TAU Magazin 'frei sein lernen' VORSCHAU

Page 1

AusgabeVOrscHAu erscheint Ende sept. 2023

frei sein lernen

Inspirationen & Impulse aus dem 1. Online Bildungskongress

„Die Zeit ist reif! Leben ohne Schule!?“

Körperforscherin Ilan Stephani , Filmproduzent Joshua Conens , Biologin & Therapeutin

Dagmar Neubronner, Expertin für Hochsensibilität

Cordula Roemer u. v. m.

plus : Buch- und Filmrezensionen, Übungen und aktuelle Bildungsinitiativen

www.tau-magazin.net Ausgabe 24 – 09/2023 11 €

Wie

kam es zur Ausgabe „frei sein lernen“ des TAU Magazins für Barfußpolitik?

2022 wurde ich von Martina und Thomas Weihrich als Interviewpartnerin für deren 1. Online-Bildungskongress angefragt. Die Anfrage kam überraschend, denn ganze fünf Jahre waren seit der Veröffentlichung des von mir mitherausgegebenen Buches „Lernen ist wie Atmen“ vergangen, in dem wir Erfahrungen, auch unsere eigenen, mit selbstbestimmtem Lernen gesammelt hatten. Das Thema Bildung hatte meinen Partner und mich seit der Geburt unserer ersten Tochter über Jahre intensiv begleitet. Wir wollten ihr den außerschulischen Weg ermöglichen, solange sie das wünschte, die Legalisierung des selbstbestimmten Lernens voranbringen und nahmen dafür mehrere juristische Verfahren in Kauf. Als wir in ein Wohnprojekt zogen und unsere Tochter und unser Sohn sich entschieden, in eine freie Schule zu wechseln, war die Begleitung junger Menschen zwar in unserem Alltag weiterhin sehr präsent, jedoch zogen wir uns aus unserem aktiven Engagement im Netzwerk der Freilerner zurück – auch mit einer großen Ernüchterung, auf der rechtlichen Ebene nichts bewirkt zu haben.

Als der Bildungskongress online ging und ich mir die Interviews anhörte, erwachte das Thema wieder in all seiner Kraft und Bedeutung in mir. Da sprachen Menschen, zum Teil aus ganz anderen Bereichen über das Thema und fanden neue Worte und eine Klarheit, die wir damals noch nicht hatten. Die Idee einer Nachlese des Kongresses im Format des TAU Magazins für Barfußpolitik ließ nicht lange auf sich warten. Wir hatten im Team bereits Erfahrung mit dem Destillieren von Inhalten eines Online-Kongresses, die sich sonst in der digitalen Welt rasch verflüchtigen.* Schnell bildete sich mit TAU Kollegin Johanna Vigl, die eine ganz große Leidenschaft für die Begleitung junger Menschen in sich trägt und ihre Erfahrungen als Lehrerin für Veränderungen im Bildungswesen fruchtbar machen will, ein Kernteam zur Umsetzung der Idee. Mir wurde in der Zusammenarbeit bewusst, dass wir mit Johanna im Team jemanden haben, die bereits

mit ganz anderen Worten, aktuellen Erfahrungen und mit neuer Kraft an das Thema herangeht, und somit der Ausgabe und dem Thema die Aktualität verleiht, die es dringend braucht. Martina und Thomas gefiel die Idee auf Anhieb!

Nach 10 Jahren** hat TAU nun wieder eine Ausgabe, die sich ganz dem Thema Bildung widmet – präsent waren die zentrale Bedeutung der Begleitung junger Menschen und die vielen Wunden, die durch die noch immer vorherrschende Bildungsform Menschen zugefügt werden, in jeder Ausgabe. „Wir können nicht am Ende mit dem Wandel beginnen,“, meinte z. B. André Stern in einem Interview für TAU (Ausgabe 15/2019: ZEIT) – „der Anfang ist die Kindheit“. Wie wir junge Menschen begleiten und wahrnehmen, trägt wesentlich zur Transformation unserer Gesellschaft zu mehr Lebensfreundlichkeit bei. Dem möchten wir mit dieser Ausgabe wieder gebührend Raum geben.

Als kleinen Vorgeschmack veröffentlichen wir hier das Interview mit Ilan Stephani. Wichtig ist uns an dieser Stelle die Haltung und Ausrichtung dieser Ausgabe, die Ende September erscheinen wird, zu benennen: Auch wenn viele Aussagen von Interviewpartner*innen möglicherweise zunächst Irritation auslösen – wie z. B. dass Schule strukturelle Gewalt in sich birgt – laden wir ein, das Verbindende und Heilung Suchende in allen Interviews ebenso wahrzunehmen. Mit dieser Ausgabe möchten wir keinesfalls Schuld und Scham, sondern Verbindung und Beziehung nähren.

2 Heft 24 2023
Gudrun Totschnig TAu Magazin Mitherausgeberin Johanna Vigl TAu Magazin redaktion ** ,Bildung als Kunst der Entfaltung‘ (2013) * ,beherzt wandelwärts’ (2022) Best of pioneers of change summit

Vorschau auf die Interviewauswahl:

IlAn STephAnI Autorin, Körperforscherin im Bereich Embodiment, Trauma u. a. über das stillsitzen Müssen in der schule und unsere verlorene Glücksfähigkeit

CordUlA roeMer Expertin für Hochsensibilität & Hochbegabung, Autorin, Life- & Jobcoach, Dozentin u. a. über rahmenbedingungen, die hochsensiblen Menschen ermöglichen ihr potential zu leben

dAgMAr neUBronner Biologin,Therapeutin, Publizistin, FreilernerMutter von zwei erwachsenen Söhnen u. a. über den Mut zu widersprechen und das Internet als einzig verbliebener raum für junge Menschen

FrAnzISkA klInkIgT Diplom Psychologin, Systemische Therapeutin mit Schwerpunkt Schulverweigerung u. a. über strukturelle Gewalt und wie schnell uns, was als normal gilt, blind macht

JoShUA ConenS Produzent Spielfilm „CaRaBa Leben ohne Schule“ u. a. über räume, in denen wir wahrgenommen werden und uns unserer Aufgaben in dieser Welt bewusst werden können

AlICIA kUSUMITrA Mayapriesterin, Kongressveranstalterin, Mutter von 8 Kindern, die sich in Guatemala frei und selbstbestimmt bilden u. a. über das Freiwerden und in die eigene Kraft kommen begleitender Menschen

MIChAelA glöCkler Kinder- und Schulärztin, Dozentin und Buchautorin u. a. über den altersgerechten umgang mit digitalen Medien und wie man junge Menschen bei deren Nutzung begleiten kann

FIonA BAUr selbstbestimmt zum Abitur & Gründerin der Akademie für Neues Lernen u. a. über die vielfältigen Wege, die sich auftun, wenn man mit Freude und liebe lernt und lebt

leAnder WeIhrICh frei mit seinen eigenen Projekten zum internationalen High School Abschluss über seinen selbstbestimmten Bildungsweg

TAU Magazin für Barfußpolitik stellt seit 2011 lEBENsBEJAHENdE und KulTurTrANsFOrMIErENdE sichtweisen und projekte vor. Wir möchten damit Menschen inspirieren, politisches Engagement und selbsterfahrung zu verbinden. In pErsÖNlIcHEN Geschichten erzählen Menschen, was sie bewegt und was sie bewegen, KrEATIV und KÜNsTlErIscH gestalten wir, was uns wesentlich erscheint. Immer mehr der spur unserer Freude zu folgen und neue Handlungs- und spielräume zu erkennen und zu begehen, das wünschen wir uns und unseren leser*innen!

TAU erscheint 2-4 Mal pro Jahr

www.tau-magazin.net

ergänzende Texte:

sIGrId HAuBENBErGEr-lAMprEcHT

HEIKE pOurIAN

OlIVIEr KEllEr

sIMON MArIAN HOFFMANN

diese TAU Ausgabe bestellen:

www.tau-magazin.net/bestellen

3 Heft 24 2023

Ilan stephani spricht mit Thomas und Martina Weihrich über das stillsitzen-Müssen in der schule, die kollektive sucht nach einem niedrigen Energieniveau und unsere verlorene Glücksfähigkeit.

Thomas: Wie bist du darauf gekommen, dass der Körper so immens wichtig für unser Leben ist, unser Leben quasi bestimmt?

Ich bin gar nicht direkt auf den Körper gekommen – mein Weg war schnellstmöglich weg vom Problem. Das Problem war, im Kopf zu sein, zu viel zu denken. Ich war eine extrem unauffällige, gute Schülerin. Niemand hat sich Sorgen um mich gemacht, was hochtraumatisch war. Man hätte sich echt Sorgen um mich machen sollen, wieso ich so gut denken und so wenig fühlen und spüren kann. Nach der Schulzeit habe ich über ein paar Umwege angefangen mehr und mehr meine Seele zurückzuholen in meinen Körper. Ein Mensch, der nicht in seinem Körper ist, ist ein Mensch, der das Leben nicht lieben wird, weil der Ort, das Leben zu lieben, der Körper ist – das müssen wir beschützen für uns selbst, für andere Generationen und andere Menschen, für andere Lebewesen.

Martina: Mir ist dieses DissoziiertSein vom Körper viel später als bei dir in mein Bewusstsein gekommen. ‚Dissoziation‘ ist ein krasses Wort, aber es ist wirklich eine Abspaltung. Eine ursprüngliche Einheit erlebt sich nicht mehr als Einheit und dann

wundert man sich, warum das Leben kompliziert ist oder depressiv. Das Gute ist, dass es nicht darum geht Körperlichkeit zu lernen, eine Technik zu lernen, sondern: Körperlichkeit findet sich selber wieder. Es ist ein ultimativ entspannender Prozess, sich selber wieder zu spüren, weil wir endlich die ganzen Schichten der Kultur wieder loslassen dürfen. Dieser Tiger, diese Tigerin in uns, der und die sehnt sich danach diese menschliche Kultur abzuschütteln, das ist Erholung. Das ist Hingabe in die Kraft.

Martina: Ich habe viele Jahre als Lehrerin gearbeitet und habe Dinge gesehen, die ich nicht mehr mittragen wollte. Jemand sagte mir einmal: „Jetzt kommen die Erstklässler, die müssen erst einmal lernen, eine dreiviertel Stunde zu sitzen.“

Wir brauchen die Stimulation der Sinne und Bewegung, damit wir überhaupt in einer intelligenten Weise denken lernen können – das wissen wir heute. Wir, die gesamte Gesellschaft leidet an dem Sitz-Trauma ihrer Schulzeit. Und dann rennen wir herum, versuchen die Welt zu retten – nachdem man uns so früh eingeprügelt hat: „Halt still, sonst gehörst du nicht dazu!“ Solange wir diesen Code

in uns laufen lassen, werden wir nicht aufstehen für eine bessere Welt, wir werden darüber reden, wir werden beteuern, wir haben es besser gewollt. Wir haben es nicht anders gelernt als geliebt zu werden für eklatante NichtHandlung. Es ist tatsächlich noch so, dass diese Erstklässler jetzt erstmal lernen müssen, ruhig zu sitzen. Lasst uns Augen und Ohren aufsperren, um so viel wie möglich zu lernen von diesen Lebewesen, lassen wir uns triggern von solchen Bündeln der Lebensenergie!

Martina: Da fallen mir diese Sandwesten an Schulen ein, mehrere Kilo schwer, die bewirken sollen, dass junge Menschen, die bewegungsfreudig sind, auch am Platz sitzen bleiben. Die Schulleitungen fanden das ganz toll und die jungen Menschen hätten auch selber gesagt, es fühlt sich so gut an. Für mich ist das ein künstliches Ruhigstellen, damit sie auf eine Weise funktionieren, wobei ihr Körper etwas anderes sagt.

Warum zeigen denn gesunde Bewegungskörperchen eine Rastlosigkeit in ihrer Bewegung? Was spiegelt uns diese Hyperaktivität? Aber nein: Symptom und dann eine Sandweste drauf. Um dann später als Erwachsene funktions-

Ilan stephani Bestseller-Autorin, Körperforscherin im Bereich Embodiment, Trauma

Mehr Infos: www.ilanstephani.com

5 Heft 24 2023
„halt still, sonst gehörst du nicht dazu“

oder arbeitstüchtig zu sein, haben wir Taubheit eingespeichert. Wir sind weniger sensibel, wenn uns jemand umarmt, Komplimente macht, bedroht. Wir wissen, dass das, was wir über das Leben gelernt haben, nicht lernenswert genug ist für Generationen nach uns, wenn es wirklich darum geht, glücklich zu sein, und ekstatisch und frei. Warum tun wir das? Ich glaube es ist auch eine sehr egoistische Rechnung: Wenn ich sehe, wie maßlos lebendig und glücklich Menschen nach mir leben dürfen, dann bricht mir mein Herz. Mit diesem Schmerz meiner verlorenen Jahrzehnte will ich nicht sein.

Martina: Wir sperren junge Menschen jetzt wieder in dieses Gefängnis, in dem wir auch waren. Ich sehe es auch selbst in meinem Unterricht in der Schule: Wenn jemand auffällig war und um sich getreten hat, weil er wütend geworden ist, dann ist er in die Außenseiter-Ecke gestellt und beschämt worden. Kannst du zu diesem Beschämen, der Scham noch etwas sagen?

Scham erfüllt eine biologisch-evolutionär wichtige Rolle. Wir spulen jetzt ein paar Jahrtausende oder Jahrmillionen zurück und ihr seid Tiger und Tigerin, das ist eine frühere Inkarnation von euch beiden (lachen) und ihr habt einen Kampf. Ihr seid eigentlich beide gleich gut im Rennen und ihr kämpft um eure Reviere. Jetzt machst

du, Thomas, einen falschen Tritt, eine falsche Bewegung und Martinas Pranke erwischt dich am Bauch, du fängst augenblicklich an zu bluten. Das ändert die gesamte Situation, du wusstest vorher, du bist mit ihr auf Gleichstand, und ab dem Moment merkst du: Ich bin so tief verwundet, so tief getroffen, ich muss augenblicklich schauen, dass ich mich irgendwie in Sicherheit

Was uns so sehr triggern kann, ist die Glücksfähigkeit junger Menschen, weil in uns selber früher auch so viel Glück reingepasst hat.

schleppe. Das heißt, dein Stoffwechsel, dein Nervensystem, dein Kreislauf, alles fährt aus dem Kampfmodus runter und zieht sich zusammen, damit du möglichst wenig Blut aus der Wunde verlierst. Jetzt ist dein sicheres Revier, in dem Martina dir nicht folgen wird, wo du heilen kannst, zehn Meter entfernt. Diese zehn Meter spielst du Martina vor, es sei alles in Ordnung: „Lalalala, alles in Ordnung – nö, nichts passiert, tut gar nicht weh.“ Das ist biologisch gesehen Scham. Es ist das Verbergen der Wunde vor der Außen-

welt, der Außenwelt die eigene Wahrheit nicht zu zeigen, weil es sich nicht sicher genug anfühlt. Wenn du dann in deinem Nest gelandet bist, lässt du die Scham natürlich los, wirfst dich auf den Boden, zitterst und vibrierst, leckst deine Wunden und lässt dich wieder zu Kräften kommen – das ist der Punkt, den Menschen nicht machen. Wir heilen unsere Wunden nicht – im Gegenteil: Während dieser zehn Meter Richtung Nest erzählst du dir die Geschichte: „Das ist mir passiert, weil ich wirklich nicht liebenswert bin. Martina hat mich am Bauch verletzt, weil ich nicht leben soll.“ Das wird dein Gefängnis aus Scham und eine Vollbremsung für deine Lebensenergie. Wie gehen wir mit Scham um? Meine Lehrerin hat mich z. B. dumm genannt, dann wird einmal darüber geredet. Manchmal heilt dann die Scham, manchmal auch nicht. Es ist viel effektiver zu sagen: Es ist egal, was die Lehrerin mir gesagt hat, ich erinnere den energetischen und psychischen Kollaps und fang an mich zu schütteln, dann zu tanzen. Probiere mal ausgelassen zu tanzen und dich währenddessen hassenswert oder nicht existenzberechtigt zu fühlen!

Martina: Für Eltern, die das jetzt hören, oder Lehrerinnen oder Lernbegleiter: Wie können sie das konkret umsetzen?

6 Heft 24 2023

Was ich häufig höre von Eltern ist: „Ich mache mir wahnsinnig Vorwürfe, nicht mehr für meine Kinder da zu sein, nicht mehr für sie da gewesen zu sein, oder ich schäme mich, eine schlechte Mutter zu sein.“ Das ist an sich sehr ehrenwert, aber wenn jemand jahrelang mit Selbstvorwürfen herumläuft, dann muss man an den Tools etwas verändern, um dieses Selbstbild loszulassen. Es nützt Kindern nichts, wenn die Eltern Sorgen-gebeugt sind. Kinder lernen sich selbst zu geißeln und sich dauernd zu kritisieren. Genau so etwas wollen wir ihnen nicht beibringen. Sagen wir, da ist eine Mutter, sie heißt Hanna und sie ist 35 Jahre alt. Hanna hatte den ganzen Tag einen stressigen Job, aber abends hat sie fünf Minuten für sich, und sei es kurz vor dem Zähneputzen. Sie schließt sich im Badezimmer ein und hofft, ihre Kinder klopfen nicht und sie kann einmal fünf Minuten lang Zähneputzen. In diesen fünf Minuten macht sie Folgendes: Sie putzt nur eine Minute lang ihre Zähne und vier Minuten lang schüttelt sie sich von Kopf bis Fuß. Eine Minute lang schüttelt sie den ganzen Körper, um diesen ganzen stressigen Menschen-Tag rauszuschütteln, die zweite Minute sagt sie sich diesen Satz von Scham, z. B.: „Ich flippe so schnell aus, dass meine Kinder später total traumatisiert von mir sein werden.“ Sie stellt sich diesen Satz vor und beginnt sich zu schämen: „Ich schäme mich für

das, was ich besser tun müsste, und ich schaffe es nicht mal mich zu bessern, und das ist nochmal besonders schlimm.“ In dieser zweiten Minute beobachtet Hanna: Wie verändert sich die Atmung, wenn sie sich schämt? Wie verändert sich die Körperhaltung, wenn sie sich schämt? Das hat sich bei Thomas im Dschungel als verwundeter Tiger auch verändert: Von jetzt auf gleich ist er aus dem Kampf in die Vollbremsung gewechselt – das macht Hanna jetzt auch. Für die dritte Phase haben wir uns zwei Minuten aufgespart. Diese zwei Minuten lang tanzt sie wild und jubelt und schüttelt sich. Und damit meine ich wirklich Hände über den Kopf reißen und: „Yaaay, ich bin die schlechteste Mutter der Welt!“ Und am besten noch Kopfhörer in die Ohren mit dem Lieblings-Song. So ausflippen, so außer Rand und Band, so lebendig, dass diese Selbstvorwürfe in Hannas Nervensystem gekoppelt werden an ‚Auftakt einer super Party‘. Auf diese Weise hört Hanna auf, sich zu schämen, dass sie eine schlechte Mutter ist. Der Weg der Worte, der bringt gar nichts. Kein einziger Mensch hat jemals seine Schuld- und Schamgefühle aufgelöst, indem er sich von den besten Freundinnen und Freunden erzählen ließ: „Hey, du bist prima, so wie du bist“ – das heilt niemanden. Was heilt, ist der Weg der Energie. Hanna koppelt eine schlechte Mutter zu sein an den Beginn einer

Party. Der Glaube eine schlechte Mutter zu sein hat keine Kraft mehr über ihre Energie – und schwuppdischwupp haben ihre Kinder eine sehr präsente und glückliche Mutter.

Martina: So einfach. Wir reden viel von Lebendigkeit und von Gesundheit usw. in Bezug auf ältere und jüngere Menschen, was uns aber im Endeffekt sehr triggern kann, ist die Glücksfähigkeit junger Menschen, weil in uns selber früher auch so viel Glück reingepasst hat. Dann wurde dieser innere Raum immer kleiner: Solange ich nicht glücklich bin und das Leben meiner Träume leben darf, darfst du es schon gar nicht, weil du gehst in die Schule und aus dir muss noch was werden. Ob wir es so formulieren oder nicht – es gibt so etwas wie ein Sich-hochdienen-Müssen, Sich-hochleiden-Müssen – das dürfen wir nicht weitergeben.

Thomas: Es gilt, die Wahrnehmung dafür überhaupt erstmal zu bekommen.

Die Wahrnehmung ist augenblicklich da, sobald wir mit jungen Menschen Zeit verbringen und widerstehen, „normal“ mit ihnen umzugehen. Dieses „komm, komm hier rüber, jetzt mach doch“ und „och, das hast du schön gemacht, gut, ein tolles Bild“, lasst mal diesen ganzen Scheiß weg! Lasst mal einfach alles weg, was du

7 Heft 24 2023

Ausführlichere Version des Interviews mit Ilan stephani in der Zeitschrift für innovative pädagogik Freigeist, März/April 2023 „Energie!“

normalerweise mit dieser Berechtigung eines Erwachsenen tust. Du bist dann sofort mit deinem eigenen Schmerz konfrontiert. Es ist nicht schwierig, die Wahrnehmung dafür wieder zu bekommen. Es ist nur schwierig, das dann wahrzunehmen, was man dann wahrnimmt – und das ist eben der eigene Schmerz. Wenn du neu mit Kindern umgehen willst, das ist wie der Highspeed-Trip in deine eigene Traumatherapie. Ein normaler Erwachsener, das kann ein Lebewesen nicht sein wollen – nichts daran ist lebendig, gesund oder erstrebenswert.

24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche präsente Beleidigung und Ignoranz dem Leben gegenüber – das ist, wie wir unseren Kindern weh tun. Sie sollen den Asphalt von der Straße kratzen und stattdessen irgendwelche blühenden Abenteuerpfade entlang machen – das braucht es, sie sollen dieses Leben auseinandernehmen. Am Ende des Tages haben wir nicht mal das Recht, diejenigen zu sein, die das bewerten – Hauptsache Veränderung. Wir opfern eine Menge, wenn wir zur Veränderung Ja sagen. Vielleicht dämmert uns eines Tages, dass es langsam die einzige Option ist, zur Veränderung Ja zu sagen. Wir wissen nicht, ob sie die Welt besser machen oder ob sie die besseren Menschen sind. Das finde ich angemessen, dass wir uns etwas abverlangen, was unsere Eltern uns nicht vorgemacht haben. Und selbst

wenn wir daran scheitern: Es probiert zu haben finde ich attraktiv. Statt „Wie können wir das Neue weitergeben oder die Veränderung weitergeben?“ vorsichtshalber mal gar nichts weitergeben. Sich gut zu überlegen, ob man genau so weitermachen möchte wie vorher. Wir könnten weitergeben: „Ich kümmere mich um mich selbst, ich spüre mich selbst, ich schüttle mich selber, ich gehe selbst-

Wenn du neu mit Kindern umgehen willst, das ist wie der Highspeed-Trip in deine eigene Traumatherapie.

verantwortlich mit meinen Triggern um, wenn du mich mal wieder rasend gemacht hast.“

Thomas: Das heißt, wir müssen eigentlich nur die Sicherheit geben, den Möglichkeitsraum offenhalten und ihn nicht verengen?

Ja, es gibt diesen Instinkt von beiden Seiten: Da steht ein kleines Körperchen neben einem großen Körper und das kleine Körperchen tastet nach dem Hosenbein und nach der Hand. Die kleine Hand möchte die große

Hand spüren und die brummende tiefe Stimme, die sagt: „So, wir gucken uns das mal an, ich zeig dir, wie ich das gelernt habe und wie ich das machen würde. Wir gucken, was passiert, und ich bleibe da – komm, wir machen einen Schritt nach vorne.“ Das ist ein „ich initiiere dich in diese Welt, ich zeige dir das Leben“, das ist eine ganz wichtige Rolle, für die wir die Ruhe brauchen, denen zu lauschen, die gerade von uns an die Hand genommen werden. Wenn ich von den Großen aber immer nur statt Berührung, Initiation und gemeinsamem Erforschen Bewertungen und Noten bekommen habe, dann kommt dieser natürliche Instinkt nicht, der fragt: „Zeigst du mir das? Zeigst du mir, wie du das machen würdest?“ Dann haben wir eine auf die Herausforderungen des Lebens sehr unvorbereitete Generation, rennen herum und sagen: „Jemand muss die jungen Leute schützen vor allem Möglichen, z. B. vor ungeschütztem Sex mit 14 usw.“ Wir müssen sie vor allem Möglichen schützen, aber erst nachdem wir sie so sehr aus ihrem Vertrauen zu uns weggeprügelt haben, dass wir an sie nicht mehr rankommen. Dann finden wir es problematisch, dass sie mit 12 Pornos gucken oder wer weiß was. Wir hätten sie einfach nicht so unfassbar enttäuschen sollen in Bezug auf uns, dann hätten wir jetzt nicht dieses Gefühl, die Frage: „Wie kommen wir denn heute noch an

8 Heft 24 2023

die jungen Leute ran?“ Wenn wir an uns selbst nicht rankommen, an diese inneren Frequenzen, Gefühle und Empfindungen, dann kommen wir an niemanden ran.

Martina: Das heißt also, es wäre hilfreich erstmal bei uns zu schauen –das überträgt sich dann automatisch auf die jungen Menschen?

Es ist ein Zwei-Schritte-Programm: Etwas triggert mich und ich checke kurz, kann ich mir in dieser Situation erlauben mich zu schütteln. Z. B. der Lehrer vor einer Schulklasse, der für sich feststellt: „Nein, es fühlt sich gerade nicht sicher genug an, mich zu schütteln.“ Dann, lieber Lehrer, kein Problem, du wartest bis Feierabend, oder du gehst einfach in der Pause aufs Klo, stellst dir die Situation vor und spürst wie du beschämt, überfordert, wütend auf die Kinder dagestanden bist. Dann schüttelst du dich und löst es auf. Es ist nicht so, dass du nicht mit der Außenwelt in Kontakt gehst, aber du kümmerst dich zuerst, immer zuerst, um die Innenwelt.

Martina: Mir kommt das Bild, wie wir uns alle gemeinsam schütteln ... Es gibt mittlerweile ganze Schulklassen, die morgens stramm aufstehen, um sich zu schütteln! Schütteln ist ja nicht eine Methode, sondern evolutionär die gesündeste und automatischste Bewegung der Welt. Sobald Säugetiere

sich sicher fühlen nachdem sie Stress hatten, fangen sie an zu zittern – wir hatten Stress, warum schütteln wir uns nicht? Weil wir ständig Angst haben. Sobald wir aus dieser Schreckstarre kollektiv rausfinden, haben wir einfach nur noch den Job, unseren Instinkten in Bezug auf Vibration nachzugeben. Shaking future! So schwer kann‘s doch nicht sein ... Aber das Problem ist, es macht glücklich, und damit müssen wir halt klarkommen, das ist der Punkt. Wir dürfen es nicht so tragisch nehmen, wenn es uns gut geht.

TrANsKrIpTION: Johanna Vigl | TExTZusAMMENsTElluNG: Gudrun Totschnig –beide TAu Magazin für Barfußpolitik

Heft 24 2023
10 Heft 24 2023 www.tau-magazin.net Heft 13, 2018 € gescheiter Wenn Unternehmen sich übernehmen Kann ich nicht-ich sein? Scheitert die Demokratie? Die eigene Lächerlichkeit genießen t www.tau-magazin.net Heft 18, 2021 sicher un Worauf du dicH verlassen kannst Weltunsic er eit freudvoll offnunGslos Ö www.tau-magazin.net Sonderedition S01 03/2022 15 € Inspirationen & Impulse aus 5 Jahren Pioneers of Change Summit beherzt wandelwärts Friedensaktivistin Scilla Elworthy Kulturphilosoph Charles Eisenstein Mitbegründerin vom Ökodorf Tamera Sabine Lichtenfels Jungkünstler Simon Marian Hoffmann Scientistsfor-Future-Mitinitiatorin Maja Göpel Benediktinermönch David Steindl-Rast u. v. m. www.tau-magazin.net TAU Magazin für Barfußpolitik seit 2011

9 Interviews

Blick auf aktuelle Bildungsinitiativen

Film- und Buchrezensionen ~ Übungen

erscheint Ende september 2023

BeSTellen:

www.tau-magazin.net/bestellen

11 €

ssu M : Medieninhaber: l abor für Kulturtransformation und Wege zur

I M pr

Fülle / Herausgeberin: TA u –Verein für beherzte Gesellschaftsgestaltung und angewandte l ebensfreundlichkeit / s itz und Erscheinungsort: Wien / p ostadresse: Hasendorf 88/2, 3454 s itzenbergr eidling / Blattlinie: TA u widmet sich lebensbejahenden und kulturtransformierenden s ichtweisen und p rojekten / r edaktionsteam dieser

Ausgabe: Gudrun Totschnig, Johanna Vigl / l ayout: Irmgard s telzer www.irm-art.com / Illustration: Johanna Vigl / l ektorat: u lrike p rochazka / c overfoto: d avid Meixner / Bankverbindung: TA u Verein IBAN:

Anzeigen: anzeigen@tau-

Kontakt: welcome@tau-magazin.net oder versand@tau-magazin.net /

/

www.tau-magazin.net / ZV r -Nr.: 640796633 / Herstellerin: gugler cross media / Herstellungsort: Melk

Heft 24 2023
E
AT04 34 1 2 9000
1
089
6470 BI c : r ZOOAT2 l 1 29
magazin.net
Web:
/
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.