RAUSZEIT 2019-2 Herbst-/Winterausgabe

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RAUSZEIT

RAUSZEIT WEGE.

ABENTEUER.

Preis: 3,00 €

FOTO Günther Härter

FOTO Marc Michel

FOTO Margit Memminger

FOTO Roman Königshofer

MENSCHEN.

Ausgabe Winter 2019/2020

ERLEBT

BESSERWISSER NACHGEFRAGT

Völlig verrückt oder genial geplant? Marc Michel liebt Winterradreisen durch Sibirien.

Bouldern fasziniert und fordert. Worin liegt der Reiz und wie gehst du es richtig an?

Bernd Kullmann stand einst als jüngster Mensch auf dem Everest. In Jeans. Der Ex-Boss von Deuter im Porträt.

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RAUSZEIT Winter 2019 / 2020

LAMPENSTÄNDER Manchmal nervt es, wenn man für jede Aktivität unterschiedliche Ausrüstung einpacken muss. Kletterspezialist Petzl hat mit dem »Bike Adapt« ein feines Teil entwickelt, um eine Stirnlampe schnell und unkompliziert in eine Fahrradleuchte umzuwandeln. Der Kunststoff-Adapter mit nur 40 Gramm Gewicht passt an Lenker und Sattelstangen mit einem Durchmesser zwischen 22 und 30 Millimetern. Die Stirnlampe wird schnell ums Gestänge gewickelt, das Gehäuse eingeklickt, das Kopfband eingefädelt – fertig. Der Adapter bleibt dauerhaft am Rad. Die meisten von Petzls klassischen Stirnlampen sind damit kompatibel – wie etwa die 350 Lumen starke »Actik Core«. Sie bringt alles mit, was eine Allround-Kopflampe können muss: unterschiedliche Lichtkegel für den Nah- und Fernbereich, Rotlicht für nächtliches Kartenlesen, verschiedene Leuchtintensitäten und ein wetterfestes Gehäuse. Angetrieben wird sie von einem Akku, funktioniert aber auch mit drei AAA-Batterien. Im wahrsten Sinne pfiffiges Extra: In das Kopfband hat Petzl eine Notfallpfeife integriert. Petzl Bike Adapt & Actik Core Preis: 14,95 Euro & 59,95 Euro

STANDPUNKT Los. Jetzt! Eigentlich sind Wunschlisten keine komplizierte Sache: Jeden Tag begegnen uns wunderbare Inspirationen von Orten, Abenteuern und Aktivitäten, die wir gerne auf diese Listen setzen. Nicht selten werden unsere Pläne jedoch von Sätzen wie »Das mache ich nächstes Jahr« oder »Wenn ich genug Geld gespart habe« begleitet. Noch schlimmer sind diese furchtbaren Konjunktive – »Da würde ich sooo gerne mal hin« oder »Das müssten wir eigentlich mal machen«. Wintercampen? Das wollte ich schon immer ausprobieren. Oder gleich den Job kündigen und monatelang die Welt bereisen? Ach, diese Pläne: Sie schweben über uns und werden immer wieder vertröstet. Morgen, ja morgen, setze ich euch in die Tat um. Versprochen! »Prokrastination« nennen Wissenschaftler diesen Vorgang. Aus den lateinischen Worten »pro« und »crastinum« zusammensetzt, bedeutet es so viel wie »für morgen«. Zwar bezieht sich der Begriff eigentlich auf Aufgaben wie Steuererklärung, Seminararbeiten oder berufliche Abgabetermine – also Tätigkeiten, die uns nicht besonders lieb sind. Doch auch unsere Freizeit- oder Reisepläne werden nicht selten Opfer der akuten »Verschieberitis«. Was hindert uns? Oft halten wir unsere Ideen für unerreichbar, für naive Hirngespinste, die nicht bezahl- oder umsetzbar sind. Und dann gibt es noch diesen sogenannten »richtigen Zeitpunkt«, der bei vielen von uns einfach nicht eintreten will. »Wer beginnt, hat bereits die Hälfte geschafft, sei also mutig, beginne!« Bereits vor 2000 Jahren benannte der römische Philosoph Horaz den Hauptgrund, weshalb viele Menschen nicht loslegen: Angst. Er wusste, dass es Mut braucht, um Träumen Leben einzuhauchen. Jeder Schritt zählt – doch der erste ist der schwerste. Davon berichtet auch der WinterRadreisende Marc Michel, der gerne bei eisigen Temperaturen durch fremde Länder pedaliert. In ERLEBT auf S. 14 erzählt er davon, wie schön sich -40 Grad anfühlen können, sobald die Räder und der menschliche Motor endlich rollen. Sogar bei einem kleinen Abenteuer vor der Haustür – so wie auf unserer Schneeschuhtour mit Winterzelten im Chiemgau auf S. 8 – gilt: Beginnen ist die halbe Miete. Um den eigenen Schweinehund zu überlisten, raten Psychologen dazu, Termine fix in den Kalender einzutragen. Reisetickets einfach heute buchen, ohne genaue Details auszuarbeiten. Und: den Trekkingrucksack vielleicht fertig gepackt an die Haustüre stellen. Quasi als animierende Erinnerung oder positives Mahnmal. Damit wäre der erste Schritt getan. Der Rest folgt (hoffentlich) von ganz allein. Wir wünschen euch einen Herbst und Winter gefüllt mit ersten, zweiten, dritten ... Schritten! Barbara Meixner, Moritz Becher und die RAUSZEIT-Teams

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HAUBENTAUCHER Aclima dürfte hier in Deutschland bis jetzt nur wenigen ein Begriff sein. In Norwegen, wo der Wollspezialist bereits in dritter Familiengeneration seinen Stammsitz hat, gehören die Produkte zu den Lieblingsteilen vieler Menschen, die beruflich oder privat einen Großteil ihrer Zeit im Freien verbringen. Jan Eivind Johansen, Urenkel des Firmengründers und Chef von Aclima, setzt neben klassischen Funktionsleibchen vor allem auf eine schlaue Kombination verschiedener Gestricke – je nach Einsatzzweck und Körperpartie. Ein echtes Multitalent ist der »Warmwool Hood Sweater Zip«: Der Kapuzenpulli aus 100 Prozent Merinowolle kann entweder direkt auf der Haut oder als zweite Lage getragen werden. Der Stoff ist etwas dicker und hält richtig warm. Der Clou: Die Kapuze lässt sich je nach Temperatur und Windstärke als komplette Sturmhaube, Halswärmer oder Rollkragen tragen. Mit einem großen Reißverschluss kann die Temperatur »eingestellt« werden. Verlängerte Ärmel mit Daumenschlaufen und Seitentaschen machen das Teil zum Ganzjahres-Allrounder. Aclima WarmWool Hood Sweater w/zip W Preis: 129,95 Euro

Foto Titelseite Wie ein derart verzaubertes Lächeln entsteht? Wahrscheinlich hatte der gerade erlebte Sonnenaufgang am Gipfel der Südtiroler Hochgrubbachspitze mit 360-Grad-Panorama-Aussicht auf die Zillertaler Alpen, Dolomiten und Ortlergruppe großen Einfluss darauf. Fotografiert von Roman Königshofer


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HÜFTGOLD

DIE SCHAF-FLÜSTERER

Die Minitasche in der Mikrotasche. Der »Ultra­ light Black Hole Mini Hip Pack« ist mit seinen winzigen 100 Gramm und einem Liter Fassungsvermögen eine feine Ergänzung fürs Reisegepäck oder kurze Ausflüge vom Lager zur abendlichen Terrain-Erkundung. Im Hauptfach befindet sich eine Sicherheitstasche – die »schluckt« bei Nichtgebrauch den gesamten Hip Pack und macht sein Packmaß verschwindend klein. Gut fürs Gewissen: Das Außenmaterial ist zu 100 Prozent aus recyceltem und besonders leichtem, zugleich aber robustem Ripstop-Nylon, der Innenstoff aus 100 Prozent recyceltem Polyester. Durch eine wasserabweisende Silikon- und PolyurethanBeschichtung wird das Täschchen wetterfest. Patagonia Ultralight Black Hole Mini Hip Pack Preis: 27,95 Euro

SCHERENSCHNITT Die meisten Scheren bei Multitools und Taschenmessern sind eher für die Anforderungen von Origami-Enthusiasten als für gröbere Schnibbel-Einsätze gemacht. Dem »D07 Scissors« hat der Schweizer Hersteller Swiza nun eine veritable Schere verpasst: 8 Zentimeter lange Scherenblätter! Dazu eine 7,5 Zentimeter lange Klinge aus 440er Edelstahl mit Arretierung, Stech- und Bohrahle, Kombi-Werkzeuge mit Flaschenöffner, Dosenöffner und zwei unterschiedlich großen Schlitzschraubenziehern. Eine Pinzette mit abgeschrägter Spitze für die unvermeidbaren Holzsplitterentfernungen nach Barfuß-Begehungen von Altholzstämmen oder -terrassen. Und schließlich darf einem echten Alleskönner ein Sommelier-Korkenzieher nicht fehlen, um die schönsten Outdoor-Momente vielleicht noch mit etwas vergorenem Traubensaft zu beschwingen. Egal, für welchen Einsatzzweck: Der kleine, nur 110 Gramm leichte Riegel sollte immer mit dabei sein. Swiza D07 Scissors Preis: 59,90 Euro

BUNTE BEDEUTUNG Nepalesische Frauen in den Höhen des Himalaya tragen Wollstrick. Nicht weil ein Modemagazin das zum neuen Trend erkoren hat. Sondern? Weil sie sich die Kleidung weitgehend selbst stricken und natürliche Materialien verarbeiten können. Materialien, deren Funktionen sich in kalten, rauen Landschaften jahrhundertelang bewährt haben. Schafwolle trägt Feuchtigkeit nach außen, wärmt auch in feuchtem Zustand und reduziert aufgrund seiner antimikrobiellen Wirkung Geruchsbildung. Der nepalesische Outdoor-Ausrüster Sherpa Adventure Gear greift diese bewährte Kombination elegant auf: Materialien wie Viskose (38 Prozent), Polyamid (38 Prozent), extrafeine Merinowolle (22 Prozent) und Alpaka-Wolle (5 Prozent) werden zu einem superweichen Pullover mit buntem »Anstrich« verarbeitet. Übrigens: Das gestreifte Muster des Pullovers symbolisiert, dass eine Sherpa-Frau verheiratet ist. Für alle nicht Sherpa-Augen: sieht einfach nur gut aus. Sherpa Adventure Gear Paro Crew Sweater Women Preis: 79,95 Euro

In Sachen Schafwolle sind die Oberbayern von Ortovox Herzblut-Spezialisten. Seit 1988 dreht sich bei jedem ihrer Kleidungsstücke alles (oder zumindest ein Teil) um das flauschige Haarkleid der Vierbeiner. Ihr besonderes Marken-Merkmal: eine intelligente Kombination des Naturmaterials mit innovativen Stoffen. So auch geschehen bei dem »Classic Knit Hoody«: strapazierfähige Kunstfaser an der Außenseite und kuschelige Merinowolle auf der Innenseite. Letztere speichert die Körperwärme, kann hervorragend mit Schwitzfeuchtigkeit umgehen und hemmt unangenehme Dunstwolken. Verfeinert wird das Ganze mit traditionellen Strickeinsätzen aus Swisswool, einem Garn, das aus der Schurwolle Schweizer Bergschafe entsteht. An mehr als 25 Sammelstellen können die Bauern zweimal jährlich die Schur abgeben. Fazit: warm, nachhaltig und ziemlich schick. Hohes Lieblingsteil-Risiko! Ortovox Fleece Plus Classic Knit Hoody Men Preis: 299,95 Euro

SENKRECHTSTARTER Du gehst gerne klettern? Und zwar nicht nur sportklettern oder nur Halle oder nur bouldern, sondern bist gerne in verschiedenen Disziplinen unterwegs? Dann könnte der »Diabolo« ein perfekter Schuh für dich sein. Der Vorzeige-Allrounder der spanischen Kletter- und Bergschuhmarke Boreal tummelt sich in puncto Vorspannung und Asymmetrie im Mittelfeld und bietet damit einen sehr guten Kompromiss aus Sportlichkeit und Komfort. Die Gummimischung Zenith Pro setzt oberste Priorität auf eine herausragende Haftung bei hoher Langlebigkeit, eine spezielle Zwischensohle verhindert eine Verformung des Kletterschuhs. Das Obermaterial besteht aus Spaltleder und Mikrofasergewebe. Geschlossen wird der 505 Gramm schwere Diabolo über der integrierten Zunge per Klettverschluss. Handgefertigt im Boreal-Werk in Spanien. Boreal Diabolo Preis: 119,95 Euro

Allgemeine Anfragen und Anregungen bitte an redaktion@rauszeit.net IMPRESSUM Herausgeber und verantwortlich für den Inhalt: Michael Bode, Andreas Hille Redaktion & Produktion: Moritz Becher (Chefredakteur), TANNE 9 Becher Lipp Meixner GbR, Von-der-Tann-Str. 9, 83022 Rosenheim, www.tanne9.com, redaktion@rauszeit.net Druck: Möller Druck und Verlag GmbH Copyright: Alle Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ist ohne Zustimmung der Herausgeber und der Redaktion unzulässig und strafbar.

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WIE FRÜHER – NUR BESSER Retro, das heißt übersetzt »rückwärts«. Patagonia, olle Kamellen? Sicher nicht! Das kalifornische Unternehmen greift mit dem »Retro Pile Hoody« einfach gekonnt seine eigene, lange Fleece-Tradition auf und serviert uns »Bewährtes modern ausgeführt«. Wo fängt das Moderne an? Vielleicht bei den technischen Eigenschaften des hochflorigen, doppelseitigen Webpelz-Fleece, der die Körperwärme wunderbar speichert und gerade bei kalten Herbst- und Wintertagen ungemein warm und heimelig ist. Oder vielleicht bei den nachhaltigen Faktoren: Denn das verarbeitete Material besteht zu 100 Prozent aus recyceltem Polyester. Nicht zu vergessen: die komplett Fair-Trade-zertifizierte Produktion. Wir raten zum Selbsttest. Einmal in die hüftlange FleeceJacke mit Kapuze kuscheln – und wahrscheinlich nicht mehr ausziehen wollen. Gemütlichkeitsfaktor? Wir vergeben guten Gewissens eine 10+! Patagonia Retro Pile ­Hoody Women Preis: 139,95 Euro

SCHLAFSAAL 4,7 Kilogramm Bruttogewicht. Das mag auf den ersten Blick einen schwergewichtigen Eindruck erzeugen. Wer aber genauer hinsieht, wird erkennen, dass das »Keron 4« der nordschwedischen Zeltschmiede Hilleberg jedes Gramm wert ist. Seit 1981 ist dieses Modell eines der beliebtesten Zelte bei Draußenschläfern, die sich auch dann sicher und geborgen fühlen wollen, wenn es jenseits der dreifach silikonbeschichteten Ripstop-Nylon-Wände stürmt und tobt. Das Kerlon-Gewebe genießt einen geradezu legendären Ruf in puncto Stabilität und Weiterreißfestigkeit, die zehn Millimeter starken DAC Alugestänge bilden in Rundbögen die Säulen dieser Vierjahreszeiten-Trutzburg. Apropos: Bis zum Boden gezogene Außenwände und hohe Belüftungsöffnungen prädestinieren das Keron 4 für Einsätze im Schnee. Das Raumgefühl im Inneren ist großartig. Die relativ steilen Seiten- und senkrechten Stirnwände lassen keinerlei klaustrophobische Gefühle aufkommen. Eingänge und Apsiden gibt es an beiden Längsenden. Platz im Überfluss ist für drei, ausreichend für vier Abenteurer vorhanden. Hilleberg Keron 4 Preis: 1.359,95 Euro

Unsere Empfehlung: Ausrüstung pflegen und reparieren!

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Leder ist ein extrem robustes Material. Richtig gepflegt hält es beinahe ewig. Eine detaillierte Anleitung, wie das geht, gibt es bei uns im Laden.

FOTO Mike Guest / Patagonia

Grundsätzlich raten wir, Schuhe nach jeder Tour direkt zu reinigen. Ganz einfach: mit Bürste und Wasser. Im Anschluss kommen Wachs, Imprägnierung oder Lederpflege zum Einsatz – abhängig von Futter und Obermaterial. Wer sich unsicher ist, erhält bei uns im Laden gerne eine ausführliche Beratung. Und natürlich auch die passenden Pflegeprodukte. Und wenn Pflege nicht mehr ausreicht? Kaputte Reißverschlüsse, zerbrochene Schnallen am Rucksack oder ein Loch in der SoftshellHose. Als Fachhändler bieten wir in solchen Fällen zahlreiche ServiceLeistungen. Manche Dinge lösen wir schnell und direkt vor Ort in unserer Service-Abteilung. Bei komplexeren Angelegenheiten, wie dem Reparieren von wasserdichten Jacken oder der Wiederbesohlung von Schuhen, arbeiten wir eng mit den Herstellern und ProfiReparaturbetrieben zusammen. Und mal ehrlich: An so manchem Stück hängen so viele Erinnerungen, es wäre schade, wenn sie in den unnötigen Vorruhestand geschickt würden – sondern lieber noch ein paar neue »Abenteuer-Narben« dazubekämen.

FOTO Hanwag

»Buy less, choose well, make it last« Übersetzt bedeutet das so viel wie: weniger kaufen, bewusst auswählen und gut behandeln. Diese deutliche Aussage stammt von Mode-Ikone Vivienne Westwood. Ob die exzentrische Britin schon einmal bei uns im Laden war? Vermutlich nicht. Doch egal, ob punkige Abendgarderobe oder Outdoor-Ausrüstung: Wer seine Sachen gut behandelt, hat länger etwas davon. Das schont nicht nur den Geldbeutel, sondern auch Ressourcen. Als Fachhändler achten wir bei der Auswahl unseres Sortiments stark auf die Qualität der Produkte. Zusätzlich wollen wir unseren Kunden vermitteln, dass sie selbst auch Einfluss auf deren Langlebigkeit nehmen können. An erster Stelle steht die richtige Pflege. Outdoor-Jacken und -Hosen mit Membran dürfen – entgegen verbreiteter Meinung – gewaschen werden. Müssen sie sogar, denn durch Schweiß können Körperfette, Salze und andere Stoffe die Poren der Membran verstopfen und so den Wasserdampfdurchlass und die Wasserdichtigkeit beeinflussen. Regelmäßiges Waschen und Imprägnieren erhält und reaktiviert die Funktion. Ein guter Trekking- oder Bergschuh, so sagt man, hält ein Leben lang. Doch auch hier gilt: richtig lange nur, wenn man ihm die nötige Zuneigung entgegenbringt.

FOTO Julian Rohn / Patagonia

PARTNER FÜRS LEBEN

Warum kaputte Kleidung wegschmeißen, wenn man sie auch reparieren lassen kann? So das Motto der Patagonia »Worn Wear Tour«.

In Ausrüstung stecken oft so viele Geschichten. Durch richtiges Reparieren leben beide weiter - die Ausrüstung UND die Geschichten.

SFU – SACHEN FÜR UNTERWEGS GmbH Filiale Braunschweig Neue Straße 20 38100 Braunschweig Telefon: +49 (0)531 13 666 E-Mail: info@sfu.de

Filiale Hannover Schmiedestraße 24/ Ecke Osterstr. 30159 Hannover Telefon: +49 (0)511 450 30 10 E-Mail: info-hannover@sfu.de Web: www.sfu.de


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FOTO Scott Rinckenberger

ÜBRIGENS … WINTERWANDERN MIT AUFTRIEB Der Schneehase ist ein eiskalter Überlebenskünstler. Sein weißes Fell isoliert ihn und lässt sein Äußeres mit dem Schnee verschmelzen. Doch die wohl spannendste »Ausrüstung« sind seine Pfoten: Die weit spreizbaren und im Winter mit langen Borstenhaaren versehenen Hinterläufe verhindern das Einsinken im Schnee. So hoppelt er scheinbar mühelos durch verschneite Landschaften. Wäre es nicht schön, man könnte das als Mensch auch? Zum Glück haben sich bereits vor über 10.000 Jahren Jäger von diesen tierisch guten anatomischen Voraussetzungen inspirieren lassen und technische Hilfsmittel erfunden, die weit über das Züchten von Fußhaaren hinausgehen. Über Holzflechtwerke gespannte Fell- und Lederkonstruktionen verhinderten ein Einsinken und ließen Menschen schneller und energiesparender vorankommen. Voilà: Der Schneeschuh ist geboren!

Und heute? Der moderne Mensch muss zwar nicht mehr auf die Jagd gehen, um zu überleben. Doch die Schönheiten einer verschneiten Winterlandschaft auf leisen Sohlen zu entdecken, das kann er. Warm eingepackt, mit Schneeschuhen an den Füßen und einer Kanne heißem Tee im Rucksack, kommt die Entschleunigung mit jedem Schritt. Weg vom Trubel, hinein in eine stille, spurenlose Winterwelt. Das Schöne daran: Man braucht keine Vorkenntnisse. Jeder Mensch, der gehen kann auch mit Schneeschuhen laufen. Vorsicht nur bei Touren im Gebirge: Hier müssen Wanderer mit der Lawinenlage vertraut und der nötigen Sicherheitsausrüstung ausgestattet sein. Wer schnallt mit an? Es wird wohl nie so leichtfüßig aussehen wie bei einem Schneehasen, aber genießen können wir es mindestens so gut.

GANZJAHRES-­HANDLANGER

FROSTFREIE FINGER

Sein Name: »Expedition 3«. Seine Mission: Begleiter sein während aller Outdoor-Aktivitäten und Jahreszeiten. Müssten wir EINEN Stock für (fast) ALLE Einsätze bestimmen, dann stünde dieser Skitouren-TrekkingSchneeschuhwander-Stock mit drei Segmenten auf jeden Fall ganz oben auf der Liste. Entworfen für maximale Vielseitigkeit, verfügt der Expedition 3 aus 100 Prozent Aluminium über zwei Klappklemmen zur Längenanpassung. Zusammengeschoben kommt der kompakte Teleskopstock mit 520 Gramm auf kleine 62 Zentimeter. Passt also in jeden Rucksack oder jede Reisetasche. Und noch ein prak­tisches Detail, das wir nicht vorenthalten wollen: Er kommt im Paket mit Trekking- und Schnee-Tellern (10 Zentimeter Durchmesser), die – je nach Saison oder Gelände – ausgewechselt werden können. Denn: Nach der SchneeschuhSaison ist vor der Trekking-Saison! Black Diamond Expedition 3 Preis: 100,- Euro

»Das Beste am ganzen Tag, das sind die Pausen«. So sang in den 70er-Jahren ein bekannter Schlager-Star. Das ist manchmal auch beim Schneeschuhwandern so. Was es für eine gute Pause braucht? Eine Tasse heißen Tee, leckere Brotzeit und warme Handschuhe, die Zitterpartien während Ruhephasen im Schnee verhindern. Das schafft dieser Fausthandschuh mit einer Füllung aus 100 Prozent Naturdaunen – wasserabweisend und mit nachgewiesener artgerechter Behandlung der Tiere – richtig gut. Millet hat doppelt mitgedacht: Das wind- und wasserdichte Pertex Obermaterial lässt keine (oder kaum) Feuchtigkeit an die Füllung. Zugegeben: Während eines schweißtreibenden Aufstiegs ist der Handschuh in Sachen Wärmeleistung vielleicht ein wenig zu potent. Das 160 Gramm leichte Paar wartet aber auch gerne kompakt verstaut in der inkludierten Kompressionstasche auf seinen Einsatz. Als Überzug über einen Softshell-Handschuh während des schnellen Abstiegs. Oder eben für Pausen in eisig schönen Winterlandschaften. Millet Compact Down Mitten Preis: 69,95 Euro

SCHNEEKRALLEN Liquid Sunshine, flüssigen Sonnenschein, so nennen Iren die alltäglichen Regenschauer in ihrem Land. Schneefall? Eine Seltenheit. Was hat Irland also mit Schneeschuhen zu tun? Einiges. Denn vor über 20 Jahren verwandelte die Firma MSR bei Cork eine ehemalige Wollfabrik in ein Werk für technische Outdoor-Ausrüstung. Hier entsteht auch der neu überarbeitete »Revo Ascent«, ein Schneeschuh, den wir Winterwanderern empfehlen, die etwas »mehr« wollen. Zum Beispiel steile Anstiege und schwieriges Gelände. Dabei spielen das Deck und die neue Bindung die technischen Hauptrollen: Das spritzformgepresste Kunststoff-Deck kombiniert externe Stahlzähne, die sich in Eis- und Schneehänge krallen, mit der Haltbarkeit und Flexibilität von Hochleistungs-Kunststoff. Die neue Bindung legt sich mit einem flexiblen, leicht dehnbaren Netz über den gesamten Vorfuß und passt sich dadurch genau der Schuhform an. Mit anderen Worten: sitzt sattelfest am Bergstiefel, greift aggressiv in den Untergrund bei kniffligen Querungen, leistet eine optimale Kraftübertragung und Druckverteilung und ist sehr vereisungsresistent. Das An- und Abschnallen geht dabei spürbar schneller – ist die Bindung einmal eingestellt, reicht ein Fersenriemen. Ingenieurskunst »Made in Ireland«. MSR Revo Ascent Preis: 289,95 Euro

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FOTO Michael Neumann. Lautloses Gleiten über den Starnberger See im bayerischen Voralpenland.

FOTO Moritz Becher. Weglose Wildnis im herbstlichen Westgrönland.

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CHARLES DARWIN FOTO Jordan Reed/wirednomads.com. Einsame Zeltnacht am Ball Pass im Aoraki Mt. Cook National Park, Neuseeland.

» ALLES, WAS GEGEN DIE NATUR IST, HAT AUF DAUER KEINEN BESTAND. «

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FOTO Lorenz Holder. Perfekte Reflektion auf der Rakotzbrücke bei Gablenz, Deutschland.

RAUSBLICK

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ERLEBT: Mit Zelt, Kocher und Schneeschuhen durchs Chiemgau

MÄRCHENSTUNDE – VOM KÖNIG UND DEM WOLF Ein Abenteuer ist eine risikoreiche Unternehmung mit ungewissem Ausgang, heißt es. Und ein sogenanntes »Microadven­ture«? Ein langes Winterwochenende in den Chiemgauer Bergen mag vielleicht mikro klingen, bringt aber maximalen Spaß.

»Märchenhaftes Wohnen in exzellenter Lage, auf großzügigem Grundstück mit Seezugang und unverbaubarem Bergblick.« So könnte die Immobilien-Beschreibung lauten, stünde Schloss Herrenchiemsee zum Verkauf. Der Preis? Unbezahlbar! Immerhin verschlang das Bauprojekt schon vor über 130 Jahren umgerechnet rund 180 Millionen Euro. Doch wer kann König Ludwig II. schon verübeln, dass er genau dort, auf der Herreninsel im Chiemsee, ein Schloss errichten wollte? Wir sicher nicht. Mit vollbepackten Rucksäcken steigen wir bei Breitbrunn, 30 Kilometer östlich von Rosenheim, aus dem Linienbus und blicken auf das, was seine Majestät damals so faszinierte: eine surreal schöne Verbindung aus »bayerischem Meer« und verschneiten Alpen.

Eine Bilderbuchlandschaft erwacht Unser Plan für die nächsten drei Tage? Von der Nordseite des Sees losmarschieren, am Westufer entlang und kurz

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vor der österreichischen Grenze, bei Marquartstein, in den Schnee der Chiemgauer Alpen eintauchen. Endpunkt der geplanten Tour: Ruhpolding. Von dort mit dem Zug zurück in die »Zivilisation«. Auf Hipster-Deutsch mit Alpin-Slang: ein Microadventure by fair means. Im Gepäck: Zelt, Schlafsack, Matte und Kocher. Dazu Schneeschuhe, die beim Start noch ein wenig teilnahmslos am Rucksack festgezurrt sind. Schon morgens zeigt das Thermometer milde 12 Grad. Dafür scheinen die ersten Sonnenstrahlen des Jahres Frühlingsgefühle bei den gefiederten SeeBewohnern auszulösen. In der mit Schilf verwachsenen Schafwaschener Bucht buhlen unzählige Haubentaucher um die Aufmerksamkeit ihrer Artgenossinnen. Balz mit Bergblick – geht’s noch romantischer?! Der schmale Uferweg führt uns direkt am See entlang. Kaum eine Menschenseele ist hier – wo sich im Sommer Völkerwanderungen tummeln – um diese Jahreszeit wandernd unterwegs. Unsere Route führt durch Schilfmeere, über kleine Bächlein, vorbei an urigen Fischerhütten. Rund

16 Familien leben am See von der Fischerei. Ihren Fang, meist Renken, Brachsen oder Forellen, bieten sie radelnden und wandernden Passanten – geräuchert, sauer eingelegt oder gegrillt – an. Doch leider ist die Saison Anfang März noch nicht eröffnet, und die Fenster, durch die sonst Fischsemmeln und Steckerlfische gereicht werden, sind fest verschlossen. Erst in Prien, der größten Gemeinde am See, riecht es schon verführerisch nach frischem Fang. Hier endet die Saison nie. Vom Hafen setzen täglich Dutzende Reisegruppen per Schiff über nach Herrenchiemsee zum Bayerischen Versailles. Was der royale Erbauer wohl zu diesen Menschenmassen sagen würde? Wie ein Geist schwebt der »Kini« in Form einer eleganten Metallbüste über all dem Trubel und blickt auf die Touristen herab. Seine Augen scheinen zu rufen: »Ruhe! Ich möchte den See für mich alleine haben.« Auch uns ist der Trubel etwas zu viel. Am einsamen Badeplatz Schöllkopf, ein paar Kilometer weiter südlich, schlagen wir unser Mittagslager auf. Rucksäcke runter, Kocher


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Leichte Ausrüstung, ohne Kompromisse.

Hilleberg Zelte.

We are the strivers for perfection.

allak

Das komfortable Ganzjahreszelt aus unserer red label Serie ist beeindruckend robust, völlig freistehend und bemerkenswert leicht. Ein hervorragendes Allroundzelt mit zwei Apsiden für jede Reise. Erhältlich für 2 & 3 Personen.

Links oben: Startschuss gefallen, an der nördlich gelegenen Kailbacher Bucht. Rechts oben: Bei Marquartstein geht’s steil bergauf. Ab einer Höhe von 800 Metern liegt Schnee. Rechts unten: ‘Camping Bavarese’ - am Großrachlhof fühlt sich unser Zelt sehr wohl.

raus, Füße hoch. Der Bilderbuch-Ausblick auf Kampenwand und Hochgern verwandelt sogar eine einfache Tütensuppe in einen kulinarischen Höhepunkt. Lange können wir nicht verweilen. Bis zu unserem heutigen Ziel, einem Bauernhof am Fuße des 1748 Meter hohen Marquartsteiner Hausbergs Hochgern, sind es noch zehn Kilometer. Einige Spaziergänger amüsieren sich über die Schneeschuhe. Wenn die wüssten! Auch wenn es hier im Flachland schon blüht und zirpt – ein paar Meter weiter oben liegt noch meterweise Schnee. Überbleibsel des Jahrhundert-Januars, als in weiten Teilen Oberbayerns Katastrophenalarm aufgrund des starken Schneefalls ausgerufen wurde. Wir queren durch einen Fußgängertunnel unter der A8: Wie eine landschaftliche Zäsur separiert die Autobahn Wasser und Berge. Schon ein paar Hundert Meter hinter dem Tunnel ändert sich die Flora. Die Kendlmühlfilzen, eines der größten Hochmoore Bayerns, breitet sich im warmen Abendlicht vor uns aus. Die stille, völlig unbebaute Fläche über eine Länge von acht Kilometern ist das Resultat der Verlandung des nach der Eiszeit noch weit größeren Chiemsees. Surreales Skandinavien-Flair am Fuße der Alpen: Birken, Torfmoose, Heidekraut und Sonnentau. Im letzten Tageslicht kommen wir am fast 600 Jahre alten »Großrachl­ hof« an, werden herzlich begrüßt von Jungbauer Jakob. Bei ihm hatten wir einige Tage zuvor höflich angefragt, ob wir auf den Wiesen rund um den urigen Bauernhof unser Zelt aufstellen dürfen. Denn trotz skandinavisch anmutender Landschaft: Das Allemansrecht – also das Recht, überall in der Wildnis sein Zelt aufzustellen – gilt hier leider nicht. Gute 20 Kilometer mit schweren Rucksäcken stecken uns in Knochen, Muskeln und Mägen. Kochen? Keine Lust. Der benachbarte Dorfwirt ist unsere »Rettung«, bevor wir müde, aber zufrieden in die Schlafsäcke kriechen. Wie ein Scheinwerfer legt sich der Mond über das Voralpenland und präsentiert das, was uns am nächsten Tag erwartet: den Anstieg hinauf in die Berge.

RAB

Johan Granstrand/Sweet Earth:

seit über 45 jahren fertigt Hilleberg Zelte höchster Qualität. Entworfen in Schweden, produziert in Estland und weltweit eingesetzt. Hilleberg Zelte bieten eine ideale Balance zwischen hoher Strapazierfähigkeit, geringem Gewicht, einfacher Handhabung und hohem Komfort. All unsere Produkte werden von Kletterern für Kletterer entwickelt. Jedes einzelne Produkt wird auf Herz und Nieren getestet, um Dir besten Schutz, Komfort und Bewegungsfreiheit zu gewähren.

Mehr Informationen unter

HILLEBERG.COM + 46 (0)63 57 15 50 W W W. R A B . E Q U I P M EN T Folge uns auf facebook.com/HillebergTheTentmaker

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Links oben: Mittagspause mit Kartenstudium … zum Glück wird aus Schnee schnell Kaffee. Links unten: Mystische Morgenstimmung an den Röthelmoosalmen.

Oben Mitte: Straßensperrung! Da müssen wir wohl durch. Unten Mitte: Einladende Sonnenterrasse mit Blick auf die Hörndlwand.

Naturgewalten hautnah

Es ist noch Winter. Wie in einer unsichtbaren Gefriertruhe legen sich Kälte und Frost übers Bergland. Für uns heißt das: fünf Mal ums Zelt rennen und ab in die dicken Schlafsäcke. Schotten dicht – und dann dieses wahnsinnig wohlige Gefühl der Zelt-Heimeligkeit. Plötzlich hallt ein lauter Schrei durch die Bergnacht. Hirschbrunft? Kann nicht sein. Und das Geräusch klang eher panisch. Mit spöttischem Grinsen erzählt Moritz, dass erst vor ein paar Tagen ein Wolf im Landkreis Traunstein gesichtet wurde, nur wenige Kilometer entfernt von hier. Geheimnisvolle Moorlandschaften, Lawinen- und Fichten-Mikado, wilde Tiere – was erwartet uns noch alles vor der Haustür?

Neuer Morgen, (fast) erholte Beine. Ein Blick in den Stall verrät, dass um kurz nach sechs Uhr alle Kühe gemolken sind und zufrieden auf ihrem Heu kauen. Im Morgenlicht wirkt die Idylle dieser bayerischen Dorflandschaft fast kitschig. Ab Marquartstein geht es bergauf. Nach einer halben Stunde: endlich Winter! Die Schneeschuhe wandern an die Füße und wir mit ihnen Richtung stahlblauen Himmel. Doch schon nach ein paar Höhenmetern verfluche ich meinen Wanderkompagnon Moritz dafür, dass seine Beine gefühlt einen Meter länger sind als meine. Obwohl mein Rucksack sicher einige Kilos leichter ist, klingt meine Atmung wie die eines 20 Jahre alten Packesels, die Schweißperlen auf der Stirn vermehren sich dank frühsommerlicher Temperaturen rasant. Nach einer Stunde Aufstieg gabelt sich der Weg. Die meisten wollen zum Hochgern, wir folgen dem Schild in Richtung Jochbergalmen. Dort oben, auf knapp 1.300 Metern, grasen im Sommer zahlreiche der Chiemgauer Milchkühe. Für uns bedeutet es: Mittagspause. Doch der Weg dorthin wird zum wahrhaftigen Spießrutenlauf. Zahlreiche Bäume sind unter der massiven Schneelast zusammengebrochen und verwandeln den eigentlich breiten Waldweg in einen Hindernis-Parcours. Mit Schneeschuhen an den Füßen und gut 15 Kilogramm auf dem Rücken kriechen wir durch zahllose umgestürzte Fichten. Ein Stück weiter dann eine noch größere Herausforderung: Eine Lawine hat sich durch den Bergwald geschoben, ein drei Meter

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hoher Kegel aus Eisgeröll verdeckt den Weg. Die zu überwindenden steinharten Schneemassen erinnern eher an Grönländisches Inlandeis als an eine gemütliche Voralpentour. Nur langsam kommen wir voran und treffen viel später als geplant am kleinen Plateau der Jochbergalmen ein. Doch die Aussicht bei maximal schönem Bergwetter entlohnt für den mühseligen, hindernisreichen Aufstieg: Zu unserer Rechten liegt das schon grüne Tal rund um Marquartstein. Zur Linken thront die 1.684 Meter hohe Hörndlwand mit ihrem markanten Felszahn in der Ferne. In zu weiter Ferne. Ob das mit unserem eigentlichen Ziel für diese Nacht, den Wiesen unterhalb des Gipfels, noch klappen wird? Egal, der leere Magen verdient erst einmal etwas Nahrhaftes. Bergkäse, frisches Brot und: Schokolade. Die Augenlider werden schwer, so ein Nickerchen im Schatten ... Plötzlich klatscht Moritz die Landkarte vor mir auf den Tisch. Verstanden: Erst einmal müssen wir beraten, wie wir weitermachen. Denn trotz milder Temperaturen verabschiedet sich die Sonne Anfang März schon um 18 Uhr. Es bleibt also nicht mehr viel Zeit, ein geeignetes Nachtlager zu finden. Nach einigen Tassen aufrüttelndem Kaffee fällen wir eine Entscheidung: hierbleiben, nicht weiterziehen, den Ausblick genießen. Denn auch den stark verschneiten Weg, der sich in Richtung Südosten durch den Wald zur Hörndlwand zieht, zieren reichlich umgeknickte Bäume. Durch so einen Parcours hätten wir es vor Sonnenuntergang nie zum Gipfel geschafft. Nachdem sich die Sonne verabschiedet hat, spüren wir:

Die Lage am Morgen Was wir bei der Platzwahl leider nicht bedacht hatten: den Schattenwurf. Frühmorgens dringt kein wärmender Strahl an unser Zelt. Fröstelnd beschließen wir, das Frühstück auf eine natürliche »Sonnenterrasse« zu verlagern. Nur ein paar Kilometer entfernt liegt das Naturschutzgebiet Röthelmoosalmen mit einem weitläufigen Hochplateau. Gerade als wir dort ankommen, kämpft sich die Sonne über den markanten Grat der Hörndlwand und wirft ein glitzerndes Licht auf die verschneite Fläche rund um die Almhütten im Winterschlaf. Genüsslich schlürfen wir den heißen Kaffee, blinzeln in die Sonne und beobachten, wie der natürliche Scheinwerfer den mystischen Nebel über das Plateau treibt. Allein auf weiter Flur. Kein Geräusch, keine Menschenseele.


Leichte Ausrüstung, ohne Kompromisse.

RAUSZEIT Winter 2019 / 2020

Hilleberg Zelte. allak Das komfortable Ganzjahreszelt aus unserer red label Serie ist beeindruckend robust, völlig freistehend und bemerkenswert leicht. Ein hervorragendes Allroundzelt mit zwei Apsiden für jede Reise. Erhältlich für 2 & 3 Personen.

Oben rechts: Allein auf weißer Flur beim Abstieg von den Jochbergalmen. Unten rechts: Kaltes, klares Wasser im Chiemgauer Outdoor-Spa.

Hätte der ursprüngliche Plan geklappt, dann säßen wir nun ein paar Kilometer weiter südöstlich – hinter der Felswand. Doch die Natur hat uns einen Strich durch die Wanderrechnung gemacht. Zum Glück, denn sonst hätten wir diese traumhafte Morgenstimmung – samt alternativem Abstieg über die Röthelmoosklamm und einen beeindruckenden Wasserfall – verpasst. Auf dem Weg bergab tauchen immer wieder Blutflecken im Schnee auf. Und große Pfoten-Abdrücke. Vielleicht hatte Moritz ja recht mit seiner Wolf-Theorie? Herausfinden werden wir wohl nie, was hier gestern Nacht passiert ist. Nach fast drei Stunden Wandern durch verschlafenes Voralpenland steigen wir in Ruhpolding in den Zug. Das Wort »Microadventure« mag ich nicht, aber seine Bedeutung – das kleine Abenteuer vor der eigenen Haustür zu suchen – gefällt mir sehr. Mal sehen, wo es nächstes Wochenende hingeht.

Johan Granstrand/Sweet Earth:

DEUTSCHLAND

seit über 45 jahren fertigt Hilleberg Zelte höchster Qualität. Entworfen in Schweden, produziert in Estland und weltweit eingesetzt. Hilleberg Zelte bieten eine ideale Balance zwischen hoher Strapazierfähigkeit, geringem Gewicht, einfacher Handhabung und hohem Komfort.

Text: Barbara Meixner Fotos: Moritz Becher & Barbara Meixner

Mehr Informationen unter CHIEMGAU

HILLEBERG.COM + 46 (0)63 57 15 50 Folge uns auf facebook.com/HillebergTheTentmaker

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RAUSZEIT Winter 2019 / 2020

FOTO Archiv Tobi Voltmer

Ehrlich gesagt stand Portugal nicht unbedingt an Nummer 1 meiner Reiseliste. Aber Ilja, ein guter Freund, lebte zu der Zeit in Lissabon. So konnten wir die Vorzüge eines lokalen Kletterführers mit einem Freundschaftsbesuch und einem Städte­ trip kombinieren. Und wir wurden sehr positiv überrascht. Im erweiterten Umkreis um die beeindruckende portugiesische Metropole wimmelt es von tollen Kletter- und Boulder-Gebieten. In Fenda kletterten wir in spektakulären Canyons, ein irres Gefühl. Außerdem bleiben durch die schattigen Schluchten die Temperaturen sehr erträglich. In Meio Mango sind direkt an der Steilküste (Achtung Abseilen notwendig!) zahlreiche Rou- Tobi Voltmer ten – auch durch große Überhänge – eingebohrt. Traumhaftes Klettern mit Weitblick aufs Meer. An einigen Tagen können sogar Delphine gesichtet werden. Der Extra-Kick: Zu einigen Routen kommst du dort nur, wenn du dich über Meeresbuchten an den gespannten Stahlseilen hangelst. Da ist eine Rolle gut, geht aber zur Not per Expresse. Unseren Pausetag haben wir beim Bouldern in Sintra verbracht, perfekter Granit in unmittelbarer Nähe zu Lissabon. Bei der Planung empfiehlt es sich, auf Schattensektoren zu achten. Selbst im September war es noch ungewöhnlich heiß.

FOTO Archiv Tobi Voltmer

FOTO Archiv Tobi Voltmer

PORTUGIESISCHE PERLEN

LISSABON

KLETTERKASTEN • Genauer Ort: Portugal – Fenda (Serra da Arrábida), Meio Mango (Cabo Espichel), Farol da Guia (bei Cascais) und Sintra (Bouldern und Sportklettern am Granit) • Schwierigkeitsgrad: 6a bis 9a • Beste Kletterzeit: ganzjährig • Literaturempfehlung: »Portugal. Klettern und Bouldern am südwestlichen Ende Europas«, Carlos »Cuca« Simes, Versante Sud

ERLEBT: Vier persönliche Kletterempfehlungen aus dem RAUSZEIT-Team

GENIAL VERTIKAL

FOTO Helmut Schulze

SACHSENTÜRME Das Bielatal am Rande des Elbsandsteingebirges ist vielleicht kein Geheimtipp, aber wer Klettern liebt, sollte dort gewesen sein. Mich jedenfalls hat es voll erwischt. Seit 30 Jahren fahre ich zu jeder Jahreszeit in diesen wunderschönen Winkel der Sächsischen Schweiz. Warum? Es gibt einfach viele tolle und abwechslungsreiche Routen in für sächsische Verhältnisse festem Gestein. Vor allem auch in gemäßigten Schwierigkeitsgraden. Und dieses Kletterfleckchen Erde ist gut zu erreichen, nicht unwichtig, wenn man z.B. mit der Familie loszieht. Am Mathias Hascher meisten mag ich dort übrigens den Herbst. Dann ist es nicht zu voll, nicht zu warm und sieht aus wie Indian Summer – eine Traumlandschaft, wie sie die Maler nie besser hinbekommen werden. Das Klettern im »Elbi« ist sehr traditionell geprägt. Auch wenn ich nicht zu den orthodoxen Sachsen gehöre, die alles Neue für »ihre« Felsheimat ablehnen, ich gebe gern zu, so ein bisschen mag ich den musealen Charme. Wer zum ersten Mal dorthin fährt, merkt schnell, dass die Elbsandsteinuhren anders ticken. Magnesia-Verbot, große Ring(haken)abstände, traditionelle Absicherung mit Schlingen statt Keilen und Friends. Daher mein Rat, lasst euch von erfahreneren Freunden oder lokalen Kletterschulen in die Gegebenheiten einführen und auf keinen Fall gleich selbst die Grenzen ausloten. Elbsandsteineinsteiger tun gut daran, den Schwierigkeitsgrad vor allem im Vorstieg souverän zu beherrschen.

FOTO Helmut Schulze

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FOTO Helmut Schulze

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KLETTERKASTEN Genauer Ort: Deutschland – Bielatal Schwierigkeitsgrad: einfach alle! Beste Kletterzeit: Herbst Literaturempfehlung: »­Topoführer ­Bielatal«, Jürgen Schmeißer, und ­»Kinderkopf und Affenfaust«, Gerald Krug (für die Knotenschlingenschule)

BIELATAL


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FOTO Archiv Anke Kunst

SCHOTTISCHE NADELN – PURE EUPHORIE! An alle klassischen Sportkletterer und Komfortzonen-Liebhaber: Lasst es bleiben! Allen, die echte Kletterabenteuer erleben wollen, empfehle ich einen Besuch der Felsnadeln »Am Buachaille«, »Old Man of Stoer« und »Old Man of Hoy« an der schottischen Küste. Ich habe zwar noch nie so wenige Klettermeter in einem Kletterurlaub gemacht wie dort, aber es ist einfach großartig, das pure Abenteuer. Allein die Zustiege: stundenlanger Anmarsch, Abstiege durch steile Grashänge, schmale Pfade, Eiertänze über glitschige Steinfelder. Und Planung mit den Gezeiten, denn bei »Am Buachaille« und »Old Man of Stoer« ist tosendes, eiskaltes Meerwasser zu überwinden – schwimmend oder hangelnd. Und Anke Kunst wenn du das überstanden hast, stehst du ja gerade erst am Fuß der Nadel. Nichts ist abgesichert, alles Trad Climbing. Die Kletterei selbst ist bei den beiden Türmen gar nicht so schwer (IV-V). Der »Old Man of Hoy« – hoch im Norden, vor den Orkney Inseln – ist eine ganz andere Hausnummer: Schwierigkeiten bis VII. Es hängen jede Menge Haken, Standschlingen und Karabiner – aber alles ist von der Salzwasserluft korrodiert und verrottet. Bergrettung: Fehlanzeige. Das Wetter ist schottisch-launisch, aber gerade die schnellen Wechsel zaubern einzigartige Lichtstimmungen in die malerische Landschaft: doppelte Regenbögen, Sonnenschein durch bedrohliche Wolkenfronten. Und das Gefühl, dann ganz oben auf diesen Nadeln zu stehen, ist pure Euphorie.

KLETTERKASTEN • Genauer Ort: Schottland – Am Buachaille, Old Man of Stoer, Old Man of Hoy • Schwierigkeitsgrad: IV bis VII (je nach »Nadel« und Route) • Beste Kletterzeit: Juli / August (davor bespucken einen die nistenden Vögel mit Verdautem) • Literaturempfehlung: »Scottish Rock Volume 2 (North)«, Garry Latter

FOTO Archiv Anke Kunst

FOTO Archiv Anke Kunst

SCHOTTLAND

Vor 40 Jahren bin ich zum ersten Mal in den »Glutofen des Teufels«, die Corna di Medale, eingestiegen. Und er lässt mich nicht mehr los. Diese 400 Meter hohe, leicht konkav gewölbte Wand hat wirklich Feuer. Als ich einmal mit einem Kletterfreund im Juli einsteigen wollte, mussten wir bereits nach der ersten Seillänge wieder umkehren. Man konnte den Fels schlichtweg nicht mehr anfassen, so sehr hatte die Sonne ihn aufgeheizt. Ich bin weniger der Sportkletterer, sondern vielmehr passionierter Bergsteiger mit einer großen Leidenschaft für hoch- Manfred Hesse alpine Mehrseillängenrouten. Das Besondere an der Corna di Medale ist, dass die Wand eben diesen hochalpinen Charakter in unmittelbarer Nähe zu dem beschaulichen lombardischen Bergdorf Laorca und dem traumhaft schönen Comer See bietet. Gerade einmal 30 Minuten dauert vom Ortsfriedhof die Wanderung zum Einstieg. Du kletterst wie im Hochgebirge, schaust aber auf heimelige Hausdächer. Die Felsqualität ist durchwegs großartig, die Absicherung gut bis passabel. Eine tolle Route ist z.B. die »Via Cassin« (V–V+). Schwierigkeiten von III bis IV, garniert mit einer Schlüsselseillänge mit VI-. Die Mächtigkeit der Wand wird immer wieder durch kleine Pflanzen und teilweise auch Bäume aufgelockert, das Klettern am Fels wird dadurch aber nicht eingeschränkt. Die Belohnung nach der schweißtreibenden Kletterei und dem steilen Abstieg ist dann ein Sprung in den Comer See und ein bisschen Dolce Vita, um die Energietanks wieder aufzufüllen.

LECCO AM COMER SEE

13 FOTO Manfred Hesse

KLETTERKASTEN • Genauer Ort: Italien – Corna di Medale, Laorca bei Lecco am Comer See • Schwierigkeitsgrad: Via Cassin (V–V+) • Beste Kletterzeit: Herbst bis Frühjahr • Literaturempfehlung: »Lario Rock ­Falesie«, Eugenio Pesci & Pietro Buzzoni, Versante Sud

FOTO Manfred Hesse

IM GLUTOFEN DES TEUFELS


ERLEBT: Mit dem Rad durch sibirische Kälte

»ICH DARF NUR EINES NICHT: SCHWITZEN« Minus 40 Grad. Das ist die Umgebungstemperatur, in der der Schweizer Marc Michel seiner Leidenschaft, dem Tourenradfahren, gerne nachgeht. Zum Beispiel im sibirischen Winter. Abends in die warme Hütte? Fehlanzeige. Geschlafen wird im Zelt. RAUSZEIT hat mit dem Extrem-Biker über seine »coolen« Touren gesprochen. Es ist Nacht. Der Wind rüttelt sachte am Zeltstoff. Irgendwo mitten in Sibirien. Klirrend kalte -40 Grad. Im Schein der Stirnlampe glitzern an den Wänden des Innenzelts Millionen von Eiskristallen und verleihen dem mobilen Zuhause von Marc Michel eine Atmosphäre zwischen Märchen und Polarexpedition. Der Schweizer kennt sich aus mit arktischen Temperaturen im zweistelligen Minusbereich, nein, er favorisiert sie sogar. Vor dem Zelt harrt sein Stahlross, geduldig und starr, bis der nächste Morgen kommt und die Radreise durch Sibiriens Winterlandschaft weitergeht. Drinnen schläft der Schweizer – »aufgetankt« mit einer Portion Spaghetti und heißem, süßem Tee –, wohlig eingekuschelt in seinen mächtigen Schlafsack. Alles scheint gut, Radreise-Routine für Marc Michel. Plötzlich reißt ihn lautes Rufen aus dem

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Schlaf. Die Worte kann er nicht verstehen, er spricht kein Russisch. Es ruckelt am Zelt. Marc ist hellwach, in Alarmbereitschaft. »Hey, lass‘ mich schlafen«, ruft er in Englisch. Von draußen kommt die Antwort: »Komm raus, wir müssen dich mitnehmen.« Auf keinen Fall, denkt sich Marc. »Warum?« »Es ist zu kalt, du wirst erfrieren.« »Nein, mir geht es gut, ich will einfach nur schlafen.« »Du musst mitkommen.« Wieder ruckelt es heftig am Zelt. Marc schält sich aus seinem Schlafsack, öffnet den Reißverschluss des Zelts – und wird von einer Taschenlampe geblendet, dahinter kann er die Scheinwerfer eines Autos erkennen. Es ist ein Rettungstrupp, jemand hatte Marcs Zelt gesehen und die Polizei verständigt. Sie wollen nicht glauben, dass Marc alles im Griff hat. Er muss mitkommen, in ein – für seinen Geschmack – viel

zu aufgeheiztes Auto. So schnell es bei -40 Grad geht, packt er seine gesamte Ausrüstung und das Zelt in die Radtaschen. Auf der Feuerwehrwache hat es gefühlte tropische Temperaturen. Marc reißt das Fenster in dem Zimmer, das ihm zugewiesen wurde, auf – und schwitzt trotzdem für den Rest der Nacht. Am nächsten Morgen darf er weiterziehen, dieser komische Europäer, der es liebt, mit seinem Rad neue Länder in extremer Winterkälte zu entdecken … Marc, andere Leute fahren im Winter zum Skilaufen in die Alpen – du fährst nach Sibirien, um bei -40 Grad das Land mit dem Rad zu entdecken. Wie verrückt würdest du dich selbst einstufen? (Lacht) Gar nicht so sehr. Es war ja ein Herantasten


RAUSZEIT Winter 2019 / 2020

Linke Seite: Baikalsee – Nachtruhe auf Eis. Oben: Achtung ­Spurrillen. Spikes helfen gegen das W ­ egrutschen. Unten: Von +100 auf -40 Grad in Sekunden.

für mich. Ich habe mit kleineren Radtouren begonnen und war auf meiner ersten Eurasien-Reise das erste Mal bei Minusgraden unterwegs – mit entsprechender Ausrüstung. Dann wollte ich eine Winterradtour von meiner Heimatstadt Bönigen nach Paris machen. Nach und nach habe ich die Distanzen und die Minusgrade erweitert, von -15 Grad nachts in China bis -20 Grad nachts in Nordrussland und Skandinavien. Man muss diese Erfahrungen vorher schon sammeln – dann kann man auch bei -40 Grad Fahrradtouren unternehmen. Kurioserweise habe ich schlussendlich bei meinem ersten Winterrad-Abenteuer nach Paris gekniffen – weil es mir zu »krass war«. Die wenigsten würden freiwillig bei solchen Temperaturen vor dir Tür gehen – was reizt dich daran? Auf meiner ersten Eurasien-Reise von 2015 bis 2017 hatte ich zwar bereits sehr viel gesehen, aber ich wollte unbedingt noch einmal dorthin, auch um neue Herausforderungen zu suchen. Dabei ist der Wunsch gereift, auch im Winter in Sibirien unterwegs zu sein und zu spüren, bei -30 Grad Rad zu fahren. Du kannst darüber lesen, wie es ist – aber dann weißt du trotzdem nicht, wie es sich anfühlt. Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass die Temperaturen weit unter 30 Grad fallen würden, muss aber sagen, -40 Grad klingt viel krasser, als es dann wirklich war.

Rechts oben: Mittagswärme in Sibirien (nur -10 Grad). Rechts unten: Proviantration für den Baikalsee: 39 kg Lebensmittel, 10 Liter Reinbenzin. ­Spaghetti morgens, mittags, abends – für den Veganer Marc kein Problem.

Wie viele Kilometer bist du insgesamt per Rad gereist und wie viele davon im Winter? 70.000 Kilometer insgesamt, circa 20.000 davon im Winter – sprich bei Schnee bzw. unter null Grad. Wie reagieren die Einheimischen auf dich? Die verstehen das nicht. Oft denken sie, ich sei naiv und unvorbereitet. Aber wenn ich radfahre, ist mir warm – selbst bei tiefen Minusgraden. Ich darf nur eines nicht: schwitzen. Manchmal wollen sie auch nur mit dem »Verrückten« reden und halten mit dem Auto neben mir. Aber bei -30 Grad will ich nur weiterfahren und meine Temperatur halten. Denn wenn mir einmal kalt ist, dauert es ungefähr 15 Minuten, bis ich mich wieder warmgestrampelt habe. Warum darfst du nicht schwitzen? Bei -40 Grad gefriert der Schweiß in der Kleidung – und dann ist dir richtig lange richtig kalt. Die gefrorene Feuchtigkeit gelangt nachts ins Zelt und im schlimmsten Fall in den Schlafsack. Dort wirst du sie fast nicht mehr los. Das ist – auf Deutsch gesagt – richtig scheiße. Deshalb ist es extrem wichtig, zwischen -20 und -40 Grad so zu treten, dass du nicht ins Schwitzen kommst. Wie fühlt sich das Radfahren im Winter an? Das Problem sind eher die Pausen. Ab -20 Grad fahre ich

mit Atemmaske – die aber vereist. Wenn du zwischendurch etwas trinken möchtest und nur kurz die Maske abnimmst, gefriert die Innenseite sofort. Der Moment, wenn du sie wieder anlegst, ist extrem unangenehm. Natürlich wird dir ohne Bewegung auch sofort kalt, und das Wiederaufwärmen dauert viel länger als z.B. bei null Grad. Du musst eben viel achtsamer sein. Kalte Finger sind bei gemäßigten Minusgraden kein Problem, bei -30 Grad musst du sie schnell wieder aufwärmen, sonst kann es schlimme Folgen haben. Allerdings finde ich das Radfahren zwischen 0 und 5 Grad viel unangenehmer, vor allem bei Regen. Dann kann die nasse Jacke über Nacht gefrieren – schrecklich! Auch beim Zelt: Das ist morgens innen voll gefrorener Feuchtigkeit. Steigen die Temperaturen tagsüber über den Gefrierpunkt, schmilzt diese Eisschicht, fällt die Temperatur gegen Abend wieder, friert das verpackte Zelt zusammen. Besser also, wenn alles permanent deutlich unter dem Gefrierpunkt bleibt. Deine Winterradreisen hast du allesamt solo gemacht – warum? Das mag egoistisch und komisch klingen, aber so muss ich keine Kompromisse eingehen und bin 100 Prozent flexibel. Müsste ich beim Tempo, bei Pausen etc. ständig meinen Rhythmus an den einer anderen Person anpassen, könnte das schnell zu Komplikationen führen. Und ich mag es ehrlich gesagt, wenn alle Entscheidungen

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Links: Bei -40 Grad friert selbst dem freundlichen Marc manchmal das Lächeln ein.

Oben: Osttibet. Die alte Passstraße hatte zuvor ein Hirte plus Ziegenherde genutzt. Die Konsequenz: schieben statt fahren. Rechts oben: Rumänien – frische Braunbärspuren am frühen Morgen. Unten: Darkhan (links) befürchtete, Marc würde im kasachischen Winter erfrieren – und lud ihn zu sich ein.

bei mir liegen – und auch meine Fehler. Im Sommer bin ich dagegen lieber zu zweit unterwegs. Da haben Fehler nicht so weitreichende Konsequenzen. Und es ist natürlich schöner, Erlebnisse mit Menschen zu teilen.

Wie sieht deine Ernährung und Kalorienbilanz aus? Das ist relativ einfach: Ich bin Veganer und sehr glücklich mit Spaghetti. Auf meiner Baikalsee-Tour habe ich an den 29 Tagen zum Frühstück, Mittag- und Abendessen nur Spaghetti gegessen (lacht). Und ein paar Süßigkeiten, viele Nüsse und Öl, weil diese Lebensmittel eine hohe Energiedichte haben. Pro Tag habe ich dort 6000 Kalorien verbraten. Gestartet bin ich mit 39 Kilogramm Lebensmittel im Gepäck.

Welche Region hat dir landschaftlich im Winter am besten gefallen? Der Baikalsee, den ich im Februar und März dieses Jahres abgefahren bin. Das Eis und seine Strukturen, die Weite, das ist unbeschreiblich schön. Bei Sonnenauf- und -untergängen hast du ein gigantisches Farbenspektrum – Wahnsinn.

ÜBER MARC MICHEL Der 28-jährige Marc Michel stammt aus dem 2500-Seelen-Dorf Bönigen im Schweizer Kanton Bern. Mit seiner estländischen Freundin Grete, die er durch eine Couchsurfing-Vermietung kennengelernt hat, ist er im Juli Richtung Russland aufgebrochen, um per Velo von dort über China, Südostasien, Pakistan und Indien bis nach Afrika zu fahren. Eingeplant haben sie dafür drei bis vier Jahre, Minimum. Insgesamt 53 Länder hat der studierte Mathematiker bereits mit dem Fahrrad bereist. Mehr zu Marcs Radabenteuern unter www.marcmichel.ch.

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Hattest du auch schon richtig kritische Situationen? Keine wirklich gefährlichen. Aber als ich einmal bei -40 Grad einen Platten hatte, konnte ich meine Pumpe nicht in Gang bekommen, um den Reifen wieder flottzumachen. Da es schon gedämmert hat, habe ich schnell das Zelt aufgebaut und den Schlauch am nächsten Morgen bei Windstille und heizendem Kocher gewechselt. Man darf eben keine Fehler machen. Bei -40 Grad z.B. die Handschuhe auszuziehen, ohne einen wärmenden Kocher in der Nähe, wäre eine ziemlich dumme Idee. Schläfst du nur im Zelt oder auch »indoor«? Das Zelt ist während meiner Touren mein Zuhause. Irgendwann weißt du genau, was wo seinen Platz hat. Außerdem gewöhnt sich der Körper daran, die Heizung im Zelt zu sein. Wenn ich dann zu Leuten nach Hause eingeladen wurde, war es mir dort immer viel zu heiß. Und hast du zwei Nächte drinnen geschlafen, ist es draußen wieder schrecklich kalt.

Wie viel mehr Brennstoff musst du auf deinen Wintertouren mitnehmen? Wesentlich mehr. Zwischen drei Deziliter und einem halben Liter pro Tag – zum Schneeschmelzen, Kochen, Wärmen, Trocknen und Enteisen. Es dauert eben länger, bis das Essen gar ist. Wichtig ist, eine spezielle Brennstoffpumpe für arktische Wintertemperaturen zu verwenden. Und immer einen Ersatzkocher parat zu haben … Welche Winterziele stehen noch auf deiner Liste? Ich möchte gerne noch einmal nach Sibirien zurückkehren, weiter in den Nordosten vordringen, wo es noch kälter wird. Kann ich bei -50, -60 Grad noch radfahren? Ich bin mir allerdings noch nicht sicher, wie weit ich da gehen kann und will. Je kälter, desto weniger Fehlertoleranz. Es ist ein zunehmend schmaler Grat mit hohem Risiko. Außerdem würde ich gerne noch einmal nach Skandinavien, um Nordlichter und wunderschön verschneite Wälder zu sehen. Dort ist es ja nicht so kalt. ext: Moritz Becher T Fotos: Marc Michel


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BESSERWISSER: Bouldern

KONZENTRAT DES KLETTERNS Kraft, Dynamik, Geschicklichkeit, meditative Versenkung, Gruppen­ erlebnis und Selbsterfahrung – Bouldern wirkt wie eine hochkonzentrierte Essenz großer Kletterrouten. Und bietet alles, was ­moderne Sportarten erfolgreich macht. Vorsicht, Suchtgefahr! Bouldern, das ist, als würde man eine große Kletterroute auf ein paar Züge verdichten. Es braucht keinen Berg. Ein Felsblock reicht. Ein Sport, wie geschaffen als analoger Ausgleich für die Generation Gamer. Aber nicht nur für die. »Du kannst dich brutal pushen. Angefeuert von deinen Kumpels kannst du den letzten Funken Leistung aus dir herauskitzeln. Das ist die eine Seite des Boulderns«, sagt Toni Lamprecht (48), ein Urgestein der deutschen Kletterszene. »Aber es gibt auch eine andere Seite, die Natur: Ich streune durch den Wald, der Wind streicht durch die Wipfel, die Vögel zwitschern – es ist wie ein Konzert. Zwischen Bäumen, Farnen und Moosen erspähe ich einen doppelt mannshohen Felsblock. Er liegt unauffällig im Schatten und zieht mich doch magisch an. Glatt wirkt er – auf den ersten Blick. Auf den zweiten entdecke ich ein paar Griffe und Kanten. Sekundenschnell spuckt mein Gehirn eine Linie aus, die sie verbindet.« Tonis Hände

WIE FANGE ICH AN? Tipps für Einsteiger von Toni Lamprecht: • Bouldern ist Gefühlssache: Der eine steht auf kraftvolle Züge, der andere auf entspannte, geschmeidige Bewegungen. Es gibt viele Wege zum Ziel. Einfach ausprobieren und auf den eigenen Körper hören. • Ruhepausen einhalten: Viel hilft viel? Vorsicht, vor allem Einsteiger laufen Gefahr, Muskeln, Bänder, Sehnen und Gelenke zu überlasten. Eine Verletzungspause dauert immer länger als eine freiwillige Trainingspause. • Beim Bouldern in der Natur mit leichten Routen beginnen, um gezielt die Körperbeherrschung zu verbessern. Gilt vor allem fürs kontrollierte Stürzen. • Hangboard: Brett mit Griffrillen und -löchern – für effektives Krafttraining zuhause.

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ertasten die Konsistenz des Gesteins. Es fühlt sich fest an, kühl aber nicht kalt. Seine Füße gleiten in die engen Kletterschuhe. Dann hängt er auch schon am Fels. Die Vögel, der Wind ... von all dem bekommt Toni nun nichts mehr mit. Volle Konzentration. Volle Körperspannung! An einem Arm schwingt er zum nächsten Griff, springt zum übernächsten, verharrt kurz wie eine Spinne an der Wand. Noch drei Züge. Geschafft, eine tolle Erstbegehung! Der Puls hämmert. Toni springt zurück auf den Boden. Langsam wird sein Atem wieder ruhiger. In seinem Kopf ist es, als würde einer das Konzert der Winde und Vögel langsam wieder einblenden. Kann man mehr mit der Natur verschmelzen? Bouldern (engl. Boulder: Felsblock) ist das Klettern ohne Seilsicherung in Absprunghöhe. »Stimmt«, sagt Toni nickend, »klingt aber ziemlich fad und gibt längst nicht wieder, was Bouldern wirklich ausmacht.« Kann ein drei Meter hoher Boulder-Felsen wirklich so spannend sein wie eine 20-Meter-Sportkletterroute oder eine 200-Meter-Wand? Was zieht immer mehr FeierabendSportler in Innenstädten an Sperrholzplattenwände mit Plastikgriffen, die notfalls sogar im heimischen Wohnzimmer Platz fänden? Toni Lamprecht war auf KletterExpeditionen in Grönland und Asien, hat die Big Walls im Yosemite-Valley geklettert und beim Sportklettern Erstbegehungen im 11. Schwierigkeitsgrad gemeistert. Er sagt: »Es gibt keine Kletterdisziplin, die sich so vielseitig und flexibel betreiben lässt wie Bouldern.« In der Halle, im Wald, in der Stadt, im Hochgebirge, an Meeresklippen, mit der Familie, mit Freunden, alleine – Bouldern lässt`s sich (fast) immer und überall. Man braucht kaum mehr Ausrüstung als beim Laufen. Minimalismus ist Teil der Erfolgsformel. Der Work-out mit einer Mischung aus Kraftsport, Koordination, Dynamik und kreativer Kopfarbeit ist mittlerweile für viele ein Fitnessstudio-Ersatz. Mit dem Bouldern hat der Klettersport endgültig die Städte erobert. Es ist Lifestyle und Körperkult. Gepaart mit flow-artigen Momenten meditativer Versenkung wie beim Yoga.

WO GEHE ICH HIN? Die Möglichkeiten sind endlos. Eine kleine Auswahl an Top-Spots. EUROPA • Fontainebleau: Wiege und Top-Spot des Boulderns. Märchenhafte Felsen im Wald nahe Paris. www.bleau.info • Skandinavien: Fjorde, Seen, Wälder und viel Wildnis – Norwegen, Schweden und Finnland bieten Endlos-Spielplätze fürs Granit-Bouldern. • Zillertal: Das Bouldergebiet im Wald bei Ginzling zählt zu den beliebtesten und ältesten in Tirol. www.zillertal.at • Tessin in der Südschweiz: Bietet eine unerschöpfliche Boulder-Schatzkiste. www.ticinoboulder.ch • Spanien: Albarracin, ein imposantes mittelalterliches Dorf im Hinterland von Valencia, steht Fontainebleau kaum nach. DEUTSCHLAND • Die besten Bedingungen finden sich in den Mittelgebirgen und am Alpenrand. Wichtig: Unbedingt lokale Naturschutzrichtlinien beachten! • Blaueis: Das hoch gelegene Boulder-Gebiet nahe des Blaueisgletschers bei Berchtesgaden ist ein heißer Tipp für warme Sommer­ tage. www.alpboulder.com

Urbanes Klettererlebnis Die Zahl der Boulder-Hallen ist nach Angaben des Deutschen Alpenvereins in den vergangenen Jahren geradezu explodiert. 170 hat er in Deutschland gezählt. Hinzu kommen 330 Kletterhallen, in denen Boulder-Bereiche heute so gut wie selbstverständlich sind. Tendenz: weiter steigend. »Das ist längst mehr als nur ein Trend. Bouldern ist in den Städten als normale Sportart angekommen«, meint Nadia Hofmann vom Hallenbetreiber Boulderwelt. Als der 2010 in München seine erste und weltweit größte Boulder-Halle eröffnete, »hielten uns alle für verrückt«, sagt Nadia. »Heute gehören fünf Hallen in München, Regensburg, Frankfurt und Dortmund zur Boulderwelt. Und wir sind schon auf der Suche nach neuen Standorten.« Früher glichen Boulder-Bereiche in Kletterhallen oft einer dunklen, miefigen und staubigen Ecke. Doch mit den urbanen Boulder-Treffs ist der Sport auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen. »Unsere jüngsten


FOTO  Archiv Toni Lamprecht

FOTO Margit Memminger

Bouldern ist ein Spiel mit der Schwerkraft, der Physis und der Psyche – ohne Altersbeschränkung. Toni Lamprecht (rechts oben), ein Urgestein der BoulderSzene, reizt es besonders in der freien Natur.

WAS BRAUCHE ICH? – NICHT VIEL. Boulderschuhe: Sollten passen wie angegossen, eine weiche und flexible Sohle haben. Top: stabile, gummiverstärkte Ferse und geschlossene Gummikappe vorne. Chalk: Magnesiumcarbonat als weißes Pulver oder in Blöcken hält die Hände trocken und verbessert den Grip. Achtung: In einigen Boulder-Gebieten ist Chalk nicht erlaubt. Auch dort, wo der Fels kulturelle oder religiöse Bedeutung hat, sollte man darauf verzichten. Bürste: Ganz wichtig, denn Staub verringert den Grip. Am besten aus Schweineborsten, da sonst die Griffe und Tritte abgenutzt werden. Keine Metallbürsten! Crashpad: Tragbare Matte als Fallschutz. Wahlweise zum Knicken (»Tacos«) oder mehrteilig mit Falz (»Burritos«). Klein und handlich für längere Zustiege oder großflächiger für mehr Stabilität bei der Landung. Kleidung: Fast alles ist erlaubt, Hauptsache bequem und flexibel. C

M

Gäste sind zwei bis drei Jahre alt«, erzählt Nadia. »Unser ältester Kunde ist 92.« Doch Bouldern ist keine neumodische Erfindung. Schon in den Gründerzeiten des Alpinismus kraxelten sogenannte »Bleausards« an den Sandsteinfelsen im Wald von Fontainebleau nahe Paris. Noch heute gilt das Gebiet mit seinen märchenhaften Felsskulpturen als das Boulder-Mekka weltweit. War es beinahe ein Jahrhundert lang vor allem Krafttraining und Vorbereitung für anspruchsvolle Kletterrouten mit Seil, ist das Bouldern heute neben dem Sportklettern in der Halle die meistbetriebene Kletterdisziplin. Derweilen hält sich der Ansturm auf Natur-Boulder – abgesehen von den TopSpots – noch in Grenzen. »Anspruchsvoller, nicht so vorgegeben ... und auch etwas riskanter«, bezeichnet Toni Lamprecht das Bouldern am Fels. »Da gibt es keine farbig markierten Griffe, die Route zu lesen, ist deutlich schwieriger. Je nach Wetter können die Verhältnisse sehr unterschiedlich sein. Und wenn du fällst, liegt unter dir keine kuschelige Weichbodenmatte, sondern bisweilen ein Feld kantiger Steine.« »Crashpads«, kleine tragbare Matten, können unsanfte Landungen abmildern. Ebenso »Spotter«, Kletterkameraden, die bei einem Abgang Hilfestellung geben, dass der Boulderer auf den Beinen landet. Die Verletzungsgefahr ist höher als beim Sportklettern, doch dank der meist geringen Fallhöhe sind lebensgefährliche Blessuren absolute Ausnahmen. Y

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Boulderer lieben Probleme Boulderer drücken sich nicht vor Problemen. Nein, in den Hallen stehen sie teilweise Schlange vor ihnen. Als einer der Urväter des modernen Boulderns gilt der heute 82-jährige amerikanische Mathematik-Professor John Gill. Wie in der Mathematik ging es ihm um Probleme und Lösungen. Mit dynamischen Elementen wie beim Turnen verlieh er der Sportart eine neue Athletik, die heutige Boulder-Asse auf die Spitze treiben, indem sie artistische Mehrfachkombinationen aneinanderreihen und dabei die Griffe und Tritte nur für Sekundenbruchteile berühren. »So sind Moves möglich, die früher undenkbar waren«, erklärt Toni Lamprecht. »Du legst alles Physische und Psychische rein in ein paar wenige Züge. Du musst ans Unmögliche glauben, an die Vision«, beschreibt er den Kern des Boulderns. Dabei sind Kraft, Beweglichkeit und Koordination genauso wichtig wie Timing und Präzision. Das Spiel mit dem Fels, mit den Grenzen der Schwerkraft – mal entspannt mit meditativem Flow, mal am Limit des eigenen Könnens. Dazu gehören auch Mut und Entschlossenheit. »Du musst dich dem Tode öffnen!« Was Toni als drastisches Bild der Boulderer-Psyche zeichnet, steht keineswegs für lebensbedrohliche Aktionen. »Aber wenn du was reißen willst, musst du offen sein für Kontrollverluste.« Text: Christian Penning

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RAUSZEIT Winter 2019 / 2020

EINBLICK: Sherpa Adventure Gear ist »Made in Nepal«

HELDEN DES HIMALAYA »Eine kleine Marke kann die Welt verändern.« Was sich anhört wie eine Geschichte aus der Feder geschickter ­Marketingleute, ist die Herzblut-Vision von Tashi Sherpa. Vor 16 Jahren gründete er die erste Outdoor- und Berg­ sportbekleidungsmarke Nepals. Das Ziel: seinem Volk, den Sherpa, ein lebendiges Denkmal zu setzen. Jede unserer Handlungen gestaltet die Welt neu. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Wie ein unendlicher Knoten hängt das ganze Leben an einem Faden in irgendeiner Weise zusammen. Demzufolge sollte ein Buddhist couragiert helfen, wo immer es möglich ist. Ob dem Geschäftsmann Tashi Sherpa derart spirituelle Gedanken durch den Kopf gehen, als er 2003 durch Manhattan spaziert? Wer weiß? Klar ist: Wer seine Geschichte als Unternehmer verstehen will, muss sich auf Zeitreise begeben. Es ist der 29. Mai 1953. An diesem Tag schaffen es der Neuseeländer Edmund Hillary und der Nepalese Tenzing Norgay, als erste Menschen den 8.848 Meter hohen Mount Everest zu besteigen. Eine Sensation! Die Namen der beiden Erstbesteiger brennen sich in die Erinnerung der Menschheit. Doch wer hat schon einmal etwas über die restlichen Expeditionsteilnehmer gehört? 50 Jahre später, 12.000 Kilometer westlich des Mount Everest. Auch Tashi weiß nichts über sie. Bis zu diesem Tag in New York. Anlässlich des 50. Jahrestages der Erstbesteigung ziert ein großes Plakat die Fensterscheibe eines Buchladens. Drei Männer blicken ihm entgegen – Hillary, Tenzing und ein weiteres Gesicht. Es trifft ihn wie ein Blitz: Es ist sein Onkel Ang Gyalzen Sherpa. Er war bis zum letzten Hochlager auf 8.510 Metern aufgestiegen, um dort alles vorzubereiten. Trotz seiner Beteiligung an der historischen Expedition lebte er anschließend in totaler Anonymität – und bettelarm. So wie viele Sherpa, das »Volk aus dem Osten« (übersetzt

aus dem Tibetischen), das vor Jahrhunderten aus den verschneiten Höhen Tibets ins Khumbu-Tal nach Nepal gezogen war und heute fast nur als Lastenträger oder Bergführer wahrgenommen wird. Das Bild lässt den gebürtigen Nepalesen nicht mehr los. Auf der einen Seite er, der schon als Kind mit seinen Eltern über Indien in die USA ausgewandert war, eine hervorragende Schulausbildung bekam, studierte und erfolgreich im Textilhandel tätig war. Auf der anderen Seite die unbekannten Helden des Himalaya, die in extremer Armut leben. Muss man Nepal erst verlassen, um nachhaltige Perspektiven zu bekommen? In ihm reift eine Idee: Er möchte seiner Heimat etwas zurückgeben. Gutes tun, die Sherpa bekannter machen, von ihrem Leben und ihrer Geschichte erzählen. 2003 gründet er »Sherpa Adventure Gear«, die erste Outdoor-Textilmarke »Made in Nepal«.

Nicht nur eine Masche Ortswechsel. Aus einem Haus am Dorfplatz, ein paar Gehstunden von Katmandu entfernt, dringt regelmäßiges Klacken. Fünf Frauen sitzen am Boden und verwandeln die Wollknäuel um sie herum in farbenfrohe Mützen und Schals. Geschickt, und mit einem Lächeln im Gesicht, fädelt Pemba das blaue Garn auf. Sie ist eine von insgesamt 1.500 Sherpa, die für Sherpa Adventure Gear die Stricknadeln schwingen. Diese Arbeit bietet ein faires

Handarbeit in Höhenluft: Zahlreiche Produkte entstehen in Strick-Kooperativen in Bhaktapur, wenige Kilometer außerhalb von Kathmandu.

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und geregeltes Einkommen. Keine Selbstverständlichkeit in einem Land, das zu den ärmsten der Welt gehört und in dem die Analphabeten-Rate bei über 30 Prozent liegt. Die Frauen bringen die Kinder morgens zur Schule und sind nach ein paar Stunden Heimarbeit an der Wolle nachmittags wieder für sie da. Die Himalaya-Variante von Homeoffice und flexiblen Arbeitszeitmodellen. Was mit 20 Frauen und ein paar Mützen begann, hat sich zu einem gemeinschaftlich orientierten Großprojekt entwickelt: Strickponchos, Wolljacken, gewebte Taschen und bunte Armbänder entstehen in dörflichen Kooperativen rund um die nepalesische Hauptstadt. Die meisten der vielen Tausend jährlich produzierten Mützen landen in den Regalen deutscher Outdoor-Fachhändler, dem größten Markt für die Firma. Lächelnde Frauen, die traditionelle Muster und Farbkombinationen stricken und durch den Lohn ihren Kindern eine Ausbildung ermöglichen können. Klingt zu gut, um wahr zu sein. Wieso gibt es also keine Nachahmer? Wahrscheinlich liegt es daran, dass sich im höchsten Land der Welt auch immer wieder tiefe Abgründe auftun. Korruption, ein ineffizienter Regierungsapparat, eine schlechte Infrastruktur. Wer hier produziert, darf nicht rein aus ökonomischen Gründen handeln. »Wir glauben daran, dass unsere Marke ein Volk voranbringen kann, einen Beitrag zur Erziehung und Ausbildung der nächsten Generation zu leisten. Dass sie in der Lage ist, die verheerenden Veränderungen der Umwelt und

Höhenbergsteigerin Pasang Lhamu Sherpa Akita ist an der Entwicklung der technischen Kleidung beteiligt. Hier: am Gipfel des K2.


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die Folgen einer uneffektiven Regierung umzukehren.« Auch Jahre nach der Gründung seines Unternehmens ist Tashi davon überzeugt, dass dieser Weg Schritt für Schritt zum Ziel führt. Schritte, die bis heute über holprige Wege führen. Zu Beginn steht die langwierige Ausbildung von Mitarbeitern. Vor allem in der hochtechnischen Produktkategorie, im Bereich der funktionellen Bergsport-Bekleidung, stößt das Unternehmen immer wieder an die Grenzen des lokal Machbaren. Denn genau in der Vision »Made in Nepal« liegt die größte Schwierigkeit: Bei der Herstellung von Kleidung, bei der ein hoher technischer Aufwand und der Einsatz teurer Maschinen notwendig sind, fehlen in Nepal die entsprechend ausgebildeten Experten und Facharbeiter. So entstehen verschweißte Laminat-Jacken und -Hosen sowie Daunen- und Kunstfaser-Jacken ausschließlich in Vietnam, wo es entsprechendes Know-how und die nötigen Maschinen gibt. Trotz hochsinniger Vision ist sich auch Tashi bewusst: Nur wer Top-Qualität fristgerecht liefern kann, kann auf dem hart umkämpften Weltmarkt bestehen. Wie also trotzdem Anerkennung nach Nepal bringen und gleichzeitig hochqualitative Kleidung herstellen? Liegt eigentlich auf der Hand: die besten Bergsteiger des Himalaya zu Markenbotschaftern machen und sie an der Entwicklung der Kleidung beteiligen. »Um sicherzustellen, dass unsere Produkte es verdienen, den Namen Sherpa Adventure Gear zu tragen, vertrauen wir auf ein erfahrenes Team von Sherpa-Athleten aus der ganzen Welt.« So testen Sherpa wie Lapka Rita, der bereits 15 Mal auf dem Mount Everest stand, oder Pasang Lhamu Sherpa Akita, die 2016 von National Geographic zur »Abenteurerin des Jahres« gewählt wurde, die Produkte das ganze Jahr unter härtesten Bedingungen.

Prüfungen gehören zum Weg So weit, so gut. Doch das scheint dem engagierten Geschäftsmann nicht zu reichen: Über eine gemeinnützige Stiftung finanziert Sherpa Adventure Gear aktuell die Schulausbildung zehn nepalesischer Kinder. Von der Grundschule über die Highschool bis hin zum College. Wie? Pro verkauftes Kleidungsstück fließen 25 Cent in

die Stiftung. »Indem wir das tun, ehren wir die Träume unserer Vorfahren, eine bessere Welt zu schaffen«, so sein Glaube. Und trotz aller Schwierigkeiten: Annähernd 85 Prozent der Sherpa Adventure Gear Produkte mit dem »Shrivatsha«, dem buddhistischen Endlosknoten, erblicken in Nepal das Licht der Welt. Eine enorme Leistung, die jedoch im April 2015 innerhalb von 25 Sekunden fast zunichte gemacht wird. Durch ein Erdbeben der Stärke 7,8 verlieren Tausende Menschen im Himalaya fast alles: ihre Angehörigen, ihre Häuser, ihre komplette Existenz. Auch das nepalesische Unternehmen, das in der Hautstadt eine kleine Produktionsstätte aufgebaut hatte, steht vor dem Aus. Arbeiter werden freigestellt, um ihren eigenen Familien zu helfen. Materialien dazu verwendet, Zelte und Kleidung für Bedürftige zu schneidern. Monatelang kann Sherpa Adventure Gear weder produzieren noch liefern. Doch die Outdoor-Branche solidarisiert sich: Obwohl die neue Ware erst viele Monate verspätet in Europa eintrifft, nehmen die meisten Händler sie trotzdem noch ab. Dass Tashis Vision nicht an Umsatzzahlen hängt, wird in den Monaten nach dem Erdbeben immer deutlicher. Anstatt aufzugeben und zu akzeptieren, dass das eigene Kapital nicht für einen Neustart reicht, wählt er einen anderen Weg. In langen Prozessen und Gesprächen vermittelt er seine langjährigen Mitarbeiter aus der zerstörten Textilfabrik an liquide Investoren, die es ehrlich meinen und Tashis Überzeugung folgen. Kredite werden bewilligt und kurze Zeit später entsteht ein neues Werk. Ein modernes, erdbebensicheres Werk. Jedoch eines, das nicht mehr ihm gehört. Die Belegschaft, die sich über viele Jahre die nötige Expertise angeeignet hatte, übernimmt jetzt die Verantwortung. 2017 zieht sich Tashi komplett aus dem Tagesgeschäft zurück. Das Ende seiner Vision? Mit Sicherheit nicht. Nun haben seine beiden Töchter Tsedo und Pema Sherpa die unternehmerischen Fäden in der Hand. Die Fäden des unendlichen Knotens, der weder Anfang noch Ende kennt. Text: Barbara Meixner Fotos: Sherpa Adventure Gear

Strahlende Zukunft: Durch die Sherpa Adventure Gear Stiftung finanziert Visionär Tashi (rechts oben) die Ausbildung von Schulkindern.


FOTO  Christian Pfanzelt

FOTO  Günther Härter

FOTO  Robert Allenbach

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NACHGEFRAGT: Bernd Kullmann

»ADRENALIN WAR FÜR MICH ­IMMER WICHTIG.« Steile Wände sind die große Leidenschaft von Bernd Kullmann. Die steile Karriere dagegen begann als Notlösung. »Mr. Deuter« blickt zurück auf 65 extrem bewegte Jahre.

17. Oktober 1978. Auf dem Gipfel des Mount Everest steht ein 24-jähriger Jungspund aus Karlsruhe. Den größten Teil des Aufstiegs hat er in Jeans absolviert. »Ich hatte meine lange Unterhose im Basislager vergessen«, erzählt Bernd Kullmann. Zu dem Zeitpunkt ist er der jüngste Mensch auf dem höchsten Berg der Erde. Die Jeans am Everest, sie beschreibt den Charakter des heute 65-jährigen Wahl-Augsburgers in Perfektion: Bodenständigkeit, Integrität, Bescheidenheit, Ehrlichkeit und doch ein emotionaler Revoluzzer – das Ganze kombiniert mit einer großen Portion sportlichem Ehrgeiz. Diese Eigenschaften ermöglichen Bernd Kullmann einen Dreiecks-Spagat, den nur wenige zustande bringen: sportlich wie auch beruflich auf den höchsten Gipfeln – und trotzdem ein glückliches Familienleben führen. In seiner über 30-jährigen Ära wächst der schwäbische Rucksack-Hersteller Deuter von einer kleinen Firma mit mäßigen Transporthilfen zu einer internationalen Topmarke für Sportrucksäcke. Der Grund: Kullmann weiß, was ein guter Rucksack können muss – und was nicht. Seit seiner frühen Jugend schleppt er Kletter- und Outdoor-Ausrüstung auf dem Rücken in die Berge, auf Hütten, auf Gipfel. Die Liebe fürs Klettern und Bergsteigen wird im Südtirol-Urlaub mit den Eltern entfacht. Auf einem Klettersteig an den Vajolet-Türmen beobachtet er eine Dreier-Seilschaft beim Klettern. »So etwas wollte ich auch machen.« Das Talent dafür bringt er mit. »Mein Kletterkünste waren im Freundeskreis legendär, weil ich beim Klauen von Kirschen und Co. auf jeden Obstbaum kam.« Mit 14 macht Bernd Kullmann beim DAV einen Kletterkurs und geht fortan – im wahrsten Wortsinne – steil.

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Der erste Rucksack – grausam Für die Berge bekommt er vom Vater, seinem großen Vorbild, den ersten eigenen Rucksack. Ein Deuter, Modell Tauern. »Ein grässliches Teil!« Mit filzunterlegten Lederriemen und sperrigem Gestell. »Das war mehr Qual als Segen. Ich kannte nichts anderes – aber aus heutiger Sicht war er grausam.« Dass er einmal Chef dieser Firma werden würde, war weder Ahnung noch Wunsch. Die Schule: Nebensache. »Da war ich ein fauler Sack. Zum Glück nahm’s mein Vater gelassen.« Ihn interessiert nur eines: Berge. Jedes Wochenende geht es zum Klettern. Die Gipfel werden höher, die Routen anspruchsvoller, die Namen größer. Mont Blanc, Eiger Nordwand, sie alle landen in seinem Tourenbuch. »Adrenalin war für mich schon immer wichtig.« Bei Skitouren befährt er Hänge, »auf denen hättest du nicht stürzen dürfen«. Unweigerlich kommen die 8000er in Kullmanns Visier. Ein halbes Jahr nach Reinhold Messners und Peter Habelers Wahnsinns­tat, den Everest-Gipfel ohne Flaschensauerstoff zu erreichen, steht er selbst auf der höchsten irdischen Erhebung – in neuer Rekordzeit. »Diese gigantischen Berge und dieses exotische Land Nepal haben mich total fasziniert.« Die Kehrseite: Nach vielen erfolgreichen Solotouren macht sich bei dem Lehramtsstudenten für Sport und Biologie ein gefährliches Gefühl der Unbesiegbarkeit breit. Während der Referendariatszeit passiert es: Bei einer Solokletterei in einem Badener Klettergarten bricht ein Griff aus. Zwölf Meter fällt Kullmann – und schlägt stehend wie eine Kerze auf. Das rettet ihm vermutlich das Leben. Die Landung zertrümmert zwar seine Fußgelenke und Unterschenkel, doch weder Wirbelsäule noch Organe

werden beschädigt. Vier Tage steht es auf der Kippe, ob Kullmann seinen rechten Fuß behalten kann. Die Konsequenz: 22 Wochen Krankenhaus, sieben Operationen, drei Monate Rollstuhl, 1,5 Jahre Krücken. Das rechte untere Sprunggelenk muss versteift werden. Die große Frage – auch als angehender Sportlehrer – ist: Würde er jemals wieder Sport machen können? Kullmann gibt maximal früh die Antwort: Einen Freund, der Schuster ist, bittet er kurzerhand, auf den Gehgips eine Klettersohle anzubringen. Zwei Jahre nach dem Unfall ist er komplett wiederhergestellt – und startet bald in Richtung Tibet: Der Shisha Pangma wird sein zweiter 8000er, kurz vor dem Gipfel des Cho Oyu müssen sie umkehren.

Vom Verkäufer zum Chef Wie aber wird aus einem leidenschaftlichen Alpinisten und Lehrer der Chef einer Rucksack-Marke? Nach Abschluss des zweiten Staatsexamens steht Kullmann ohne Aussicht auf seinen designierten Traumjob da, Einstellungsstopp für Lehrer. Die Alternative? »Ein anderes konkretes Berufsziel gab es nicht – auf jeden Fall nix Bürgerliches.« Ein Kletterkumpel rät ihm, sich bei Deuter zu bewerben – mit Erfolg. Am 1. September 1986 legt »Kulle« dort im Außendienst los. Doch die Begeisterung fehlt zunächst: »Die ersten zwei Jahre waren grausam. Das war eine furchtbar altbackene Firma, alle trugen Anzug und Krawatte. Draußen, im Handel, habe ich sehr schnell gelernt, was für ein negatives Image die Marke hatte und dass die Produkte überwiegend einfach schlecht waren.« Kullmann sagt unverblümt seine Meinung, die Chefetage ist dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – von seinen


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Von links nach rechts: »Everest Jeans« im Khumbu-Eisbruch. Everest-Gipfelgrat – ohne Fixseile und Stau. Schlüsselseillänge der Route »Take Five«, 8+, Berggeistturm im Oberreintal. Am Gipfel der Shisha Pangma, 1988. Dülferriss am Battert, 1977.

10 Fragen an Bernd Kullmann:   Glaubst du an Schicksal und wenn ja, warum? Nein. Bitte vervollständige folgenden Satz: Ein Abenteuer ist ... … wenn etwas schiefgeht. Auf welchen Ausrüstungsgegenstand würdest du unterwegs nicht verzichten? Wahrscheinlich auf meinen Deuter-Rucksack. Denn da hab‘ ich alles drin, was ich brauche. Was hat dir im Leben schon mal richtig Angst gemacht? Krankheit. Wer war der beeindruckendste Mensch, den du je kennengelernt hast, und warum? Mein Vater. Für mich war er ein großartiges Vorbild, denn er hat alle Tugenden, die ich heute auch schätze, sehr intensiv gelebt. Was hast du im Leben wirklich Relevantes gelernt? Ehrlichkeit und Verlässlichkeit zahlt sich am Ende doch meistens wieder aus. Was ist Glück für dich? Gesund zu bleiben. Welchen Kindheitstraum hast du dir erfüllt? Eine Familie zu haben. Welche Dinge werden heutzutage oft überschätzt? Materielle Dinge. Wie würde der Titel deiner Autobiografie lauten? Aus dem Leben eines Taugenichts.

Qualitäten überzeugt. In den kommenden Jahren wird er erst Entwicklungsleiter, später kommt die Vertriebsleitung hinzu. Und er krempelt das Unternehmen um: Bergführer werden ins Produktteam geholt, eigene Erfindungen forciert, anstelle – wie früher – erfolgreiche Konkurrenz-Modelle zu kopieren. Um die großen Qualitätsprobleme zu lösen, wechselt er den Produzenten in Asien. 2006 schließlich, als das Familienunternehmen Schwan-Stabilo Deuter kauft, wird er Chef. Auch beruflich ist Kullmann nun, mit 52 Jahren, am Gipfel angelangt. Längst ist aus der kleinen Rucksack-Manufaktur ein Global Player geworden. Doch von TopManager-Allüren fehlt jede Spur. Sein Zuhause, eine unscheinbare Doppelhaushälfte in Augsburg, bestätigt dies ebenso wie seine bevorzugten auswärtigen Übernachtungsplätze: »Ich habe mich immer auf einer Alpenvereinshütte wohler gefühlt als in einem Fünf-Sterne-Hotel.« Als Autos kommen nur Kombis infrage, in denen er auch schlafen kann, um möglichst früh den Zustieg zum Klettern zu starten. »Das ganze protzige Gehabe – ich brauche es einfach nicht.« Generell kann der Badener, der sich selbst als »sparsam, aber keinesfalls geizig« beschreibt, nicht verstehen, warum ausgerechnet viele Wohlhabende sich mit gesellschaftlichen Abgaben so schwertun: »Wer viel hat, kann doch auch viel für die Gemeinschaft tun.« Im Berufsleben wie auch als Teil der Gesellschaft findet er Kritik notwendig, solange sie konstruktiv ist: »Ich finde es wichtig, Dinge grundsätzlich zu hinterfragen – aber lebensbejahend und optimistisch.«

NINA CAPREZ // Beim Klettern an hohen Wänden habe ich das Gefühl in den Himmel zu steigen. Ich muss alles geben und jede Bewegung absolut beherrschen. Oft hängt der Erfolg allein an meiner Fähigkeit mich locker zu machen - um genau deswegen durchzuhalten. // #helmetup

Richtig rüstiger Rentner

© Kalice / Jan Novak

MY HELMET MY CHOICE

Seit 1. Juli 2019 ist »Mr. Deuter« offiziell im Ruhestand. Ein Zustand, an den sich der zweifache Familienvater erst gewöhnen muss. »Anfangs habe ich richtig gelitten. Das Dynamische, Impulsive hat plötzlich gefehlt.« Dann folgt die Erkenntnis: »Die komplette Zeitung lesen, dazu eine Tasse Kaffee, das ist für mich Lebensqualität geworden.« Und natürlich viel Zeit für die Berge. Auch wenn er »sportlich etwas ruhiger« geworden ist: So oft es geht, zieht es ihn zum Klettern oder auf Skitour raus. Vermutlich das eine oder andere Mal auch in Jeans … Text: Moritz Becher Fotos: Bernd Kullmann, Archiv Deuter

METEOR

Leichter Helm mit erweitertem Kopfschutz zum Klettern, Bergsteigen und Skitourengehen. www.petzl.com

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LIE ESERKLÄRUNG »AUCH DER WEITESTE WEG BEGINNT MIT DEM ERSTEN SCHRITT.« (KONFUZIUS)

»Habt ihr diesen Island Schuh von Meindl?« Diese Frage hörten wir Anfang der 90er-Jahre immer häufiger im Laden. Und klar, Kunde ist König – also nahmen wir »diesen Island« in unser Sortiment auf. Ich war damals zu 100 Prozent aufs Klettern in kleinen und großen Wänden fixiert. Ganz ehrlich: Wandern, Trekking – das interessierte mich nicht wirklich, höchstens für den Zustieg. Allerdings, das war mir aufgefallen, die Menschen, die nach diesem besonderen Schuh fragten, waren total fasziniert und begeistert davon, es schwang immer so viel Leidenschaft mit, wenn sie vom Trekking im hohen Norden Skandinaviens erzählten. Vor gut zehn Jahren wollte ich selbst nachsehen, was es mit dieser LapplandFaszination auf sich hat – und irgendwie war klar, dass ich das mit genau diesem Schuh machen würde. Den gab es da nämlich immer noch – bis heute. Auf dieser ersten Lapplandtour lief ich entlang des berühmten Kungsleden. In die Landschaft verliebte ich mich sofort. Gutes Material ist da bescheidener – auffallend ist meist nur, wenn etwas nicht funktioniert. Anders formuliert: Ich nahm meine »Isländer« nicht wahr, was für einen nagelneuen Schuh ein sehr gutes Omen ist. Einfach ein schöner, weicher und zugleich fester Schuh, der mir ohne Drücken und großes Einlaufen sofort passte. Keine Blasen, schön trockene Füße. Wandererherz, was willst du mehr? Um es abzukürzen: Auch ich wurde vom Virus Lappensis infiziert. Die Symptome: starke Nordlust, Kribbeln in den Fußsohlen.

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Jedes Jahr kam ein weiterer Grund hinzu, meinen Island mehr zu schätzen. Etwa als ich nahe des norwegischen Sees Čunojávri durch eine große »Wiese« abkürzen wollte, die allerdings durchgehende und laut schmatzende zehn Zentimeter Wasserstand aufwies. Trockene Angelegenheit mit dem Island. Oder als ich am Kebnekaise über endlose Steinhänge stapfte, scharfkantiges Geröll im Wechsel mit Brocken so groß wie Steinway-Flügel. Meine Knöchel: bestens gepolstert. Meine Haftung auf den Platten: bodenständig und kantenstabil. Die härteste Bewährungsprobe aber kam erst vor zwei Jahren: Beim »Abwettern« auf der Toppstugan-Schutzhütte im Kebnekaise-Massiv erhielt ich die spontane Einladung, mit einer Seilschaft die komplette Überschreitung der Gebirgskette zu machen. Leichte Steigeisen hatte ich dabei – und auch wenn der Island eigentlich nicht dafür gebaut ist, hat er sogar diese Herausforderung mit Respekt gemeistert. Kein Wunder also, dass so viele Menschen diesen Schuh lieben. Auch Prominente Island-Träger gab und gibt es reichlich. Arnold Schwarzenegger, Arved Fuchs oder auch Naturfilmer Andreas Kieling. Letzterer bezeichnete den Island als »Super-Allrounder« – und genau das hat ihn zum echten Klassiker gemacht. Text: Andreas Hille

1990 stand das erste Modell »Island« verkaufsfertig in der Meindl-Produktion im oberbayerischen Kirchanschöring. Weit über eine Million Paar sind seitdem auf den Wegen, Pfaden und Steigen der Welt gelaufen. Ein Lieblingsschuh mit großer Stammkundschaft, der über die 29 Jahre hinweg zahlreiche Auszeichnungen bekommen hat und immer weiter verbessert wurde. Die Zutaten des Erfolgs: außen edles, geöltes Nubukleder, unten eine griffige Vibram-Laufsohle, eine Schaftpolsterung mit Spezialschaum, der sich dem Fuß des Trägers anpasst. Eine wasserdichte aber -dampfdurchlässige Gore-Tex-Membran macht den Island schließlich zur Allwetterwahl für nahezu jedes Zu-Fuß-Abenteuer. Ein Paar »Isländer« bringt je nach Größe circa 1760 Gramm auf die Waage – nicht ultraleicht, aber dafür ultrazuverlässig in fast jedem Gelände. Und falls sich die Sohle – ein Prozess, der bei jedem Wanderschuh auftritt – doch irgendwann einmal lösen sollte, macht die Firma Meindl einfach eine neue drauf. So kann Nachhaltigkeit auch funktionieren. Preis: 279,95 Euro

1990 (+ 20 Jahre) 2019 Spontanes Gipfelglück am Kebnekaise.

FOTO  Andreas Hille

PRODUKTINFORMATION: MEINDL ISLAND MFS ACTIVE


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