald Säugetiere sich sicher fühlen, nachdem sie Stress hatten, fangen sie an zu zittern. Wir hatten Stress – warum schütteln wir uns nicht? Weil wir ständig Angst haben. Sobald wir aus dieser Schreckstarre kollektiv rausfinden, haben wir einfach nur noch den Job, unseren Instinkten in Bezug auf Vibration nachzugeben. Shaking future! So schwer kann‘s doch nicht sein ... Aber das Problem ist, es macht glücklich, und damit müssen wir halt klarkommen, das ist der Punkt. Wir dürfen es nicht so tragisch nehmen, wenn es uns gut geht.

Auch Online Sessions

Klangcodes sind kurze gesungene Tonfolgen, die ich zur aktivierung der selbstheilungskräfte und zur energetischen Heilung nutze. Meiner erfahrung nach sind sie besonders wertvoll für Kinder z. B. bei Unruhezuständen, adHs, Kopfschmerzen, Wutausbrüchen u. Ä.

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Bogenbaukurse

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Alicia Kusumitra

ist Mayapriesterin, Kongressveranstalterin und Mutter von 8 Kindern, die sich in Guatemala frei und selbstbestimmt bilden.

Mehr Infos: www.kusumitra.de www.zeit­des­wandels.tv

* Das Phänomen der Orientierung nur an Menschen gleichen Alters und die einhergehende Trennung beschreiben Gabor Maté und Gordon Neufeld in ihrem Buch Unsere Kinder brauchen uns.

Unseren Kindern zuhören bedeutet uns selbst zuzuhören

Alicia Kusumitra im Gespräch mit Martina & Thomas Weihrich über das Freiwerden und In­die­eigeneKraft­Kommen begleitender Menschen.

Thomas: Du bist Mutter von acht freilernenden Kindern und begleitest Menschen dabei in ihre Kraft zu kommen. Wie hängen diese beiden Wirkkreise für dich zusammen?

Alicia: Ich habe mich als junges Mädchen sehr auf die Schule gefreut. Als ich dann aber in eine Grundschule gekommen bin, wollte ich sehr bald nicht mehr hingehen. Damals als Kind konnte ich nicht beschreiben, was ich wahrnahm, und hatte auch nicht die Worte dafür. Heute kann ich es erklären: Die Lehrer*innen waren nicht in ihrer Kraft. Wir hatten einen Lehrer, der hat den Kindern sehr verletzende Spitznamen gegeben, hat ihnen ab und zu ein Buch auf den Kopf gehauen. Heute weiß ich: Wenn du dein Kind in seine Gaben, in seine Talente, in seine Kraft bringen willst, musst du selber in deiner Kraft sein. Nach der Grundschule kam ich in ein Gymnasium mit 2600 Schüler*innen. Und das hat mich einfach total überfordert. Ich werde diesen Moment nie vergessen, als ich mir im Kopf durchgerechnet habe, wie viele Jahre ich jetzt noch zur Schule gehen muss: 9 Jahre! Das war wirklich – damals hätte ich es nicht sagen können, heute weiß ich es – ein Gefühl von Depression, von Gefangenschaft.

Als dann unsere älteste Tochter geboren war, kam sehr bald von allen Richtungen die Frage, wann ich denn mein Kind in den Kindergarten geben würde. Das fühlte sich nicht richtig an, und gleichzeitig fragte ich mich, ob ich eine von den Mamas bin, die nicht loslassen können. Ich habe erkannt, wie viele Ängste ich eigentlich in mir habe. Und so war der Weg ins Loslassen meiner Kinder und meine Kinder in ihre Kraft begleiten auch gleichzeitig der Weg in meine Kraft, in mein Freiwerden.

Martina: Wie seid ihr dann zum Freilernen gekommen?

Als Angelina drei Jahre alt war, habe ich mir einen Waldorfkindergarten angeguckt, mein Gefühl blieb aber gleich: Nein, das ist nicht unser Weg. Und kurz danach kam eine Freundin in mein Leben, die mir damals vom Freilernen erzählte. Ich habe dann begonnen alle Bücher zu lesen, die ich finden konnte: Von John Holt über Olivier Keller, und immer wieder auch Bücher von Lehrern wie Daniel Greenberg, der die Sudbury Valley School gegründet hat. Und das hat mich wieder erinnert an meine Schulzeit, wo ich so vieles schon gespürt habe, aber mit Worten nicht ausdrücken konnte.

Wir sind dann nach England gegangen, da es sehr Homeschooling- und Freilerner-freundlich ist. Angelina war da vier und Niki zwei Jahre alt und unsere Intention war, es einfach einmal auszuprobieren, wir hatten ja noch Zeit. Ich war mit den Kindern fast jeden Tag auf einem Freilerner- oder Homeschooler-Treffen und so habe ich ganz viele andersdenkende Menschen kennengelernt. Vor allem war interessant für mich, bei diesen Treffen auch den Kindern zu begegnen. Die liebevolle Beziehung selbst von Teenagern zu ihren Eltern hat mich sehr berührt. In meiner Teenagerzeit war es cool unter Gleichaltrigen die Eltern zu hassen – das gehörte dazu, auch wenn du deine Eltern eigentlich liebgehabt hast. Ich fühlte mich damals getrennt von meiner Familie, getrennt von der ganzen Gesellschaft, in der Schule ging es nur darum dazuzugehören.* Ganz wesentlich ist meiner Ansicht nach, nochmal selber in die eigene Kindheit zu reisen und anzuschauen, was man von da mitgenommen hat. Das darf man ja fast gar nicht sagen, aber ich sage es trotzdem: Das normale Schulsystem traumatisiert immer mehr Kinder. Kinder haben heute bereits in der Grundschule Depressionen und die Eltern merken es nicht, weil

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sie so in ihrem Leben gefangen sind und selber Depressionen haben. Wir müssen unseren Kindern zuhören, und dafür müssen wir uns auch selbst mal zuhören. In England habe ich ganz viel von den Kindern gelernt, weil es ihnen egal war, ob sie irgendwo dazugehören, die waren alle ungeschminkt. Das Schönste war für mich, dass sie, auch wenn sie schon 16, 17 waren, noch mit kleinen Kindern gespielt haben. Ich hatte den Eindruck, dass FreilernerKinder einfach viel länger Kind sein dürfen. Sie dürfen auch noch mit 18 oder mit 20 Verstecken spielen.

Martina: Du lebst mit deiner Familie in Guatemala und hast bei Nachkommen der Maya gelernt. Magst du davon erzählen?

Familie hat auf jeden Fall bei den Maya einen großen Stellenwert. Sie gehen davon aus, dass jedes Kind mit einer speziellen Energie geboren wird und jede Energie – das ist für die Maya die spirituelle Seele – hat bestimmte Gaben und Talente und bringt auch Herausforderungen mit. Es geht nicht darum, dass das Kind sich anpasst, das ist ja in unserer Welt so. Bei den Urvölkern ist das anders, weil da wird jedes Individuum, jeder Mensch einfach als besonders angesehen, und bringt besondere Energie, Fähigkeiten und Kräfte mit. Das heißt, jedes Kind vervollständigt die Familie immer

mehr. Es wird von den Erwachsenen unterstützt, die eigenen Gaben und Fähigkeiten zu entfalten und seinen ureigenen Platz einzunehmen in dieser Welt, wie auch jedes Tier, jede Pflanze, jedes Lebewesen als ein wichtiger Teil angesehen wird. Der häufigste Satz, den ich in Europa höre, ist: „Ich bin nicht gut genug, die anderen sind besser.“ Und dann wissen Menschen irgendwann gar nicht mehr, wer sie

um meinen Kindern besser helfen zu können. Ich hatte ja all diese Bücher von alternativen Pädagog*innen gelesen und ich wollte das alles umsetzen, aber gerade in Stresssituationen bin ich doch in alte Muster gefallen, und irgendwann hörte ich mal, wie ich mit den Worten meiner Mutter schimpfte – und dann habe ich gemerkt, ich muss in die Tiefe gehen, den alten Schmerz lösen, das alte Trauma lösen, auch was über die Ahnenlinie weitergegeben wurde.

Wenn du dein Kind in seine Gaben, in seine Talente, in seine Kraft bringen willst, musst du selber in deiner Kraft sein.

sind. Aber es wird als normal in unserer Welt angesehen, Depressionen zu haben oder Nervenzusammenbrüche zu erleiden.

Es ist so wichtig, dass wir unsere Kinder wieder unterstützen, und das geht aber nur, wenn wir erstmal selber erkennen, wer/wie wir sind. Wenn ich wirklich will, dass meine Kinder in ihrer Kraft sind, ihre Gaben und Fähigkeiten leben, muss ich das selber auch tun, mich selber weiterentwickeln,

Martina: Man hört ja oft das Argument, Kinder brauchen die Schule, um sozialisiert zu werden ... Ich glaube, was Kinder brauchen, sind Eltern in ihrer Kraft. Wir waren ja eine Zeit lang in Spanien und da haben unsere Kinder so viel Mobbing durch Kinder erlebt. Ich sage jetzt nicht, dass diese Kinder böse waren, das war ja einfach nur ein Hilferuf, das ist einfach pure Verzweiflung, die die Kinder ausdrücken. Und sowas haben wir weder in Mexiko noch in Guatemala erlebt – die haben einfach noch ganz andere Werte. Das hat mich sehr traurig gemacht damals in Europa und mir aber auch nochmal ganz klar aufgezeigt, wie wichtig ein Wandel ist, und der geht nur, wenn die Eltern wirklich aufwachen.

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Heike Pourian ist Wandelforscherin, Tänzerin und Autorin des Buches Wenn wir wieder wahrnehmen. Wach und spürend den Krisen unserer Zeit begegnen“ (2022 in 2. Auflage erschienen), dem dieser Text entnommen ist.

Mehr Infos: www.wahrnehmen.org

Die Namen von Bäumen

Wir sind im Wald unterwegs, es ist Herbst. Mein Sohn ist neun, vielleicht zehn. Immer wieder heben wir bunte Blätter auf und vergleichen die Farben, die vielen Schattierungen von Rot, Orange, Braun und Grün. Es fasziniert ihn, wenn die Blattadern besonders sichtbar werden, weil sie noch grün sind, während sich der Rest des Blattes bereits verfärbt hat. Er möchte noch mehr solcher Blätter finden. Unter einer Kastanie bleibt er stehen. Zum ersten Mal gilt seine Aufmerksamkeit an einem Herbsttag nicht den glänzend braunen runden Früchten, obwohl er hier viele davon aufsammeln könnte, sondern den Blättern. Er hält ein großes gefingertes Blatt hoch und fragt: „Sehen so die Blätter von Kastanienbäumen aus?“ Ein prüfender Blick nach oben gibt ihm die Antwort. Dort hängen noch jede Menge genau so geformter Blätter direkt neben den stacheligen Fruchthüllen. Das ist also ein Kastanienblatt. Ich glaube, soeben ist in meinem Sohn die Erkenntnis gereift, dass wir Bäume nicht nur aufgrund ihrer Früchte – Äpfel, Mirabellen, Walnüsse, Kastanien ... –, sondern auch anhand ihrer Blattformen erkennen und unterscheiden können. Sein Ehrgeiz ist geweckt. Er lernt an diesem Nachmittag Eiche, Ahorn und Buche auseinanderzuhalten, weiß nun, wie ein Lindenblatt aussieht oder das einer Weide. Abends beim Ins-Bett-Bringen erzählen wir uns vom Tag, und er stellt diese Betrachtungen an: „Die Formen von den Blättern sind so verschieden, Mama. Das wusste ich gar nicht. Es ist schön, dass ich jetzt so viele Namen von Bäumen kenne. Aber es ist auch ein bisschen schade, weil man dann so schnell damit fertig ist, den Baum anzugucken.“

Wahrnehmen, Benennen und Einordnen

Als ich an diesem Tag von der Bettkante meines Sohnes aufstehe, staune ich, wie einfach und eindrücklich er be-

schrieben hat, welch ein Verlust an Beziehung mit dem Benennen einhergehen kann. Ich nehme an, Tim hat hier in zwei Sätzen ein großes menschliches Dilemma aufgezeigt: Dadurch, dass wir den Dingen Namen geben, können sie auch etwas von ihrer Vielschichtigkeit und Einzigartigkeit ver- lieren. Ich gucke diesen Baum an, scanne ihn, registriere wenige auffällige Merkmale und meine zu „wissen“, was ich da vor mir habe: weiße Rinde, schlanker Stamm – das ist eine Birke. Fertig. Eine Begegnung mit genau dieser Birke habe ich damit aber verpasst. Ich habe meinem Blick nicht gegönnt, sich im Wurzelwerk zu verlieren, das sich hier und da an größeren Steinen festzuhalten scheint. Ich bin keinem der Käfer begegnet, die sie bewohnen, habe nicht gefühlt, wie sich die oberste Haut der Rinde pergamentartig unter meiner Hand einrollt, wenn ich über den Stamm streiche.

Wir geben den Dingen Namen, ordnen sie einer Kategorie zu und schenken damit nur dem Allgemeinen Beachtung –nicht dem Besonderen, also genau diesem Exemplar Birke. In Beziehung treten kann ich aber zunächst einmal nur mit dem Konkreten, nicht mit der gesamten Art oder Gattung. Obwohl wir – nicht völlig zu unrecht – denken, Sprache habe Kommunikation ermöglicht und damit Beziehung, hat das Benennen uns auch einer bestimmten Qualität von Beziehung beraubt. Ein Name, ein Begriff wiegt uns in der Illusion, das Wahrgenommene zu kennen, nur weil wir es benennen können. Er enthebt uns der Neugier. Unser Gegenüber verliert seine Wesenhaftigkeit, es schrumpft zu einem kategorisierbaren Etwas zusammen. Wir spulen da blitzschnell etwas ab: Reiz, Interpretation und Reaktion –weißer Stamm, Birke, gutes Brennholz. Das ist es, was unser Wahrnehmen so verarmen lassen kann. Für das Verweilen

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Foto: Tatjana Bach

bei der Schönheit und Besonderheit dieses Baumes, den ich vor mir habe, für eine Begegnung ist kein Raum mehr.

Und noch etwas meine ich in Tims abendlichen Worten zu hören, ein Stück Verlust von Kindheit: „Es ist auch ein bisschen schade, weil man dann so schnell damit fertig ist, den Baum anzugucken“, sagt er und beschreibt damit den Unterschied zwischen der kindlichen und der erwachsenen Begegnung mit einem Baum. Erwachsene sind geneigt zu gucken, zu benennen und auf Funktion oder Verwertbarkeit zu überprüfen. Ein Kind* setzt sich in Beziehung mit dem, was ihm begegnet. „Wer bist du denn?“, fragt es den Baum und interessiert sich für Details, findet diese kleine Vertiefung in der Rinde, in die sein Daumen so wunderbar hineinpasst, entdeckt dann die Ameise, die dem Daumen ausweicht und den Stamm hinunter krabbelt, folgt ihr –und immer weiter. Es lässt sich von seiner Wahrnehmung leiten. Von dem, was jetzt gerade in den Raum seiner Sinnesempfindungen hineinragt und sein Interesse weckt. Das Kind folgt mit seiner Wahrnehmung

der Neugier, die das Jetzt in ihm auslöst. Es hat natürlich auch weniger Erfahrungen, anhand derer es das Wahrgenommene sortieren kann. Anstatt eines routinierten „Kenne ich schon!“ erfährt ein Kind viel häufiger den Zauber des Neuen, noch nie Erlebten. Es kriecht in die Wahrnehmung hinein, wird Teil von ihr und Teil des Wahrgenommenen. Es lässt sich führen, ohne zu ahnen wohin. Das ist eine ganz andere Art des Begegnens als jene, die wir Erwachsenen in unserem Alltag meist pflegen: Wir sind „so schnell fertig damit“, Dinge zu benennen, zu kategorisieren, einzuteilen in relevant – irrelevant, nützlich – unnütz, schön – hässlich … Wir lassen keine Lücke zwischen Wahrnehmen und Interpretieren. Dieses fast zwanghaft schnelle Benennen ist der Moment, an dem wir Dingen und Menschen Stempel aufdrücken, anstatt ihnen zu begegnen. Und das liegt nicht an der Sprache an sich. Es liegt an der Art, wie wir mit ihr umgehen. Wir nutzen ihre beschreibende, ihre fragende Kraft eher selten. Wir sprechen oft, um zu beoder verurteilen, um eine Meinung haben zu können oder um uns selbst darzustellen.

* Mir ist klar, dass ich hier ein idealisiertes Kind beschreibe, eher das kindliche Potenzial (das sich ja auch Erwachsene erhalten können) als ein reales Kind im 21. Jahrhundert. Die meisten Kinder haben heute nicht mehr die Möglichkeit, sich im Spiel treiben zu lassen. Sie lernen etwas über die Endmoränen, anstatt im Garten hinter dem Haus ein Loch zu graben. Zu sehr hat sich ihr Alltag dem der Erwachsenen angeglichen, ist getaktet, institutionalisiert und digitalisiert. Auch die kindliche Lebenswelt ist voller und zugleich ärmer geworden – reizüberflutet und ärmer an Sinnlichkeit.

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Bildliche Resonanz: Sibylle Reichel

Mehr Infos: www.sensibel­beraten.de

Georg Parlow: Zart besaitet. Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen. Festland Verlag e.U. 2015.

Seit ich meine Hochsensibilität erkannt habe ...

... hat sich mein Leben so verändert.

Cordula Roemer im Gespräch mit Martina & Thomas Weihrich über Rahmenbedingungen, die es hochsensiblen Menschen ermöglichen ihr Potenzial zu leben.

Thomas: Wann hast du das erste Mal bewusst wahrgenommen, dass du hochsensibel bist?

Cordula: Ich bin 2007 im Internet über den Begriff „Hochsensibilität“ gestolpert, habe dann das Buch von Georg Parlow „Zart besaitet“ entdeckt und dachte: „Der schreibt über mich, das ist Wahnsinn!“ Ich habe erfahren, dass ich nicht krank bin oder ein Defizit habe, sondern ich konnte zum ersten Mal sagen: „Es ist völlig in Ordnung, dass ich mich z. B. oft zurückziehe und gar nicht weiß, warum.“ Als ich gemerkt habe, es wissen so wenig Leute darüber Bescheid, habe ich ein offenes Treffen in Berlin organisiert, weil ich mich austauschen wollte. Später habe ich Fortbildungen angeboten und noch später Sachbücher geschrieben.

Martina: Kannst du für uns kurz skizzieren, was man unter hochsensibel versteht?

Hochsensibilität – so wird es heutzutage auch wissenschaftlich untersucht – ist im Prinzip eine sensorisch-neuronale Veranlagung. Das neuronale System ist darauf ausgerichtet, viel Information aufzunehmen – zum Teil bewusst, aber oft auch unbewusst –und viel Information zu verarbeiten,

um letztlich in der Lage zu sein, viel Information wieder rausgeben zu können. Hochsensibilität ist ein konstitutionelles Merkmal wie Haarfarbe oder Nasenform, es hat nichts mit Prägung zu tun. In welche Richtung sich meine individuelle Ausprägung in der Hochsensibilität zeigt, ist unterschiedlich. Wir kennen das von der Lerntheorie: Wir haben die visuellen, die auditiven, die olfaktorischen Lerntypen. In der Hochsensibilität ist es ähnlich: Je nachdem, welcher sensorische Kanal besonders empfänglich ist, sind wir da offen, nehmen viel auf, sind aber, wenn die Umgebung nicht so gut passt, schnell überreizt.

Thomas: Wie kann ich damit umgehen, wenn ich bei einem oder mehreren Kanälen besonders offen bin?

Egal ob ich einen oder mehrere Kanäle stark geöffnet habe, heißt es, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit ich nicht in eine defizitäre Situation komme, d. h. nicht überreizt oder überlastet bin, und in denen ich das Potenzial, das in diesem einen oder mehreren Kanälen liegt, gut ausleben kann.

Martina: Ich habe neulich einen Bericht über „Lernhilfen für hochsensible Kinder in der Schule“ gesehen und da wurde gesagt, dass sie nicht am Fenster sitzen sollen. Ein hochsensibles Kind soll gegen die Wand schauen, damit es nicht abgelenkt wird. Ich habe gemerkt, wie es sich in meinem Körper zusammenzog und ich dachte: „Das ist grausam.“ Wie siehst du das? Nicht die Hochsensibilität ist das Problem, sondern in der Regel die Rahmenbedingungen. Die Schule bietet im klassischen Sinne feste Strukturen und Abläufe, die es schwierig machen, auf diese sehr individuellen Bedürfnisse hochsensibler Kinder einzugehen. Z. B. hat eine Klasse mit 25 bis 30 Kindern zwangsläufig einen hohen Unruhepegel, nicht nur auf der Geräuschebene. Hochsensible Menschen nehmen auch Stimmungen und Schwingungen wahr, und die sind unter Umständen einfach zu viel. Auch die Stundentaktung mit ein oder zwei Unterrichtseinheiten zu einem Fach, dann kommt das nächste, ist im Prinzip für jedes Kind eine ungesunde Struktur, aber hochsensible und hochbegabte Kinder leiden darunter besonders. Ich erinnere noch einmal: Das System hochsensibler Menschen

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ist per se darauf ausgelegt, viel Information aufzunehmen, und das tut es einfach. Oft wird gesagt: „Ja, dann muss das Kind lernen, mehr Filter einzusetzen.“ Das setzt voraus, dass es in der Lage wäre, solche Filter bewusst zu steuern. Das kann vielleicht ein Mensch, der 30 Jahre trainiert hat –wir Durchschnittsmenschen können das nicht, weil die Filter komplett jenseits der Bewusstseinsschwelle liegen. Die zweite Schwierigkeit ist, dass ich das System Hochsensibilität bei der großen Aufnahme, der tiefen, komplexen Verarbeitung in allen sensorischen Bereichen, und bei der Ausgabe, im Ausdruck nicht ausbremsen kann. Ich kann aber bewusst strukturelle Rahmenbedingungen schaffen, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz o. Ä., die diese Reize verringern. Die Vorgabe, das Kind nicht aus dem Fenster schauen zu lassen, sondern an die Wand, die weniger Reize bietet, versucht die Rahmenbedingungen zu ändern. Problematisch ist für mich hier nicht die Wand, sondern dass das eine Aussonderung ist und dass der Blick in die Weite, der dem Gehirn die Verarbeitung erleichtert, noch stärker eingeschränkt wird! Wenn ich erwachsen bin, kann ich selbst entscheiden, in welches Setting ich mich begebe. Das machen heut-

zutage immer mehr Hochsensible: Sie fangen an, für sich ihr Umfeld zu wählen. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten. Hochsensible Kinder müssen da gut begleitet werden.

ist. Wenn Eltern mir erzählen, dass das Kind völlig ausrastet, wenn es aus der Kita oder Schule kommt, sage ich ihnen erst einmal, dass das ein gutes Zeichen ist, weil das Kind Vertrauen hat, dass es bei den Eltern diesen Druck rauslassen darf.

Aus meiner Sicht ist ganz wichtig, dass ich mir klar werde, bin ich wirklich hochsensibel oder nicht? Denn manche Merkmale erscheinen wie Hochsensibilität, sind aber eine Traumatisierung.

Thomas: Wenn ich so eine vernetzte Wahrnehmung habe, habe ich da nicht auch ein tieferes Verständnis für den Sinn einer Sache, die ich mache?

Martina: Was empfiehlst du Eltern, deren Kinder äußern, dass es ihnen zu laut und zu viel ist?

Dem Kind so viel wie möglich Auszeiten bieten, in denen es sensorisch wieder herunterfahren kann. Eine Auszeit bei einem Kind heißt nicht, dass es ruhig auf dem Sofa sitzt – es kann spielen, für sich alleine puzzeln, Rollenspiele spielen, in denen es das alles verarbeiten kann. Es kann auch Bewegung sein, wenn es ein Bewegungskind

Viele hochsensible Menschen, auch Kinder, befassen sich, wenn sie das dürfen, mit metaphysischen Fragen. Als ich 18 Jahre alt war, habe ich angefangen dieses Gebiet kennenzulernen, mich beschäftigte z. B. die Reinkarnationsthematik. Das Kind soll andere Weltsichten kennenlernen können und bei seinen Überlegungen begleitet werden.

Thomas: Viele hochsensible Menschen fühlen sich ja falsch, so wie sie sind. Wie könnte man sie bestärken in ihrem Sein?

Das wäre wirklich allen Kindern zu wünschen und ich denke, es wird auch kommen. Hochsensible und hochbegabte Menschen sind sehr komplexe Menschen und sie lieben es, komplexe Aufgaben zu gestalten. Ich

Roemer: Mein hochsensibles Kind: Leichter durch den Alltag mit Naturheilkunde . GU 2018.

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Cordula

hatte gerade ein Gespräch mit einer Klientin, die erzählte, dass die Lehrkraft darüber verwundert war, dass sie die komplexeren Aufgaben viel lieber und sehr schnell bewältigen konnte, aber mit den einfachen Aufgaben nicht klar kam – das ist aber ein ganz klassisches Merkmal bei Hochbegabten. Wenn sie zu viel mit einfachen Aufgaben beschäftigt werden, schalten sie ihr System ab – dann beginnt ein echtes Drama. Aus meiner Sicht ganz wichtig, dass ich mir klar werde, bin ich wirklich hochsensibel oder nicht? Denn manche Merkmale erscheinen wie Hochsensibilität, sind aber eine Traumatisierung. Wenn ich hochsensibel bin, ist es wichtig zu erkennen, welche Arten von Aufgaben-Strukturen mir liegen. In meinem ersten Buch habe ich hochsensible Menschen interviewt, eine Interviewpartnerin hatte in einem Bio-Labor gearbeitet. Ihre Aufgabe war es unter anderem Zellen in kleinen Nährstoffröhrchen zu versorgen. Sie musste jeden Tag einen Tropfen von dieser Nährstofflösung in jedes dieser Röhrchen geben und sie hatte Hunderte davon. Sie erzählte mir mit großem Stolz, dass sie in 15 Jahren nur eine einzige Zelle verloren hat – das gebe ich gerne als Beispiel für Hochsensibilität in Kombination mit Perfektionismus, Verantwortungsbewusstsein, Akribie und Hingabe.

Martina: Hängen Hochbegabung und Hochsensibilität deiner Meinung nach zusammen?

Hochbegabte Menschen zeigen im sensorischen Bereich sehr ähnliche bis zu gleiche Merkmale wie hochsensible Menschen. Ich habe folgende Hypothese: Wir verstehen immer mehr, dass alles in erster Linie ursprünglich als Schwingung existiert. Wir wissen auch, dass es unterschiedlich hohe oder feine Frequenzen gibt. Ein ganz klassisches Beispiel: Ich treffe auf jemanden und denke: „Ich fühle mich nicht wohl, ich bin froh, wenn ich wegkann.“ Und dann gibt es Menschen, bei denen es den Anschein hat, als würden wir uns schon Jahrhunderte kennen. Das ist eine Frage von Schwingung, von Frequenz. Wir sagen ja auch: Jemand ist nicht auf meiner Wellenlänge. Wir wissen immer mehr darüber, dass höhere Schwingungen bei Menschen bestimmte Qualitäten oder Merkmale mit sich bringen, z. B. mehr Achtsamkeit, Intuition, einen Blick auf Details, und dann bin ich eigentlich im Bereich der Hochsensibilität und Hochbegabung. Möglicherweise kommen hochsensible und auch hochbegabte Menschen mit einer anderen Grundschwingung auf die Erde als die Mehrheit der Menschheit.

Wenn ich jetzt die Aussage von Gerald Hüther „Jedes Kind ist hochbegabt“ auf diese Hypothese lege, dann bedeutet sie für mich, dass es Menschen gibt, die in diesem erhöhten Frequenzbereich sind, wir alle aber dort sein könnten. Von Frequenzerhöhung wird ja viel gesprochen. Es könnte sein, dass

jetzt immer mehr Menschen auf die Erde kommen, die diese Frequenzen bereits mitbringen.

Martina: Wie könnte eine Welt aussehen, in der alle Menschen ihre besonderen Gaben einbringen können, auch in Bezug auf Bildung?

In so einer Welt sehe ich Lernorte, in denen die Individualität eines Kindes gesehen wird und sich entwickeln kann – das heißt nicht, dass jeder machen kann, was er will. In jedem sozialen Kontext braucht es Rahmenbedingungen und es braucht auch Grenzen – und die Grenzsetzung ist eines der ganz wichtigen sogenannten Beziehungsbedürfnisse. Wir haben verschiedene Beziehungsbedürfnisse, die erfüllt werden müssen, damit wir authentisch mit einer gesunden Identität heranwachsen können. Gleichzeitig braucht es den Rahmen, in dem ich meine Individualität kennenlernen darf. Wir sollten unseren Kindern auch sehr viel mehr zutrauen und ihnen sagen: „Du machst so viel, wie du kannst und du jetzt möchtest – was jetzt nicht geht, geht jetzt nicht, und das ist in Ordnung.“ Wenn wir das schaffen, können hochsensible und hochbegabte Menschen ihren Weg finden. Ich bin mir sicher, dass, wenn hochsensible Menschen, egal welchen Alters, diese Strukturen erhalten, sie dann auch ihre Aufgabe kennen und sie erfüllen können. Mein Leben hat sich so verändert, seit ich meine Hochsensibilität erkannt habe.

56 Heft 24 2023 Illustration: Serena Grisi

WIE MENSCHEN FREI SICH BILDEN

proGenia Edition

Rorschacherberg, Schweiz

Leicht überarbeitete und mit einem Nachwort erweiterte

Neuauflage, 23. April 2023

Fester Einband

Banderole mit Lesezeichen

432 Seiten

301 Abbildungen

260 mm x 202 mm x 38 mm

1777 Gramm

ISBN: 978-3-9525802-0-2

CHF 57.- / € 52.-

proGen i a.shop

DAS WUNDER DES LEBENS WÜRDIGEN

«Erstmals im Jahre 1999 erschienen, gelang Olivier Keller mit seinem Buch eine Pionierleistung. Er markierte mit seinem mutigen Werk eine Stimmung des Aufbruchs ins 21. Jahrhundert. Seine inspirierende Dokumentation ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von Bildung und Lernen und weist in eine demokratische Zukunft: Eine Zukunft, in der Menschen – jung und alt – als Subjekte handeln.» ULRICH KLEMM

Auf der Suche nach den genuinen Dimensionen des Lebens beginnt Olivier Keller 1989 als junger Mann den Fährten «unbeschulter Menschen» zu folgen. Seine Spurensuche gipfelt 1999 in der Publikation des ersten Buches für den deutschsprachigen Raum, das sich diesem Phänomen annimmt. Es zeichnet sich durch die genaue, umfassende Beschreibung von Erfahrungsprozessen frei sich bildender Menschen aus.

Dabei geht es um viel Grundlegenderes, als um eine neue Pädagogik, ein fortschrittliches Erziehungsmodell oder das Bestreben, Schule zu reformieren oder in den Kreis der Familie auszulagern; es geht um die Überwindung der Beschulungsund Belehrungsideologie an sich,die den Menschen - und insbesondere den jungen Menschen - in seiner strahlenden Potenz schlichtweg verkennt. Dieses Menschenbild – des Defizitären - bildet den Grundtonus unseres Zusammenlebens und verengt jeden Bereich unserer zivilisierten Gesellschaft.

«Der Fokus meiner Arbeit liegt auf dem Sichtbar-Machen der Prozesse, die in uns und im Leben natürlicherweise angelegt sind. Wir brauchen keine Schulen, keine Programme, keine Führer, die uns anleiten, um uns zu bilden und zu wachsen. Was wir brauchen ist ein anregendes, wohlwollendes und lebensbejahendes Umfeld.» OLIVIER

KELLER

Das Ziel dieses Buches ist Ermutigung, nicht Anleitung. Fast beiläufig impliziert es auf eine überaus prospektive Art und Weise radikale Gesellschaftskritik und spendet Inspiration in einer Zeit des Wandels. Heute aktueller denn je, war es seiner Zeit voraus, und vermochte viele Menschen zu inspirieren, sich selbst als Pionier aufzumachen.

24 Jahre später legt Olivier Keller sein Werk neu auf, wobei er in die Rolle des Gestalters und Verlegers schlüpft. Es ist das Wissen über das wundersame biophile Potenzial des Menschen, das ihn antreibt.

OLIVIER KELLER

Vater, Forscher, Lehrer, Reisender, Gestalter, Gründer, Musiker, Autor...

sind einige Identitäten, die er in seinem Leben erforschte.

2010 wird er selbst Vater, was ihm – durch den sich vollziehenden Perspektivenwechsel – erlaubt, das Feld aus erweiterten Blickwinkeln zu betrachten. In einem frisch verfassten Nachwort zur Neuauflage stellt er seine Erfahrungen und Gedanken in den Kontext der Gegenwart und begibt sich erneut auf Spurensuche indem er in die Geschichte des menschlichen Bewusstseins eintaucht.

Was will uns Olivier Keller sagen? Seine Herzensbotschaft klingt geradezu trivial, aber bei näherer Betrachtung wird klar, dass gerade in dieser Einfachheit die ganze Sprengkraft liegt: Der Mensch ist, so wie er ist, vollkommen, genauso wie der Kosmos, dem er angehört; es ist an uns, dies zu erkennen, zu würdigen und zu leben!

Leseprobe, Bestellung und weitere Informationen zum Buch unter: progenia.shop/denn-mein-leben-ist-lernen

Heft 24 2023
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Warum es so sehr auf die Haltung ankommt

Oder: Respekt vor dem Wunder Leben

Aktuell werden viele konkrete Vorschläge gemacht, die zu einer positiven Veränderung im Bildungswesen beitragen sollen. Solange aber keine Klarheit darüber besteht, dass die wirkliche Veränderung im Umgang mit den jungen Menschen passieren muss, wird es hier zu keinem nachhaltigen Wandel kommen.

Eigentlich ist es ganz einfach

Sigrid Haubenberger­

Lamprecht

ist Mutter zweier freilernender Söhne und seit 2010 in ihrem Malort­Wien tätig (Ausbildung bei Arno Stern). Im Verein „freilerner.at“ engagiert sie sich für die freie Wahl des eigenen Bildungsweges und verfasst Beiträge zu diesem komplexen Thema. Mitherausgeberin von „Lernen ist wie Atmen“.

Mehr Infos:

www.malort­wien.at www.freilerner.at www.lernen­ist­wie­atmen.net

Erstveröffentlichung dieses

Textes für freilerner.at

Wir brauchen „nur“ eine radikal andere Haltung gegenüber jungen Menschen einnehmen und sie als gleichwürdige und gleichwertige Mitmenschen anerkennen. Daraus ergibt sich ein völlig anderer Umgang im Miteinander, der sich auch auf die Art und Weise der Bildung auswirkt. Wenn von Freilerner-Familien die Rede ist, sollte es also in erster Linie nicht darum gehen, dass deren Kinder keine Schule (mehr) besuchen, sondern dass die begleitenden Erwachsenen, in dem Fall die Eltern, erkannt haben, dass der junge Mensch das gleiche Recht hat, seinen Bedürfnissen nachzugehen, wie die Erwachsenen. Der junge Mensch übernimmt somit selbst die Verantwortung für seine Bildung.

Sehr oft jedoch wird nach wie vor ganz selbstverständlich über Kinder bestimmt: Sei es, wann und wieviel sie essen und trinken, welche Kleidung sie anziehen, welchen Tätigkeiten sie nachgehen und was, wann, wo und wie sie lernen sollen.

Wie aus diesem Rad aussteigen?

Dazu braucht es die Bereitschaft der Erwachsenen, die bisherige (Lern-)Begleitung unserer Kinder zu hinterfragen. Vor allem die sehr jungen Menschen bedürfen unserer Fürsorge und Unterstützung beim Heranwachsen. Sie können gerade in den ersten Jahren nicht ohne diese überleben. So sind wir zum Beispiel dafür verantwortlich, dass sie ausreichend Nahrung bekommen. Bereits ab dem ersten Tag nach der Geburt teilt der Mensch seine jeweiligen Essbedürfnisse auf seine eigene Art und Weise mit. Wir Erwachsenen müssen nun die nonverbale Sprache verstehen lernen. Dadurch

wissen wir, ob dieses oder ein anderes Bedürfnis wie etwa Nähe oder Ruhe gestillt werden will.

Für die meisten Erwachsenen ist es selbstverständlich, diesen lebenswichtigen Bedürfnissen des Säuglings nachzukommen. Ebenso vertrauen wir in dieser Zeit auf das „natürliche“ Wachstum. Wir vertrauen darauf, dass der „kleine“ Mensch sich ohne unser Zutun vom Rücken auf den Bauch dreht, in seiner Zeit in den Vierfüßlerstand kommt und irgendwann, ebenfalls zu seinem „richtigen“ Zeitpunkt, die ersten Schritte macht. Doch je älter dieser „kleine“ Mensch wird, desto leichter verlieren wir das Vertrauen, dass diese von innen gesteuerten Entwicklungsprozesse weitergehen. Die meisten Erwachsenen machen spätestens dann eine Kehrtwende in der Begleitung, wenn es um die formale Bildung geht, sprich: die Kinder in das schulpflichtige Alter kommen. Um den jungen Menschen bestmöglich auf sein zukünftiges Leben vorzubereiten (allzu oft wird der Begriff „Leben“ mit Erwerbstätigkeit gleichgesetzt), wird vorgegeben, was er sich wann, wo und wie bis zum Ende der Schullaufbahn beziehungsweise bis zum Beginn der Ausbildung anzueignen hat. Groß ist die Angst, sollte er „nur“ seinen eigenen, inneren Lern- und Entwicklungsprozessen folgen, dass er dann später im Berufsleben auf der Strecke bleibt und dadurch aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wird.

Die Realität stellt sich jedoch ganz anders dar: Wenn wir es schaffen, dem (jungen) Menschen vollkommen zu vertrauen, sodass er seiner Begeisterung folgt, dann dürfen wir

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staunen, was möglich ist. Tatsächlich hat jeder Mensch das Bedürfnis, sich ein Bild von der Welt zu machen und sich auf seine ganz eigene Art in diese Welt einzubringen. Dabei ist Folgendes essenziell: Ein Mensch, der nicht in seinen Lernprozessen unterbrochen wird, findet seine ganz persönlichen Leidenschaften. Aus diesen Leidenschaften können sich Kompetenzen entwickeln, die zu einer Erwerbsarbeit führen können, die diesen Menschen wirklich erfüllt. Und so soll es doch sein: dass wir die Arbeit mit Freude tun.

Ich sehe das mittlerweile selbst, bei unserem Sohn. Ohne Institution Schule aufgewachsen (nur das letzte Pflichtschuljahr absolvierte er aufgrund unseres Obsorge-Verfahrens an einer Freien Schule), konnte er uneingeschränkt seinen Begeisterungen folgen. Sowohl von zu Hause aus als auch bei von ihm ausgesuchten Menschen, die ihm ihr Wissen weitergaben. Ganz viel von diesem Lernen passierte für uns sichtbar, ganz viel auch für unsere Augen unsichtbar. Töpfern, Jodeln, Detektivarbeit, Fotografie, Filme drehen und schneiden, die Mitgliedschaft bei der Feuerwehrjugend sind einige dieser „sichtbaren“ Leidenschaften. Viele davon waren eingebettet in ein Spiel oder wurden durch ein Spiel angestoßen.

Mit zwölf Jahren entdeckte er seine Liebe zur Elektronik. Er eröffnete einen YouTube-Kanal, durch den er anhand der präsentierten Projekte sein erworbenes Wissen vertiefte und teilte. Die dabei erworbenen Kompetenzen halfen ihm bei der Zusage einer Lehrstelle zum Energie-Elektrotechniker und Mechatroniker. Das Thema lässt ihn nach wie vor auch in seiner „Freizeit“ nicht los: Das in der Lehre vermittelte Wissen wird angewendet, vertieft, und eigene Ideen und Projekte werden entwickelt. So wie es keine Trennung zwi-

schen Lernen und Spiel gibt, gibt es für (junge) Menschen, die ihrer Berufung nachgehen, auch keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit.

Lernprozesse und der „Flow“

Der sogenannte Flow-Zustand bedeutet, sich auf ein Thema, ein Spiel so einzulassen, dass alles herum vergessen wird und man vollständig in seinem Tun aufgeht.

Einer der ersten für uns sichtbaren Lernprozesse beim Säugling ist, wenn dieser seine eigene Hand entdeckt. Immer wieder bin ich fasziniert, wenn ich so kleine Menschen bei diesem Sich-Begreifen beobachten darf. Oder wenn zum ersten Mal aus Bauklötzen ein Turm aufgeschichtet wird. Großer Respekt vor dem Wunder Leben macht sich dann jedes Mal in mir breit. Und wer bin ich, diesen Flow zu unterbrechen, den Säugling aus seiner Konzentration zu reißen, um ihm zum Beispiel die Funktion seiner Hand zu erklären oder das Kleinkind dezent darauf hinzuweisen, dass der Turm nicht einstürzen wird, wenn es den Baustein ein bisschen weiter in die Mitte legt? Auch wenn es gut von mir gemeint ist, bringe ich den Menschen doch von seinem eigenen Entdecken, seinen eigenen Erkenntnissen ab.

Um also im Flow-Zustand verbleiben zu können, braucht es Erwachsene, die darum wissen und aufgrund ihrer gleichwürdigen und -wertigen Haltung einen Raum schaffen (sei es innerhalb der Familie oder an einem extra „Lernort“), wo es möglich ist, dem inneren Wissensdrang uneingeschränkt und unbewertet zu folgen. Diesen Flow zu erfahren bedeutet ein völlig neues Lebensgefühl, das sich die meisten von uns Erwachsenen erst wieder aneignen dürfen (wenn sie dies wollen).

Mehr zum Thema „Haltung“ im Interview von Gudrun Totschnig, Sigrid Haubenberger­Lamprecht und Alexandra Terzic­Auer (Herausgeberinnen von Lernen ist wie Atmen) mit Martina & Thomas Weihrich: www.bildungskongress.vision

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Bertrand Stern: Schluß mit Schule! Das Menschenrecht, sich frei zu bilden. Tologo Verlag 2006.

Haltung und Vertrauen

Es wird ersichtlich: Für einen Wandel in der Bildungslandschaft braucht es zuerst einen Wandel in der Art und Weise, wie wir jungen Menschen begegnen. Neben der Haltungsänderung braucht es Vertrauen in die angelegten Entwicklungsprozesse. Anders ausgedrückt: Es braucht eine tiefe Überzeugung, dass der Mensch bereits „vollständig“ auf diese Welt kommt und sich hier „nur“ noch zu entfalten braucht. Meiner Meinung nach ist es hier wie mit der berühmten Frage: Was war zuerst da? Henne oder Ei? Eine Haltungsänderung ohne Vertrauen in die angelegten Entwicklungsprozesse ist ebenso wenig möglich wie umgekehrt. Haltung und Vertrauen sind Ist-Zustände. Um dorthin zu gelangen und dort auch dauerhaft zu bleiben, braucht es die Bereitschaft, eigene Denkmuster und althergebrachte Glaubenssätze zu hinterfragen. Wir dürfen lernen, Regeln, die noch für uns Gültigkeit hatten, loszulassen. Uns wirklich freizumachen, um mit Lust und Freude gemeinsam mit unseren Kindern neue Lernwege zu beschreiten.

Manchmal helfen dabei wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, was es zum nachhaltigen Lernen braucht: Derzeit wird unter Lernen oft nur noch „Bulimielernen“ verstanden. Ein Ausdruck, den unter anderem Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie, geprägt hat: Das erlernte Wissen wird „reingestopft“, um bei der Prüfung „rausgekotzt“ und im Anschluss wieder vergessen zu werden. Nachhaltiges Lernen bedeutet, dass das angeeignete Wissen sich tief im Menschen verankert und somit immer abrufbar bleibt. Die Liste der unten angeführten Punkte, die es dazu braucht, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und kann gerne ergänzt werden:

Autonomie – der junge Mensch entscheidet selbst, womit er sich wann, wie und wie lange auseinandersetzt: Seit den 1960er-Jahren erforschen und beweisen die unterschiedlichen Kognitionswissenschaften, dass Lernen eine hochgradig persönliche, individuell durchzuführende, eben

autonome und kreative Tätigkeit ist. Dabei müssen die Lernenden selbst in den Mittelpunkt gestellt werden: Sie sollen das eigene Lernen selbstverantwortlich in die Hand nehmen können. Die Linguistin Ute Rampillon weist darauf hin, dass „Schülerinnen und Schüler, die autonom lernen wollen, […] die dazu notwendige „Luft“ zum Lernen [brauchen]. Sie brauchen den Freiraum, um selber zu entscheiden, ob, was, wann, wie, wozu sie lernen wollen“. Mit diesen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über die zwangsläufige Autonomie des Lernens ist es tatsächlich inkompatibel, dass eine andere Person als der Lernende selbst sich anmaßt, in den Lernprozess eingreifen zu wollen und zu können.

Entspannte Umgebung – ohne Angst, Druck, Bewertung: Wir wissen heute, dass die Emotion, in welcher ein gewisses Thema gelernt wurde, ebenso abgespeichert wird. Für mich war das Fach „Englisch“ immer mit Angst besetzt. Bei jeder Schularbeit habe ich gezittert, ob ich eine positive Note schaffe. Auch heute bin ich innerlich noch immer angespannt, wenn ich Englisch reden soll. Meinen Söhnen ist eine Bewertung ihrer Lernprozesse fremd, sodass sie keine Abneigungen zu gewissen Themengebieten entwickelt haben.

Lernen ist eine Grundeigenschaft alles Lebendigen: Bei einem kürzlich von Prof. Gerald Hüther gehaltenen OnlineVortrag (im Rahmen einer Masterclass des Online-KursAnbieters younity im August 2022) machte er durch Beispiele deutlich, dass jedes System (sei es der Ameisenhaufen, die Nervenzellen im Gehirn oder die Familie) ständig lernt, wie es sich organisieren muss, damit es in die Welt passt. Aus seiner Sicht ist Bildung, sich all das anzueignen, was man braucht, damit man sich in dieser Welt, in die man hineinwächst, zurechtfindet. Wir können also nicht „nicht lernen“. Lernen geschieht definitionsgemäß immer – so selbstverständlich und aus sich heraus wie das Atmen! Wieder kommen wir zurück zum Anfang: Eine neue Haltung ist unausweichlich.

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Neue Bildungslandschaften

Erst dann, wenn wir eine gänzlich neue Haltung einnehmen, können die vom Philosophen Bertrand Stern in seinem Buch „Schluß mit Schule! Das Menschenrecht, sich frei zu bilden“ beschriebenen „blühenden Bildungslandschaften“

Wirklichkeit werden, erst dann die in Peter Grays (Wissenschaftler und Psychologe) Buch „Befreit lernen. Wie lernen in Freiheit spielend gelingt“ angeführten reichhaltigen Bildungsmöglichkeiten umgesetzt werden.

Bertrand Stern schreibt, dass es einerseits Orte der Bildung und andererseits Orte der Sozialisation geben soll. Der Mensch bildet sich zwar überall, das heißt aber nicht, dass es nicht spezifische Zentren dafür geben darf. Die einen Orte bieten optimale Bedingungen für die sozialen Bedürfnisse, die anderen für die verschiedensten Arten von Fachthemen. Die Struktur, die es dazu braucht, beschreibt er mithilfe des Beispiels der Bücherei: Hier gibt es eine Vielfalt an angebotenen Büchern und Medien, Tische sowie Sitzgelegenheiten, die von allen Menschen, die das wollen, genutzt werden können. Das Personal ist in der dienenden Funktion. Ein neuer Lernort könnte demnach so ausschauen: Das Gebäude, die jeweiligen Werkstätten, Labore, Vortragsräume sowie das Personal werden vom Staat zur Verfügung gestellt. Wie und wann diese Räume genutzt werden, bestimmen die Menschen selbst. Peter Gray zählt ähnliche Ideen auf. Freiwilligkeit, das unkomplizierte und vor allem kostenfreie Zur-Verfügung-Stellen von Raum sowie die Vernetzung dieser Lernorte mit z. B. öffentlichen Büchereien sind einige davon. Er spinnt den Gedanken noch weiter: dass die Geschicke solcher Lernorte im Stile einer Gemeinschaftsversammlung von allen mitbestimmt werden. Für alle angeführten Vorschläge gilt: Die (jungen) Menschen übernehmen wieder die Verantwortung für ihr eigenes Lernen. Und die begleitenden Erwachsenen üben sich im „einfach

Im Buch „Die Sudbury Valley School. Eine neue Sicht auf das Lernen“ habe ich dazu folgende Zeilen von Hanna Greenberg gefunden: „An Sudbury Valley nichts zu tun, erfordert eine Menge Energie und Disziplin und außerdem langjährige Erfahrung. Im Nichtstun werde ich jedes Jahr besser, und es macht mir Spaß zu sehen, wie meine Kollegen und ich uns mit dem inneren Konflikt herumschlagen, der dabei unvermeidlich in jedem von uns erwächst. Der Konflikt besteht zwischen unserer Neigung, für andere da sein zu wollen, unser Wissen teilen zu wollen, hart erworbene Erkenntnisse vermitteln zu wollen, und dem Anspruch, dass die Kinder unter ihrer eigenen Regie und mit ihrer eigenen Geschwindigkeit lernen können müssen. Sie nehmen uns in Anspruch, wenn sie es wollen – nicht, wenn wir es wollen. Wir müssen zur Stelle sein, wenn wir gefragt werden, nicht, wenn wir uns das nur einbilden.“ Es wird ersichtlich, dass auch das Begleiten ein lebenslanges Lernen ist.

Ein gesellschaftlicher Wandel

Den großen (Bildungs-)Wandel läuten all jene ein, die sich bereits jetzt auf den Weg machen. Je mehr Menschen jemanden kennen, der frei und selbstbestimmt aufwachsen darf und durfte, umso mehr wird dieser Funke auf alle anderen Menschen überspringen. Dadurch wird dieses Recht auf ein „Frei-sich-Bilden“ für Kinder und letztendlich für jeden in absehbarer Zeit zur Selbstverständlichkeit werden. Das jeweilige System, die Struktur der neuen Lernorte passt sich an, je nachdem, aus welchen verschiedenen, einzigartigen Menschen es besteht. Daher wird sich auch das Regelwerk immer wieder ändern. Dieser Mechanismus wird sich aus den Bildungsorten automatisch in die Gesellschaft ausbreiten und auch hier für eine Veränderung im Umgang miteinander sorgen. Für zukünftige Lernorte gibt es daher nicht nur ein fixes Modell, sondern eine große Vielfalt. Alle aber haben eines gemeinsam: Die Art, wie wir uns begegnen, ist auf Augenhöhe!

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Daniel Greenberg u. a.: Die Sudbury Valley School. Eine neue Sicht auf das Lernen. Tologo Verlag 2005.
Dasein“.

Sehr geehrter Herr Minister, sehr geehrte Damen & Herren!

Kernbotschaften eines

Briefes der Plattform freie Bildungswege an alle Bildungsverantwortlichen Österreichs, den bisher rund 200.000 Menschen unterstützt haben!

Brief unterzeichnen: www.freie­bildungswege.at

Dort findet ihr auch den Volltext, nähere Informationen sowie einen Spendenaufruf zur Finanzierung weiterer Aktivitäten, um die Bildungsfreiheit in Österreich nachhaltig zu gewährleisten! DANKE!

Wir sind eine vernetzte Gemeinschaft von Familien, Vereinen, Initiativen, Beschäftigten aus dem Bildungsbereich sowie Unternehmen aus ganz Österreich, die Sie zu einem Dialog über eine gemeinsame Lösungsfindung für freie und selbstbestimmte Bildungswege der jungen Menschen in unserem Land einladen möchten – weil sie die Zukunft unseres Landes sind!

Mit großem Bedauern stellen wir fest, dass der, im Staatsgrundgesetz dem öffentlichen Schulwesen gleichgestellte, häusliche Unterricht mit bereits 2022 vollzogenen und im Frühjahr 2023 neuerlich beschlossenen Verschärfungen der gesetzlichen Grundlagen offenbar so unattraktiv und so ungleich wie möglich gestaltet werden soll.

Dies ist insofern besonders bitter, als Eltern, die junge Menschen im häuslichen Unterricht begleiten, in ganz besonderem Maße ihrer großen Verantwortung als Erziehungsberechtigte nachkommen und für die Qualität der Bildung ihrer Kinder einstehen. Sie agieren mit bestem Wissen und Gewissen zum Wohle ihrer Kinder, da sie als Eltern auch am genauesten wahrnehmen, wie die Potentiale der jungen Menschen optimal gefördert werden können.

verfassungsrechtlich festgelegte Entscheidungsfreiheit der Eltern und Kinder in Bezug auf Bildung.

Ungeachtet dessen richten wir in diesem Brief unser Anliegen an Sie alle, mit uns einen offenen und lösungsorientierten Dialog über freie und selbstbestimmte Bildungswege in unserem Land zu starten. Wir verstehen unsere Lösungsansätze dabei als eine ergänzende Möglichkeit, freie und selbstbestimmte Bildungswege neben den bereits bestehenden Bildungsangeboten im öffentlichen oder privaten Schulwesen zu initiieren und zu implementieren.

Gerade die aktuellen Probleme und Herausforderungen im öffentlichen Bildungssystem und der sich ändernde Bedarf der Wirtschaft an kreativen und eigenverantwortlichen Wissensmitarbeiter*innen zeigen, dass neue Wege der Bildung von Kindern notwendig sind und ebenso zu einer Entlastung des Systems beitragen.

Für unser aller lebensbejahendes Wohl, für unsere jungen Menschen und auch für eine weiterführende Entwicklung unseres Landes werden wir den von uns eingeschlagenen Weg konsequent weitergehen.

Danke für das Ermöglichen dieser Seite an:

Die derzeit laufenden verwaltungsrechtlichen Dauerbestrafungen und angedrohte Entzüge der Obsorge durch die Behörden sowie Verschärfungen bei Externistenprüfungen missachten sowohl das Kindeswohl als auch die

Wir reichen Ihnen die Hand und sind offen für einen wahrhaftigen Dialog, um gemeinsam Lösungen für selbstbestimmte Bildungswege zu finden!

Mit freundlichen Grüßen, das Team

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Hier findest du eine Auswahl lebensbejahender Bildungsinitiativen:

DEVELOPING POTENTIALS

Mit Trainings, Coachings und Bildungsprogrammen helfen wir dabei, versteckte Potenziale zu finden und zu nutzen. www.rockyourlife.de

LEHRAMT WEITER DENKEN!

Kreidestaub e.V. ist eine studentische Initiative zur Verbesserung der Lehrkräftebildung. Seit 2013 vernetzen wir junge Menschen, die den Anspruch haben, „gute Schule” zu machen. www.kreidestaub.net

UNTERSTüTZUNG FüR HOMESCHOOLER

Bei uns lernst Du das, wofür Du Dich begeisterst, verbunden mit der Welt und persönlich begleitet. Gestalte mit uns Dein Lernen, Dein Leben selbst und entfalte Dein ganzes Potential. www.lila.school

GENERATION EARTH

Wir sind ein Netzwerk junger Menschen (15­25 J.), das „Active Citizens” fördert und für den Planeten, die Gesellschaft und das Wohlergehen anderer aktiv wird – unterstützt vom WWF Österreich.

www.generationearth.at

PLATTFORM für Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung

Wir unterstützen Lernende und Lehrende dabei, sich mit nachhaltiger und global gerechter Entwicklung im Sinn der Agenda 2030 auseinanderzusetzen.

www.bildung2030.at

SELBSTBESTIMMT ZUM ABITUR

Wir bieten jungen Menschen Unterstützung bei der selbstbestimmten Vorbereitung zur allgemeinen Hochschulreife. Lernen darf Freude bereiten und ganz individuell sein – auch auf dem Weg zum Abitur! www. akademieneueslernen.de

Wir beraten, begleiten und ermöglichen das Entstehen Freier Bildung & Potentialentfaltung und bringen Menschen zusammen, die echte Verbindung & gemeinschaftliches Wirken suchen. Erlebnis­ und erkenntnisorientiert.

www.potentialeentfalten.de

VEREIN ZUR FÖRDERUNG FREIER & SELBSTBESTIMMTER BILDUNG

Bewusstseinsbildung | Informationsarbeit |

Vorschläge zur Umsetzung der Bildungsfreiheit

www.freilerner.at

Wir motivieren, inspirieren und begleiten Menschen in ihrer Potentialentfaltung, Visionsfindung und bei dem Aufbau innovativer Projekte, zivilgesellschaftlicher Initiativen und nachhaltiger Unternehmen.

www.pioneersofchange.org

Als Zusammenschluss von Bürger*innen treten wir dafür ein, dass alle Kinder und Jugendlichen in den Schulen persönlich unterrichtet und betreut werden.

www.aufwach-s-en.de

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Freund*innen über ...

Durch unser Interview mit Gudrun Totschnig als Mit-Herausgeberin des Buches „Lernen ist wie Atmen“ entstand für uns der Kontakt zum TAU Magazin. Neben dem besonderen Format vom TAU Magazin, dem künstlerisch gestalteten Layout sowie den Themen und tiefgründigen Texten, welches uns alles sehr anspricht, hat uns das gemeinsame Einstehen für eine ganzheitliche, nachhaltige und gesunde Bildung für unsere jungen Menschen dazu inspiriert, neun Interviews aus unserem ersten Kongress für diese TAU Ausgabe zum Thema Bildung als „Nachlese“ einzubringen. Die jungen Menschen sind der Schlüssel, damit wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern können und damit sich der Wandel in unserer Gesellschaft dahin vollziehen kann, wie sich ihn so viele Menschen gerade wünschen: in Freiheit und in wahrhaftig friedlichen Gemeinschaften.Um dies zu erreichen, möchten wir gemeinsam mit dem TAU Team in dieser Ausgabe Eltern und Begleitenden von jungen Menschen neue Wege aufzeigen, die den Bedürfnissen einer stetig ansteigenden Zahl von jungen Menschen in der heutigen Zeit mehr entsprechen. Und wir wollen sie auf die sich gerade verändernde Welt vorbereiten, inspirieren, ermutigen und unterstützen, neben neuen Schulen weitere Bildungs-Möglichkeiten zu sehen oder sogar selbst zu kreieren …

Martina und Thomas Weihrich sind Eltern eines heute 19-jährigen Sohnes, der sich seit dem Alter von 12 Jahren selbstbestimmt, informell und frei bildet. Im letzten Jahr hat Leander online seinen internationalen Highschool-Abschluss absolviert. Martina war viele Jahre als Lehrerin und in der Lehreraus- und -fortbildung tätig. Sie sieht sich als „Brückenbauerin“, da sie beide Seiten gut kennt. Als Mentoren für Menschen, für die der herkömmliche (Schul-)Bildungsweg nicht mehr funktioniert, für Hochsensibilität und integrale Gesundheit sind Martina und Thomas Wegbegleiter und Mentoren für alle, die neue Wege gehen möchten, sowie für Familien, die ihre Töchter und Söhne bedürfnisorientiert begleiten wollen. Ihr Bildungkongress.vision für den gesunden Umgang mit Schule und Bildung ist Martina und Thomas ein Herzensanliegen. Sie möchten hiermit Familien und allen Menschen das zur Verfügung stellen, was ihnen selbst gefehlt hat, bevor sie sich vor fast 7 Jahren mit ihrem, durch Schule erkrankten, Sohn allein auf den Weg gemacht und mutig das selbstbestimmte, informelle und freie Sich-Bilden mit ihrem Sohn erforscht haben.

www.bildungskongress.vision

Allen Schreibenden, Fotografierenden, Layoutierenden, Zeichnenden, Finanzierenden, Beratenden, Kooperierenden ...

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