»Paris, die schöne Zauberstadt ...«

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PARIS, DIE SCHÖNE ZAUBERSTADT

Fotografien von André Kertész und Texte von Heinrich Heine

Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf

Begleitheft zur Ausstellung

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Abbildung Titelseite: Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RM Grand Palais

©Bertrand Prévost

ANDRÉ KERTÉSZ

1925 verlässt der Fotograf André Kertész, Sohn eines jüdischen Buchhändlers, Budapest. Er empfindet seine Geburtsstadt als frei von jeglicher künstlerischer Atmosphäre und geht in der Hoffnung auf neue Inspirationen nach Paris. Hier bewegt er sich aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse zunächst im Kreise der in Paris ansässigen Ungarn, vor allem sucht er den Kontakt zu den Künstlern unter ihnen.

Bereits in den ersten Tagen zieht Kertész mit seiner Kamera durch die Stadt, sucht sich Motive auf der Straße und hält diese stimmungsvoll auf den lichtempfindlichen Glasplatten seiner Kamera fest. Seine Momentaufnahmen sind Kompositionen aus alltäglicher Atmosphäre und Formenwelt der Großstadt. Mit dem Kauf seiner ersten Leica-Kamera werden 1928 die Glasplatten durch den Rollfilm abgelöst. Diese neue Technik, mit der eine schnelle Erstellung von Mehrfachaufnahmen möglich wird, ist für das Fotografieren des »richtigen Augenblicks« eine kleine Revolution.

Mit seinem Werk erschafft Kertész ein sensibles Bild der französischen Lebensart und Kultur. Sein einzigartiges Gespür für den rechten Zeitpunkt lässt ihn Bilder aufnehmen, die keiner Stilrichtung seiner Zeit eindeutig zugordnet werden können. Sie nehmen aber inspirierenden Einfluss auf das Schaffen von Fotografen wie Brassai oder Cartier-Bresson.

Als Teil der avantgardistischen Szene rund um den Stadtteil Montparnasse porträtiert er auch Freunde wie Marc Chagall oder Piet Mondrian und eröffnet so Einblicke in die Künstlerateliers seiner Zeit.

In den 1920er Jahren hält die Fotografie Einzug in Zeitschriften und Illustrierten. Wurde sie in diesen Publikationen zunächst eher dekorativ eingesetzt, gewinnt die Fotoreportage in den folgenden Jahren immer mehr an Bedeutung. Kertész schafft es, sich in seinen Pariser Jahren als gefragter Fotoreporter für unterschiedliche, auch deutsche, Magazine zu etablieren. Eine

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(1894–1985)

besondere Rolle spielt dabei die illustrierte Zeitschrift »VU«, herausgegeben von Lucien Vogel.

1936 verlässt André Kertész Paris und emigriert in die USA, wo er als Fotograf viele Jahre kaum Beachtung findet. Erst in den 1960er Jahren gelingt es ihm, an seine Erfolge der Pariser Zeit anzuknüpfen. Dass er Paris dauerhaft in sein Herz geschlossen hat, wird deutlich, als er ein Jahr vor seinem Tod in New York 100 000 Negative als Stiftung dem französischen Staat übergibt. So schafft er noch zu Lebzeiten ein bleibendes Andenken an seine wegbereitende Fotografie.

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Elisabeth et moi dans un café de Montparnasse, 1931

Elisabeth und ich in einem Café in Montparnasse

Dieses, in einem Café im Stadtteil Montparnasse aufgenommene Selbstporträt zeigt Kertész mit seiner ungarischen Jugendliebe Elisabeth, die ihn nach Jahren der Trennung in Paris besucht. Noch ist Kertész zu dieser Zeit mit der Fotografin und Künstlerin Rogi André verheiratet, lebt aber getrennt von ihr. Nach der Scheidung heiratet er 1933 Elisabeth und teilt mit ihr das Leben bis zu ihrem Tod im Jahr 1977.

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»ICH SCHREIBE MIT DEM UND
LICHT VON
. « ANDRÉ
Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész
DAS
PARIS IST MEIN
KERTÉSZ

HEINRICH HEINE

1831 verlässt Heinrich Heine Deutschland, angetrieben durch die fortschreitende Zensur seiner Werke und die erfolglosen Bewerbungsbemühungen um eine feste Anstellung. Er geht nach Paris, eine brodelnde Weltstadt, die infolge der Julirevolution eine besondere Faszination auf den Dichter ausübt.

In Paris ist Heine auch Flaneur. Er streift durch die Straßen, über die großen Boulevards, durch Parkanlagen und die Gärten der Stadt. Täglich informiert er sich in den Lesestuben, besucht Bibliotheken, Museen und auch die Oper. Gerne sitzt er in Kaffeehäusern und beobachtet das bunte Treiben der Pariser Bürger.

Er findet Anschluss an die intellektuelle Szene der Stadt. Heine verkehrt mit den hier lebenden Dichtern, Musikern und Malern, ist gern gesehener Gast in den renommierten Salons und verdingt sich als Korrespondent der »Augsburger Allgemeinen Zeitung«. Er berichtet über das Pariser Leben, über Kulturereignisse und politische Wendungen und beschreibt diese mit Witz und spitzer Feder. So bringt er den Deutschen die französische Kultur und Lebensart näher. Den Franzosen wiederum eröffnet er über geistreiche Abhandlungen Einblicke in die deutsche Philosophie und Poesie und wird zu einem Mittler zwischen Deutschland und Frankreich.

Ein besondere Vorliebe Heines gilt den Pariserinnen. Sein Augenmerk liegt jedoch nicht auf den Damen der Gesellschaft, es zieht ihn zu den einfachen Frauen aus dem Volk. Er verliebt sich in die Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat, die er Mathilde nennt, und die er nach einigen Jahren des Zusammenlebens heiratet.

War Paris 1831 ein noch frei gewähltes Exil, so wird es im Zuge des Verbots seiner Schriften in Deutschland, verbunden mit einem Haftbefehl bei Grenzüberschreitung, zu einem erzwungenen Exil. Seine Sehnsucht nach Deutschland findet jedoch in vielen Texten Niederschlag. Zweimal noch schafft es Heine,

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(1797–1856)

nach Deutschland zu reisen. Sein Versepos »Deutschland. Ein Wintermärchen« ist eine literarische Verarbeitung dessen.

In den letzten Pariser Jahren erkrankt Heine schwer, ist an das Bett gefesselt. Seine sogenannte »Matratzengruft« hält ihn aber nicht davon ab, weitere Werke zu verfassen. Im Februar 1856 stirbt Heinrich Heine in Paris und wird nach eigenem Willen auf dem Friedhof Montmartre beerdigt.

#2

Heinrich Heine, ca. 1831

Lithographie nach einem Ölgemälde von Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882), Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf

Fast 100 Jahre liegen zwischen der Ankunft des Dichters Heinrich Heine und des Fotografen André Kertész in der Weltmetropole Paris. Und doch ist es der gleiche Zauber, den diese Stadt mit ihrem revolutionären Flair und ihrer französischen Lebensart auf die Neuankömmlinge ausübt. Das tägliche Geschehen auf den Pariser Straßen ist Inspiration für die Feder Heinrich Heines und Motiv für die Kamera André Kertészs. Mit journalistischen und künstlerischen Mitteln eröffnen sie einem internationalen Publikum Einblicke in das Pariser Leben ihrer Jahrhunderte. Diese Ausstellung baut Brücken zwischen den Texten Heines und den Fotografien Kertészs und wüsste man nicht um die Zeitspanne von fast 100 Jahren, so könnte man glauben, sie wären im Dialog miteinander entstanden.

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{KLERUS}

»Ist es doch eine bekannte Bemerkung, daß die Pfaffen in der ganzen Welt, Rabinen, Muftis, Dominikaner, Consistorialräthe, Popen, Bonzen, kurz das ganze diplomatische Corps Gottes, im Gesichte eine gewisse Familienähnlichkeit haben, wie man sie immer findet bey Leuten, die ein und dasselbe Gewerbe treiben.«

[Düsseldorfer Heine Ausgabe (DHA), Bd. 7/1, Reisebilder, Vierter Theil, S. 167]

#3

Boulevard des Invalides; Religieux marchant sur les allées bordant le boulevard, 1927

Ein Geistlicher wandelt auf den Alleen, die die große Prachtstraße säumen.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

{BÖRSE}

»Als ich gestern nach der Börse ging, um meinen Brief in den Postkasten zu werfen, stand das ganze Spekulantenvolk unter den Kolonnen, vor der breiten Börsentreppe. Da eben die Nachricht anlangte, daß die Niederlage der Patrioten gewiß sey, zog sich die süßeste Zufriedenheit über sämmtliche Gesichter; man konnte sagen, die ganze Börse lächelte. Unter Kanonendonner gingen die Fonds um zehn Sous in die Höhe.«

[DHA, Bd. 12/1,Französische Zustände, Tagesberichte, Paris, 7. Jun., S. 196]

#4

A la Bourse, 1926

Spekulierende auf der Treppe der Börse

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

{ZERBROCHENES GLAS}

»Heute ist wieder Alles in bunter Bewegung, und man sollte glauben, nichts wäre vorgegangen. Sogar auf der Straße St. Martin sind alle Läden geöffnet. Trotz dem, daß man, wegen des aufgerissenen Pflasters und der Reste der Barrikaden, dort schwer passirt, wälzt sich jetzt, aus Neugier, eine ungeheure Menschenmasse durch die Straße, die sehr lang und ziemlich eng ist, und deren Häuser ungeheuer hoch gebaut. Fast überall hat dort der Kanonendonner die Fensterscheiben zerbrochen und überall sieht man die frischen Spuren der Kugeln; denn von beiden Seiten wurde mit Kanonen in die Straße hineingeschossen, bis die Republikaner sich in die Mitte derselben zusammengedrängt sahen.«

[DHA, Bd. 12/1, Französische Zustände, Tagesberichte, Paris, 7. Jun., S. 197–198]

#5:

Plaque cassée, Paris, 1929

Als André Kertész 1936 nach New York geht, lässt er seine Negative in der Obhut einer Freundin in Paris zurück. Erst 1963 findet er durch einen Zeitungsartikel im »Le Monde« seine Negative in einem Schloss in Südfrankreich wieder.

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Zahlreiche der Glasplatten-Negative sind zerbrochen und unbrauchbar. Bei diesem Bild von Montmartre empfindet er die Beschädigung als ein Geschenk des Zufalls, das die Fotografie um einen spannenden Effekt bereichert: »An accident helped me to produce a beautiful effect«.

[Kertész on Kertész, New York: Abbeville Press, 1985, S.45]

Aus der Bildserie: La France 1926–1936 Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

bäudes wird durch das Institut de France genutzt. In dessen Kuppel befindet sich eine Uhr, die den Blick frei gibt auf eine im Vordergrund ruhende Statue, weiter führt über den Pont des Arts bis hin zum Louvre, der auf der gegenüberliegenden Seite der Seine liegt.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész (C) Ministère de la Culture –Médiathèque de l’architecture

#7

Chevaux de bois d’un carrousel démonté, 1929

{

PARIS, DIE SCHÖNE ZAUBERSTADT }

»Während aber Bedrängnisse und Nöthen aller Art das Innere des Staates durchwühlen, und die äußern Angelegenheiten […] bedenklich verwickelter werden; während alle Instituzionen, selbst die königlich höchste, gefährdet sind; während der politische Wirrwarr alle Existenzen bedroht: ist Paris diesen Winter noch immer das alte Paris, die schöne Zauberstadt, die dem Jüngling so holdselig lächelt, den Mann so gewaltig begeistert, und den Greis so sanft tröstet.«

[DHA, Bd. 12/1, Französische Zustände, Artikel III, S.102]

#6

Le pont des Arts à travers l’horloge de l’Institut de France, 1932

Kertész fotografiert im Auftrag des Magazins »The Sphere« eine Bildreportage über die ehrwürdige Académie française. Die obere Etage des Ge-

Holzpferde eines demontierten Karussells

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

#8

Seuphor sur le pont des Arts, 1926

Der Pont des Arts bietet einen einzigartigen Ausblick auf das Zentrum von Paris und ist so für Kertész und seine Kamera ein willkommener Ort für stimmungsvolle Aufnahmen. In diesem Fall inszeniert er seinen Förderer, den Kunstkritiker und Herausgeber der Zeitschrift »Het Overzich«, Michel Seuphor zusammen mit dem belgischen Schriftsteller

Paul Dermée eindrucksvoll vor dieser Kulisse. Kertész verdankt Michel Seuphor seine Bekanntschaft mit dem Maler Piet Mondrian.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

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#9

Aux Halles, Paris, 1928

Im Marktviertel »Les Halles«

Photo (C) Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMNGrand Palais / Philippe Migeat

{BIBLIOTHEKEN}

»In Paris will ich die Bibliothek benutzen, Menschen u Welt sehen, und Materialien zu einem Buche sammeln, das Europäisch werden soll.«

[Heine-Säkularausgabe (HSA), Bd. 20, S. 269, Brief Nr. 197, Heinrich Heine an Karl August Varnhagen von Ense, 24. Oktober 1826]

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La librairie Loewy dans un globe, 1931

Die Bibliothek Loewy durch eine Kugel

gesehen

Lieu de prise de vue: Paris, France

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

{BOULEVARDS}

»Sehen Sie, wie glücklich das Volk ist, bemerkte mein Begleiter, indem er mir die vielen Wagen voll Masken zeigte, die laut jubelten, und die lustigsten Narretheyen trieben. Die Boulevards gewährten wirklich einen überaus ergötzlich bunten Anblick, und ich dachte an das alte Sprüchwort: Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die Boulevards von Paris.«

[DHA, Bd. 12/1, Französische Zustände, Artikel V, S. 118]

#11

Les Champs-Elysées vu des bureaux du journal »Vu«, 1929

Die Champs-Elysées, der Prachtboulevard von Paris, mit der Kamera festgehalten aus dem Bürofenster der Illustrieten »VU«, für die André Kertész in seinen Pariser Jahren regelmäßig fotografiert hat.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand

Palais / André Kertész {PARISER

LEBENSART}

»Was mir am besten an diesem pariser Volke gefiel, das war sein höfliches Wesen und sein vornehmes Ansehen. Süßer Ananasduft der Höflichkeit! wie wohlthätig erquicktest du meine kranke Seele, die in Deutschland so viel Tabacksqualm, Sauerkrautsgeruch und Grobheit eingeschluckt!«

[DHA, Bd. 5, Florentinische Nächte, Zweite Nacht, S. 235]

#12

Sur le Pont Saint Michel, 1931

Auf der Brücke Saint Michel

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand

Palais / André Kertész

#13

Paris, 1928

Photo (C) Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMNGrand Palais / Philippe Migeat

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#14

Paris, Dubo Dubon Dubonnet, 1934

André Kertész ist ein Meister der Momentaufnahme, wie diese Fotografie beweist. Durch die Doppelung der For men erzeugt er eine einzigartige Bildkomposition. Der Trinker mit Hut auf den »Dubonnet«-Werbeplakaten blickt in die gleiche Richtung wie der vorbei eilende Herr mit Hut. Die im Vordergrund sitzende Frau auf der Bank findet ihre Entsprechung in der Dame mit dem Zylinder der »Georges und Georgette«Werbung.

Photo (C) Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMNGrand Palais / Georges Meguerditchian

#15

Sur les quais; Homme de dos, 1926

Ein Herr, von hinten aufgenommen, auf der Uferpromenade der Seine.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

#16

Jardin du Luxembourg; Homme lisant, assis sur une chaise, 1928–1929

Ein lesender Herr, auf einem Stuhl sitzend, in der Parkanlage »Jardin du Luxembourg«.

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

#17

Près des galeries Lafayette; Homme-sandwich à la station Chaussée d’Antin, 1928

Nahe der Galerie Lafayette. »Sand -

wich-Mann« am Bahnhof »Chaussée d’Antin«.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

»Sind die Pariserinnen schön? Wer kann das wissen! Wer kann alle Intriguen der Toilette durchschauen, wer kann entziffern ob das ächt ist, was der Tüll verräth, oder ob das falsch ist, was das bauschige Seidenzeug vorpralt! Und ist es dem Auge gelungen durch die Schale zu dringen und sind wir eben im Begriff den Kern zu erforschen, dann hüllt er sich gleich in eine neue Schale, und nachher wieder in eine neue, und durch diesen unaufhörlichen Modewechsel spotten sie des männlichen Scharfblicks.«

[DHA, Bd. 5, Florentinische Nächte, Zweite Nacht, S. 236–237]

#18

Danseuse burlesque, 1926

Kertész bittet die Tänzerin Magda Förstner im Atelier seines Freundes und Bildhauers Etienne Boethy die Raumatmosphäre in Bewegung umzusetzen. Magda verdreht den Körper ähnlich der Statue im Hintergrund, die Arme und Beine korrespondieren mit den Winkeln des Raums. Diese Nachahmung von Formen, gleich eines bildlichen Reims, entwickelt sich zu einer typischen fotografischen Methode, die vor allem für Henri Cartier-Bresson zum Hauptmerkmal seines fotografischen Schaffens wird.

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{PARISERINNEN}

Digital Image (C)

[année] Museum Associates / LACMA. Licenciée par Dist. RMN-Grand Palais / image LACMA

#19

Kiki de Montparnasse, 1927

Kiki ist Tänzerin in verschiedenen Nachtclubs in Montmartre und eine sehr gute Freundin des Malers und Fotografen Man Ray, dessen Gemälde im Hintergrund dieses Fotos zu sehen ist. Die Aufnahme entsteht in der Galerie

»Le Sacre du Printemps«, bei der Vernissage der Fotografie-Ausstellung André Kertészs im Jahr 1927. Kertész selbst beschreibt dieses Ereignis als ein »wunderbares Happening«. Jan Slivinsky [eigtl. Hans Effenberger, Autor, Komponist, Sänger und Inhaber der Galerie] spielt Piano, einige Surrealisten tragen eigene Gedichte vor und Paul Dermée hat eigens zu dieser Ausstellung ein Gedicht verfasst. Dies ist für Kertész eine große Ehre und schöne Überraschung.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Légende originale: »The famous model Kiki« Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

{PONT NEUF}

»Erst gegen Morgen schlummerte ich ein, und da träumte mir: es sey Nacht, und ich stände einsam auf dem Pontneuf zu Paris, und schaute hinab in die dunkle Seine. Unten aber, zwischen den Pfeilern der Brücke, kamen nackte Menschen zum Vorschein, die bis an die Hüften aus dem Wasser hervortauchten, in den Händen brennende Lampen

hielten und Etwas zu suchen schienen. Sie schauten mit bedeutsamen Blicken zu mir hinauf, und ich selber nickte ihnen hinab, wie im geheimnißvollsten Einverständniß …. Endlich schlug die schwere Notre-Dame-Glocke, und ich erwachte. Und nun grüble ich schon eine Stunde darüber nach: was eigentlich die nackten Leute unter dem Pont-neuf suchten? Ich glaube, im Traume wußt ich es und habe es seitdem vergessen.«

[DHA, Bd. 12/1, Über die französische Bühne, Dritter Brief, S. 241]

#20

Pont Neuf; Homme pêchant depuis une barque, 1926

Angelnder Mann in einem Kahn

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

#21

Le Pont Neuf, un matin de pluie, 1931

Ein regnerischer Morgen an der Brücke Pont Neuf

Aus der Bildserie: La France 1926–1936, Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

{PLACE DE LA CONCORDE}

»Auf der Place de la Concorde sehen wir schon, in hölzerner Abbildung, den Obelisk des Luxor; in einigen Monathen steht dort das egyptische Original und dient als Denkstein des schauerlichen Ereignisses, das einst am 21. Januar auf diesem Orte statt fand. Wie viel tausend-

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jährige Erfahrungen uns dieser hieroglyphenbedeckte Bote aus dem Wunderland Egypten mitbringen mag, so hat doch der junge Laternenpfahl, der auf der Place de la Concorde seit fünfzig Jahren steht, noch viel merkwürdigere Dinge erlebt, und der alte, rothe, urheilige Riesenstein wird vor Entsetzen erblassen und zittern, wenn mahl, in einer stillen Winternacht, jener frivol französische Laternenpfahl zu schwatzen beginnt und die Geschichte des Platzes erzählt, worauf sie beide stehen.«

[DHA, Bd. 12/1, Französische Maler, Nachtrag, S.56]

#22

Jour pluvieux, piétons traversant la place; Place de la Concorde, 1928

Fußgänger, die an einem regnerischen Tag den Place de la Concorde überqueren.

Regenwetter hält Kertész nicht davon ab, mit der Kamera auf Motivsuche zu gehen. Das nasse Pflaster mit seinen Reflektionen lässt ihn die Pariser Straßen und Plätze atmosphärisch fesselnd einfangen.

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

#23

La fontaine de la Place de la Concorde, 1925

Der Brunnen der Place de la Concorde

Photo (C) Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMNGrand Palais / Adam Rzepka

{SAVOIR-VIVRE – DIE KUNST DAS LEBEN ZU GENIESSEN}

»Und diese Kastanienbäume, hier in den Tuilerien, ist es nicht als sängen sie heimlich die Marseillaise, mit ihren tausend grünen Zungen? … Hier ist heiliger Boden, hier sollte man die Schuhe ausziehen, wenn man spazieren geht …«

[DHA, Bd. 11, Ludwig Börne. Eine Denkschrift, Drittes Buch, S. 82]

#24

Après l’école au Jardin des Tuileries, 1928–1930

Nach der Schule in der Parkanlage

Jardin des Tuileries

Kertész liebt das Spiel von Licht und Schatten, mit dem er die Schülergruppe bildlich festhält.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand

Palais / André Kertész

#25

Chaises de Paris; »Solitudes«; Chaises dans le parc des Tuileries, 1927 Pariser Stühle; »Vereinsamte«; Stühle im Park Tuileries

Kertész erschafft eine Fotoserie von Gartenstühlen, die in seinen Pariser Jahren fester Bestandteil des Straßenbilds sind. Bei diesen Aufnahmen entsteht im Spiel des Lichts durch die klaren Linien der Stühle für kurze Dauer ein Muster, das zu überraschenden Bildkompositionen beiträgt.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand

Palais / André Kertész

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»Es will mich manchmal bedünken, als seyen die Köpfe der Franzosen, eben so wie ihre Kaffeehäuser, inwendig mit lauter Spiegeln versehen, so daß jede Idee, die ihnen in den Kopf gelangt, sich dort unzählige Mahl reflektirt: eine optische Einrichtung, wodurch sogar die engsten und dürftigsten Köpfe sehr weit und stralend erscheinen. Diese brillanten Köpfe, eben so wie die glänzenden Kaffehäuser, pflegen einen armen Deutschen, wenn er zuerst nach Paris kömmt, sehr zu blenden.«

[DHA, Bd. 8/1, Die romantische Schule, Anhang, S. 248]

#26

Bistrot, 1927

Photo (C) Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMNGrand Palais / Bertrand Prévost

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Tihanyi, Café le Dôme

Das Café du Dôme in Montparnasse ist der Treffpunkt der ungarischen Gemeinde in Paris. Es sind vor allem die Künstler, die hier einen großen Teil ihrer Zeit verbringen. Für André Kertész ist das Café, wie er selbst sagt, sein Wohnraum, in dem er sich stets aufhält.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

{NACHTLEBEN}

»Wie könnte ein Franzose ein Gespenst seyn, oder gar wie könnten in Paris Gespenster existiren! In Paris, im Foyer der europäischen Gesellschaft!

Zwischen zwölf und ein Uhr, der Stunde, die nun einmal von jeher den Gespenstern zum Spuken angewiesen ist, rauscht noch das lebendigste Leben in den Gassen von Paris, in der Oper klingt eben dann das brausendste Finale, aus den Variétés und dem Gymnase strömen die heitersten Gruppen, und das wimmelt und tänzelt, und lacht und schäkert auf den Boulevards, und man geht in die Soiree. Wie müßte sich ein armes spukendes Gespenst unglücklich fühlen in dieser heiteren Menschenbewegung!«

[DHA, Bd. 8/1, Die romantische Schule, Drittes Buch, S. 214]

#28

Après le bal; Groupe dans une ruelle, de nuit, à la sortie d’un dancing, 1926

Nach dem Ball. Menschengruppe in einem nächtlichen Sträßchen auf dem Heimweg nach dem Tanz.

Schon in Budapest fasziniert Kertész die besondere Atmosphäre von Nachtaufnahmen, die bei der Erstellung eine besondere technische Herausforderung mit sich bringen und ein Gespür für die richtige Belichtungszeit erfordern.

Aus der Bildserie: La France 1926–1936, Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

#29

Bal musette; Paris, 1926

»In this Bistro the garçon was both serving and dancing«, eine Momentaufnahme mit der Kertész das Besondere der Pariser Lebensart bildlich eingefangen hat.

[Kertész on Kertész, New York: Abbeville Press, 1985, S. 45]

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Photo (C) Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMNGrand Palais / Georges Meguerditchian

{FAUBOURG MONTMARTRE}

»Ich verordne, daß mein Leichenbegängniß so einfach sey und so wenig kostspielig wie das des gringsten Mannes im Volke. Sterbe ich zu Paris, so will ich auf dem Kirchhofe des Montmartre begraben werden, auf keinem andern, denn unter der Bevölkerung des Faubourg Montmartre habe ich mein liebstes Leben gelebt.«

[DHA, Bd. 15, Testamente, S. 205]

#30

Les Escaliers de Montmartre; Etude de lignes et d’ombres, 1926

Die Treppen von Montmarte. Studie von Linien und Schatten

Photo (C) Ministère de la Culture – Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

#31

Square la nuit; Paris, 1926

Platz in der Nacht

Photo (C) Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMNGrand Palais / Bertrand Prévost

#32

Paris, 1933

Photo (C) Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMNGrand Palais / Philippe Migeat

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Eine Ausstellung des Heinrich-Heine-Instituts

Leihgeber: Ministère de la Culture Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, Dist. RMN-Grand Palais / André Kertész

Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand Palais / Bertrand

Prévost; Adam Rzepka; Philippe Migeat; Georges Meguerditchian

Kuratorin: Gaby Köster

Kommunikation mit Leihgebern: Maren Winterfeld und Nora Schön

Gestaltung: Tanja Müller

Aufbau: René Otto, Marek Sosinski und Mitarbeiter

2020/21

Landeshauptstadt Düsseldorf

Heinrich-Heine-Institut

Bilker Straße 12–14, 40213 Düsseldorf

www.duesseldorf.de/heineinstitut

, HIER IN DEN , IST ES NICHT ALS SÄNGEN SIE

» UND DIESE

, MIT IHREN TAUSEND GRÜNEN ZUNGEN? … HIER IST HEILIGER BODEN, HIER SOLLTE MAN DIE SCHUHE AUSZIEHEN, WENN MAN SPAZIEREN GEHT …

HEIMLICH DIE

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